Die Arbeit hinter den Kulissen (E-Book) - Lorenzo Bonoli - E-Book

Die Arbeit hinter den Kulissen (E-Book) E-Book

Lorenzo Bonoli

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Das schweizerische Berufsbildungssystem gilt heute als eines der besten der Welt. Das war nicht immer so. In diesem Buch wird die Entwicklung des Systems in den letzten 30 Jahren nachgezeichnet. Das erfolgt durch Interviews zweier Personen, die am Geschehen beteiligt waren: Christine Davatz (sgv) und Bruno Weber-Gobet (Travail.Suisse) haben die Interessen ihrer jeweiligen Organisationen aktiv vertreten und an den wichtigsten Diskussionen und Entscheidungen in diesem Bereich teilgenommen. Lorenzo Bonoli ergänzt ihre Schilderungen um historische Daten und Fakten.

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Seitenzahl: 259

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lorenzo Bonoli

Die Arbeit hinter den Kulissen

30 Jahre Berufsbildungspolitik. Im Gespräch mit Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet

 

ISBN Print: 978-3-0355-2866-4

ISBN E-Book: 978-3-0355-2867-1

 

1. Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten

© 2025 hep Verlag AG, Bern

 

hep Verlag AG

Gutenbergstrasse 31 | Postfach | CH-3001 Bern

[email protected] | hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort

2 Die Schweizer Berufsbildung: Das Wichtigste in Kürze

3 30 Jahre Berufsbildungspolitik

3.1 Die Anfänge als Expert*in und Lobbyist*in für die Berufsbildung

3.2 Die Berufsbildung in Turbulenzen: Die Lehrstellenkrise und die drohende Kantonalisierung

3.3 Berufsmaturität und Fachhochschulen

3.4 Das Bundesgesetz von 2002

3.5 Die Governance der Schweizer Berufsbildung

3.6 Die höhere Berufsbildung

3.7 Weiterbildung

3.8 Berufsberatung

4 Zukünftige Herausforderungen

5 Eine Arbeit hinter den Kulissen: Abschliessende Betrachtungen

6 Biografien

6.1 Christine Davatz: Meine Kurzbiografie

6.2 Bruno Weber-Gobet: Meine Kurzbiografie

7 Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1Vorwort

Laura Perret

Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet waren in den letzten 30 Jahren wichtige Säulen der schweizerischen Berufsbildung. Nach so vielen Jahren treuer Dienste sind sie 2022, respektive er 2021, in den wohlverdienten Ruhestand getreten. Abgesehen davon, dass ich ihren Weggang als Personen, die ich sehr respektiere und schätze, bedauerte, machte ich mir Sorgen über den potenziellen Verlust ihres Wissens und ihrer Erfahrungen. Aus diesem Grund habe ich ihnen als nationale Leiterin der Sparte Lehre der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) vorgeschlagen, an diesem Buch über die letzten 30 Jahre der Berufsbildung mitzuwirken, um das wertvolle Erbe, das sie besitzen, zu bewahren. Dies nahmen sie sofort mit Begeisterung an. So zeichnet dieses Buch drei Jahrzehnte Entwicklung und Wandel des Berufsbildungssystems in der Schweiz nach und basiert dabei auf den Erfahrungen und Erzählungen von Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet. Ihr Werdegang, der reich an Engagement und entscheidenden Aktionen war, hat die Landschaft der Berufsbildung in unserem Land tiefgreifend geprägt. Der Zeitpunkt für eine solche historische Rekonstruktion ist umso passender, als 2024 das 20-jährige Inkrafttreten des heutigen Berufsbildungsgesetzes (BBG) gefeiert werden konnte, ein Jubiläum, das uns – ob wir wollen oder nicht – zu einem Rückblick zwingt.

Ich hatte die Freude, Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet im Jahr 2011 kennenzulernen, als ich im Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) – heute: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) – für die höhere Berufsbildung zuständig war. Damals arbeitete ich zusammen mit Ursula Renold, Direktorin des BBT, an der Organisation des nationalen Spitzentreffens der Berufsbildung. Zu dieser Zeit begannen auch die ersten Diskussionen über die Finanzierung der Vorbereitungskurse für die eidgenössischen Berufsprüfungen. Christine Davatz vertrat die Interessen der Arbeitgeberverbände, Bruno Weber-Gobet die Interessen der Gewerkschaftsorganisationen. Seitdem haben sich unsere Wege regelmässig gekreuzt.

Später hatte ich als politische Sekretärin, zuständig für die nationale Bildungs- und Jugendpolitik beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), die Gelegenheit, an der Seite von Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet bei den Anhörungen der beiden Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) zu entscheidenden Themen wie der Botschaft Bildung, Forschung und Innovation (BFI-Botschaft), der Erwachsenenqualifikation oder der Bildung von Personen mit Migrationshintergrund mitzuarbeiten. Wir haben auch bei strategischen Projekten wie der Initiative Berufsbildung 2030 oder der Organisation der Berufsmeisterschaften SwissSkills zusammengearbeitet.

In all diesen Jahren war unsere Zusammenarbeit hervorragend und fruchtbar. Obwohl wir in Einzelfragen manchmal unterschiedliche Positionen vertraten, so haben wir uns doch immer gemeinsam für das Wohl der Berufsbildung, der Betriebe, der Arbeitnehmer*innen und der Lernenden eingesetzt. Unser gemeinsames Ziel war es immer, Kompromisse zu finden und Brücken zwischen den Partner*innen in der Berufsbildung zu bauen. Der deutlichste Ausdruck dieser erfolgreichen Partnerschaft war die Bewältigung der Corona-Krise. In der Task Force «Perspektive Berufslehre» arbeiteten wir unermüdlich daran, angemessene Lösungen für die rund 70000 Lernenden zu finden, die im Frühling 2020 ihre Lehrabschlussprüfungen ablegen mussten, während ihre Ausbildungsbetriebe teilweise geschlossen waren oder erheblichen Einschränkungen unterlagen. Gleichzeitig mussten wir sicherstellen, dass die rund 70000 zukünftigen Lernenden eine Lehrstelle für den Schulbeginn im August 2020 finden konnten, obwohl es kaum Vorstellungsgespräche gab. Drei Monate lang funktionierten wir als Krisenorganisation und fanden gemeinsam Lösungen für alle Berufe und Kantone. Dieser Erfolg war dank der langjährigen Zusammenarbeit, des gegenseitigen Vertrauens und der Fähigkeit zur Zusammenarbeit möglich, die wir im Laufe der Jahre entwickelt hatten. Innerhalb von drei Wochen gelang es uns, Lösungen umzusetzen, für die man unter normalen Umständen Jahre gebraucht hätte. Diese Krisensituation zeigte deutlich die Fähigkeit des Systems und der Akteur*innen, schnell zu reagieren und zusammenzuarbeiten, um angemessene Lösungen zu finden.

Mit diesem Buch soll dieser Geist der Zusammenarbeit, der zu den zen­tra­len Merkmalen der schweizerischen Berufsbildung gehört, hervorgehoben werden – ein Geist, der diese historische Periode geprägt hat, in der die schweizerische Berufsbildung ihre historischen Grundlagen, nämlich die duale Ausbildung und die Verbundpartnerschaft in der Berufsbildung, nicht nur beibehalten, sondern sogar noch verstärkt hat. Und dies natürlich dank der Gesamtheit der Akteur*innen der Berufsbildung, insbesondere der nationalen Dachverbände (Schweizerischer Gewerbeverband, Schweizerischer Arbeitgeberverband, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Travail.Suisse), des Bundes (Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF, Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI), der Kantone (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK und ihre Fachkonferenzen) und der Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur WBK des Parlaments (nicht abschliessende Aufzählung).

Die seit dem ersten Bundesgesetz von 1930 bestehenden Säulen wurden durch die nachfolgenden Reformen, insbesondere durch das Bundesgesetz von 2002, gestärkt, ohne das Wesen des Systems zu verändern.

Auf den Seiten dieses Buches werden auch die Hintergründe der grossen Debatten und Entscheidungen aufgezeigt, die das heutige System geprägt haben, und die Herausforderungen beleuchtet, mit denen es weiterhin konfrontiert ist. Krisen wie die «Lehrstellenkrise» haben als Katalysatoren gewirkt, die Gesetzesreformen beschleunigt und die Berufsbildung endlich in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit gerückt.

Das Engagement von Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet beschränkte sich nicht auf die Verteidigung der Interessen ihrer Organisationen. Ihre Rolle war die von Expert*innen-Lobbyist*innen, die technische Kompetenz und Einflussmöglichkeiten miteinander verbanden, um sich durch die komplexen Entscheidungsprozesse zu navigieren. Ihre Aktionen haben dazu beigetragen, eine fachliche und pragmatische Diskussion aufrechtzuerhalten, oft fernab von politischer Polemik, zugunsten konkreter Lösungen.

Ihre Persönlichkeiten sind so unterschiedlich wie liebenswert. Ich habe Christine Davatz als zielstrebig und positiv erlebt, mit einer Prise wohlwollenden Humors. Durch ihren sachlichen und dokumentierten Ansatz und ihre aufrichtige Aufmerksamkeit für ihre Gesprächspartner*innen gelingt es ihr, Barrieren abzubauen. Bruno Weber-Gobet ist eine eher emotionale und extrovertierte Persönlichkeit in seinen zwischenmenschlichen Interaktionen. Er vermittelt seine Botschaften, indem er seine Aussagen mit realen Situationen oder Anekdoten illustriert, die Menschen aus den Zielgruppen der Politik erlebt haben, zum Beispiel die Herausforderungen, denen sich Menschen mit Behinderungen in der Ausbildung gegenübersehen. Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet teilen auch viele gemeinsame Eigenschaften wie Humor, Grosszügigkeit, Wohlwollen, Offenheit, Beitrag zum Gemeinwohl und eine gründliche Vorbereitung in all ihren Reden.

Dieses Buch, das auf ausführlichen Interviews und Diskussionen basiert, soll ein differenzierteres Verständnis für die Dynamik der Berufsbildung in der Schweiz vermitteln. Es möchte anhand ihrer Erfahrungen zur Reflexion über die Zukunft dieses für die sozioökonomische Entwicklung ent­schei­denden Bereichs beitragen, indem es insbesondere auf die künftigen Herausforderungen, wie die Einbeziehung von Erwachsenen und Menschen mit Behinderungen in die Berufsbildung oder die Verbesserung der Bekanntheit des Systems in der Öffentlichkeit und bei den politischen Entscheidungsträger*innen, eingeht.

Ich danke Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet herzlich dafür, dass sie mit Professionalität, Humor und Grosszügigkeit den Reichtum ihres Werdegangs und ihrer Erfahrung geteilt haben, um einen Beitrag zur Zukunft der Berufsbildung zu leisten. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Lorenzo Bonoli an der EHB, einem Spezialisten für die Geschichte der Berufsbildung, der dieses spannende Werk verfasst hat. Lorenzo Bonoli hat insbesondere die Interviews aufbereitet und für die Beschreibung des historischen Kontextes, der notwendig ist, um die Interviews vollständig zu verstehen, gesorgt.

Wir hoffen, dass dieses Buch nicht nur Fachleute und Praktiker*innen aufklärt, sondern auch diejenigen inspiriert, die sich wie unsere beiden Protagonist*innen für eine solide und gerechte Berufsbildung einsetzen, die den Bedürfnissen unserer sich ständig wandelnden Gesellschaft gerecht werden kann.

Danksagung

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Bereitschaft von Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet, über ihre Tätigkeiten zu berichten, ihre Erfahrungen zu schildern und ihre Meinungen zur Entwicklung der schweize­ri­schen Berufsbildung in den letzten 30 Jahren zu teilen. Der erste Dank geht deshalb an sie, die beiden Protagonist*innen des Buches. Ein zweiter Dank geht an Laura Perret, ohne die das Buch ebenfalls nicht zustande gekommen wäre. Die Idee einer solchen Veröffentlichung stammt ursprünglich von ihr und sie hat später auch aktiv an den zahlreichen Treffen mit den beiden Protagonist*innen teilgenommen. Darüber hinaus gehen Danksagungen an alle Mitarbeiter*innen der EHB, die bei der Umsetzung dieses Projektes geholfen haben. Ein spezielles Dankeschön geht schliesslich an Fernando Marhuenda, Filippo Pusterla, Philipp Gonon, Matilde Wenger, Jolanda Kieliger, Kerstin Duemmler und Thomas Ruoss, die eine der zahlreichen Fassungen des Buches Korrektur gelesen haben, sowie an Sabine Ecklin, die sich dafür eingesetzt hat, dass das für eine solche Publikation notwendige sprachliche Niveau erreicht wurde.

2Die Schweizer Berufsbildung: Das Wichtigste in Kürze

Der Begriff «Berufsbildung» bezeichnet in der Schweiz wie auch international einen postobligatorischen formalen Bildungsweg, der zum Ziel hat, «Kenntnisse, Knowhow, Fähigkeiten und/oder Kompetenzen [zu] vermitteln, die für bestimmte berufliche Tätigkeiten oder allgemein auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden»[1]. Je nach Land kann sich der Begriff der Berufsbildung jedoch auf unterschiedliche Ausbildungen beziehen, was das Bildungsniveau, das Zielalter der Lernenden, die Art der Qualifikationen, die Dauer, die Organisation der Ausbildung und die Instanzen, die für sie zuständig sind, betrifft.

In der Schweiz bezieht sich der Begriff auf einen Teil des Bildungssystems, das ab Ende des 19. Jahrhunderts schrittweise aufgebaut wurde, zunächst auf kantonaler und später auf nationaler Ebene. Seit 1930 wird es auf schweizerischer Ebene vom Bund kraft eines Bundesgesetzes geregelt, das die Rahmenbedingungen des nationalen Systems festlegt und bereits eine enge Zusammenarbeit zwischen den drei Hauptakteuren (Bund, Kantone und Berufsverbände) vorsieht. Das aktuelle Gesetz, das 2002 verabschiedet wurde, deckt – mit Ausnahme der Studiengänge auf Hochschulebene – alle Ausbildungen ab, die direkt zu einer beruflichen Tätigkeit führen. Auch bestätigt es die Schlüsselrolle der drei Hauptakteure, die eine Verbundpartnerschaft bilden; diese gilt als eines der prägendsten Merkmale der Schweizer Berufsbildung. In dieser Partnerschaft ist der Bund für die «strategische Steuerung und Entwicklung»[2] des Gesamtsystems zuständig, während die Kantone für die «Umsetzung und Aufsicht»[3] auf regionaler Ebene und die Organisationen der Arbeitswelt für die Definition der «Bildungsinhalte»[4] sowie für die Sicherstellung eines ausreichenden Lehrstellenangebots in den von ihnen vertretenen Unternehmen verantwortlich sind.

Die Bundesgesetzgebung regelt insbesondere die berufliche Grundbildung auf der Sekundarstufe II (Sek II) nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit (siehe grüner Bereich in Abb. 1) sowie die höhere Berufsbildung, die auf der Tertiärstufe B angesiedelt ist (siehe blauer Bereich in Abb. 1). Die berufliche Grundbildung bietet zwei Arten von Abschlüssen an, ein EBA (eidgenössisches Berufsattest) in zwei Jahren und ein EFZ (eidgenössisches Fähigkeitszeugnis) in drei oder vier Jahren, die zur Ausübung des erlernten Berufs berechtigen und die Möglichkeit einer späteren Spezialisierung auf der Ebene der höheren Berufsbildung eröffnen. Zu den häufigsten EBA-Abschlüssen zählen beispielsweise Assistent*in Gesundheit und Soziales EBA, Detailhandelsassistent*in EBA, Logistiker*in EBA, Küchenangestellte*r EBA oder Automobil-Assistent*in EBA. Die häufigsten EFZ sind beispielweise Kaufmann/frau EFZ, Fachmann*frau Gesundheit EFZ, Detailhandelsfachmann/frau EFZ, Informatiker*in EFZ oder Elektroinstallateur*in EFZ.[5]

Seit den 1990er-Jahren ist es ausserdem möglich, mit einem EFZ und zusätzlichem allgemeinbildendem Unterricht die Berufsmaturität zu erwerben, die den Zugang zu den Fachhochschulen (Tertiär A) ebnet. Zudem ermöglicht eine Passerelle über eine zusätzliche Prüfung nach einer Berufsmaturität den Zugang zu den universitären Hochschulen.

Die höhere Berufsbildung (Tertiär B) ihrerseits bietet «eine Spezialisierung und ein Vertiefen des Fachwissens» und bereitet «auf anspruchsvolle Fach- oder Führungsfunktionen vor».[6] Diplome auf dieser Stufe können an einer höheren Fachschule oder durch das Bestehen einer eidgenössischen Berufsprüfung oder einer eidgenössischen höheren Fachprüfung erworben werden. Die häufigsten Diplome der höheren Berufsbildung sind Pflegefachmann/frau HF, Betriebswirtschafter*in HF, HR-Fachmann/frau EF.[7]

 

Total

Frauen %

Lernende Sek II

364992

47,8

 

Allgemeinbildende Ausbildungen*

(Prozentualer Anteil an der Gesamtheit der Lernenden der Sek II)

108049

(29,6)

59,1

Berufliche Grundbildung**

(Prozentualer Anteil an der Gesamtheit der Lernenden der Sek II)

212925

(58,3)

40,8

 

Ausbildungsform

 

 

Vollzeitschule

(Prozentualer Anteil an allen Lernenden der beruflichen Grundbildung)

19745

(9,3)

39,0

Dual

(Prozentualer Anteil an allen Lernenden der beruflichen Grundbildung)

193180

(90,7)

41,0

Ausbildungsdauer

 

 

2 Jahre

14107

37,7

3 Jahre

135105

52,3

4 Jahre

63713

17,2

Berufsmaturität nach der beruflichen Grundbildung (BM2)

10387

52,7

Übergangsausbildungen Sek I–Sek II

17410

47,0

Zusatzausausbildungen Sekundarstufe II

16221

60,9

Tabelle 1:

Lernende der Sekundarstufe II, 2022/2023 (Quelle: BFS 2024)

* Gymnasiale Maturität, Fachmaturität, Fachmittelschulen, andere allgemeinbildende Ausbildungen

** Inkl. Berufsmaturität während der beruflichen Grundbildung (BM1)

 

Die berufliche Grundbildung ist heute der wichtigste Bildungsweg in der Sek II: 58,3 Prozent der Jugendlichen absolvieren auf dieser Stufe eine Berufsbildung, während 29,6 Prozent auf der allgemeinbildenden Schiene ausgebildet werden (siehe Tabelle 1). Der berufliche Weg zeichnet sich durch die Dominanz des dualen Ausbildungsmodells aus, das eine Alternanz zwischen Ausbildungszeiten im Unternehmen, je nach Beruf etwa drei oder vier Tage pro Woche, und in der Berufsschule, je nach Beruf einen oder zwei Tage, vorsieht, mit Ergänzung durch einen dritten Ausbildungsort, den überbetrieblichen Kursen (üK), deren Dauer und Organisation je nach Beruf unterschiedlich sind. 90,7 Prozent der Jugendlichen, die eine Berufsbildung begonnen haben, absolvieren eine duale Ausbildung. Dieses Modell ist neben der partnerschaftlichen Organisation das zweite hervorstechende Merkmal des Schweizer Systems. Die Schweiz weist im internationalen Vergleich den mit Abstand höchsten Anteil an Jugendlichen auf, die eine duale Berufsbildung absolvieren. Wie aus den Daten des CEDEFOP hervorgeht, befanden sich 2022 90,8 Prozent der Personen, die in der Schweiz eine Berufsbildung absolvierten, in einer dualen Ausbildung, während der europäische Durchschnitt nur bei 29,8 Prozent lag.[8] Diese Ausbildungsmodalität ist gekennzeichnet durch den Wechsel zwischen zwei Lernorten «Schule und Betrieb», durch die Abwechslung zwischen theoretischer Wissensvermittlung und praktischen Ausbildungsmomenten und durch die geteilte Verantwortung für die Verwaltung und Finanzierung zwischen öffentlichen Instanzen (Bund und Kantone) und privaten Instanzen (Organisation der Arbeitswelt und Unternehmen).

Dieses Modell der Organisation der Berufsbildung steht zwar international im Mittelpunkt des Interesses, da es in der Lage ist, den Anforderungen des Arbeitsmarktes entsprechende Qualifikationen mit geringen Kosten für die öffentlichen Instanzen zu gewährleisten, doch ist seine Governance aufgrund der zahlreichen Akteur*innen, die daran beteiligt sind, besonders komplex. In den folgenden Kapiteln werden wir anhand der Schilderungen von Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet näher auf diese Komplexität eingehen, um sie besser verstehen zu können.

Abbildung 1:

Bildungssystem Schweiz (Quelle: SBFI 2022)

330 Jahre Berufsbildungspolitik

Ziel dieses Buches ist es, die letzten 30 Jahre der Geschichte der Berufsbildung in der Schweiz aus der Sicht von zwei Persönlichkeiten nachzuzeichnen, die aktiv an deren Entwicklung beteiligt waren. Es handelt sich um zwei Akteur*innen, die über drei Jahrzehnte hinweg die Interessen von zwei wichtigen Organisationen der schweizerischen Berufsbildungslandschaft repräsentierten, die oft unterschiedliche, manchmal sogar gegensätzliche Interessen und Positionen vertraten. Trotz der Unterschiede und Gegensätze hatten sich die beiden Akteur*innen nie geweigert, miteinander und mit anderen Akteur*innen in der Berufsbildung zu diskutieren und nach Lösungen und Kompromissen zu suchen, um die schweizerische Berufsbildung voranzubringen. Diese beiden Akteur*innen sind Christine Davatz, Vizedirektorin und Verantwortliche für die Berufsbildung beim Schweizerischen Gewerbeverband von 1986 bis 2022, und Bruno Weber-Gobet, Verantwortlicher für Bildungspolitik zunächst beim Christlich Nationalen Gewerkschaftsbund (CNG) von 1995 bis 2002 und, nach der Fusion mit der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) und der Gründung von Travail.Suisse, bei dieser Organisation von 2002 bis 2021. Dieses Buch versucht, die wichtigsten Debatten, die in den letzten 30 Jahren im Bereich der Berufsbildung stattgefunden haben, zu rekonstruieren und sie aus der Sicht dieser beiden Akteur*innen «neu» zu lesen.

Dieses Unterfangen ist in zweierlei Hinsicht speziell. Einerseits zwingt es uns dazu, eine erste historische Rekonstruktion einer noch jungen und wenig erforschten Periode zu wagen, die interessierten Personen erste historische Anhaltspunkte für weitere Forschungen bieten soll. Andererseits ermöglicht es uns, hinter die offiziellen und öffentlichen Informationen über den einen oder anderen Aspekt hinauszublicken, der im Mittelpunkt dieser Rekonstruktion steht, um auch das zu sehen, was hinter den Kulissen passiert ist, in informellen Gesprächen besprochen wurde, oder von kleinen Zufällen und Anekdoten zu erfahren, die nicht in der Presse veröffentlicht wurden. Diese Elemente sind genauso wichtig wie die offiziellen und öffentlichen Informationen, um die Dynamiken des Systems zu verstehen.

Der Zeitraum 1990-2020

Bevor wir uns den beiden Akteur*innen zuwenden, ist es notwendig, die allgemeine Situation der Berufsbildung in den Jahren, die im Fokus dieses Bandes stehen, zu beschreiben.

Der Zeitraum von 1990 bis 2020 ist für die Entwicklung der schweizerischen Berufsbildung von entscheidender Bedeutung. Es handelt sich um eine der Perioden, die in der wissenschaftlichen Literatur als «critical juncture»[9] bezeichnet werden könnten, das heisst eine Zeit, in der wichtige Veränderungen stattfinden, welche die Merkmale einer bestimmten Institution tiefgreifend verändern. In diesem Buch befassen wir uns mit den Veränderungen in der schweizerischen Berufsbildung, die sie zu der heutigen Form geführt haben.

Es handelt sich um Veränderungen als Reaktion auf schwierige oder krisenhafte Situationen, die Reformen erforderten und in denen die Gelegenheitsfenster genutzt wurden, um notwendige politische Vereinbarungen zu treffen. Wie im Folgenden gezeigt wird, führten diese nicht zu einer Revolution. Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Themenkomplex geht davon aus, dass sich Berufsbildungssysteme eher «inkrementell» als durch Revolutionen verändern.[10] Die Komplexität der Schnittstelle zwischen Arbeitswelt und Bildungswelt, die die Berufsbildung charakterisiert, und die Vielzahl der beteiligten Akteur*innen erschweren radikale Reformen. Das gilt umso mehr für die Schweiz, in der Föderalismus und das politische System der Konkordanz graduelle Veränderungen gegenüber revolutionären Reformen begünstigen.

Aber auch wenn diese Veränderungen eher als eine Weiterentwicklung des bisherigen Systems zu betrachten sind, haben sie dennoch den Wandel der Berufsbildung deutlich beschleunigt. Um es mit den Worten von Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet zu sagen: Nach dieser Periode «wird die Berufsbildung nicht mehr dieselbe sein wie vorher». Sie ist vor allem stärker und konsolidierter geworden, weil sie auf eine Reihe von Problemen, die in den 1990er-Jahren entstanden sind, reagiert hat.

Tatsächlich wirkte die Berufsbildung zu Beginn der 1990er-Jahre etwas «mitgenommen». Die 1990er-Jahre waren in der Schweiz von einer Wirtschaftskrise mit einem Rückgang und einer anschliessenden Stagnation des BIP und einem Anstieg der Arbeitslosenquote gekennzeichnet, einer Krise, die die Schweiz seit den 1930er-Jahren nicht mehr erlebt hatte.[11] Von dieser Arbeitslosigkeit waren auch die Jugendlichen betroffen, die Schwierigkeiten hatten, in die Arbeitswelt einzutreten, insbesondere bei der Suche nach einer Lehrstelle, was, wie wir genauer sehen werden, zu einer «Lehrstellenkrise» geführt hat.

Die schwierige Wirtschaftslage wirkte sich auch auf die Berufsbildung aus. Nach den Jahren der «Bildungsexpansion»,[12] die alle Ausbildungsgänge auf dem Niveau der Sek II geprägt hat, ist der Zeitraum von 1985 bis 1995 durch einen Rückgang der Zahl der Lernenden in der dualen Berufsbildung gekennzeichnet, während die Schüler*innenzahlen an den Gymnasien stetig zunahmen.

Abb. 2 zeigt die prozentuale Entwicklung der Anzahl an Schüler*innen in allgemeinbildenden Schulen in der Schweiz in dieser Zeitspanne, der Anzahl an Lernenden in der dualen Berufsbildung und der Anzahl an 16-Jährigen.

Die Grafik zeigt deutlich den Rückgang der Lernendenzahlen, der teilweise – aber nicht nur – demografisch bedingt war, da die Zahl der Schüler*innen in allgemeinbildenden Schulen trotz sinkender Volksschulabgänger*innenzahlen weiter zunahm.

Abbildung 2:

Prozentuale Veränderung der Anzahl der Schüler*innen in allgemeinbildenden Schulen, der Anzahl der Lernenden in der dualen Berufsbildung und der Anzahl an 16-Jährigen (Quellen: Statistische Jahrbücher; BBT Daten; BFS)

Diese Situation wurde damals in der Presse und in politischen Debatten ausführlich kommentiert und diskutiert. In berufsbildungsnahen Kreisen wurde offen von einer «Krise der Berufslehre» gesprochen und von den Behörden gefordert, korrigierend einzugreifen: einerseits, um die Berufslehre wieder attraktiver zu machen, andererseits, um den Zustrom der Jugendlichen in die Gymnasien zu steuern, wenn nicht gar zu reduzieren.

In denselben Jahren waren die Debatten in der Berufsbildung auch stark vom Willen geprägt, das Schweizer Bildungssystem und dessen Abschlüsse international besser zu positionieren. So waren die 1990er-Jahre geprägt von der Europadebatte, der Abstimmung über den EWR-Beitritt, der an der Urne abgelehnt wurde, und der Lancierung der bilateralen Abkommen.[13] Im Bildungsbereich stand die Harmonisierung der Hochschulstudiengänge durch die 1999 eingeleitete Bologna-Reform im Vordergrund und in der Berufsbildung die Verbesserung der Transparenz durch den 2002 lancierten Kopenhagen-Prozess.[14] Insgesamt zielten diese Reformen auf eine grössere Transparenz der Abschlüsse auf europäischer Ebene und eine stärkere Harmonisierung der Strukturen ab, um die Mobilität von Studierenden und Lernenden, aber auch von Berufsleuten zu fördern.

Dieses europäische Klima hat ab den 1990er-Jahren die schweizerische Berufsbildungsdebatte stark beeinflusst: Einerseits begannen sich internationale Vergleiche mit «best practices» einzelner Länder zu entwickeln, andererseits wurden die internationale Anerkennung und Gleichwertigkeit der schweizerischen Berufsbildungsabschlüsse zu einem wichtigen Thema und zu einem der Hauptargumente für die Einführung der Berufsmaturität und für die Gründung der Fachhochschulen.

In diesem hier kurz skizzierten nationalen und internationalen sozioökonomischen Kontext erfuhr die schweizerische Berufsbildung eine Reihe von Veränderungen, die ihr das Gesicht gaben, das wir heute kennen.

Diese Veränderungen tasteten die historischen Säulen des Systems nicht an: Die schweizerische Berufsbildung stützte sich weiterhin auf die duale Ausbildung und auf die Verbundpartnerschaft bestehend aus den folgenden drei institutionellen Akteuren: dem Bund mit seiner strategischen Koordinationsaufgabe, den Kantonen mit ihrer Aufgabe der Umsetzung und Kontrolle der Bundesbestimmungen und den Berufsverbänden (oder in der aktuellen Terminologie: den Organisationen der Arbeitswelt OdA) mit ihrer Aufgabe, die Ausbildungsinhalte zu definieren und über die Betriebe die Lehrstellen zu sichern.[15] An diesen beiden Säulen des schweizerischen Berufsbildungssystems, die bereits mit dem ersten Bundesgesetz von 1930 eingeführt und mit den Nachfolgegesetzen von 1963 und 1978 bestätigt wurden, hat sich in den Jahren 1990–2020 nichts wesentlich geändert.

Es geht vielmehr um Veränderungen, die das System um diese beiden Säulen herum festigten, insbesondere mit Massnahmen, die die Verbundpartnerschaft und das duale Modell stärkten sowie eine faktische Integration der Berufsbildung in das allgemeine Bildungssystem ermöglichten und eine bessere Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen förderten. Dazu gehörten auch Massnahmen zur Erweiterung und Verbesserung der Weiterbildungsmöglichkeiten nach einem ersten Abschluss bzw. der Anschlussmöglichkeiten auf der Tertiärstufe, aber auch eine verbesserte Betreuung der verschiedenen Zielgruppen der Berufsbildung. Nicht zuletzt wurden auch die Grundlagen für eine bessere administrative Kontrolle und ein wissenschaftliches Monitoring des Bereichs geschaffen.

Auch wenn die Schweizer Berufsbildung dank dieser Veränderungen gestärkt aus den Jahren 1990–2000 hervorging, bedeutet dies nicht, dass alles perfekt funktioniert. Der Blick zurück zeigt auch Baustellen auf, die sich vor Kurzem aufgetan haben, oder Probleme, die seit mehreren Jahren bekannt sind und noch nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten. Aus diesem Grund wird dieser Band mit einem Kapitel abgeschlossen, das sich mit den zukünftigen Herausforderungen der Schweizer Berufsbildung befasst; Herausforderungen, die in den nächsten Jahren gelöst werden müssen, damit die aktuelle Periode auch in 30 Jahren als eine Periode der Stärkung der Berufsbildung betrachtet werden kann.

Um leicht nachvollziehbare Orientierungspunkte zu gewährleisten, bietet Abb. 3 eine kurze Chronologie einer Reihe von Ereignissen, die die Jahre im Zentrum dieses Bandes geprägt haben: von der Einführung der Berufsmaturität und der Fachhochschulen über die Verabschiedung des neuen Berufsbildungsgesetzes 2002 und die Revision der Bundesverfassung 2006 bis zum Gesetz über die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung EHB 2020. Abb. 3 zeigt auch die Entwicklung von zwei Bundesinstitutionen im Bereich der Berufsbildung, dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI und der EHB, deren Namen und Funktionen sich in diesem Zeitraum ebenfalls geändert haben. Schliesslich erlaubt uns die Abbildung auch, das Engagement unserer beiden Akteur*innen, Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet, im Bereich der Berufsbildung zu verorten.

Generell lässt sich feststellen, dass die verschiedenen Änderungen, die in diesem Zeitraum beschlossen wurden, von einer breiten politischen Unterstützung zeugen, die dazu führte, dass das Parlament im Jahr 2002 das derzeit geltende Gesetz ohne Gegenstimme verabschiedete. Dies ist ein weiterer Beweis für die Fähigkeit der schweizerischen Politik, einen breiten Konsens zu erzielen, und für die Tatsache, dass die Berufsbildung zu einem «beliebten» politischen Thema geworden ist, das von allen Teilen des politischen Spektrums unterstützt wird. Der in diesem Band vorgeschlagene Pfad ist im Grunde genommen eine spezifische Art und Weise, die Modalitäten zu untersuchen, wie dieser Konsens über die Berufsbildung zustande kam. Anhand der Erzählungen von Bruno Weber-Gobet und Christine Davatz können wir die Merkmale und die Modalitäten der allgemeinen Debatte zu diesem Thema besser verstehen, insbesondere wie diese zwei Akteur*innen mit ihrer Positionierung immer offen für eine Kompromisslösung blieben, ohne jedoch Gegensätze und Kontraste zu verbergen, und schlussendlich wie sie ein Gleichgewicht zwischen der Verteidigung unterschiedlicher Interessen und der Suche nach Kompromissen fanden.

Abgesehen davon, dass der Fokus dieses Buches unvermeidlich auf dem Handeln und den Positionen dieser beiden Akteur*innen liegt, wäre es falsch, sie als die einzigen Protagonist*innen der Entwicklung der Berufsbildung in den letzten Jahrzehnten zu betrachten. Das Buch erwähnt zahlreiche andere Protagonist*innen, die ebenso an der Entwicklung des Systems beteiligt waren. Darüber hinaus zeigt es auch auf, wie über die individuellen Initiativen unserer beiden Akteur*innen hinaus ein allgemeines Klima herrschte, an dem viele andere Akteur*innen beteiligt waren und das von Kooperationsbereitschaft, Kompromissfähigkeit und der Suche nach Lösungen geprägt war. Wahrscheinlich ist dieses wohlwollende Klima, an dem unsere beiden Protagonist*innen beteiligt waren und zu dem sie beigetragen haben, einer der Schlüssel für das derzeitige gute Funktionieren des Berufsbildungssystems; ein Klima, das glücklicherweise über die Einzelpersonen hinausgeht und sich als systemisches Merkmal konstituiert hat.

 

Dieses Buch basiert auf sieben Treffen mit rund 20 Stunden Aufnahmen, an denen Christine Davatz, Bruno Weber-Gobet, Laura Perret und Lorenzo Bonoli teilgenommen haben. Die Treffen fanden zwischen April 2022 und Dezember 2023 in einem Lokal im Zentrum von Bern, in unmittelbarer Nähe des Bundeshauses, statt. Die Struktur des Buches mit den verschiedenen zu vertiefenden Aspekten wurde zu Beginn der Interviews besprochen und während des Schreibens beibehalten. Jedes Unterkapitel beginnt mit einer Reihe von Hintergrundinformationen, die unerlässlich sind, um den Leser*innen die Grundlagen für das Verständnis der Diskussion mit unseren beiden Akteur*innen zu liefern. Um eine gute Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, hat sich der Verfasser bei der Rekonstruktion der Interviews die Freiheit genommen, die Aussagen der Befragten zu kürzen, neu zu ordnen und umzuformulieren, wobei er natürlich den Sinn ihrer Aussagen respektierte und den tatsächlichen Austausch durch zahlreiche direkte Zitate nachvollziehen lässt.

Abbildung 3:

30 Jahre Berufsbildungspolitik: Eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse

3.1Die Anfänge als Expert*in und Lobbyist*in für die Berufsbildung

Christine Davatz begann ihre Tätigkeit beim Schweizerischen Gewerbeverband (sgv) im Jahr 1986 und Bruno Weber-Gobet nahm seine Arbeit im Bereich der Berufsbildung am Ende des Jahres 1995 auf. Obwohl zwischen diesen beiden Eintritten in die Welt der Berufsbildung fast zehn Jahre liegen, haben sie vieles gemeinsam. Christine Davatz und Bruno Weber-Gobet kommen aus Fachbereichen, die weit von der Berufsbildung entfernt lagen, und haben sich von einem Tag auf den anderen ohne spezifische Vorbereitung in diesem Gebiet wiedergefunden. Hinzu kommt, dass sie ihre Arbeit zu Zeitpunkten aufnahmen, als heikle Ereignisse den ansonsten als ruhig geltenden Bereich aufrührten und sie sich schnell einarbeiten mussten.

Christine Davatz’ Vater arbeitete als Dreher (Polymechaniker), ihre Mutter war Modistin. Die Eltern drängten Christine Davatz, das Gymnasium zu besuchen. Nach der Matura und nachdem sie eine Reihe von möglichen Alternativen verworfen hatte, entschied sie sich für ein Jurastudium mit dem Ziel, Richterin zu werden. Christine Davatz beschreibt sich selbst als engagiert und sehr aktiv. Sie habe immer etwas zu tun gehabt. Schon in jungen Jahren engagierte sie sich politisch in der FDP. 1986 erhielt sie das Angebot, für den sgv zu arbeiten. Damals war sie gerade als Anwältin ins Berufsleben eingestiegen und bereitete sich auf eine Karriere in der Justiz vor. Sie wusste nicht, wie sie auf das Angebot reagieren sollte. Die Welt der Berufsbildung war weit weg, wie sie heute bestätigt: «Ich hatte nie etwas mit Berufsbildung zu tun.» Doch der damalige Gerichtspräsident, der eine Art Mentor für Christine Davatz war, riet ihr, die Stelle anzunehmen: «Das ist der Job für dich. Das ist Politik. Das sind Leute. Das brauchst du.» Und Christine Davatz nahm die Stelle an.

Der Zufall wollte es, dass Christine Davatz ihre Stelle nur zwei Wochen vor der Volksabstimmung «Für eine gesicherte Berufsbildung und Umschulung», auch «Lehrwerkstätten-Initiative»[16] genannt, antrat und dass der damalige Leiter der Bildungspolitik des sgv gerade seine Stelle verlassen hatte, sein Büro leer und sein Amt unbesetzt geblieben war. In dieser Notsituation wurde ihr gesagt: «Du musst diesen Abstimmungskampf zu Ende führen.» Christine Davatz legte los, aber sie gibt zu: «Ich hatte keine Ahnung von Berufsbildung.»

Der Anfang war also nicht leicht für Christine Davatz, die sich bei ihrer ersten Präsentation auf einen Text stützen musste, den jemand anderes für sie vorbereitet hatte und den sie nicht vollständig verstand, und die an Debatten teilnehmen musste, ohne einen persönlichen Standpunkt zu haben. «Es war die nackte Katastrophe, […] richtig peinlich», kommentiert sie heute mit einem Lächeln.

Nach diesem Startschuss hatte Christine Davatz Zeit, sich mit dem Gebiet vertraut zu machen und eine Expertin zu werden. Rückblickend betrachtet sie den sgv-Kongress 1994 in Wettingen als einen der wichtigsten Momente auf ihrem Weg zur Expertin der Berufsbildung.[17]

Abbildung 4:

Christine Davatz während einer Rede bei der Abschlussfeier von «Eidg. Dipl. Kaufleute des Detailhandels» im Jahr 1991 (Quelle: Christine Davatz)

Sie erinnert sich insbesondere an die gute Qualität der Referate und Diskussionen während des Kongresses und an die Qualität des Berichts, der bereits die meisten Themen enthielt, die die Berufsbildung bis heute beschäftigen. Sie muss allerdings zugeben, dass sich das öffentliche Interesse an Berufsbildungsfragen damals in Grenzen hielt: «Kein Mensch hat Kenntnis davon genommen.» Letztendlich waren nur wenige daran interessiert, und wenn, dann waren es schon im Bereich tätige Fachpersonen.

Bis in die 1990er-Jahre war die Berufsbildung für nur sehr wenige Personen ausserhalb des Fachbereichs von Interesse und er tauchte, abgesehen von einigen punktuellen Debatten im Zusammenhang mit bestimmten Initiativen, nur selten in der politischen und öffentlichen Diskussion auf. Dies war auch der sozio-politische Kontext, in dem Bruno Weber-Gobet die Welt der Berufsbildung betrat.

Bruno Weber-Gobet kommt aus einer Arbeiterfamilie. Seine Eltern hatten keine nachobligatorische Ausbildung. Doch mit dem Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg hatten er und seine drei Geschwister die Chance, sich über die obligatorische Schule hinaus weiterzubilden. Der älteste Bruder besuchte als Erster in der Familie das Gymnasium, der zweite Bruder konnte eine Lehre absolvieren, ebenso seine Schwester. Er selbst als Jüngster hat ebenfalls das Gymnasium besucht.

Nach dem Gymnasium studierte er Theologie in Freiburg i.Ü. und Bonn, mit Schwerpunkt Sozialethik und einem besonderen Interesse an politischen Fragen, was ihn zweifellos mit der Welt der Gewerkschaften in Kontakt brachte – einer Welt, die er zum Teil bereits kannte, denn sein Vater war Ortspräsident des Rangierpersonalverbands RPV.

Von der Welt der Berufsbildung war er jedoch noch weit entfernt. Bis 1995 «habe ich noch nicht gewusst, dass es Berufsbildung gibt», sagt er, um dann zu korrigieren, dass dies doch «ein wenig übertrieben» sei, da einer seiner Brüder und seine Schwester eine Lehre absolviert hätten, sein Bruder sogar an den Schweizermeisterschaften teilnahm und er im Rahmen der kirchlichen Jugendarbeit vielen Jugendlichen begegnete, die eine Lehre absolvierten. Aber dennoch: «Es war eine fremde Welt für mich. Ich hatte weder eine Ahnung von den Macht- und Verantwortungsstrukturen noch von der Finanzierung oder den politischen Diskussionen innerhalb der Berufsbildung.» Es war ein bisschen Zufall, ähnlich wie bei Christine Davatz, dass er sich nun auf einmal in diesem Bereich wiederfand.

Bruno Weber-Gobet stellt klar, dass er nie direkt für die Stelle des Verantwortlichen für Berufsbildungspolitik beim Christlich-Nationalen Gewerkschaftsbund (CNG) kandidiert hat.