Die Angst vor Krankheit verstehen und überwinden - Hans Morschitzky - E-Book

Die Angst vor Krankheit verstehen und überwinden E-Book

Hans Morschitzky

4,8

Beschreibung

Gesundheit ist für jeden Menschen ein wichtiges Thema. Dies zeigen auch die vorherrschenden Wellness-, Fitness- und Bio-Trends. Und trotz aller Fortschritte in der Medizin fürchten sich viele Menschen davor, Krebs zu bekommen, sie sind verunsichert in Zeiten von Vogelgrippe, SARS und EHEC oder haben Angst vor Umweltgiften. Wenn die normale Sorge um die Gesundheit jedoch anfängt, das Leben völlig zu dominieren, wird die Krankheitsangst zu einer ernst zu nehmenden psychischen Störung, die das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen erheblich belastet. Hans Morschitzky und Thomas Hartl zeigen, wie diese Krankheitsängste entstehen, welche Folgen sie haben und wie Betroffene sie erfolgreich bewältigen können.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Literatur

Über die Autoren

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Hans Morschitzky / Thomas Hartl

Die Angst vor Krankheit verstehen und überwinden

Patmos Verlag

INHALT

Vorwort

Teil 1 Krankheitsängste – normale Sorge und krankhafte Angst um die Gesundheit

Krankheit gehört zur Lebensrealität

Krankheitsängste einst und jetzt

Krankheitsängste im Wellness-Zeitalter

Krankheitsängste können jeden treffen

Krankheitsängste können selbst zur Krankheit werden

Zehn Gesichter von Krankheitsangst

Teil 2 Krankheitsängste – wie sie entstehen und das Leben beeinträchtigen

Zwanzig häufige Ursachen für Krankheitsängste

Zehn häufige Folgen von Krankheitsängsten

Teil 3 Krankheitsängste – wie Sie lernen, erfolgreich damit umzugehen

Fachkundige Behandlung – erfolgreiche verhaltenstherapeutische Konzepte

Selbsthilfe – ein Programm in sieben Schritten

Ratschläge für Angehörige – damit das Familienleben nicht zum Albtraum wird

Ratschläge für Ärzte – weniger ist mehr

Persönliches Schlusswort

Literatur

Vorwort

Wir wünschen einander zu vielen Gelegenheiten alles Gute, vor allem auch Gesundheit – zu jedem Geburtstag, zu jedem Jahresbeginn, selbst bei jedem Niesen. Gesundheit ist für jeden Menschen ein zentrales Thema. Mittlerweile hat sich eine ganze Industrie rund um die Gesundheit angesiedelt. Schlagworte wie Wellness, Fitness und biologische Ernährung drücken den zunehmenden Stellenwert eines gesunden Lebens aus. Selbst die Krankenkassen bezeichnen sich immer häufiger als Gesundheitszentren. Dennoch: Eine mögliche Krankheit bleibt eine ständige Gefährdung unseres Wohlbefindens und unseres Lebens.

Angst ist die Reaktion auf eine wahrgenommene Gefahr. Ängste sind umso größer, je bedrohlicher bestimmte Situationen eingeschätzt werden. Das gilt auch für den Bereich der Gesundheit. Die meisten von uns beruhigen sich rasch wieder, wenn sie zunächst befürchten, schwer krank zu sein, und nach gründlicher medizinischer Untersuchung eine Entwarnung erhalten. Aber das Ausmaß der Sorge um die Gesundheit wird bei vielen Menschen so groß, dass diese Angst ihr Leben übermäßig beherrscht und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt.

Der Bereich der Krankheitsängste umfasst je nach Blickrichtung zwei unterschiedliche Symptomatiken: einerseits die Angst oder Überzeugung, bereits eine lebensgefährliche oder unheilbare Krankheit zu haben (Hypochondrie), andererseits die Befürchtung, eine gefährliche Krankheit in absehbarer Zeit zu bekommen (Krankheitsphobie). Die häufigsten Krankheitsängste beziehen sich auf Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt, schädliche Umwelteinflüsse und durch die Medien bekannt gewordene Krankheiten (Aids, Vogelgrippe). Hinter dem heutzutage oft anzutreffenden übertriebenen Gesundheitsverhalten (Fitnesskult, überängstliche Ernährungsgewohnheiten) können sich ebenfalls Krankheitsängste verbergen.

Hypochondrische Patienten bescheren dem Gesundheitssystem durch ihr ständiges Drängen auf ambulante und stationäre Untersuchungen oft höhere Kosten als viele körperlich kranke Personen. Krankheitsphobische Menschen dagegen neigen im Extremfall zu einer so starken Verdrängung ihrer Ängste, dass sie sinnvolle oder gar notwendige medizinische Untersuchungen vermeiden. Sie gefährden damit tatsächlich ihre Gesundheit und bekommen Krankheiten, die sie durch Kontrolluntersuchungen hätten vermeiden können. Unser Gesundheitssystem leidet unter einem medizinischen Paradoxon: Aus Angst vor Krankheit gehen die einen zu oft, die anderen zu spät zum Arzt.

Hypochondrische Patienten werden oft belächelt und als Simulanten, Mittelpunktsstreber oder Mimosen abqualifiziert, aber sie leiden wirklich unter ihrer Befürchtung oder Überzeugung, schwer krank zu sein. Mit Appellen an die Vernunft der Betroffenen kann man hypochondrische Befürchtungen nicht abstellen. Früher galt die Hypochondrie als chronische, kaum erfolgreich behandelbare psychische Störung. In den letzten 15 Jahren haben neue verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden begründete Hoffnungen auf wesentliche Besserung geweckt, aber sie sind sogar den meisten Fachleuten noch nicht bekannt, geschweige denn den Betroffenen.

Es gibt zahllose Veröffentlichungen über normale und krankhafte Ängste, aber noch kaum Selbsthilfe-Bücher über Krankheitsängste und Hypochondrie. Wir versuchen also erstmals, in diesem Umfang mit einem allgemein verständlichen Ratgeber die diagnostischen und therapeutischen Konzepte, die bisher nur einer kleinen Fachwelt vertraut sind, einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Im 1. Teil beschreiben wir die verschiedenen Gesichter normaler und krankhafter Krankheitsängste; wir veranschaulichen im 2. Teil deren Ursachen und Folgen und bieten im 3. Teil zahlreiche Hilfestellungen für Betroffene an, aber auch Ratschläge zum besseren Umgang mit diesen Patienten für deren Angehörige und Ärzte. Ein Buch kann in schweren Fällen eine Psychotherapie nicht ersetzen, diese aber gut vorbereiten oder verkürzen.

Wir wünschen allen von Krankheitsängsten geplagten Leserinnen und Lesern sowie deren Angehörigen, aber auch allen Fachleuten und sonstigen Interessierten eine gewinnbringende Lektüre.

Hans Morschitzky

Thomas Hartl

Teil 1Krankheitsängste – normale Sorge und krankhafte Angst um die Gesundheit

Das Ideal einer vollkommenen Gesundheit ist bloß wissenschaftlich interessant. Krankheit gehört zur Individualisierung.

Novalis

Krankheit ist eine Realität im Leben aller Menschen. Krankheitsängste gab es in der Geschichte schon immer, und sie sind in unserem Wellness- und Medizin-Zeitalter nicht weniger, sondern eher mehr geworden. Wie und wie oft Krankheitsängste auftreten, werden wir im ersten Teil dieses Buches darstellen und durch Beispiele zahlreicher Prominenter veranschaulichen. Krankheitsängste werden in der psychiatrischen Diagnostik in drei Varianten erfasst: Krankheitsphobie, Hypochondrie und hypochondrischer Wahn. Zehn typische Ausprägungen dieser Ängste werden wir anhand anschaulicher Beispiele vorführen.

Krankheit gehört zur Lebensrealität

Das Leben erinnert mich wirklich ein wenig an eine Krankheit, mit ihren Krisen und Ruhepausen, mit ihren täglichen Besserungen und Verschlechterungen. Im Gegensatz zu allen anderen Krankheiten ist das Leben immer tödlich.

Aus: »Zeno Cosini« von Italo Svevo

Krankheit ist unangenehm – eine Bedrohung des Lebens und des Wohlbefindens

Schwere Erkrankungen sind eine unangenehme Erfahrung, die keiner von uns freiwillig machen möchte. Sie bleiben trotz der Fortschritte der Medizin eine Geißel der Menschheit. Früher hat man sie häufig religiös als Strafe Gottes interpretiert, um sie erträglicher und verständlicher zu machen, und von den Betroffenen wurden sie als Buße für ihr moralisch verwerfliches Leben angenommen. Heute wird Krankheit aus psychotherapeutischer oder esoterischer Sicht oft als Chance zur Veränderung interpretiert und als Möglichkeit gesehen, im Leben andere Werte zu erkennen als nur Leistung und Lebensgenuss. Aber sind wir ehrlich: Lieber würden wir auf jede Beeinträchtigung unserer Gesundheit verzichten, als im Nachhinein darüber nachzudenken, was wir daraus lernen könnten.

Krankheiten werden auf der Grundlage anerkannter Diagnosen beschrieben, die meist auf statistisch definierte Normwerte zurückgehen. Doch nicht immer gelten bei körperlichen und psychischen Auffälligkeiten alle Abweichungen von der Norm als krankheitswertig. Die entscheidende Frage lautet: Wer bestimmt, was normal oder anormal, gesund oder krank ist? Was den einen Menschen krank und arbeitsunfähig macht, kann einen anderen völlig gleichgültig lassen. Die Begriffe Krankheit und Gesundheit werden je nach Zeit, Kultur, Person und medizinischem Kenntnisstand unterschiedlich definiert. Was früher als unbedenklich eingeschätzt wurde, kann schon morgen aufgrund des Fortschritts der Medizin als neue Krankheit definiert werden.

Kritiker des Gesundheitssystems behaupten nicht zu Unrecht, dass mit jeder Aktualisierung der modernen Diagnoseschemata die Zahl der Krankheiten schlagartig ansteigt. Trotz im Detail unterschiedlicher Sichtweisen sind sich alle darin einig: Die Kategorien von Gesundheit und Krankheit unterliegen bestimmten Bewertungen; beide Zustände stellen jeweils den Endpunkt eines Kontinuums dar.

Wie beurteilen Sie Ihren heutigen Gesundheitszustand? Fühlen Sie sich gesund oder krank? Fühlen Sie sich krank, obwohl kein Arzt etwas Auffälliges feststellen kann? Oder fühlen Sie sich gesund, weil Sie die Symptome von bestimmten Krankheiten wie Diabetes II oder Bluthochdruck nicht spüren? Leben Sie seit einiger Zeit so ungesund, dass Sie sich am Rande einer Krankheit befinden? Welches Bestreben steht bei Ihnen im Vordergrund: auf keinen Fall krank zu werden oder möglichst gesund zu leben? Was verstehen Sie eigentlich unter »Krankheit« und was unter »Gesundheit«? Selbst Fachleute sind sich diesbezüglich nicht einig und haben dafür unterschiedliche Definitionen entwickelt – von einem recht weiten bis zu einem stark eingeengten Begriffsfeld.

Im Sozialrecht wird Krankheit sehr eng als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert, der eine Krankenbehandlung erfordert. Im Gegensatz zum Gebrechen, das einen nicht mehr beeinflussbaren Ausfall normaler Körperfunktionen darstellt, ist Krankheit ein Zustand, der durch therapeutische Mittel positiv zu beeinflussen ist, also geheilt oder gelindert werden kann. Seit Anfang der 1990er-Jahre ist in Deutschland und Österreich im Bereich der Sozialversicherung die psychotherapeutische Tätigkeit der ärztlichen Heilkunde gleichgestellt; auch eine Psychotherapie ist demnach eine Pflichtleistung der Krankenkassen. Eine sozialrechtliche Definition von Krankheit ist notwendig, um den Leistungsbereich der Krankenkassen abzugrenzen. Körperliche Befindlichkeitsstörungen ohne erheblichen Organbefund und psychisches Unwohlsein wie Angst, Traurigkeit oder Burn-out gelten erst dann als krankheitswertig, wenn die Betroffenen stark darunter leiden und in ihrer beruflichen, sozialen oder sonstigen Funktionsfähigkeit deutlich beeinträchtigt sind.

»Krankheit« wird im traditionellen medizinischen Denken mit dem Begriff Störung gleichgesetzt. Gesundheit gilt demnach als Störungsfreiheit, als Freisein von körperlichen und psychischen Erkrankungen. Aber diese Definitionen vernachlässigen das subjektive Befinden des Einzelnen, das in Bezug auf das Krankheitserleben oft mehr zählt als das nach Expertenauffassung definierte Störungsausmaß. Dieser Aspekt kommt im Englischen in der Unterscheidung zwischen objektiver Krankheit (disease) und subjektiv erlebtem Kranksein (illness) zum Ausdruck. Wenn Sie sich körperlich mies fühlen, geht es Ihnen auch nicht besser, wenn Ihnen Ihr Arzt völlige Gesundheit nach medizinischen Kriterien attestiert.

Das Gegenteil von Krankheit, nämlich Gesundheit, ist noch schwerer zu definieren. Gesundheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit umfasst die Aspekte körperliche Fitness, seelisches und soziales Wohlbefinden sowie Leistungsfähigkeit im Sinne der Erfüllung von Rollen und Aufgaben, wie sie das Leben an uns stellt. Psychisch gesund sind wir, in Anlehnung an Sigmund Freud, dann, wenn wir arbeits-, liebes- und genussfähig sind. Wie viele dieser drei Kriterien erfüllen Sie?

Gesundheit als Wohlbefinden kann so weit definiert werden, dass es fast keine gesunden Menschen mehr gibt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschrieb bald nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs das Idealbild von Gesundheit: »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.« Zu Recht wird hier der Begriff Gesundheit nicht auf den körperlichen Zustand eingeengt, sondern auf das geistig-psychische Wohlbefinden ausgedehnt, doch durch die Ausweitung auf das soziale Wohlbefinden können auch Menschen in Beziehungskrisen, Arbeitskonflikten oder ökonomisch angespannten Situationen als »krank« bezeichnet werden. So gut die WHO-Definition gemeint ist – wer von uns würde sich demnach als »völlig gesund« bezeichnen?

Das internationale Diagnoseschema ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation stellt inzwischen klar: Ein Burn-out und andere psychosoziale Belastungen gelten noch nicht als Krankheit, sondern nur als Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen. Sicher ist: Eine möglichst weite Definition von Gesundheit erlaubt fast jedem Menschen, sich als krank zu bezeichnen – und ist gleichzeitig auch die Grundlage der modernen »Gesundheitsindustrie«. Verschiedene Parteien sind sehr an einem möglichst weiten Gesundheitsbegriff interessiert, weil sie auf diese Weise am besten ihre wirtschaftlichen Ziele in Richtung auf mehr Umsatz verwirklichen können.

Übersteigerte Krankheitsängste und Krankheitsverleugnung – zwei ungünstige Bewältigungsstile

In der Medizin besteht eine paradoxe Situation: Viele selbst ernannte Patienten sind gar nicht körperlich krank und viele objektiv Kranke sind gar keine Patienten in dem Sinn, dass sie zum Arzt gehen würden. Pointiert formuliert gibt es »kranke Gesunde« und »gesunde Kranke«. Während sich die einen gegen die Unterstellung der Ärzte wehren, dass sie »nichts haben«, nur weil diese nichts finden, möchten die anderen auf keinen Fall, dass bei ihnen etwas Krankhaftes entdeckt wird, und gehen daher gleich gar nicht erst zum Arzt. Die einen sind oft (aber nicht immer) krankheitsängstlich, die anderen dagegen krankheitsphobisch-vermeidend bzw. sogar kontraphobisch, d. h. jede Angst betont überspielend.

Kranke Gesunde leiden unter der Diskrepanz zwischen Befund und Befinden. Sie fühlen sich krank, obwohl sie aus fachärztlicher Sicht gesund sind. Ihre Symptome haben keine oder keine erheblichen organischen Ursachen. Personen mit nichtorganischen, früher »funktionell« oder »psychogen«, nunmehr »somatoform« genannten körperlichen Beschwerden klagen bei einem medizinischen Zustand »o. B.« (ohne Befund) über ein subjektiv schlechtes Befinden. Es handelt sich dabei keineswegs um »eingebildete Kranke«, sondern um Menschen, die aufgrund ihres Krankheitsverhaltens, also ihres falschen Umgangs mit den subjektiv als sehr belastend erlebten Beschwerden, zahlreiche Beeinträchtigungen entwickeln, bis hin zu längeren Krankenständen und Arbeitsunfähigkeit. Krank machend sind hier nicht die Krankheitssymptome an sich, sondern es ist vielmehr die Art des Krankheitsverhaltens.

Nur ein Teil der Betroffenen – die Gruppe der so genannten »Hypochonder« – weist Krankheitsängste in dem Sinn auf, dass sie weniger unter den Symptomen an sich leiden als vielmehr unter ihren Befürchtungen hinsichtlich der vermeintlichen Folgen der Beschwerden. Diese Personen werden im wahrsten Sinn des Wortes krank vor Sorgen um ihre Gesundheit. Ihre Gedanken kreisen ständig um eine befürchtete schwere Krankheit. Ihr Vertrauen in die Selbstverständlichkeit der körperlichen und geistig-seelischen Funktionsabläufe ist verloren gegangen. Sie suchen ihren Körper ständig in überängstlich-quälender Selbstbeobachtung nach vermeintlichen Krankheitszeichen ab und interpretieren jede kleine Veränderung als Ausdruck einer lebensgefährlichen Entwicklung. Jedes noch so harmlose Symptom, jeder noch so leichte Schmerz könnte Vorbote einer tödlichen Erkrankung sein. Das Herz klopft oder rast, der Blutdruck steigt – schon droht ein Herzinfarkt. Aus harmlosen Leberflecken oder Pusteln könnte ein Hautkrebs entstehen. Magenbeschwerden könnten auf Magenkrebs hindeuten, leichtes Unwohlsein und Müdigkeit eine Leukämie offenbaren. Ein Schwindelgefühl oder ein gelegentliches Pochen im Kopf macht sich bemerkbar – ist das nicht ein Zeichen für einen Gehirntumor? Zuerst regt sich nur der leise Verdacht: »Das könnte Krebs sein.« Die ständige ängstlich-zwanghafte körperliche Selbstbeobachtung führt schließlich zur Überzeugung: »Das ist Krebs« – und schon wird ein Arzt benötigt wie bei einem Notfallpatienten.

Die Betroffenen erhoffen zwar negative Befunde, können aber die beruhigenden Worte des Arztes – wenn überhaupt – nur kurzfristig glauben, sodass weitere Untersuchungen bei »besseren« Ärzten notwendig erscheinen. Die Odyssee von einem Arzt zum anderen wird von den Fachleuten als Doctor-Shopping bezeichnet. Es ist kaum übertrieben: Viele hypochondrische Patienten sind den ganzen Tag damit beschäftigt, dem Tod zu entrinnen und den aufgesuchten Ärzten zu beweisen, dass sie nicht so gesund sind, wie diese glauben.

In leichter Form oder vorübergehend kann jeder von uns unter Krankheitsängsten leiden. Aber krankheitsängstliche Menschen können mit dem unauflösbaren Restrisiko der ernsthaften Gefährdung ihrer Gesundheit nicht umgehen. Bei ängstlicher Erwartung von Krankheiten kann schon die Erwähnung einer Krankheit und der typischen Symptome bestimmte Beschwerden hervorrufen. Kennen Sie das aus eigener Erfahrung? Die Zuschauersekretariate der Fernsehredaktionen und die Hausärzte wissen ein Lied davon zu singen. In den Tagen nach der Ausstrahlung einer Sendung über Darmkrebs oder Vogelgrippe melden sich auffällig viele Menschen, die befürchten, genau an dieser Erkrankung zu leiden. Auch Medizinstudenten neigen dazu, alle Symptome bei sich selbst zu entdecken, die gerade in der aktuellen Vorlesung zur Sprache kommen. Krankhafte Angst vor Krankheit, die im Mittelpunkt dieses Buches steht, ist allerdings nur dann gegeben, wenn die Betroffenen anhaltend so stark darunter leiden, dass die berufliche, soziale und sonstige Funktionsfähigkeit beeinträchtigt ist.

Gesunde Kranke sind aus medizinischer Sicht wirklich krank. Sie wissen jedoch von ihrer Krankheit nichts, weil sie entweder lange Zeit keine Symptome verspüren (bei Krankheiten wie etwa arterielle Hypertonie oder Diabetes II), oder sie wollen es gar nicht wissen, dass bestimmte durchaus wahrgenommene Symptome Ausdruck ernsthafter Krankheiten sein können (ständige Erschöpfung als Anzeichen von Leukämie, Potenzprobleme als Frühwarnsymptome für Gefäßverengungen, Kopfschmerzen als Zeichen eines Tumors). Ihr Motto ist entweder »Zähne zusammenbeißen und durch« oder »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«. Ähnlich wie bei Krankheitsängsten über einen kürzeren Zeitraum ist gegen eine kurzfristige Verdrängung von unangenehmen, neu aufgetretenen Körpersymptomen, wie etwa Kopf- oder Rückenschmerzen, nichts einzuwenden, solange daraus keine ernsthafte gesundheitliche Gefährdung resultiert. Wenn die Verleugnung und aktive Vermeidung von Inhalten wie Krankheit, Behinderung oder Tod jedoch zu einem bestimmenden Teil des Lebens geworden sind, spricht man von Krankheitsverleugnung, die in bestimmten Fällen durchaus gefährlich sein kann. Krankheitsverleugnung und mangelnde Gesundheitsvorsorge sind vor allem bei Männern ein großes Problem. Männer wollen oder müssen aufgrund ihrer Sozialisation einfach »stark sein«.

Die meisten Menschen wissen um die Anzeichen eines Herzinfarkts, dennoch wartet die Hälfte aller Patienten mit typischen Symptomen viel zu lange, bis sie den Notarzt ruft oder zum Arzt geht. Krankheitsverleugnung ist Ausdruck der Unfähigkeit, mit Krankheit, Schwäche, Behinderung und Tod angemessen umzugehen. In zunehmendem Maße ist sie aber auch die Folge der Angst vor einem Arbeitsplatzverlust bei längerer Krankheit oder der tatsächlichen Diskriminierung aufgrund von Krankheit in vielen Firmen. Viele Arbeitnehmer stehen unter großem beruflichen Druck und haben »keine Zeit« für Krankheit. Sie sind aber nicht so gesund, wie die immer weiter sinkenden Krankenstandsraten nahelegen. Dies gilt gerade für ältere Arbeitnehmer, die aus Sorge um den Arbeitsplatz vorhandene Krankheitszeichen verharmlosen. Andere Arbeitende identifizieren sich so sehr mit ihrem Beruf, dass sie im Interesse der Firma nicht einmal Krankheit als Grund des Fernbleibens vom Arbeitsplatz akzeptieren können.

Experten halten es für wahrscheinlich, dass künftige Erkrankungen ihre Ursache darin haben, dass heutzutage Krankheiten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ganz einfach verleugnet werden. Weil Krankheiten heutzutage immer häufiger verdrängt statt auskuriert werden, gilt die Krankheitsverleugnung als großes Gesundheitsrisiko der Zukunft.

»Kranke Gesunde« und »gesunde Kranke« weisen aus unterschiedlichen Gründen ein unangemessenes Krankheitsverhalten auf, das einen erheblichen Kostenfaktor für die Volkswirtschaft darstellt. Sie gehen zu viel oder zu wenig zu Ärzten, d. h. sie sind übermäßig oder zu wenig um ihre Gesundheit besorgt. Während die einen häufig von übertriebenen Krankheitsängsten überflutet werden und ständig neue, immer kostenaufwändigere Untersuchungen beanspruchen, herrscht bei den anderen eine so strikte Krankheitsverleugnung vor, dass diese später im Fall einer tatsächlichen Erkrankung viel höhere Kosten verursacht als viele Vorsorgeuntersuchungen – ganz abgesehen von den persönlichen Folgen einer ernsthaften Krankheit.

Krankheitsängste einst und jetzt

Ob schlafend oder wachend, er wird immer von den Geistern seiner Ängste heimgesucht. Wach macht er keinen Gebrauch von seinem Verstand, schlafend genießt er kein Nachlassen seiner Sorgen …, findet er kein Entkommen von den vermeintlichen Schrecken.

Plutarch (1. Jahrhundert n. Chr.)über den Hypochonder

Anhaltende Krankheitsängste werden gewöhnlich als Hypochondrie bezeichnet. Der Begriff hat im Laufe der Geschichte allerdings einen großen Bedeutungswandel erlebt. Hätten Sie gewusst, dass man mit »Hypochondrie« früher eine ganz normale körperliche Krankheit mit körperlichen Symptomen bezeichnet hat und nicht nur eine krankhafte Angst vor Krankheit? Von der griechischen Antike bis zum 17. Jahrhundert betrachtete man die Hypochondrie als körperliche Erkrankung mit Symptomen im Oberbauch-Bereich, die man heute der Inneren Medizin zuweisen würde. Im 17. Jahrhundert erlebte der Hypochondrie-Begriff eine solche Bedeutungsausweitung, dass man darunter eine Mischung aus körperlichen und emotionalen Aspekten verstand, die dem späteren Verständnis einer somatisierten Depression nahekommt. Seit dem 18. Jahrhundert galt die Hypochondrie als Nervenkrankheit im Sinne einer Erkrankung des Zentralnervensystems, die man heute dem Neurologen zur Behandlung übertragen würde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts festigte sich das Verständnis der Hypochondrie als Störung des Geistes, sodass man die Betroffenen für irgendwie geistig krank hielt und sie zu psychiatrischen Patienten erklärte. Mit der Zuordnung der Hypochondrie zu den somatoformen Störungen, also zu den körperlichen Funktionsstörungen, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wurden zum ersten Mal psychosomatische Gesichtspunkte stärker beachtet. Nach dem neuesten Verständnis, das sich bis jetzt noch nicht in den modernen Diagnoseschemata widerspiegelt, gelten Krankheitsängste als eine spezielle Form der Angststörungen.

Vom hypochondrion zum Hypochonder – Körperregionen als Ausgangspunkt von Krankheitsängsten

Die Bezeichnung »Hypochondrie« geht auf das griechische Wort hypochondrion zurück, mit dem man in der klassischen Antike den oberen Teil des Bauches unter dem Rippenknorpel bezeichnete. Hypochondrion ist zusammengesetzt aus hypo (unter) und chondros (Knorpel oder falsche Rippen), bezeichnet also die Gegend unter den Rippenknorpeln. Unter dem rechten hypochondrion verstand man den Bereich von Leber und Galle, unter dem linken die Milz, dazwischen lokalisierte man den Magen und den ganzen übrigen Verdauungsapparat. Die Hypochondrie wurde als Krankheit mit Sitz in den Verdauungsorganen gesehen.

Im 2. Jahrhundert n. Chr. entstand der Begriff Morbus hypochondriacus als eine Erkrankung der Organe im hypochondrion, die mit Oberbauchbeschwerden, d. h. mit Magenbeschwerden (Verdauungsstörungen, Blähungen, saurem Aufstoßen), einhergehe, begleitet von seelischen Störungen wie Furcht und Traurigkeit. Die Beschwerden im hypochondrion wurden mit der Melancholie, also mit der Depression, assoziiert. Der Oberbauch galt gleichsam als seelisches Zentrum des Menschen.

Die Milz im linken hypochondrion produziert nach griechisch-antiker Vorstellung die schwarze Galle. Nach der damaligen Säftelehre führt eine Überschwemmung des Körpers mit schwarzer Galle zur Melancholie. Der Begriff melancholia ist zusammengesetzt aus den Worten melas (schwarz) und chole (Galle). Im Laufe der Jahrhunderte beschrieb man zahlreiche melancholische Beschwerden und betrachtete die Hypochondrie als eine Unterform der Melancholie, aber auch als das männliche Gegenstück zur Hysterie. So wie die Hysterie der Frauen angeblich durch die Gebärmutter (altgriechisch: hystera) verursacht werde, sei die hypochondrische Melancholie der Männer durch die Milz bedingt. Diese Erklärung körperlicher Schwächezustände bei Männern spiegelt sich auch in der englischen Sprache bis ins 17. Jahrhundert wider, wo entsprechende Zustände als spleen (englisch für »Milz«) bezeichnet wurden.

Die Entwicklung hypochondrischer Symptome bei Männern wurde früher mit sexueller Abstinenz erklärt, weshalb der Geschlechtsverkehr als Mittel zur Besserung empfohlen wurde. Ähnliche Ratschläge erhielten kinderlose Frauen mit nichtorganischen, früher so genannten »hysterischen« Symptomen. Das altgriechische Hypochondrie-Verständnis wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufgegeben, als man erkannte, dass die Theorie von der schwarzen Galle als Ursache der Melancholie unhaltbar war.

Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Hypochondrie als depressive Störung mit körperlichen Symptomen betrachtet, die mit Verdauungsstörungen und vagen, ziehenden Schmerzen einhergehe. Die Hypochondrie umfasste nun auch Symptome, die früher der Melancholie zugeordnet wurden: vegetative Störungen, vor allem Magen-Darm- und Herz-Kreislaufbeschwerden, aber auch seelische Auffälligkeiten wie traurige Verstimmtheit und Zerstreutheit. Man beschrieb – gleichsam als Vorläufer der »somatisierten Depression« – eine hypochondrische Melancholie mit Symptomen wie Völlegefühl, Aufstoßen, stechendem Schmerz, Blähungen und Rumoren im Darm, starken Verspannungen, Erstickungsgefühlen, Herzrasen, Schweregefühl des Herzens, Klingen in den Ohren und Schwitzen am ganzen Körper. Die Hypochondrie galt als Zeichen höherer geistiger Veranlagung, war als Zivilisations- und Modekrankheit vor allem in England weit verbreitet und wurde als »englische Krankheit« bezeichnet. Schließlich stieg sie zur meistdiagnostizierten Krankheit in Europa auf.

Von der körperlichen Krankheit zur psychischen Störung – die Hypochondrie als Störung des Geistes

Der Symptomkomplex der Hypochondrie wurde im Laufe der Zeit immer umfangreicher und die Abgrenzung zu anderen körperlichen und seelischen Krankheiten immer schwieriger, sodass man im frühen 18. Jahrhundert die Bezeichnung spleen als eine Art von exzentrischem Verhalten vorschlug, um die nervöse Genese zu betonen. Aus der Säftelehre und Gemütskrankheit des Altertums entwickelte sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts sowie im 18. Jahrhundert das Verständnis der Hypochondrie als Nervenkrankheit; man sah die Ursache der Hypochondrie und auch der Hysterie nicht mehr im Bauchraum, sondern im Gehirn, vor allem in einer Schwäche des Nervensystems. Einzelne Ärzte erkannten den psychischen Mechanismus der Krankheitsentstehung. Schreckliche Gedanken und Vorstellungen schadeten demnach im Laufe der Zeit dem Gehirn und dem Körper mit schmerzhaften Empfindungen. Das spätere Verständnis der Hypochondrie als krankhafte Angst vor Krankheiten kündigte sich schon im 18. Jahrhundert an.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Hypochondrie so weit verbreitet, dass man meinte, jeder Mensch könne darunter leiden. Eine Hypochondrie könne – wie Fieber, Gicht oder andere Krankheiten – jeder Mensch bekommen, vom klügsten bis zum dümmsten. Man erkannte, dass die Hypochondrie nicht nur im Bürgertum und beim Adel weit verbreitet war, sondern sich auch auf die Unterschicht, auf die neu entstandene Arbeiterklasse, ausgedehnt hatte. Eine Hypochondrie konnten nicht nur reiche Leute in Zusammenhang mit ihrer Lebensweise (reichhaltige Ernährung, Beschäftigung mit geistigen Dingen, Langeweile, Sensibilität) bekommen, sondern auch Arme im Rahmen ihrer Lebensumstände (drückende Armut, ungesunde Lebensweise, fehlende Bildung, soziale Isolation in den neu entstandenen Städten). Die Hypochondrie war – im Gegensatz zu heute – zu einer Modekrankheit geworden.

Als die Hypochonder immer zahlreicher ins Krankenhaus drängten, erhob sich die Frage nach der richtigen Behandlung. Ein schottischer Arzt meinte am Ende des 18. Jahrhunderts, als er einen Hypochonder aus der Unterschicht behandeln musste, dass ein Krankenhaus ein ungeeigneter Ort für den Hypochonder sei, weil er hier zu viel Zeit habe, über seine Beschwerden zu grübeln. Hypochonder übernähmen zudem von ihren Mitpatienten, die unter wirklichen Krankheiten litten, durch reine Beobachtung die Symptome der anderen und fingen auch an, unter allen möglichen anderen Symptomen zu leiden, von denen sie hörten. Die beste Therapie sei die Ertüchtigung von Seele und Körper. Es sei besser, wenn ein Hypochonder wieder zu seiner früheren Tätigkeit zurückkehre, statt eine stationäre Behandlung zu erhalten.

Bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Hypochondrie als überwiegend vererbt und körperlich begründet angesehen, was den Betroffenen alle Schuld abnahm. Als körperlich Kranke konnten sie nichts für ihre Symptomatik. Wenn die Ärzte schon nicht helfen konnten, durfte man wenigstens deren Mitgefühl erwarten. Im Laufe der Zeit erhielt die Hypochondrie als körperlich bedingte Störung jedoch eine neue Bedeutung im Sinne einer moralisch zu bewertenden Symptomatik. Die anhaltenden Klagen der Hypochonder drückten Selbstmitleid und Zweckdienlichkeit und somit moralische Schwäche aus. Im Jahr 1822 bezeichnete ein französischer Arzt die Hypochondrie als moralische Schwäche und geistige Störung und sah die Ursache für die Hypochondrie nicht mehr in der Milz, sondern in moralischen und intellektuellen Defiziten.

Im 19. Jahrhundert wurde die Hypochondrie immer stärker mit emotionalen Aspekten statt mit körperlichen Faktoren in Verbindung gebracht. Als überwiegend psychische Störung wurde sie bald mit abwertenden Begriffen beschrieben. Die Bewertung der Hypochondrie als seelische Störung oder sogar als minder schwere Geisteskrankheit führte schließlich dazu, dass das Studium der körperlichen Symptome der Hypochondrie im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Stillstand kam. Die Sichtweise, dass die hypochondrischen Symptome nicht durch den Körper, sondern durch den Geist ausgelöst würden, bedeutete einerseits, dass Hypochonder als irgendwie geisteskrank einzuschätzen seien, und andererseits, dass Ärzte, die in der streng naturwissenschaftlich orientierten Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildet waren, eher bei »wirklichen« körperlichen Krankheiten, wie etwa bei den ansteckenden Krankheiten, deren Erreger man gefunden hatte, medizinische Erfolge feiern konnten als bei geistig-körperlichen Mischsymptomen ohne klare organische Ursachen.

Der Begriff Hypochondrie erfuhr also im Laufe der Medizingeschichte zahlreiche Änderungen:

In der Antike wurde die Hypochondrie als körperliches Geschehen verstanden.

Im 17. Jahrhundert übernahm die Hypochondrie mit der Abtrennung von der Melancholie die Merkmale der Depression.

Im 18. Jahrhundert war die Hypochondrie ein eigenständiges Krankheitsbild, das körperliche und psychische Symptome umfasste.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Hypochondrie zu einer geistigen Störung, zur Nosophobie, und damit zur Begleitkrankheit bei anderen psychischen Störungen, während der bisherige Inhalt der Hypochondrie durch die Bezeichnung »Neurasthenie« abgedeckt wurde.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich fortschreitend ein Bedeutungswandel für Hypochondrie von einer eigenständigen Krankheit zu einem Aspekt verschiedener Krankheiten oder zu einem sogenannten »Zustandsbild«.

Sigmund Freud, der Begründer der modernen Psychotherapie, meinte im Rahmen seiner Überlegungen zum Narzissmus, dass der Hypochonder seine Interessen und seine Libido von den Objekten der äußeren Welt abziehe und die ganze Aufmerksamkeit auf seine Organe richte. Bei der Hypochondrie wende sich die Libido nicht mehr äußeren Objekten zu, sondern der eigenen Person. Freud stellte einen engen Zusammenhang zwischen Hypochondrie und Narzissmus her und beschrieb recht eindrucksvoll die Selbstbezogenheit des Hypochonders. Hypochondrische Symptome können nach Freud vor einer Depression oder einer Psychose schützen und von anderen Problemen ablenken. In der Psychoanalyse erlangte die Hypochondrie keine größere Bedeutung, verglichen mit dem Stellenwert der Hysterie.

Im ICD-9, dem bis zur Jahrtausendwende gültigen internationalen Diagnoseschema, wurde die Hypochondrie als hypochondrische Neurose bezeichnet, die durch die exzessive Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit im Allgemeinen oder der Unversehrtheit und der Funktion von einzelnen Körperorganen oder (weniger häufig) des eigenen Verstandes charakterisiert sei. Im ICD-10 wurde die hypochondrische Störung als medizinisch nicht begründbare, aber dennoch hartnäckig anhaltende Überzeugung, an einer ernsthaften Krankheit zu leiden, definiert und den somatoformen Störungen zugeordnet.

Die Hypochondrie, die vor Jahrhunderten die »Würde« einer echten Krankheit hatte, wurde in der medizinischen Öffentlichkeit immer mehr belächelt und geriet in den Schatten wichtigerer Krankheiten. Erst in den letzten 20 Jahren zeigte sich ein zunehmendes Interesse der Forscher, Ärzte und Psychotherapeuten an dieser geheimnisvollen Krankheit, die darin besteht, dass man sich als Gesunder ständig schwer krank fühlt und sich auch nach dem Ausschluss schwerer körperlicher Störungen wie ein Kranker verhält.

Krankheitsängste im Wellness-Zeitalter

Die Schattenseiten des Gesundheitszeitalters – Krankheitsängste auf dem Vormarsch

Das 21. Jahrhundert wurde von verschiedenen Seiten bereits als »Gesundheitszeitalter« bezeichnet. Noch nie konnten die Menschen bei so guter Gesundheit so alt werden wie heutzutage. Wellness ist zum Schlagwort unserer Zeit geworden. Es setzt sich aus den englischen Wörtern well-being (Wohlbefinden) und fitness (Tauglichkeit, Gut-in-Form-Sein) zusammen. »Wellness« umfasst heutzutage folgende Bereiche:

bewusste Bewegung in Form von regelmäßigen, individuell abgestimmten Bewegungsprogrammen,

eher passive körperliche Therapien wie Sauna und Massage,

in mentaler Hinsicht Entspannungs- und Stressmanagementmethoden wie Autogenes Training und Meditation,

bewusster Umgang mit der Natur sowie mit Genussmitteln,

bewusste Ernährung und ganzheitlicher Umgang mit Lebensmitteln.

Die Förderung des Gesundheitsverhaltens der Bevölkerung ist sicherlich ein wichtiges gesundheitspolitisches Anliegen. Allerdings gibt es heute in zunehmendem Maß auch unerfreuliche Auswüchse: Immer mehr Menschen fühlen sich erst dann gesund, wenn sie sich strengen Lebensregeln unterwerfen oder wenn ihnen der Ausschluss einer ernsthaften Krankheit mittels Hightech-Medizin garantiert wird. Das sind die Schattenseiten des Gesundheitszeitalters: Krankheitsthemen dominieren mehr denn je das Denken vieler Menschen.

Worunter Sie selbst auch leiden mögen, Sie müssen zugeben: So gesund wie heute waren die Menschen noch nie. Obwohl wir in den westlichen Industriegesellschaften viel älter werden als Menschen in den unterentwickelten Regionen der Erde, haben wir zunehmend Angst vor ernsthaften Krankheiten, die wir mit einem tödlichen Ausgang verbinden. Trotz der Verbesserung des Gesundheitszustandes und der viel höheren Lebenserwartung gegenüber früheren Zeiten nehmen die Gesundheitssorgen zu. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, woran das liegen könnte? Fachleute führen dafür vier Ursachen an:

Der medizinische Fortschritt hat zur Absenkung der Sterblichkeitsraten bei akuten Erkrankungen (Schlaganfall oder Herzinfarkt) und Infektionskrankheiten geführt, aber das Ausmaß chronischer und degenerativer Krankheiten erhöht (Häufung von degenerativen Wirbelsäulenbeschwerden, koronarer Herzkrankheit, Diabetes II, Krebs, Arthritis oder Alzheimer-Krankheit). Da wir älter werden als frühere Generationen, erhöht sich ganz einfach die Wahrscheinlichkeit, dass wir bestimmte Krankheiten bekommen, die im Alter häufiger auftreten, oder dass wir einen immer längeren Lebensabschnitt im Zustand einer chronischen Erkrankung oder Behinderung verbringen müssen. Es ist paradox – aber je erfolgreicher die Medizin ist, desto mehr chronisch kranke Menschen leben unter uns.

Der rasante Fortschritt der Medizin und die zunehmende Durchdringung des Alltagslebens mit medizinischen Themen haben zu unrealistischen Erwartungen bezüglich der Erhaltung der Gesundheit und der Heilung von Krankheiten geführt. Je besser die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten geworden sind, desto höher sind die Erwartungen an das Gesundheitssystem gestiegen. Solche Erwartungen führen dazu, dass viele Patienten schneller als früher mit dem behandelnden Arzt unzufrieden sind und zusätzlich auch noch weitere Ärzte aufsuchen.

Das verstärkte Gesundheitsbewusstsein hat die Aufmerksamkeit der Menschen in Bezug auf die Thematik von Gesundheit und Krankheit erhöht und das Gefühl, krank zu sein, begünstigt. Normale körperliche Missempfindungen und Symptome, wie etwa muskuläre Verspannung, Müdigkeit, Kopf- oder Magenschmerzen, werden schneller als früher als Signal für eine ernsthafte Krankheit betrachtet. Obwohl der medizinische Fortschritt und die Gesundheit der Bevölkerung weiter vorankommen, fühlen sich die Menschen nicht gesünder. Rund ein Drittel der Bevölkerung leidet unter körperlichen Beschwerden, für die es keine erkennbaren organischen Ursachen gibt. Der Zustrom zu alternativen oder komplementären medizinischen Behandlungsmethoden spiegelt die Unzufriedenheit mit der modernen Medizin wider, die vielen Menschen bei ihren Alltagsbeschwerden nicht weiterhelfen kann.

Gesundheit als Wirtschaftsfaktor und zentrales Thema in den Medien hat in der Bevölkerung viel mehr Unsicherheit und Besorgtheit um den Gesundheitszustand bewirkt, weil man ständig vor Augen geführt bekommt, was man alles für seine Gesundheit tun sollte – und dennoch nicht tut. Die wahrgenommene Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand des körperlichen Befindens verstärkt das Krankheitsgefühl.

Gesundheitswahn, Fitnesskult und Ernährungsstress – Gesundheitsstreben aus Krankheitsfurcht

Welchen Stellenwert nimmt Gesundheit in Ihrem Leben ein? Wie sehr achten Sie in Ihrem alltäglichen Verhalten auf Ihre Gesundheit? Wie geht es Ihnen mit der Flut von Informationen zur Verbesserung Ihres körperlichen Wohlbefindens? Haben Sie ein schlechtes Gewissen, dass Sie zu wenig Sport betreiben, sich zu ungesund ernähren, zu wenig auf Ihre Figur und Ihr Gewicht achten, zu selten zum Arzt gehen? Untersuchen Sie sich selbst zu viel oder zu wenig, soweit es Ihren Blutdruck oder Zuckerspiegel betrifft? Gehen Sie häufig oder nie zu Vorsorgeuntersuchungen? Planen Sie gerade eine Ernährungsumstellung, eine Gewichtsabnahme, eine Raucherentwöhnung, ohne dies dann tatsächlich zu tun? Vergleichen Sie sich ständig mit anderen? Können Sie die Dinge noch genießen oder haben Sie bei allem das ungute Gefühl, Ihren Körper zu schädigen? Kurz: Welchem Stress zur Erhaltung Ihrer Gesundheit setzen Sie sich in unserem Wellness-Zeitalter aus?

»Hauptsache gesund!« Dieser Wunsch drückt heute oft mehr aus als nur die verständliche Hoffnung, frei von Krankheiten zu bleiben. Dahinter steht die Auffassung, dass das Leben nicht mehr lebenswert wäre, wenn man schwer oder chronisch erkranken sollte. Gesundheit gilt in unserer Zeit nicht nur als hohes, sondern vielfach sogar als allerhöchstes Gut. Das Leben besteht für immer mehr Menschen nur noch aus dem irdischen Dasein, ohne die Hoffnung des Gläubigen auf ein »ewiges Leben« nach dem Tod. Angesichts dieser beschränkten Daseinsperspektive ist die Furcht vor lebensgefährlicher Erkrankung bzw. vor der Endgültigkeit des Todes eine verständliche Reaktion auf die existenzielle Bedrohung. Aber die Erfahrung zeigt, dass selbst Menschen, für die der Tod nur den Übergang in ein anderes Leben bedeutet, sich oft genauso davor fürchten wie andere, für die mit dem Tod »alles aus ist«.