Die andere Frau - Sigrid Sonberg - E-Book

Die andere Frau E-Book

Sigrid Sonberg

0,0

Beschreibung

Paulina, Endvierzigerin und lange alleinerziehend, wagt neue Wege. Sie eröffnet ein kleines Geschäft im Konsumtempel nahe Graz. Zu spät erkennt sie in der Managerin eine Gegnerin, sie gerät in ein Netz aus kriminellen Machenschaften. Als sie beinahe untergeht, Gewalt erfährt und auf sich zurückgeworfen flüchtet, als sie mystische Momente erlebt, bricht ihre innere Natur auf. Pur und rein. Ihr altes Frauenbild tritt zurück, verbindet sich mit neuem FrauSein. Nach der Eröffnung ihres Shops, trifft Paulina auf eine neue, große Liebe, während die Gegenspielerin beginnt Probleme zu bereiten. Spätestens mit einer Leiche im Konsumtempel fängt unerwartet ein Krimi an, der sich dreht und nochmal dreht. Den Schauplatz wechselt von Graz ins nahe Slowenien, in letzte Refugien wilder Natur. Dort kommt es zu Handlungen, Geschehnissen, Stimmungen und Gefühlen, die mythisch oder spirituell anmuten. Schließlich schält sich aus dem zivilisastorischen Panzer die neue, andere Frau, jene naturverbundene Person, die mehr sich selbst ist denn je.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sigrid Sonberg

DIE ANDERE FRAU

Roman

Texte: Sigrid Joanna Sonberg © 2024

Verlag e-book: Sigrid Sonberg, www.sigrid-sonberg.at; A-8503 St. JosefVerlag Print: Der Wolf Verlag, www.raggernot.net; Covergestaltung: Der Wolf Verlag & Grafik Ziegler, Graz

Vertrieb: epubli

Urheberrechtlich geschütztes Material

Inhalt

1 Rauschen

2 Frischer Wind

3 Die Vermessung der Welt angehen

4 Das Geschenk aus den Sternen

5 Energiefest und Verdunkelung

6 Der Ring der Mutter

7 Verschleppt

8 Todholzmoder

9 Harry Mausers Spur

10 Das Knacken der Wurzeln

11 Mit dem Mond baden

12 Erpressung

13 Brunnenwunder

14 Baumverbündete

15 Morgendämmerung

16 Sinnlichkeit im Land

17 Springprozession erlöst

18 Geschenktes Kind

19 Leichtigkeit

Biografie

1 Rauschen

Der Bach sprudelte leise rauschend dahin. In seinem natürlichen Bett umfloss er einen Garten und ein Haus im Halbrund, während der alte brüchige Zaun unter reichlichem Uferbewuchs verschwand und kaum eine Grenze bildete zum fließenden Wasser. Für das Kind, das oft im Garten spielte, war alles ein Ganzes, der Garten, der Zaun, die Uferbüsche und Bäume, der Bach.

Das kleine Mädchen hatte unter den dicht wachsenden Wacholderbäumen eine Spielhöhle gefunden. Über Äste geworfene dünne Tücher wehten in einem schwachen Lufthauch, während das Kind eine Puppe und einen Stoffbären bewegte und dabei seine heimlichen Worte murmelte; in seiner Nähe der plätschernde Bach. In anderer Nähe, auf der anderen Seite, Stimmen, eine Frauenstimme, eine Männerstimme. Sie wurden lauter, heftiger, wie wild brausendes Sturmwasser.

Das Mädchen erhob sich und lief zum Ufersaum, an den Zaun, welcher dicht am Ufer gezogen war. Manchmal warf das Kind den Enten im Wasser kleine Brotstücke zu, über den Zaun hinweg. Eine kleine Gruppe grau- und grünfedriger Enten watschelte gerade daher, die Tiere ließen sich ins Wasser gleiten. Sie stimmten mit ihrem Geschnatter in das Fließgeräusch des Baches ein, wie ein Instrument, das seinen Einsatz bespielt.

Dann der Moment, als alles zerriss und sich Stille ausbreitete. Das Mädchen schüttelte den Kopf, ihre honigfarbigen Locken wippten. Die Enten waren still geworden. Das Kind klatschte in die Hände, es wusste, wenn es das tat, dann schnatterten die Enten laut. Doch nun blieben sie für das Kind still. Sie bewegten die Schnäbel und waren still. Ein Blatt segelte auf Luftströmungen daher, langsam über den Bach und hinein. Eine Welle nahm es mit auf eine weite Reise.

*

Paulina wartete. Sie wartete bereits Jahre und Tage und Wochen, Minuten, Sekunden, Momente. Sie wartete auf eine Möglichkeit, einen Kaffee, einen Zuspruch, eine Zeitung, einen Aufruf, einen Partner, auf das Drankommen, auf ein bisschen Glück. Fünfundzwanzig Jahre. Auf ihre Zeit. Eine andere Zeit.

*

Die Tür öffnete sich und die Leiterin des landesweit größten Einkaufszentrums betrat den Raum. Kerstin Nowak. Paulina spürte die Bestimmtheit, die von der kühlen Vierzigerin, Geschäftsfrau durch und durch, ausging und sie war froh, hier nicht um einen Job fragen zu müssen, sondern einfach nur darum, etwas Geschäftsfläche zu mieten. Während Paulina ihr die Hand reichte, wurde sie in Gedanken klein und ihre Geschäftsidee schmolz zum Bauchladen zusammen. Gleich nachdem sie sich gesetzt hatten, fragte die selbstsichere Managerin nach dem Wie und Was und Wohin, der eigentümliche Nebenton in ihrer Stimme wurde Paulina erst nach und nach bewusst.

Die Centerchefin musterte sie routiniert und hatte mit ein, zwei Blicken Paulinas Äußeres erfasst, erkannte sie als gleichaltrig oder wenig älter, unauffällig gekleidet mit dunkelgrünem Kostüm von der Stange; passend zu ihrer etwas rundlichen Figur ein herzförmiges Gesicht, dessen Form von den halblangen brünetten Haaren eingerahmt, deutlich hervortrat. Kerstin Nowak lehnte sich zurück, sie hatte genug gesehen. Sie hatte die Unsicherheit der ihr gegenüber sitzenden Person wahrgenommen. Auch wenn die bernsteinfarbenen Augen über besonderen Ausdruck interessant wirkten, auch wenn die Grübchen, die sich beim Sprechen andeuteten, sympathisch wirkten. Kerstin Nowak ließ die Frau von sich berichten, lauschte aufmerksam und das tat sie wie eine Katze in die Nacht. „Ich habe lange mit meinen Kindern alleine gelebt, alleinerziehend meine ich und dementsprechend kaum Möglichkeiten gehabt. Das heißt, ich hab mich weniger als gewollt um eine berufliche Entwicklung kümmern können. Meine letzte Tätigkeit im Büro eines Versandhauses wurde leider wegen der Firmenpleite des Arbeitgebers beendet.“

„Wieviele Kinder?“

Die Frage überraschte Paulina, was sollte dies mit ihrem beruflichen Vorhaben zu tun haben, oder sollte es zur Präsentation ihrer Person beitragen? Ihre Antwort kam zögernd. „Zwei, einen Sohn, eine Tochter. Beide studieren.“ Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. „Also, ich möchte einen Geschenkeladen eröffnen.“ Sie atmete ein und dehnte das nächste Wort, „aber, nur in einer bestimmten Form, nämlich als ein riesiges Geschenkpaket, einen Pavillon also. Das ist sicher originell. Dort möchte ich kleine Besonderheiten aus der Region anbieten, auch Kulinarisches, Verpackung und Verpackungsservice; ja, vielleicht einen Geschenke-Guide für das Center? Das alles kann passend platziert am Eingang des größten Shopping-Centers gehen. Und kann außerdem eine Ergänzung sein für andere …“ Paulinas Redefluss stockte abrupt, sie drehte nervös einen schmalen Goldring an ihrer linken Hand.

Frau Nowak bemerkte dies, lehnte sich zurück. „Wie sieht es mit der Finanzierung aus?“Paulina wurde immer bestimmter, je länger sie ihre Geschäftsidee erläuterte und kam erst am Ende zum Punkt der Finanzierung. Als sie sich zurücklehnte und Kerstin Nowak einige Notizen machte, hatte sie ein gutes Gefühl. Frau Nowak hob den Blick und erklärte sachlich und sogar mit einer Spur Wohlwollen. „Sie könnten ab dem, hm, nächsten Monat dabei sein, wenn Sie es schaffen. In sechs Wochen ist Ostern, vielleicht geht es sich bis dahin für Sie aus? Ich hätte, hm, sogar einen guten Platz für Sie, denn der Schlüsseldienst übersiedelt und rechts vom Eingang ist alles frei. Vertrag ist, sagen wir, am nächsten Montag fertig. Vorerst für einen Monat zum Willkommenspreis, dann einen Monat zum vereinbarten Sonderpreis.“Paulina nickte erfreut. Als sie das Büro verließ, hatte sie den Eindruck der Kälte vergessen und war voller Hoffnung. Auf dem Heimweg wollte sie noch etwas erledigen, etwas, das sie lange vorgehabt und genauso lange auf die darauffolgende Woche verschoben hatte.

Sie schritt durch das schwarze, schmiedeeiserne Tor, den Seiteneingang des Friedhofs. Der eine Torflügel war angelehnt, beim Öffnen knarrte es ein wenig. Tiefhängende, spätmorgendliche Nebelschwaden zogen sich zwischen einzelnen alten Föhren und Ulmen am Friedhofsgelände dahin. Während Paulina vor dem Urnengrab stand, bemerkte sie nicht gleich den kleinen Zettel auf dem einfachen Grabstein ihrer Mutter; man solle sich bei der Friedhofsleitung melden. Plötzlich tränte ihr Auge, die Welt um sie verschwamm und die Stimme des Friedhofsangestellten tönte wie aus einem anderen Raum. „Haben’s den Zettel gelesen? Das Bäumchen wächst auf dem kleinen Urnengrab zu groß. Sie müssen es entfernen oder abschneiden und stutzen!“

Paulina hatte bis zum Wegfahren mit dem tränenden Auge zu tun und nahm sich vor dieses demnächst zu erledigen.

Diesen Abend konnte sie lange nicht einschlafen, Ungewissheit hatte sie schon immer schlaflos gemacht. Endlich glitt sie langsam in einen Schlummer, das Bäumchen am Grab geisterte durch ihre Gedanken. Eine Stufe näher an Traumsphären kam sie zu einem riesigen Geschenkpaket. Sie staunte darüber, ihre Vorstellung fertig vor sich zu sehen und spähte durch eine Luke ins Innere. Als sie das tat, begann das Paket zu brennen, es züngelten Flammen außen herum hoch. Paulina lief weg, lief.

Paulina erwachte mitten in der Nacht und war froh, dass sie erwachte. Sie vergaß das Bäumchen, den Friedhof, alles. Unerwartete, inhaltlich kaum deutliche erotische Träume begleiteten bis in den frühen Morgen, hinterließen eine andere Art von Unruhe, einen feinen Duft im Gemüt. Ihr war diese Duftblase bewusst, in der sie sich befand, ein leichter Druck in der Magengegend währte noch länger. Nichts Ungewöhnliches für Paulina, einer Frau in den sogenannten mittleren Jahren und ohne Partner.

Als sie am nächsten Morgen aufbrach, um ihr neues Leben in Angriff zu nehmen, fielen ihr Geräusche auf, während sie an dichtem, niedrigem Eichengebüsch und an Hainbuchen, die jetzt Ende Februar braunbelaubt dastanden, vorbeiging. Ein feines Rauschen, manchmal knackte es fast unhörbar, Vibrationen an der Grenze des hörbaren Bereichs. Es berührte Paulina tief in der Seele und erinnerte sogar ihren Körper, sie wusste nur nicht woran. Da war eine Erregungs-Erinnerung, da war die Erinnerung an wohlige Erfüllung, es lag weit zurück. Konnte nichts mit diesen Geräuschen zu tun haben, die waren einen Hauch unerklärlich, ja unheimlich wohl eher. So setzten die Gedanken ein und anderes außer Kraft, das da in ihrem Bewusstsein umherspukte. Immerhin wusste Paulina, sie musste jetzt weiter.Bevor sie den Vertrag unterzeichnete, wollte sie drei Dinge erledigen, die ihr jetzt wichtig, ja unabdingbar schienen. Auch wenn sie sich bei der einen Sache nicht sicher war, ob sie damit nicht obskures Land betrete. Aber, sie konnte ja immer noch umkehren. Dachte sie.

*

Paulina steuerte den zentralen Haupteingang an, nahm dann aber die Drehtür gleich daneben. Irgendwie mochte sie die. Gerade als sie einstieg, blieb das Ding stecken. Ein Klopfen von der Seite machte sie auf Charly aufmerksam. Die aschblonden, kurzen Haare, die etwas maskulin wirkende Kleidung, verrieten, was Paulina ziemlich spät erst bemerkt hatte. Charly, eigentlich Charlotte, liebte Frauen. Ursprünglich hatte sie es auf Paulina abgesehen. Nach einigen Versuchen gab sie auf. Freundschaft blieb, was bei Mann und Frau in diesem Zusammenspiel selten der Fall ist.

Charly schien irgendwie aufgebracht, sie gestikulierte ungewöhnlich und grinste über das ganze Gesicht. Endlich bewegte sich die Drehtür und sie standen voreinander. Das gewohnte „Hallo du!“ von Charly kam kurz, dann gleich eine Neuigkeit, die sie zu bewegen schien.„Du wirst es nicht glauben!“

Paulina brauchte einen Moment um aus ihren Gedanken aufzutauchen, sie nickte nur.

„Ist wirklich ein Ding das! Also, heute wird der neue Indoor-Brunnen im Nordteil eingeweiht. Er soll ein besonderes Kunstobjekt darstellen, außerhalb des Stadtzentrums von Graz, unter dem Motto 'Kunst wandert'? Also, städtische Kunst und Kultur halten Einzug in die Alltags-Einkaufwelt der Grazer Vorstadt? Aber. Und jetzt kommt’s, in Form eines provokant-fragwürdigen Steinbrunnens. Jetzt rate, wie der aussieht. Kleiner Tipp: Er ist aus rosa Marmor, ziemlich hoch und ziemlich weiblich.“

Paulina schüttelte lächelnd den Kopf. Charly war so aufgebracht, dass nichts zu machen war, sie musste ihr folgen, um das Ding zu begutachten. Da der Weg in die beabsichtigte Richtung führte, war es Paulina recht; bis sie dann vor dem säulenartigen, meterhohen, rosa Skulpturbrunnen standen und Paulina nach und nach realisierte, wovor sie standen. Anscheinend wurde von unten aus dem Becken Wasser aufgesaugt, um es oben wirkungsvoll auszusprühen. Leute eilten daran vorbei, erst als der Brunnen heftiger zu sprühen begann und ein Pilz aus fein zerstäubten Wasserteilchen im hohen Raum emporwuchs, blieben einige staunend stehen, lächelten, zwei Männer schlenderten näher heran. Einer der beiden las halblaut das Schild darunter. „Skulpturbrunnen ‚Weiblichkeit’ entworfen von der russischen Künstlerin Natalja Smirnova.“ Er murmelte seinem Begleiter etwas zu, sie grinsten, ein weiterer Betrachter hob kurz die Schultern, ging weiter. Charly wollte Paulinas Sprachlosigkeit beenden. „Ja, siehst es denn nicht? He?“

Paulina begann ungläubig den Kopf zu schütteln. „Eine Vagina?”Charly erklärte schmunzelnd. „Denk dir, wir stehen tatsächlich vor einer meterhohen Riesenvagina!“Paulina empfand den Moment als surreal, wie ein Scherz von Charly, welcher gerade eben dinglich geworden war. Doch ihre Gedanken rasten. Ist aus edlem Stein, könnte auch eine Frauengestalt, allerdings ohne Kopf, sein, aber nein, das stimmt so nicht, dann müsste die Säule ja kurvig sein. Sie wich etwas zurück, genauer schauend, nachdenkend. Was ihr jetzt in den Sinn kam, war ein Erkennen von – dass es hier etwas gibt, das es eigentlich nicht gibt. Zumindest in dieser Form, an diesem Ort. Sie dachte an den übergroßen Tampon, den sie letzthin auf einem Wagendach montiert, nahe am Kunsthaus gesehen hatte; wohl ein Teil von mehreren feministischen Kampagnen in Graz. Doch dies hier? Was ging hier vor? Paulina konnte sich kaum vorstellen, dass es von Frau Nowak veranlasst worden war und diese Frau ein feministisches Symbol hier platzierte. Nein, das passte nicht zu ihr, wohl eher andersrum, der Brunnen sollte einem bestimmten, eindeutigen Zweck dienen, wohl eine Attraktion für Männer sein, oder extra originell sein, oder ging das Ganze in Richtung Erotik? Jetzt realisierte Paulina, dass sie gleich nebenan ihr eigenes Geschäftslokal haben sollte. „Also, der Sexshop hätte besser hierher gepasst!“, murmelte sie. Charly schaute nur groß, ohne zu antworten. Ihr beruhigendes Naja kam etwas spät. Dann meinte sie, dass es sonst ein guter Platz wäre. Das Sonst war es, was Paulinas Unsicherheit wachsen ließ.

Was Charly bemerkte, sie beruhigte in sachlichem Ton. „Du siehst ja, du hast es nicht gleich bemerkt, was das Ding darstellt. Ja, lange nicht bemerkt und so ist es nur für die zu erkennen, die es sehen wollen. Außerdem, mich freut’s irgendwie!“ Paulina wurde damit bewusst, dass dieser Brunnen auch tatsächlich als ein feministisches Kunstobjekt und Mahnmal gesehen werden kann.

Charly begutachtete den für Paulina vorgesehenen Geschäftsstandort, indem sie ihn abschritt, anschließend Paulina aufforderte sich mit ihr an einen Punkt zu stellen und zu beobachten, wie die hereinströmenden Menschen sich daran vorbei bewegten. So standen die beiden eine Weile an einer der Seitenwände gleich neben dem Eingang. Bis Paulinas Aufmerksamkeit von einem seltsamen Kribbeln in den Füßen umgelenkt wurde. Sie spürte die Blicke auf sich, und entdeckte den Absender, einen jungenhaften, kleinen Mann schräg vorne im Vorhofbereich des Vaginabrunnens. Er hatte den Blick gesenkt, hielt ihn aber weiter in ihre Richtung. Paulina wusste es, er schaute auf ihre Füße. Noch etwas fiel ihr an ihm auf, sie wusste nicht gleich was, dann war es ihr blitzartig klar. „Schau schnell, auf elf Uhr, der sieht doch aus wie – Woody Allen!“Und schon war er weg, wie eine Fata Morgana, Paulina beschrieb ihn der Freundin als eine jüngere Ausgabe von Woody Allen. Charly wies mit einer Kopfbewegung in eine andere Richtung, sie hatte ebenso jemand gesichtet. Gleich danach wurde es Paulina klar. Ihre Tochter Luise war hier, sofort zu erkennen an dem wuscheligen, braunen Lockenkopf, die Pracht mit einem Haarband zusammengefasst. Eine Freundin war an ihrer Seite. Die beiden jungen Frauen begutachteten den Brunnen und kamen mit einem jungen Mann ins Gespräch, der Paulina bekannt vorkam.

Anscheinend kam Luise mit dem jungen Mann ins Flirten, es sah ganz danach aus, realisierte Paulina und wunderte sich. Luise war meist recht wählerisch, in manchen Phasen genau das Gegenteil, was Paulina manchmal beunruhigte. Nur zu diesem Zeitpunkt, nämlich außerhalb einer solchen Phase und in dieser Art war ihr Verhalten ungewöhnlich, da war sich Paulina gewiss. Und an solch einem Ort, wie hier an diesem fragwürdigen Ding, dem Vaginabrunnen, hätte sie von ihrer Tochter erst recht eine sachliche, ja kritische Haltung oder Stimmung erwartet.

Charly holte sie aus den Beobachtungen. „Lass gut sein! Dein Platz ist in Ordnung, man muss geradezu daran vorbei und wenn der Shop-Würfel steht, ist es in ganz anderer Art auffällig. Und, tja, der Brunnen hier, den kannst du als eine Quelle der Weiblichkeit sehen, das kann anziehend wirken!“ Und gleich darauf, um Paulina zu beruhigen, „schon deshalb, weil so ein riesiger Brunnen einfach magnetisch wirkt!“

Paulina beschloss inkognito zu bleiben, was Luise betraf. Sie wollte ein anderes ihrer Vorhaben angehen, dieses stand rot markiert auf ihrem Terminplan und sollte heikel werden.

Sie achtete nicht darauf, dass ein kleiner schmaler Mann mit großer, dunkel gerahmter Brille in Richtung Rückseite des Brunnens schlenderte und Füße beobachtete, oder den Boden begutachtete. Und niemand hätte geahnt, dass seine Aufmerksamkeit geschärft auf anderes ausgerichtet war.

Wenig später eilte Paulina durch die Gassen am Rande des Innenstadtbereichs. Sie betrat eines der alten Häuser und schritt bis hin zum Hinterhofausgang, bevor sie bemerkte, dass es nicht das richtige Haus war. Einen Moment genoss sie den Blick, sie mochte diese alten Gärten von Graz. Paulina hatte sie immer als sehr eigen empfunden, mehr unbewusst als bewusst wie die Hüter eines Stadttraumes, welche hier in den Pflanzen so vieles verwahrten, gesehen. So hielten die Gärten eine Erinnerung aufatmende Art lebendig, vielleicht auch jene, die von den verschiedenen europäischen Kulturströmen herrührt. Römische, slawische, magyarische und bajuwarische Einflüsse vereinigen sich in dieser Stadt zu einem Ganzen, das ihr Charisma und den Charakter ausmacht. Gleichzeitig entwickelte sich von hier aus eine Eigenschaft, die man als heimelig bezeichnen könnte. Mit einer früher sparsamen, jetzt stellenweise wachsenden Prise Weltoffenheit. Jedenfalls schien und scheint es, wer einmal hier lebt, kann schwerlich wegziehen, zu heimelig diese Stadt.

Paulina verließ das Haus und ging die Gasse weiter, die langsam den sanften Hügel hinauf verlief, der den äußeren, nordöstlichen Rand der Stadt markierte. Die Häuser standen hier nicht mehr so dicht und der Wind war spürbar. Abrupt blieb sie stehen, stellte ihre braune Koffertasche kurz ab und kramte in der kleinen Umhängetasche nach dem Brillenetui. Sicherer geworden, schritt sie weiter, die Sonnenbrille im Gesicht. Sonnenbrillen gewähren immer einen Hauch von Anonymität, was Paulina in diesem Moment als gut empfand. Konzentriert betrachtete sie die Nummernschilder der Häuser. Der Gürtel ihres leichten Mantels löste sich langsam, doch sie nahm sich nicht die Zeit, ihn zu schließen. Sie hatte das Haus entdeckt und schritt zielstrebig auf einen Hauseingang zu. Paulina stieg die Steinstufen in dem schmalen, kleinen villenartigen Gründerzeithaus hoch bis in den zweiten Stock.

Bis sie vor der Tür von Hermine Himmelstoß stand. Astrologin, wie auf deren Namensschild vermerkt und nicht zu übersehen war. Paulina war gespannt, ob der Ruf, der dieser Person als Fachfrau vorauseilte, stimme. Schräg bis absonderlich, doch sehr gut und hilfreich.

Sie klopfte an die breite, zweiflügelige Holztüre mit Glaseinsatz und nahm die Brille ab. Der Schatten, der hinter der Türe auftauchte, kündigte das Öffnen an. Nach einem gedehnten Moment stand sie vor ihr, eine Frau, wohl Ende Mitte oder Ende sechzig, klein und rundlich, mit ausgeprägten Zügen und ziemlich großer Nase.

Paulina grüßte leise. Frau Himmelstoß nickte mit prüfendem Blick und bewegte wie schnuppernd die Nase. Mit einer Handbewegung forderte sie zum Eintreten auf.

Der wenig freundliche Empfang befremdete Paulina, ihr Blick auf diese Person wurde eine Nuance kritischer. Zudem konnte sie gar nicht anders, sie musste die Nase der Frau betrachten. Sollte es tatsächlich so sein, dass diese ihre Kunden mit dem Geruchssinn wahrnimmt? Paulina betrat zögernd die Wohnung und schritt erst nach Wiederholung der einladenden Geste weiter. Sie kam über einen Korridor in einen großen Raum, in dessen Ecke ein Tisch mit einem alten Bildschirm und Computer stand. Der Parkettboden aus den Fünfzigern knarrte auf eigene Art, als sie auf die zwei gegenüberstehenden Sessel zuging. Dazwischen stand ein antiker Tisch mit eigenwillig gedrechselten Beinen. Einige alte Truhen mit holzgeschnitzten Verzierungen waren irgendwie im Raum aufgestellt und wirkten nicht wirklich platziert. Es hatte den Anschein, als würden sie ständig verschoben. Möbel auf Rollen, schoss es Paulina durch den Kopf. Nur ein alter schöner Schrank schien seinen festen Platz in der Ecke zu haben.

Die Astrologin setzte sich an den Tisch, Paulina nahm ihr gegenüber Platz, öffnete den Mantel vollends, zog das Halstuch herunter und legte es in den Schoß. Paulina betrachtete die geheimnisvoll wirkenden Truhen interessiert, eine nach der anderen, und versuchte dies unauffällig zu tun. Dann rückte Paulina ihre kleine Koffertasche neben sich zurecht und etwas seitwärts. Die Astrologin nahm ein Blatt zur Hand, schaute Paulina in die Augen.

Paulina wollte ihre Unsicherheit überspielen und begann zu sprechen. Nun, da sie endlich mit einem gesprochenen Wort von der ihr gegenübersitzenden Frau rechnen konnte, löste sich eine kaum bewusste Beklemmung. „Ich bin das erste Mal bei einer Astrologin. Und eigentlich, um ganz ehrlich zu sein, bin ich – ah – etwas skeptisch. Aber, Sie wurden mir so eindeutig empfohlen.“ Paulina wischte die Haarsträhne aus dem Gesicht und räusperte sich.

Die Astrologin sog die Luft wieder hörbar durch die Nase ein. Paulina warf ihr einen irritierten Blick zu, schaute wieder auf die Nase, die Vermutung, dass die Frau verschnupft war, drängte sich auf. Die Astrologin nahm Karten zur Hand, begann diese spielerisch zu mischen. Und endlich auch zu sprechen. „Ich verwende verschiedene Methoden und mische sie. Dabei sehe ich die Möglichkeiten für ein persönliches Horoskop nicht ganz so eingleisig. Oder zu verschwommen, was die andere Seite ist. Vor allem möchte ich Eines festhalten. Sie hören von mir keine Prophezeiungen. Sie bekommen von mir lediglich Hinweise, welche Potentiale Sie besitzen. Welche davon zurzeit hochkommen und gut zu leben sind. Die Astrologie ist nur ein Mittel, um Ihnen Ihre Möglichkeiten bewusst zu machen. Sie müssen dann selbst wählen, was Sie leben werden. Die eine Möglichkeit oder die andere oder vielleicht eine weitere.“

Hermine Himmelstoß lächelte und Paulina hatte den Eindruck, sie tat dies auch mit ihrer Nase. Paulina fühlte sich abrupt sicher; sie spürte sich, die eigene Person, intensiv und wohl und dies bis in die Zehenspitzen. Sie nickte leicht, während ihr auffiel, dass die struppig abstehenden grauen Haare der Frau eigentlich gut passten und ihr etwas von einer weisen Alten verliehen. Frau Himmelstoß legte mit blitzschnellen Bewegungen einige Karten auf den Tisch. „Ich habe auch Ihr Radix und anderes vorbereitet. Daraus und hieraus sehe ich, dass Sie vor einer Wende stehen, nachdem Sie eine lange Zeit des Zurückhaltens hinter sich haben. Sie haben andere unterstützt und sind dabei an Ihre Grenzen gekommen. Sie haben zwei Kinder, keinen Partner. Lange keinen festen Partner, hm.“

Hermine Himmelstoß schwieg einige Momente, während sich Paulinas Erstaunen über die Aussagen der seltsamen, schrulligen Frau mit wachsendem Respekt vermischte. Sie nahm die lange Redepause nicht wahr, in der sie in das faltige Gesicht der Frau schaute und dieses ihr übergroß erschien. Riesengroß, raumfüllend. Und rundherum die Haare, die wie ein starrer Rahmen wirkten, wenn Frau Himmelstoß den Kopf bewegte. Als sie dann weitersprach, wanderte Paulinas Blick zum Fenster und es schien, dass sie noch unsicher war, ob sie wirklich in tiefe Einsichten oder Erinnerungen eintauchen wollte. Und gerne weggedacht hätte, irgendetwas anderes geredet, nur nicht in Weggeschobenes, das ohnehin längst passé, hineinschauen.

Paulina beendete zögernd die Pause und antwortete bewusst sachlich. „Ja. Bin aber mit dem Alleinsein nicht unglücklich und wissen Sie warum? Nicht nur wegen meiner eigenen Erfahrungen mit Partnerschaften, auch was ich bei anderen beobachtet habe. Es scheint nur zwei Arten von Frauen oder Männern zu geben. In den letzten Jahren habe ich dies bewusst beobachtet und es hat sich immer wieder bestätigt. Es gibt den einen Teil, der die Chefin oder den Chef spielt und der andere wird zum Diener oder zur Dienerin. Ja, es ist fast wie in einem Spiel unter Kindern. Sie verstehen? Nur, dass es nicht ausgesprochen und nicht bewusst gedacht wird, das 'Komm - machen wir aus - du bist Diener und ich bin König'. Also geht es um das Herrschen und das Beherrscht-Werden. Meistens! Gibt es überhaupt eine ausbalancierte, wirkliche Partnerschaft? Tja, und in der extremeren Form wird geschlagen, körperlich oder seelisch, oder beides.

Ich gehöre, oder gehörte bisher, zur beherrschten Sorte, und so gesehen, geht es mir jetzt ohne Partner besser. Aber, eigentlich“, Paulina räusperte sich, „eigentlich bin ich wegen meiner Berufspläne zu Ihnen gekommen!“

Der Blick der Astrologin traf Paulina tief und sie sprach weiter, ohne auf den Einwand einzugehen. „Sie sind an Lebensabgründe herangekommen, ja Sie haben hinuntergeschaut. Was ist mit dem Vater der Kinder?“

Paulina schwieg kurz. „Gestorben. Schon lange, als die Kinder noch klein waren. Gehirntumor.“ Sie schaute zu Boden. „Nein, er hatte schon eine andere Familie vorher, in einem anderen Bundesland, war ein Schwindler.“

„Was jetzt? Gehirntumor oder Heiratsschwindler?“

„Ist ja irgendwie hirnkrank, oder? Einfach zwei Leben parallel zu leben. Nein, es war das zweite, nur das Doppelleben. Er war einfach weg, verschwunden.“ Paulina schaute aus dem Fenster. Sie glauben nicht, was man alles erleben kann, wenn man mit zwei Kindern alleine ist.“

Hermine Himmelstoß nickte. „Was gefällt Ihnen daran – ein Opfer zu sein?“

Paulina schaute auf, nachdenklich, antwortete nicht.

Frau Himmelstoß redete weiter. „Wie es mit Ihrer Ursprungsfamilie aussieht, kann ich hier nicht sehen …? Es scheint, Sie sind aus dem Nichts aufgetaucht.“

Paulina ging auch darauf nicht ein und erklärte nun etwas hastig. „Es ist relativ schwierig, in meinem Alter einen wirklich passenden Job zu finden, mit meiner Ausbildung als Großhandelskauffrau aus jungen Jahren, komme ich heute nicht weit. Daher habe ich vor, etwas Anderes zu machen. Wissen Sie, ich hatte schon öfters an verschiedene Möglichkeiten der Selbstständigkeit gedacht. Doch da waren meine zwei Kinder. Ich hatte kein Geld und damit keine Chance, irgendetwas zu bewegen.“

„Wie ist es mit den Kindern?“

„David ist seit kurzem aus dem Haus und lebt mit seiner Freundin zusammen, Luise ist recht selbstständig, auch wenn sie noch bei mir wohnt.“

Frau Himmelstoß erwiderte nichts, dennoch kam eine Frage herüber.

Paulina sprach zögernd weiter. „Nein, ich hatte nie Angst zu versagen, diese Gedanken habe ich mir nie erlaubt, denn das wär gefährlich gewesen. Immer voran, war die Devise. Und schließlich ist es gar nicht so übel geworden. Bei David hab ich zwar das Gefühl, er ist noch nicht richtig hier angekommen. Alles dauert länger bei ihm, aber irgendwie bin ich zuversichtlich. Das Sozialpädagogik-Studium hat er aufgegeben und übergewechselt auf Jus. Ja, ist ungewöhnlich, aber ehrlich gesagt, über seine erste Wahl hab ich mich eh gewundert.Wegen Luise mach ich mir ein wenig Sorgen. Sie studiert seit kurzem Journalismus und ist dort gut unterwegs. Aber die Männergeschichten sind krass. Bis vor einem Jahr war gar nichts, dann plötzlich, nach dem ersten Freund eine wilde Phase. Ich will nicht wissen, wie viele Jungs das waren. Sie scheint nur zwei Dinge zu leben. Exzessiv, oder das Gegenteil. Sie war noch nie wirklich in einer Beziehung.“

Hermine Himmelstoß lehnte sich zurück. „Weshalb sind Sie hier?“

„Ich möchte mich selbstständig machen. Wie gesagt, das wollt ich schon mehrmals. Schon als die Kinder noch klein waren, habe ich zwischendurch immer wieder mal so ein ‚Gedankending’ gehabt, eine Vorstellung von einem kleinen Laden oder einem Produkt. Hin und wieder dachte ich daran, es zu probieren. Doch dann ließ ich es, hab es abgelegt unter Träume, Illusionen.“

Paulina veränderte die Stimmlage. „Nur einmal war ich nahe daran, eine Eingebung in die Tat umzusetzen, und zwar die mit dem Kräuter-Glückstrunk. Irgendwie schade. Ich benannte den Glückstrunk recht originell, plante es als ein Getränk mit harmlosen stimmungsaufhellenden Inhaltsstoffen. Übrigens gibt es mittlerweile so ähnliche Produkte, damals wär's das Erste gewesen. Und jetzt hätte ich wieder so einen Gedanken, eine Art Geschäftsidee, nur klein, aber vielleicht ausbaufähig. Meine Mittel reichen gerade, um zu starten. Mit Wareneinkauf wird es schon knapp, ich hoffe, von meinem ehemaligen Arbeitgeber noch etwas zu bekommen. Nur, eigentlich hätte ich die Frage an Sie, ob Sie vielleicht …?“, Paulina zögerte weiterzureden.

Hermine Himmelstoß hob abrupt den Blick vom Blatt Papier vor sich. „Irgendwo, ganz hinten in ihrem Bewusstsein, da lagerten Sie die Pläne alle ein. Von dort kommt jetzt Druck. Und da ist noch ein vages Drängen, es kommt aus dem Dahinter, diesem Dunkel in Ihrem Hintergrund.“

Paulina sprach nicht, sichtlich gespannt auf die weiteren Äußerungen der Astrologin.

Diese warf einen kurzen Blick auf den kleinen Koffer und fuhr langsam sprechend fort. „Veränderung ist für Sie angesagt, alle Zeichen stehen in diese Richtung. Sie sollten dabei aber auf Ihre Balance achten, darauf, dass es Ihnen nicht entgleitet. Ich sehe zwar wenig Widerstände, aber es könnte Widersacher geben. Das heißt, wenn es einen Widerstand gibt, dann in Form eines massiven Widersachers.“ Sie zögerte mit weiteren Ausführungen.

In Paulinas Unterbewusstsein ruckelte es verhalten, sie konnte es nicht realisieren und wechselte über in Verwunderung über ihre eigene spontane Frage, die ihr herausrutschte. „Passt der Zeitpunkt, sollte ich vielleicht doch noch warten, zusehen, ob ich selbst mehr Geld zusammenbringe ...?“

„Es gibt Momente im Leben, die sind zum Handeln gut. Sie sind an so einem Punkt.“

Paulina rückte auf dem Sessel zurecht. Sie wollte eigentlich etwas Anderes fragen, nachdem das Gespräch nun aber so verlief, bohrte sie weiter. „Aber, tu ich das Richtige? Was ist, wenn?“

Hermine Himmelstoß war bereits bei den letzten Worten Paulinas aufgestanden, hatte in die nahest platzierte Truhe gegriffen, einige mittelhohe, schlanke Kerzen in kleinen Haltern hervorgeholt. Während Paulina das Reden verlangsamte und leiser werdend einstellte, zündete sie die Kerzen nacheinander an. Paulina beobachtete diese seltsame Person etwas verblüfft und zunehmend neugierig. Frau Himmelstoß begann die Kerzen unter Paulinas Stuhl zu stellen. „Wie fühlen Sie sich?“

Paulina wusste nicht was sagen, schmunzelte und antwortete dann wie scherzend.

„Weiß nicht, erhitzt? Hoffentlich nicht gleich angeschmort?

Frau Himmelstoß fuhr unbeirrt fort und stellte nacheinander weitere angezündete Kerzen unter ihren Stuhl.

Paulina rutschte zunehmend unruhig auf der Sitzfläche hin und her. „Was soll das jetzt? Gehört das zum …“

Hermine Himmelstoß unterbrach. „So geht es Ihnen jetzt. Und das schon seit Jahren. Was werden Sie tun, was werden Sie wählen? Sie können die Kerzen ausblasen, oder einfach aufstehen, davonrennen und es keinem erzählen, nicht mehr daran denken. So wie Sie es mit Ihrer Kindheit tun. Oder Sie können aufstehen und es doch erzählen. Sie können ihr Licht hervorholen! Sie könnten riechen, wohin der Weg für Sie führt.“ Feine Rauchschwaden begannen zwischen ihnen beiden aufzusteigen.

Paulina sprach hastig, fast gehetzt, während Rauchschwaden sichtbar Richtung Tür zogen. „Tja, hm, ich soll es wohl tun!“

Der hinunterhängende Teil des Schals begann leicht zu wehen, wie von Hitze bewegt. Paulina nahm ihn hoch und klopfte darauf, meinte ein Glimmen stoppen zu müssen, sie stieß hervor, „haben Sie keine Angst um den Stuhl?“

Frau Himmelstoß nickte, was dieses zu bedeuten habe, war Paulina nicht klar. Die Astrologin hingegen zündete eine weitere Kerze an, in diesem Moment bäumte sich etwas aus Paulinas Innerem auf und hervor; und bevor sie es gedanklich greifen konnte, stieß sie die Frage aus (über welche sie sich einen Moment später selbst wunderte).

„Und wenn – ich Sie dabei haben wollte?“

Nach dem kurzen überraschten Aufblitzen in den Augen ihres Gegenübers redete Paulina schnell weiter. „Weil ich mir eine astrologische Geschenkeberatung als Dienstleistungsangebot vorstelle. Jeden Samstag, sagen wir von neun bis zwölf Uhr? Über die Beratungsgebühr, die Sie einheben und über den Anteil für mich, darüber müssten wir reden. Sie hätten sicher eine gute Werbung!“

Frau Himmelstoß nickte und zeigte sich nunmehr kaum überrascht. Daraufhin erhob sich Paulina, griff entschlossen unter den Stuhl, holte eine der Kerzen hervor und stellte sie mit brennender Flamme auf den Tisch. Frau Himmelstoß blieb wortlos, sie hatte plötzlich eine alte Schatulle wie aus dem Nichts in Händen und öffnete den Deckel. Paulina warf hastig einen Blick hinein, dann einen Geldschein, nahm die Koffertasche und rief beim Hinausgehen. „Ich melde mich!“

Frau Himmelstoß schaute ihr schmunzelnd nach, griff nach unten in eine verborgene Lade und holte einen glimmenden Rauchkegel hervor, den sie nun sichtbar auf den Tisch stellte. Eine rote Katze sprang wie aus dem Nichts hervor.

Ja, Hermine Himmelstoß lebte in gewisser Weise in einer rauchigen, duftenden Blase, in ihrer eigenen Welt, und sie war imstande, diese Blase überall hin mitzunehmen. Außerdem war sie fähig aus dieser eigenen Welt heraus andere Menschen zu verstehen, zu erforschen, ja zu berühren. Da sie ohne eigene Familie geblieben war, konnte sie sich dieser Aufgabe ganz und gar widmen. Sie nahm ihre Katze hoch, stellte sich an das Fenster und schaute hinein in einen jener Grazer Stadtgärten, die ihren eigenen Traum träumten.

Dort hatte auch Hermines Traum begonnen, der sie als junge Frau in die Hippieszene geführt hatte. In den späten Sechzigern hatte sie sich von dieser Aufbruchsstimmung mitreißen lassen, nachfolgend landete sie in den Armen eines indischen Guru, an dessen Seite sie eine Weile lebte. Bis es nicht mehr passte, mehr ihr, als ihm. Denn wirklich leben in dieser Art von Harem war eigentlich nicht ihre Intention. So ging sie zurück in die Heimatstadt Graz, übernahm die Wohnung der verstorbenen Mutter. Das Außer- und Übersinnliche, Spiritualität und ein entsprechendes Leben ließen sie aber nicht mehr los. Auch wenn sie dazu ihre ganz persönliche Haltung entwickelte. Hermine streichelte ihre rote Katze. Sie fühlte sich wohl in ihrer duftenden, kleinen Welt, aus dieser heraus konnte sie so vieles beobachten und verstehen. Ob sie diese Welt nun verlassen sollte und mit Paulina Steinbach zusammenarbeiten? Es schien ihr reizvoll, zwischendurch einen Schritt weit aus der eigenen Welt heraustreten kann guttun; schließlich rät sie dieses auch anderen Menschen. Hat Paulina Steinbach ihr selbst etwas gespiegelt? Sie schmunzelte mit einem gedachten Ja zu diesem Angebot, nahm sich aber vor, ihr eigenes, inneres Zentrum zu erhalten.

2 Frischer Wind

Der Wind ließ Paulinas leichten Mantel geräuschvoll flattern, wie ein Segel fast, das sie gerade hisste, um in ihr neues Lebe aufzubrechen. Voller Mut und nun berechtigter Entschlossenheit verließ sie das Haus. Auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob ihre Entscheidung, Frau Himmelstoß zu engagieren, richtig war, fühlte sie sich bestärkt. Der Blick auf ihren Schal, der nicht angeschmort und völlig unversehrt war, ließ ihre Gedanken weiter um diese sonderbare Person kreisen. Jedenfalls war sie als Ratsuchende nicht, wie befürchtet, in irgendetwas Obskures geraten, nein, so war es nicht. Außerdem fiel ihr ein, dass sie es tatsächlich für einen kurzen Moment geschafft hatte, diese Frau auch ihrerseits zu verblüffen? Es amüsierte sie, was Paulina an ihren Grübchen anzusehen war. Kurz vor dem vereinbarten Treffpunkt mit Charly wurde ihr rascher Schritt durch eine rote Fußgängerampel gebremst. Sie bemerkte kaum, was um sie herum vor sich ging, PKWs, die vorbeirauschten, dann einen LKW, der in Warteposition an der Ampel stand und rauchende Auspuffgase wie Sprechblasen in einem Comic von sich gab. Sie erinnerten Paulina an das gerade Erlebte und sie musste schmunzeln, weil sie an die Rauchzeichen in Hermine Himmelstoß’ Wohnung dachte. Gleich danach betrat sie schwungvoll das Kaffeehaus. Der Zugang führte durch das Eingangsportal der Hofbäckerei, das, mit Schnitzereien reich und kunstvoll verziert, an längst vergangene Tage der Stadt Graz erinnerte. An die Zeiten, als der Hof noch in der Stadt weilte. Gleich danach sah Paulina Charly durch das Portal schreiten. Leicht zu erkennen an diesem besonderen Gang, die Festigkeit ihres Schrittes, und doch auch federnd und leicht, Charly eben. Eine Person, die auf wunderbare Weise die Eleganz eines weiblichen Wesens mit Kraft, Stärke und Sicherheit zu verbinden vermag. Als Wachorgan für weibliche Strafgefangene hatte Charly den Vorsatz, nachhaltig an die Grenzen, an Recht und Ordnung zu erinnern. Ja, nachhaltig. Für sie waren Gesetzesentgleisungen aller Arten nicht das Ergebnis von betimmten Erlebnissen oder einfach Charaktersache, sondern das Ergebnis einer Summe von Einflüssen. Meistens jedenfalls, wenn es auch hin und wieder Gefängnisinsassinnen gab, die aus guten Verhältnissen stammten, nie ein traumatisches Erlebnis gehabt hatten und dennoch zu einer Diebin oder Betrügerin geworden waren. Charly fand es interessant und beachtete ebenso deren Lebens- und Vorgeschichten. Vor allem lebte sie konsequent eine gewisse Eigenwilligkeit in der Ausübung ihres Berufes.

Als sie nun auf die Freundin zukam, war es nicht das erste Mal, dass Paulina es sich gut vorstellen konnte. Sich in Charly zu verlieben. Wenn, ja, wenn sie sich zu weiblichen Wesen sexuell hingezogen gefühlt hätte, was eben nicht Paulinas Veranlagung entsprach.

„He du!“, kam es in origineller Frische von Charly.

Paulina lächelte. „Warum hast mir nicht gesagt, wie schräg diese Astrologin ist?“„Also, ich persönlich habe keine eigene Erfahrung mit ihr. Aber ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass sie wirklich gut ist.“ Charly lachte kurz auf.

„Nur, sie sollte auch die Dinge draufhaben, die man von einer Astrologin erwartet, du weißt schon – Ihr Mond ist im achten Haus, Achtung tiefe Gefühle, da tut dies oder das gut und so dahin, wie das eben so läuft.“

„Hat sie, verlass dich drauf. Sie gibt sich nur gerne unkonventionell oder direkt! Sie passt, glaub mir! Allein schon durch ihr Äußeres!“ Beide lachten. Nicht über Frau Himmelstoß, weil sie schrullig aussah, sondern wegen Frau Himmelstoß, weil sie so besonders war.

Eine Gruppe junger Menschen betrat das Lokal und bewegte sich weiter nach nebenan. Einer der jungen Männer machte kehrt, ging an den Tisch der beiden Freundinnen und lächelte sie umwerfend an. Er hielt lose Blätter in der Hand und legte eines davon auf den Tisch. Paulina war zu überrascht, sie nahm nur beiläufig wahr, dass es um die Neueröffnung eines Geschäftes ging und eine der neuen alternativen Ideen zur Verwertung von getragenen oder gebrauchten Dingen, oder Geräten. Der äußerst gutaussehende Mann, dunkelhaarig, glutäugig, groß und gut gebaut, war eigentlich umwerfend. Das bemerkte sogar Charly und betrachtete ihn aufmerksam, während er sprach.

„Wenn ihr Freitag Zeit habt, hier eine Einladung zur Eröffnung. Und es gibt ein interessantes musikalisches Highlight. Jede Woche gibt es bei uns etwas in dieser Art, entweder einen Vortrag, eine offene Gesprächsrunde, Musik und oder Lesung. Geht immer um eine neue Freigeistigkeit, Offenheit und Fortschritt auf Basis der Menschen- und Frauenrechte und einer universellen Ethik.“ Er lächelte umwerfend und sah Paulina in die Augen, wollte schon weitergehen.

Charly konnte sich nicht zurückhalten ihn anzusprechen. „Und – wie denkt ihr über den Skulpturbrunnen im Einkaufszentrum Süd, nennt sich Brunnen der Weiblichkeit? Soll übrigens eine Vagina darstellen! Und, sollte dieses Denkmal der Frauenbewegung Schwung geben oder einfach nur wieder einmal einem Mainstream-Feminismus dienen? Oder gar noch ärger – eine Attraktion für Männer und für einen Mainstream-Sexismus sein? Das könntet ihr auch hinterfragen!“ Er nickte überrascht und interessiert, wirkte zustimmend und ging weiter, und ja, er wolle sich darum kümmern.

Charly schmunzelte und Paulina konnte es sich denken, dass ihre Freundin bereits feministische Streiks oder Kundgebungen vor dem Brunnen sah. Paulina lächelte, nicht nur wegen dieser Vorstellung, und ihre Grübchen traten überdeutlich hervor.Charly entging nichts. „He, he? Der ist ziemlich jung! Na, trotzdem, gut, dass du so etwas auch bemerkst, ich bin überrascht.

Paulina wirkte locker amüsiert, als sie scherzend fortsetzte. „Ist sowieso nix für mein Alter. Aber davon abgesehen, könnte es sein, dass jetzt neue Männer auftauchen? Wohl eher bei den jungen und jüngeren Männern?“

Charly hob die Schultern. „Kürzlich les ich, dass 33 % der jungen Männer Gewalt gegen Frauen akzeptabel finden! Heute noch! Tja, dann sind die hier wohl die anderen!“

„Und was ist mit den neuen, anderen Frauen? Solche, die sich nicht ständig vergleichen, wer denn die Schönere oder Bessere ist … was damit endet, dass Frau dann äußerlich eine andere sein will … obwohl …“, Paulina zögerte, ein neuer, noch unklarer Gedanke regte sich in ihr.Charly nahm den Faden gern auf. „Hm, es gibt solche Frauen, die alles tun, um so auszusehen, wie eine Prominente. Aber, denk, es gibt die anderen jungen Frauen, die natürlich und ökologisch leben und nicht nur reden. Die sind, denke ich, vielleicht sich selber die andere Frau!?“

Paulina hob kurz die Augenbrauen, sagte erst nichts, irgendwie traf sich das mit ihrem neuen Gedanken, sie ließ diesen aber im Inneren. „Du … aber! Du bist doch eine neue Frau! Du lebst dich wie du bist! Und wenn du Lust hast, bist du auch mal eine Andere, ohne deine Haare zu färben oder deine Nase zu operieren! Charly lächelte verschmitzt. „Na, das sind bloß die paar Jahre, die ich jünger bin als du!“

Paulina bemerkte, wie Charly wieder an diese Grenze kam zwischen ironisch und ernst. „Genug, genug! Apropos neue Frauen, gibt es da eine in deinem Leben?Charly war nicht zu bremsen und sprach mit gespielt ernster Miene weiter. „Zurück zu den Männern, die sollten wir nicht vergessen! Und ich glaube, auch wenn es mich nicht so interessiert, es gibt sie doch! Die Männer, die die Persönlichkeit einer Frau schätzen!“ Sie grinste schelmisch. „Also, ein Hoch auf die neuen Männer, und die neuen Frauen!“ Sie wurde leiser. „Tja, es gibt auch eine neue Frau in meinem Leben. Vorerst verrate ich nicht! Ist viel zu früh!“

Paulina nickte lächelnd, beide kamen in ein lockeres Lachen und ließen sich von ihrem Lachen mitnehmen, andere Gedanken für Momente hinwegspülen. Die Lockerheit blieb, als Paulina weiterfragte. „Und? Wie denkst denn über meine Idee, im Geschenkeshop eine astrologische Geschenkeberatung einzuführen?“

Charly nahm einen Schluck Kaffee. „Gut! Guuut! Hat nichts mit übertriebenen oder seltsamen Erwartungen von Außersinnlichem zu tun.“ Da sie denselben Tonfall, wie in den vorherigen Bemerkungen behielt, waren damit Paulinas Zweifel nicht ausgeräumt. Deshalb bekräftigte Charly. „Frauen neigen ja sowieso dazu und von Männern höre ich, dass es jetzt immer mehr Astrologie-Interessierte gibt. Na, im Ernst, deine Idee ist voll in Ordnung!“

„Und kann ich mit deiner Hilfe rechnen?“

Charly erklärte gespielt trocken. „Natürlich, soweit ich neben meinem Job die Möglichkeit habe!“

In Paulinas innere Welt kehrte Sicherheit und Ruhe ein, Charlys Humor und Zusage waren mindestens so hilfreich wie die Astrologin. Sie bemerkte dies beiläufig, als sie den Mantel anzog und Charly umarmte, die noch an ihrem Kaffee schlürfte, während Paulina Richtung Ausgang ging. Der fesche Kerl kam gerade aus dem Nebenraum, er rief ihr lächelnd nach. „Die Einladung ist mit dabei?"

Paulina ging noch mal zurück und nahm sie an sich, während Charly in ihre Tasse hinein schmunzelte.

Wenig später und sicheren Schritts, war Charly im Stadtpark unterwegs, am Teich, bei den Enten, traf sie eine etwa vierzigjährige Frau, etwas unscheinbar, und auch nicht, denn eine Fülle von wirren, rotblonden Locken umrahmte ihr Gesicht und ergoss sich auf die Schultern. Sie umarmten sich, schlenderten die Wege entlang, bis sie an ein sehr stilles Plätzchen kamen, das weit weg von allem schien. Aus einer Berührung der Hände, wurde ein Sich-Anschmiegen, aus dem Schmiegen ein Wangen-aneinander-Reiben, bis sich die Lippen berührten. Charly dachte wenig später an Paulina, wie sie ihr erklären könnte (was sie gerne getan hätte), dass der Kuss der Frauen ein anderer ist. Wie kann man es beschreiben? Dass frau sich Mehr-Frau fühlt? Dass Frau ihre eigene Weiblichkeit hochsteigen lässt und voll zulässt? Ja, verstärkt? Für Charly, wie für Gleichgesinnte jedenfalls ein Mehr-Frau-Sein.

*