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James Dashner

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Beschreibung

Du weißt, was im Labyrinth, in der Brandwüste und der Todeszone passiert ist? Ganz sicher nicht! Sie sind die Auserwählten. Dazu erkoren, eine Welt zu retten, die längst verloren scheint. Sie sind die Zukunft der Menschheit und ihre einzige Hoffnung. Das glauben sie zumindest. Denn noch ahnen sie nichts von geheimen Allianzen, schockierenden Geheimnissen und unverzeihlichen Lügen. Sie wissen nur, dass sie von ANGST auf die erste Phase des Experiments vorbereitet werden. Das macht die Auserwählten zu Freunden – und damit beginnt der Verrat an Thomas. Der krönende Abschluss der Bestseller-Serie! Alle Bände der weltweiten Bestseller-Serie »Maze Runner«: Die Auserwählten im Labyrinth (Band 1) Die Auserwählten in der Brandwüste (Band 2) Die Auserwählten in der Todeszone (Band 3) Die Auserwählten - Kill Order (Band 4, spielt 15 Jahre vor Band 1) Die Auserwählten - Phase Null (Band 5, spielt unmittelbar vor Band 1) Die Auserwählten – Crank Palace (exklusive digitale Bonusgeschichte)

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Seitenzahl: 434

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James Dashner: Die Auserwählten – Phase Null

Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss

Du weißt, was im Labyrinth, in der Brandwüste und der Todeszone passiert ist? – Ganz sicher nicht!

Sie sind die Auserwählten. Dazu erkoren, eine Welt zu retten, die längst verloren scheint. Sie sind die Zukunft der Menschheit und ihre einzige Hoffnung. Das glauben sie zumindest. Denn noch ahnen sie nichts von geheimen Allianzen, schockierenden Geheimnissen und unverzeihlichen Lügen. Sie wissen nur, dass sie von ANGST auf die erste Phase des Experiments vorbereitet werden. Das macht die Auserwählten zu Freunden – und damit beginnt der Verrat an Thomas.

Alle Bände der weltweiten Bestseller-Serie und Filmvorlage »Maze Runner«:

Die Auserwählten im Labyrinth (Band 1)

Die Auserwählten in der Brandwüste (Band 2)

Die Auserwählten in der Todeszone (Band 3)

Die Auserwählten – Kill Order (Band 4, spielt 15 Jahre vor Band 1)

Die Auserwählten – Phase Null (Band 5, spielt unmittelbar vor Band 1)

Die Auserwählten – Crank Palace (exklusive digitale Bonusgeschichte)

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Prolog

NEWT

An dem Tag, als sie seine Eltern töteten, schneite es.

Ein Unfall, hieß es später, aber er war dabei gewesen und wusste, dass es kein Unfall war.

Zuerst war der Schnee gekommen, fast wie ein kaltes weißes Omen, das vom grauen Himmel fiel.

Er wusste noch, wie seltsam das war: Die brütende Hitze hing seit Monaten über der Stadt – Monate, die zu Jahren wurden, eine endlose Reihe von Tagen aus Schweiß, Schmerz und Hunger.

Newt und seine Familie überlebten. Die Hoffnung am Vormittag ging nachmittags in Kampf und Gezeter über, mit all den grässlichen Geräuschen, wenn sie irgendwie an Essen kommen mussten. Auf die langen heißen Tage folgte am Abend die Benommenheit. Dann saß er bei seiner Familie und schaute zu, wie das Licht am Himmel verblasste und die Welt langsam vor seinen Augen verschwand. Jedes Mal fragte er sich, ob es mit der Dämmerung am nächsten Morgen zurückkommen würde.

Manchmal kamen die Irren. Sie kannten weder Tag noch Nacht. Aber seine Familie redete nicht darüber. Weder seine Mutter noch sein Vater, und er selbst schon gar nicht. Vielleicht aus Angst, sie allein durch das Eingestehen ihrer Existenz herbeizurufen, wie bei einer Geisterbeschwörung. Nur Lizzy, seine zwei Jahre jüngere Schwester, die allerdings doppelt so mutig war wie er, brachte es fertig, über die Irren zu reden. Als wäre sie die Einzige, die klug genug war, um nicht auf diesen dummen Aberglauben hereinzufallen.

Dabei war sie noch so klein.

Eigentlich hätte er der Mutigere sein müssen; er hätte seine kleine Schwester trösten müssen. Hab keine Angst, Lizzy. Der Keller ist abgeschlossen; die Lichter sind aus. Die bösen Leute wissen nicht, dass wir hier sind. Aber ihm fehlten jedes Mal die Worte. Er umarmte Lizzy, drückte sie ganz fest an sich, als wäre sie sein Teddybär, sein Kuscheltier, das ihm Trost spenden sollte. Lizzy tätschelte ihm dann den Rücken.

Er liebte seine Schwester so sehr, dass ihm das Herz wehtat. Er drückte sie noch fester, genoss es, wie ihre kleine Hand ihn zwischen den Schulterblättern klopfte.

Oft schliefen sie so ein, in der Ecke des Kellers zusammengerollt, auf den alten Matratzen, die Dad die Treppe heruntergeschleppt hatte. Mom hatte immer eine Decke über sie gelegt, trotz der Hitze – es war ihre Art, gegen Den Brand zu rebellieren, der alles zerstört hatte.

Als sie an jenem Morgen aufwachten, erlebten sie ein kleines Wunder.

»Kinder!«, rief Mom.

Er hatte geträumt, irgendetwas von einem Fußballspiel, in einem leeren Stadion wirbelte der Ball über den grünen Rasen des Spielfelds auf ein offenes Tor zu.

»Kinder! Wacht auf! Kommt, seht euch das an!«

Er öffnete die Augen, sah seine Mutter an dem kleinen Fenster stehen, dem einzigen in dem Kellerraum. Sie hatte das Brett abgemacht, das Dad am Abend zuvor darübergenagelt hatte, so wie er es jeden Tag bei Sonnenuntergang machte. Ein weiches graues Licht fiel auf das Gesicht seiner Mutter. Ihre Augen waren von ehrfürchtigem Staunen erfüllt und ein Lächeln, wie er es schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte, ließ ihr Gesicht aufleuchten.

»Was ist?«, murmelte er und kam auf die Füße. Lizzy rieb sich die Augen, gähnte und folgte ihm zu Mom. Sie schaute unentwegt in das graue Licht hinaus.

Er erinnerte sich an jedes Detail in diesem einen Moment: Als er mit zusammengekniffenen Augen hinausblinzelte, um sich an das Licht zu gewöhnen, schnarchte sein Vater noch wie ein Bär. Die Straße draußen war leer, keine Irren waren unterwegs. Der Himmel war wolkenverhangen, eine Seltenheit in dieser Zeit. Und er erstarrte, als er die weißen Flocken sah. Sie fielen aus dem Grau, wirbelten und tanzten, spotteten der Schwerkraft und flirrten nach oben zurück, bevor sie wieder herunterrieselten.

Schnee.

Schnee.

»Was zum Teufel …?«, stieß er leise hervor, einen Fluch, den er von seinem Vater gelernt hatte.

»Wie kann es schneien, Mommy?«, fragte seine kleine Schwester. Ihre Augen waren plötzlich hellwach und strahlten so vor Glück, dass es ihm einen Stich ins Herz gab. Er griff nach unten und zog sie zärtlich an ihrem Zopf. Sie war die Sonne in seinem elenden Leben, das Einzige, was ihn aufrecht hielt.

»Ach, na ja«, antwortete Mom. »Was die Leute so alles reden. Das ganze Wettersystem des Planeten ist angeblich aus den Fugen, wegen der Sonneneruptionen. Lasst uns das hier einfach genießen, ja? Es ist doch ein Wunder, oder?«

Lizzy antwortete mit einem glücklichen Seufzen.

Er konnte den Blick nicht von den Schneeflocken abwenden und fragte sich, ob er so etwas je wiedersehen würde. Die Flocken schwebten in der Luft, tänzelten schließlich herunter und schmolzen, sobald sie irgendwo auftrafen. Nasse Sommersprossen auf der Fensterscheibe.

So standen sie zu dritt da, schauten hinaus in die Welt, bis Schatten über die obere Hälfte des Fensters fielen, die aber sofort wieder verschwanden.

Er reckte den Hals, um nachzusehen, wer oder was da vorbeigegangen war, aber es war zu spät. Im nächsten Moment hämmerte es laut an die Haustür oben. Dad war blitzschnell auf den Füßen, noch bevor das Geräusch verhallt war. Hellwach und bereit zum Kampf.

»Habt ihr jemanden gesehen?«, fragte er mit krächziger Stimme.

Die Freude in Moms Gesicht war erloschen, hatte den vertrauten Sorgen- und Kummerfalten Platz gemacht. »Nur einen Schatten. Sollen wir aufmachen?«

»Nein«, sagte Dad. »Ganz bestimmt nicht. Betet, dass sie weggehen, wer immer es sein mag.«

»Aber vielleicht brechen sie dann die Tür auf«, flüsterte Mom. »Das würde ich jedenfalls machen. Sie denken wahrscheinlich, das Haus ist verlassen und es gibt vielleicht irgendwo noch ein paar Konserven.«

Dad sah sie lange an und in seinem Kopf arbeitete es, während die Sekunden vorübertickten.

Bumm, bumm, bumm. Die erneuten harten Schläge gegen die Tür ließen das ganze Haus erbeben, als wären die Eindringlinge mit einem Rammbock am Werk.

»Du bleibst hier«, sagte Dad ernst. »Bleib bei den Kindern.«

Mom wollte etwas erwidern, bremste sich aber und sah zu ihrer Tochter und dem Sohn. Sie waren das Wichtigste in ihrem Leben. Sie zog sie an sich, als könnten ihre Arme sie beschützen, und er schmiegte sich an ihren warmen Körper, ließ sich tatsächlich beruhigen. Er hielt sie ganz fest, als Dad leise den Keller verließ, die Treppe hinaufging und über die knarzenden Dielen zur Haustür schlich.

Stille.

Die Luft wurde schwer und drückend. Lizzy fasste nach seiner Hand. Ausnahmsweise fand er die richtigen Worte, um sie zu trösten.

»Keine Angst«, flüsterte er kaum hörbar. »Es sind wahrscheinlich nur irgendwelche Leute, die Hunger haben und was zu essen suchen. Dad wird ihnen was abgeben, dann ziehen sie weiter. Wirst schon sehen.« Er drückte ihre Finger, legte seine ganze Liebe in diese Geste hinein, obwohl er kein Wort von dem glaubte, was er gesagt hatte.

Plötzlich Lärm.

Die Tür krachte auf.

Laute, wütende Stimmen.

Ein Krachen, dann ein Wummern, dass die Bodendielen bebten.

Schwere, unheilvolle Tritte.

Dann stürmten sie die Treppe herunter. Zwei Männer – nein, drei – und eine Frau. Vier insgesamt. Sie waren auffallend gut gekleidet und sahen weder nett noch gefährlich aus. Nur todernst.

»Sie haben die Nachricht ignoriert, die wir Ihnen geschickt haben«, sagte einer der Männer und blickte sich im Kellerraum um. »Es tut mir leid, aber wir brauchen das Mädchen. Elisabeth. Es tut mir wirklich leid, aber wir haben keine Wahl.«

Und da ging die Welt für ihn unter. Eine Welt, die sowieso schon viel zu traurig für ein Kind war. In der angespannten Stille kamen die Eindringlinge näher. Dann griffen sie nach Lizzy, packten sie an ihrem T-Shirt, stießen Mom weg – die vor Angst schrie und ihr kleines Mädchen festhielt.

Er stürmte vorwärts und schlug auf die Rücken und Schultern der Männer ein. Völlig sinnlos. Als würde eine Maus einen Elefanten angreifen.

Der Blick in Lizzys Augen während dieses ganzen Irrsinns – er würde ihn nie vergessen. Etwas Kaltes, Hartes zersplitterte in seiner Brust, zerriss ihm das Herz. Er konnte es nicht ertragen. Mit einem gellenden Schrei stürzte er sich erneut auf die Eindringlinge und schlug mit aller Kraft auf sie ein.

»Schluss jetzt!«, brüllte die Frau. Eine Hand peitschte durch die Luft, klatschte ihm ins Gesicht, dass es wie Feuer brannte. Einer der Angreifer schlug seine Mutter auf den Kopf, sie fiel sofort um. Dann eine Art Donnerschlag, ganz nah und überall um ihn herum zugleich. In seinen Ohren hallte es, er taumelte rücklings an die Wand, behielt dabei den Albtraum im Blick.

Einer der Männer, ins Bein geschossen.

Sein Dad in der Tür, Gewehr in der Hand.

Seine Mom kreischend, sie rappelte sich vom Boden auf und stürzte sich auf die Frau, die jetzt ebenfalls ihre Waffe gezückt hatte.

Dad feuerte zwei weitere Schüsse ab. Metallisches Klirren, Patronenhülsen, die auf Betonboden fielen. Beides Fehlschüsse.

Mom zerrte die Frau an der Schulter.

Die Frau wehrte sie mit dem Ellbogen ab, schoss, wirbelte herum, feuerte weitere drei Mal.

Die Luft wurde dick, alle Geräusche in dem Chaos verstummten, die Zeit stand plötzlich still.

Er sah alles ganz genau und ein Abgrund tat sich unter ihm auf, als seine Eltern beide zu Boden stürzten.

Ein langer Moment verging, keiner rührte sich, Mom und Dad am allerwenigsten. Sie würden sich überhaupt nie mehr rühren.

Alle Augen richteten sich auf die verwaisten Kinder.

»Nehmt alle beide mit, verdammter Mist«, sagte einer der Männer schließlich. »Den Jungen können sie als Kontrollperson gebrauchen.«

Er würde nie vergessen, wie der Mann auf ihn zeigte, so gleichgültig, als wählte er eine Suppenkonserve in der Speisekammer aus. Er stürzte zu Lizzy und zog sie in seine Arme. Aber die Fremden rissen sie weg.

1

28.11.221 | 09:23 Uhr

Stephen. Stephen.

Mein Name ist Stephen.

Unablässig hämmerte er es sich ein, seit sie ihn vor zwei Tagen von seiner Mom weggeholt hatten. Er erinnerte sich genau an die letzten Momente mit ihr, an jede einzelne Träne, die über ihr Gesicht gelaufen war, jedes Wort, jede warme Berührung. Obwohl er noch klein war, hatte er verstanden, dass es besser für ihn war. Er hatte mit angesehen, wie die Krankheit seinen Dad in einen gewalttätigen Irren verwandelte, voller Wut, Hass und Verzweiflung. Stephen hätte es nicht ertragen, seine Mom so leiden zu sehen.

Aber der Trennungsschmerz fraß ihn auf. Ein grausames, grenzenloses Meer, das ihn verschlungen und in seine eisigen Tiefen hinuntergezogen hatte.

Er lag zusammengerollt auf dem Bett in seinem kleinen Zimmer, die Knie an die Brust gezogen, die Augen fest zugekniffen, aber der Schlaf kam nur in Schüben, ein kurzes Abtauchen in Albtraumwelten voll düsterer Wolken und schreiender Tiere. Er konzentrierte sich mit aller Kraft.

Stephen. Stephen. Stephen. Mein Name ist Stephen.

Zwei Dinge musste er festhalten, das spürte er: seine Erinnerungen und seinen Namen. Den Vornamen würde er nicht hergeben, auch wenn sie ihm seinen Nachnamen zu stehlen versuchten. Seit zwei Tagen drängten sie ihn seinen neuen Namen zu akzeptieren. Thomas.

Er hatte sich geweigert und verzweifelt an die sieben Buchstaben geklammert, die seine Eltern für ihn ausgewählt hatten. Er reagierte einfach nicht, wenn sie ihn »Thomas« nannten. Tat so, als hätte er nichts gehört oder fühle sich nicht angesprochen. Das war nicht einfach, wenn meistens zwei Leute im Raum standen.

Stephen war noch keine fünf und er kannte von der Welt nicht viel mehr als Schmerz und Dunkelheit. Bis ihn diese Leute hier mitgenommen hatten.

Und jetzt wollten sie ihm unbedingt klarmachen, dass es noch schlimmer kommen konnte, dass jede neue Lektion, die er lernen musste, noch härter und grausamer war als die vorherige.

Ein Summen ertönte, die Tür sprang auf und ein Mann kam herein. Er trug einen grünen Overall, eine Art Strampler für Erwachsene. Und er sah so dämlich darin aus, dass Stephen es ihm am liebsten gesagt hätte. Aber nach seinen letzten Erfahrungen mit diesen Leuten hielt er lieber den Mund. Sie verloren allmählich die Geduld mit ihm.

»Komm mit, Thomas«, sagte der Mann.

Stephen, Stephen, Stephen. Mein Name ist Stephen.

Er rührte sich nicht, hielt die Augen geschlossen. Hoffentlich hatte der Mann nicht gesehen, dass er kurz gelinst hatte, als er hereingekommen war. Es war jedes Mal ein anderer. Keiner von ihnen war unfreundlich zu ihm, aber besonders nett waren sie auch nicht. Eher distanziert, als wären sie mit ihren Gedanken woanders, weit weg von dem kleinen Jungen in dem Bett hier.

Der Mann wiederholte seinen Befehl, ohne die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen. »Los, steh auf, Thomas. Ich hab keine Zeit für solche Spielchen, okay? Sie machen uns die Hölle heiß, dass wir es zu Ende bringen sollen. Du bist offenbar der Letzte, der sich noch gegen seinen Namen sträubt. Also, sei so gut, Junge. Du willst dich doch nicht wegen diesem Firlefanz mit uns anlegen, nachdem wir dich vor dem Horror da draußen gerettet haben?«

Vor lauter Anstrengung stillzuhalten wurde Stephens Körper ganz steif, so dass er bestimmt nicht wie ein Schlafender aussah. Er hielt die Luft an, bis er nicht mehr konnte und Atem holen musste. Dann gab er sich geschlagen, wälzte sich auf den Rücken und starrte dem Fremden direkt in die Augen.

»Sie sehen so dumm aus«, sagte er.

Der Mann konnte seine Verblüffung nicht verbergen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wie bitte?«

Stephen kochte vor Wut. »Ich hab gesagt, Sie sehen dumm aus in Ihrem bescheuerten Anzug. Und ich mache nicht einfach alles, was Sie mir sagen, okay? Wer hört schon auf jemand, der so rumläuft? In einem Männerstrampler? Und nennen Sie mich nicht ›Thomas‹. Ich bin Stephen.«

Das alles kam in einem einzigen Atemzug heraus und Stephen musste erneut tief Luft holen, was nicht gut war, weil es ihn vielleicht schwach aussehen ließ.

Der Mann lachte, aber es klang eher belustigt als abfällig. Trotzdem hätte Stephen ihm am liebsten etwas an den Kopf geknallt.

»Mir wurde gesagt, du hättest so was …« Der Typ hielt inne und warf einen Blick auf sein Notebook, das er in der Hand hielt, »… ähm … ›liebenswert Kindliches‹. Kann ich bisher nicht bestätigen.«

»Da wusste ich ja auch noch nicht, dass ich meinen Namen hergeben soll«, schnaubte Stephen. »Den Namen, den ich von meiner Mom und meinem Dad bekommen habe. Und den ihr mir stehlen wollt.«

»Von einem Dad, der völlig hinüber ist?«, sagte der Mann. »Der so krank war, dass er deine Mom fast totgeprügelt hat? Und von einer Mom, die uns angefleht hat dich mitzunehmen, weil sie von Tag zu Tag kränker wurde? Ja? Meinst du die?«

Stephen bebte vor Wut, sagte aber nichts.

Der Kerl kam näher an sein Bett und ging in die Hocke. »Hör mal, du bist noch ein Kind. Und intelligent bist du auch. Hochintelligent sogar. Außerdem bist du immun gegen Den Brand. Also spricht eine ganze Menge für dich.«

Stephen hörte die Drohung in seiner Stimme. Worauf immer der Mann hinauswollte, es war bestimmt nichts Gutes.

»Du wirst gewisse Dinge einfach aushalten und dich damit trösten müssen, dass es Wichtigeres gibt als dich«, fuhr er fort. »Wenn wir in den nächsten Jahren keine Heilung finden, stirbt die Menschheit aus. Und deshalb stehst du jetzt auf, Thomas, und verlässt mit mir dieses Zimmer. Ich sage es dir zum allerletzten Mal.«

Der Mann wartete eine Sekunde, ohne ihn aus den Augen zu lassen, dann stand er auf und ging zur Tür.

Stephen verließ das Bett und folgte ihm.

2

28.11.221 | 09:56 Uhr

Draußen traf Stephen zum ersten Mal auf ein anderes Kind. Ein Mädchen mit braunem Haar, ein bisschen älter als er. Aber vielleicht täuschte er sich – er hatte nur einen kurzen Blick auf sie erhascht, bevor sie von der Frau, die sie begleitete, in ihr Zimmer bugsiert wurde. Die Tür fiel zu, als er mit dem Mann im Strampler vorbeiging, und er konnte gerade noch das Schild auf dem weißen Lack lesen: 31 K.

»Teresa macht es nichts aus, einen neuen Namen anzunehmen«, sagte der Mann, während sie den langen, schummrigen Flur entlanggingen. »Vielleicht ist sie ja sogar froh, dass sie ihren alten vergessen kann.«

»Und wie hieß sie vorher?«, fragte Stephen fast schon höflich, weil es ihn brennend interessierte. Wenn das Mädchen so schnell eingeknickt war, wollte wenigstens er sich ihren Namen merken – vielleicht wurden sie ja Freunde.

»Du hast genug damit zu tun, deinen eigenen Namen nicht zu vergessen«, sagte der Mann. »Ich würde mir an deiner Stelle keinen fremden aufhalsen.«

Ich vergesse ihn nie, schwor Stephen sich. Egal, was passiert.

In einem Winkel seines Gehirns registrierte er, dass seine Einstellung sich bereits geändert hatte, wenn auch kaum spürbar. Er beharrte nicht mehr darauf, dass er Stephen hieß, sondern schwor nur noch, dass er seinen Namen nie vergessen würde. Hatten sie ihn auch schon kleingekriegt?

Nein! Fast hätte er es laut hinausgeschrien.

»Und Sie? Wie ist Ihr Name?«, fragte er schnell, um Zeit zu gewinnen.

»Randall Spilker«, sagte der Mann, während er zügig weiterging. Sie bogen um eine Ecke und kamen zu einer Reihe von Aufzügen. »Ich war nicht immer so ein Dreckskerl, glaub mir. Die Welt, die Leute, für die ich arbeite …«, er schwenkte vage seine Hand herum, »das alles hat mein Herz in einen kleinen schwarzen Kohleklumpen verwandelt. Dein Pech.«

Stephen antwortete nicht, weil er sich fragte, wo der Mann ihn hinbringen würde. Ein melodisches Läuten kündigte den Aufzug an, sie stiegen ein.

Stephen saß auf einem seltsamen Stuhl mit diversen eingebauten Geräten, die sich in seine Beine und seinen Rücken bohrten. Kabellose Sensoren, jeder davon kaum fingernagelgroß, waren an seinen Schläfen fixiert, an seinem Hals, seinen Handgelenken, seinen Armbeugen und an seiner Brust. Er starrte auf die Konsole neben ihm, die piepsend und summend offenbar Daten abspeicherte. Der Mann im grünen Strampler saß auf einem anderen Stuhl und beobachtete ihn, seine Knie nur zentimeterweit von Stephens entfernt.

»Tut mir leid, Thomas. Normalerweise würden wir nicht so schnell zu solchen Mitteln greifen«, sagte Randall, der jetzt freundlicher klang als zuvor im Flur und in Stephens Zimmer. »Wir würden dir Zeit lassen, bis du den neuen Namen freiwillig annimmst, so wie Teresa. Aber Zeit ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.«

Er hielt ein winziges silbernes Instrument hoch, das an einem Ende abgerundet war und am anderen Ende eine scharfe Spitze hatte.

»Nicht bewegen«, sagte er und beugte sich vor, als wollte er Stephen etwas ins Ohr flüstern. Und ehe Stephen wusste, wie ihm geschah, zuckte ein scharfer Schmerz durch seinen Hals, direkt unter dem Kinn, als bohrte sich etwas in seine Kehle. Er schrie, aber da war es schon vorbei – genauso plötzlich, wie es angefangen hatte. Jetzt rauschte nur noch die Panik durch seine Adern und ließ sein Herz rasen.

»W-was w-war das?«, stotterte er und wollte von dem Stuhl aufstehen, mit dem er fest verkabelt war.

Randall stieß ihn mühelos auf seinen Sitz zurück; er war ja schließlich doppelt so groß und breit wie Stephen.

»Das ist ein Schmerzstimulator, Junge. Und keine Angst, der löst sich auf und wird aus deinem Kreislauf geschwemmt. Mit der Zeit. Und bis dahin wirst du ihn dann nicht mehr brauchen.« Er zuckte die Schultern, als wollte er sagen: Was soll man machen? »Aber wir können dir jederzeit einen neuen einpflanzen, wenn du uns dazu zwingst. Und jetzt beruhige dich.«

Stephen brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte. »Und was macht das mit mir?«

»Tja, kommt ganz drauf an … Thomas. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, du und ich. Wir alle. Aber jetzt, fürs Erste, nehmen wir eine Abkürzung. Einen Waldweg sozusagen. Du brauchst mir nur deinen Namen zu sagen.«

»Das ist leicht. Stephen.«

Randall ließ seinen Kopf in die Hände fallen. »Also los«, sagte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein erschöpftes Flüstern.

Stephen hatte bis zu diesem Moment keine Schmerzen gekannt, außer von den Schrammen und Beulen, die er sich beim Spielen geholt hatte. Deshalb fehlten ihm die Worte für den Sturm, der jetzt in seinem Körper lostobte, für die Höllenqualen in seinen Adern und Muskeln. Wieder wusste er nicht, wie ihm geschah. Er konnte nur schreien, Schreie, die kaum sein Ohr erreichten, als sein Verstand auch schon abschaltete und ihn erlöste.

Schwer atmend und schweißüberströmt kam Stephen wieder zu sich. Er saß noch immer auf dem Stuhl, aber jetzt war er mit weichen Lederriemen fixiert. Jeder einzelne Nerv in seinem Körper vibrierte noch von den Schmerzen, die ihm Randall zugefügt hatte und die von dem Chip in seinem Hals noch verstärkt worden waren.

»Was …«, wisperte er heiser. Seine Kehle brannte wie Feuer, weil er sich vermutlich die Seele aus dem Leib geschrien hatte. »Was?«, wiederholte er, während sein Verstand fieberhaft versuchte die Puzzleteile zusammenzufügen.

»Du wolltest ja nicht hören«, sagte Randall mit einem vagen Hauch von Mitleid in der Stimme. Oder sogar einem Anflug von schlechtem Gewissen. »Wir haben keine Zeit für dumme Spielchen. Tut mir leid, wirklich. Aber wir werden das wiederholen müssen. Ich denke, du hast jetzt begriffen, dass wir nicht bluffen. Du musst deinen Namen akzeptieren, das ist für alle hier wichtig.« Der Mann sah weg und schwieg lange, die Augen auf den Boden gesenkt.

»Wie können Sie mir so was antun?«, krächzte Stephen. »Ich bin doch noch ein Kind!« Aber es klang nicht rebellisch oder vorwurfsvoll, sondern nur kläglich, das merkte er selbst.

Und er wusste auch, wie Erwachsene auf so eine Mitleidstour reagierten: Entweder sie wurden weich und gaben ein bisschen nach oder sie wurden noch viel unerbittlicher, um die Schuldgefühle, die in ihnen aufstiegen, zu übertönen. Randall gehörte zur zweiten Sorte. Mit hochrotem Kopf brüllte er ihn an:

»Du musst nur deinen Namen akzeptieren, das ist alles! Jetzt, sofort – ich dulde keine Faxen mehr. Also, wie ist dein Name?«

Stephen war klug genug, um keinen aussichtslosen Kampf zu führen. Er gab fürs Erste klein bei, zumindest tat er so. »Thomas. Mein Name ist Thomas.«

»Ich glaub dir nicht.« Randalls Augen waren zwei schwarze Löcher. »Noch mal.«

Stephen wollte antworten, aber Randall hatte nicht ihn gemeint. Der Schmerz kam zurück, schneller und härter. Diesmal hatte er kaum Zeit, ihn wahrzunehmen, bevor er das Bewusstsein verlor.

»Wie heißt du?«

Stephen konnte kaum sprechen. »Thomas.«

»Ich glaub dir nicht.«

»Nein.« Stephen wimmerte.

Der Schmerz war keine Überraschung mehr, genauso wenig wie die Dunkelheit danach.

»Wie heißt du?«

»Thomas.«

»Vergiss das nie.«

»Nein.« Stephen weinte, seine Schultern bebten vor Schluchzen.

»Wie heißt du?«

»Thomas.«

»Hast du sonst noch einen Namen?«

»Nein. Nur Thomas.«

»Wurdest du irgendwann anders genannt?«

»Nein. Nur Thomas.«

»Und du wirst deinen Namen nie vergessen? Nie einen anderen benutzen?«

»Nein.«

»Okay. Dann geb ich dir jetzt eine letzte Erinnerung.«

Später lag er wieder zusammengekauert auf seinem Bett. Die Welt draußen war weit weg, stumm. Er hatte keine Tränen mehr, sein Körper war taub, außer einem unangenehmen Kribbeln. Es war, als sei alles in ihm eingeschlafen, sein ganzes Wesen. Er dachte daran, wie Randall ihm gegenübergesessen hatte, das Gesicht von widerstreitenden Gefühlen verzerrt – Wut, Mitleid, Schuld –, während er ihm weiter Schmerzen zufügte.

Ich werde es nie vergessen, schwor er sich. In meinem ganzen Leben nicht.

Und in Gedanken hämmerte er sich die vertrauten Worte ein, die ihm aber irgendwie verändert vorkamen, obwohl er nicht genau sagen konnte, warum.

Mein Name ist Thomas. Thomas. Thomas.

3

28.02.22 | 09:36 Uhr

»Bitte stillhalten.«

Der Arzt war nicht gemein zu ihm, aber auch nicht gerade nett. Er saß einfach da, distanziert, professionell. Ein unauffälliger Typ: mittelalt, mittelgroß, mittelkräftig, kurzes dunkles Haar. Thomas schloss die Augen und spürte, wie die Nadel mit einem kurzen Pikser in seine Vene glitt. Komisch, dass er sich immer noch davor fürchtete, Woche für Woche, obwohl es in Sekundenschnelle vorbei war. Danach strömte nur noch diese eisige Kälte durch seinen Körper.

»Na also«, sagte der Arzt. »Hat doch gar nicht wehgetan.«

Thomas schüttelte den Kopf, er brachte keinen Ton heraus. Das Sprechen fiel ihm schwer seit dem Zwischenfall mit Randall. Genauso wie Essen, Schlafen und praktisch alles andere. Erst seit ein paar Tagen wurde es besser, Schritt für Schritt kam er darüber hinweg. Sobald auch nur der Hauch einer Erinnerung an seinen wahren Namen in ihm aufstieg, schaltete er seinen Verstand ab, um nur ja nie wieder solche Schmerzen aushalten zu müssen. Der Name Thomas war okay. Er würde sich daran gewöhnen.

Blut, so dunkel, dass es fast schwarz wirkte, stieg in dem engen Röhrchen von seiner Armbeuge in die Phiole auf. Er hatte keine Ahnung, wozu die Tests gut sein sollten, aber das hier war nur eine der unzähligen Blutentnahmen – manche täglich, andere wöchentlich.

Der Arzt stoppte den Blutfluss und versiegelte das Fläschchen. »Gut, das war’s.« Er zog die Nadel heraus. »Jetzt schieben wir dich noch in den Scanner und sehen uns dein Gehirn an.«

Thomas erstarrte. Die Angst griff mit eisigen Fingern nach seinem Herzen. Eine Angst, die ihn lähmte, sobald das Wort »Gehirn« fiel.

»Na, na«, schimpfte der Arzt, als er sah, wie Thomas sich versteifte. »Wir machen das doch jede Woche. Ist nur Routine – nichts, wovor du dich fürchten musst. Wir müssen regelmäßig die Aktivität dort oben aufzeichnen, okay?«

Thomas nickte und kniff einen Moment die Augen zu. Ihm war zum Heulen. Er sog die Luft ein und kämpfte mit den Tränen.

Dann stand er auf und folgte dem Arzt in ein anderes Zimmer. Eine gigantische Maschine wartete dort, wie ein riesiger Elefant, mit einer Röhre in der Mitte und einem flachen Bett darin, auf das man ihn gleich schieben würde.

»Also, rauf mit dir.«

Thomas ließ diese Prozedur schon zum vierten oder fünften Mal über sich ergehen; er wusste, dass es zwecklos war, sich dagegen zu wehren. Also setzte er sich auf das Bett, legte sich flach auf den Rücken und starrte zu den hellen Lichtern an der Decke hinauf.

»Die Klopfgeräusche kennst du ja schon«, sagte der Arzt, »kein Grund zur Sorge. Das ist alles normal. Gehört zum Spiel.«

Es klickte, dann ein mahlendes Geräusch in der Maschine und Thomas’ Bett glitt in den Rachen der Röhre.

Thomas saß allein an einem Schreibtisch. Mr Glanville, sein Lehrer, stand vorne an der Tafel – ein mürrischer grauer Mann, der kaum noch Haare auf dem Kopf hatte. Außer an den Augenbrauen, die so buschig waren, als hätten sie jeden einzelnen Follikel in seinem restlichen Körper an sich gezogen. Es war die zweite Stunde nach der Mittagspause und Thomas hätte mindestens drei seiner Zehen für ein kleines Nickerchen gegeben. Einfach auf den Boden legen und schlafen – nur fünf Minuten.

»Weißt du noch, worüber wir gestern gesprochen haben?«, fragte Mr Glanville.

Thomas nickte. »VWIS.«

»Ja, das ist richtig. Und wofür steht es?«

»Vorhaben zur Wiederbeschaffung von Informationen nach den Sonneneruptionen.«

Mr Glanville lächelte zufrieden. »Sehr gut. Und jetzt …« Er drehte sich zur Tafel um und schrieb die Buchstaben NNK darauf. »N … N … K … Das steht für Nacheruptive Notstandskoalition, die das Ergebnis von VWIS war. Erst als man so viele Länder wie möglich miteinbezogen und genügend Mitarbeiter gewonnen hatte, konnten die Gründer eine Strategie gegen die katastrophalen Auswirkungen der Sonneneruptionen entwickeln. VWIS hatte die Aufgabe, diese Auswirkungen zu erforschen und die Betroffenen zu registrieren, während die NNK eine Heilung zu finden versuchte. Langweile ich dich, mein Junge?«

Thomas schreckte hoch. Er hatte gar nicht gemerkt, dass sein Kopf heruntergesunken war. Vielleicht war er sogar eine Sekunde lang eingedöst.

»Entschuldigung«, murmelte er und rieb sich die Augen. »VWIS. NNK. Hab ich mir gemerkt.«

»Hör mal, Junge.« Mr Glanville machte ein paar Schritte auf ihn zu und baute sich direkt vor ihm auf. »Ich weiß, andere Fächer sind interessanter. Mathe, Naturwissenschaften, Sport.« Er beugte sich zu ihm vor und durchbohrte ihn mit seinem Blick: »Aber du musst unsere Geschichte verstehen. Du musst wissen, was uns hierhergebracht hat, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Du wirst nie einen Weg in die Zukunft finden, wenn du nicht weißt, wo du herkommst.«

»Ja, Sir«, antwortete Thomas fügsam.

Mr Glanville richtete sich wieder auf und funkelte ihn über seine Nase hinweg an. Er suchte vergeblich nach einem Anzeichen von Sarkasmus in Thomas’ Gesicht. »Also gut. Kenne deine Vergangenheit. Zurück zu NNK. Es gibt viel zu diskutieren.«

Während der Lehrer nach vorne zur Tafel zurückging, kniff Thomas sich in den Arm, so fest er konnte, um sich irgendwie wach zu halten.

»Brauchst du mehr Zeit, um es noch mal durchzugehen?«

Thomas schaute zu Ms Denton auf. Sie hatte dunkle Haare und dunkle Haut und war sehr schön. Freundliche, kluge Augen. Die vermutlich intelligenteste Person, die er bisher kennengelernt hatte. Das zeigte sich schon an den kniffligen Aufgaben, die sie ihm in »Kritisches Denken« gab.

»Ich hab’s jetzt, glaube ich.«

»Dann sag es mir. Und vergiss nicht …«

Thomas fiel ihr ins Wort und zitierte den Spruch, den er schon tausendmal von ihr gehört hatte: »Man muss das Problem besser kennen als die Lösung, sonst wird die Lösung zum Problem.« Er war ziemlich überzeugt, dass das nur Geschwafel war, nichts weiter.

»Sehr gut«, lobte sie ihn übertrieben, als wäre sie überrascht, dass er sich ihre Worte gemerkt hatte.

»Ein Mann im Zug hat sein Ticket verloren. Mit ihm warten einhundertsechsundzwanzig Fahrgäste auf dem Bahnsteig. Es sind neun Gleise, fünf nach Süden und vier nach Norden. In den nächsten zweiundfünfzig Minuten werden vierundzwanzig Züge ankommen und abfahren. In dieser Zeit strömen weitere fünfundachtzig Fahrgäste in den Bahnhof. Mindestens sieben steigen in jeden ankommenden Zug ein, aber nie mehr als achtzehn.«

So ging es volle fünf Minuten weiter, eine Aufgabe nach der anderen. Es war schon verdammt schwer, die einzelnen Parameter überhaupt im Kopf zu behalten, und jetzt sollte er den Mist auch noch lösen!

»… wie viele Leute bleiben auf dem Bahnsteig zurück?«, beendete er die Aufgabenstellung.

»Sehr gut«, sagte Ms Denton. »Drei ist die magische Zahl. Du hast dir alles richtig gemerkt und das ist der erste Schritt zur Lösung. Und? Bekommst du’s heraus?«

Thomas schloss die Augen und ratterte in Gedanken die Zahlen herunter. In diesem Fach wurde alles im Kopf gelöst, keine Hilfsmittel, nichts Schriftliches. Das forderte seinen Geist wie sonst nichts, auf solche Aufgaben war er ganz wild.

Schließlich öffnete er die Augen: »Siebenundachtzig.«

»Falsch.«

Er rechnete ein zweites Mal alles durch, dann sagte er hoffnungsvoll: »Einundachtzig.«

»Falsch.«

Thomas krümmte sich vor Enttäuschung. Nach ein paar weiteren Fehlschlägen ging ihm plötzlich auf, dass die Lösung vielleicht gar keine Zahl war. »Das Problem ist, dass ich nicht weiß, ob der Mann, der das Ticket verloren hat, in den Zug eingestiegen ist oder nicht. Und ob andere auf dem Bahnsteig mit ihm gefahren sind, und wenn ja, wie viele.«

Ms Denton lächelte.

»Jetzt kommen wir der Sache schon näher.«

4

25.12.223 | 10:00 Uhr

In den zwei Jahren, seit Thomas seinen Namen hatte hergeben müssen, war er von morgens bis abends beschäftigt gewesen. Medizinische Tests und Unterricht füllten seine Tage. Mathe, Naturwissenschaften, kritisches Denken und andere geistige und körperliche Herausforderungen – mehr, als er sich je hätte träumen lassen. Er hatte jede Menge Lehrer erlebt und war von Wissenschaftlern aller Art untersucht worden, aber Randall war nie mehr aufgetaucht. Nicht mal sein Name wurde erwähnt und Thomas wusste nicht, was er davon halten sollte. War Randalls Job damit erledigt gewesen und sie hatten ihn laufenlassen? Oder war er krank geworden? Vielleicht hatte er Den Brand bekommen? Oder die Einrichtung verlassen, in der Thomas betreut wurde, weil ihn seine Schuldgefühle plagten und er nicht darüber hinwegkam, dass er einen kleinen Jungen, der noch nicht mal in die Schule ging, gefoltert hatte?

Thomas hätte Randall am liebsten ein für alle Mal aus seinem Kopf verbannt, aber er geriet immer noch in Panik, wenn ein Mann in grüner Arbeitskluft um eine Ecke bog. Jedes Mal war sein erster Gedanke: Randall!

Zwei Jahre lang nichts als Bluttests und Check-ups, ständige medizinische Überwachung, Schulstunde um Schulstunde … und die Denksportaufgaben. Jede Menge davon. Aber keine echte Information.

Bis zu diesem Tag.

Thomas war gut gelaunt aufgewacht. Er hatte geschlafen wie ein Bär. Als er sich angezogen und gefrühstückt hatte, tauchte eine Frau auf, die er nicht kannte, und riss ihn aus seinem normalen Tagesablauf. Er wurde zu einem »wichtigen Meeting« gebracht. Thomas stellte der Frau keine Fragen. Er war jetzt ungefähr sieben – alt genug, um nicht alles blind zu glauben, was die Erwachsenen ihm erzählten. Außerdem wusste er nach zwei Jahren in dieser Einrichtung, dass er sowieso keine Antwort bekommen hätte. Es gab andere Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen. Er musste nur geduldig sein und Augen und Ohren offen halten.

Thomas lebte schon so lange hier, dass er sich kaum noch an die Welt draußen erinnern konnte. Er kannte nur die weißen Wände, die Bilder, an denen er im Flur vorbeikam, die verschiedenen Monitore mit ihren blinkenden Infos in den Labors, die fluoreszierenden Lichter, das weiche Grau seiner Bettlaken, die weißen Fliesen seines Schlaf- und Badezimmers. Und er war die ganze Zeit nur mit Erwachsenen zusammen gewesen. Niemals hatte er mit Gleichaltrigen gesprochen, kein einziges Wort.

Dabei gab es hier andere Kinder, das wusste er. Ab und zu sah er das Mädchen, das neben ihm wohnte. Dann kreuzten sich ihre Blicke ein, zwei Sekunden lang, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand. Das Schild an ihrer Tür war für ihn gleichbedeutend mit ihrem Namen geworden: Teresa. Er hätte sie zu gern kennengelernt.

Sein Leben war todlangweilig. Das bisschen Freizeit, das ihm blieb, verbrachte er mit alten Videos und Büchern. Jede Menge Bücher, das Einzige, wozu er ungehindert Zugang hatte. Die riesige Büchersammlung, die er benutzen durfte, war sein Rettungsanker, der ihn davor bewahrte, verrückt zu werden. Letzten Monat hatte er alles von Mario Di Sanza verschlungen und sich sämtliche Klassiker reingezogen. Sie spielten alle in einer Welt, die für ihn genauso unverständlich wie faszinierend war.

»Wir sind gleich da«, sagte seine Begleiterin, als sie eine kleine Eingangshalle mit zwei Wächtern an der Tür betraten. Die Frau redete mit einer Stimme, die ihn an eine Computersimulation denken ließ. »Kanzler Anderson wird gleich bei dir sein.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, ohne ihn auch nur anzusehen, und ließ ihn bei den beiden Männern zurück.

Thomas studierte seine neuen Bewacher. Sie trugen beide offiziell aussehende Uniformen über prallen Schutzwesten und ihre Gewehre waren riesig. Irgendwie waren sie anders als die Wachen, die Thomas bisher kannte. Quer über ihrer Brust prangte der Schriftzug ANGST. Das hatte Thomas noch nie gesehen.

»Was bedeutet das?«, fragte er und zeigte auf die Schrift. Aber er bekam nur ein flüchtiges Zwinkern und die Andeutung eines Lächelns als Antwort, gefolgt von einem harten Blick. Oder vielmehr zwei harten Blicken. Thomas lebte schon so lange unter Erwachsenen, dass er viel selbstbewusster auftrat und manchmal sogar richtig frech wurde, wenn ihm danach war. Aber die beiden hatten offensichtlich nicht die Absicht, Small Talk mit ihm zu machen, also setzte er sich auf einen Stuhl neben die Tür.

ANGST. Wie merkwürdig. Es musste … was? Warum sollte ein Wächter mit so einem Wort auf seiner Uniform herumlaufen? Thomas verstand es nicht.

Hinter ihm ging die Tür auf, und er schreckte hoch. Thomas drehte sich um und studierte den Mann, der auf ihn zukam – mittelalt, mit dunklem, bereits ergrauendem Haar und dunklen, lila schimmernden Tränensäcken unter den müden braunen Augen. Aber etwas an ihm verriet Thomas, dass er jünger war, als er aussah.

»Ah, Thomas«, begrüßte der Mann ihn betont fröhlich. »Ich bin Kevin Anderson, der Kanzler dieser fantastischen Einrichtung.« Er lächelte, aber sein Blick blieb düster.

Thomas stand verlegen da. »Ähm, hallo – freut mich Sie kennenzulernen.« Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Obwohl er meistens gut behandelt wurde, quälte ihn noch immer die Erinnerung an Randall, ganz zu schweigen von der entsetzlichen Einsamkeit, die an ihm zehrte. Er wusste ja nicht, warum er hier war oder warum dieser Mann ihn sprechen wollte.

»Komm in mein Büro«, sagte der Kanzler. Er trat beiseite und schwenkte seinen Arm, als wollte er einen Preis enthüllen. »Setz dich auf einen der Stühle vor meinem Schreibtisch. Wir haben viel miteinander zu besprechen.«

Mit gesenktem Kopf drückte Thomas sich an Anderson vorbei ins Büro, irgendwie darauf gefasst, dass der Mann ihn im Vorbeigehen schlagen würde oder etwas Ähnliches. Zielstrebig ging er zum nächsten Stuhl und setzte sich, dann blickte er sich rasch um. Er saß vor einem großen Schreibtisch in Holzoptik (bestimmt kein echtes Holz), an dessen vorderem Rand ein paar Bilder aufgereiht waren, die Thomas natürlich nicht sehen konnte. Leider. Er hätte gern einen Blick auf Andersens Privatleben geworfen. Abgesehen von ein paar elektronischen Geräten, den Stühlen und einer Workstation, die im Schreibtisch eingebaut war, herrschte gähnende Leere im Zimmer.

Der Kanzler fegte hinter ihm herein und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtischs. Er tippte ein paar Symbole auf dem Bildschirm seiner Workstation an, lächelte erfreut und lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Finger unter seinem Kinn aneinandergelegt. Ein langes Schweigen senkte sich über den Raum, während Anderson Thomas studierte, was diesen noch mehr verunsicherte.

»Weißt du, was heute ist?«, sagte der Kanzler schließlich.

Thomas hatte es den ganzen Morgen zu verdrängen versucht, aber die Erinnerungen an das einzige schöne Weihnachten, das er je erlebt hatte, waren nur noch leuchtender in ihm aufgestiegen. Es machte ihn so traurig, dass ihn buchstäblich jeder Atemzug schmerzte, als hätte man ihm einen spitzen Stein in die Brust gebohrt.

»Heute fangen die Weihnachtsferien an«, sagte er und versuchte sich seine Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen. Eine winzige Sekunde lang stieg ihm der Duft von Kiefernnadeln in die Nase und er spürte den Geschmack von Apfelmost auf der Zunge.

»Genau«, sagte der Kanzler und verschränkte die Arme, als sei er stolz auf Thomas’ Antwort. »Und heute ist der große Tag. Das Beste von allem, was? Weihnachten feiert doch jeder irgendwie, ob er nun religiös ist oder nicht. Und hey, machen wir uns nichts vor – wer ist heutzutage schon religiös? Außer den Apokalyptikern natürlich.«

Anderson verstummte einen Augenblick und starrte ins Leere. Thomas hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. Oder wollte er den Jungen, der ihm gegenübersaß, noch unglücklicher machen, als er sowieso schon war?

Plötzlich schreckte der Kanzler aus seiner Trance hoch und beugte sich mit gefalteten Händen auf seinem Schreibtisch vor. »Weihnachten, Thomas. Familienfest. Leckeres Essen. Wärme. Und Geschenke. Vor allem die Geschenke! Kannst du dich erinnern, was das schönste Weihnachtsgeschenk war, das du je bekommen hast?«

Thomas musste wegschauen und seine Augen verdrehen, um die Tränen zurückzudrängen. Er weigerte sich auf diese gemeine Frage zu antworten, auch wenn Anderson es vielleicht gar nicht böse gemeint hatte.

»Einmal«, fuhr der Kanzler fort, »als ich noch ein Junge war, nicht ganz so alt wie du jetzt, habe ich ein Fahrrad bekommen. Glänzend grün. Die Lichter des Weihnachtsbaums spiegelten sich in dem makellosen Lack. Magie, Thomas. Die reine Magie. Nichts im späteren Leben kann das jemals toppen, glaub mir – schon gar nicht, wenn du mal so ein verschrobener alter Mann bist wie ich.«

Thomas, der sich wieder gefangen hatte, starrte den Kanzler so gehässig an, wie er nur konnte. »Meine Eltern sind vermutlich tot. Und natürlich hab ich auch mal ein Fahrrad bekommen, aber ich musste es zurücklassen, als ihr mich weggeholt habt. Ich werde nie mehr Weihnachten feiern, dank Dem Brand. Warum müssen Sie mir das auch noch unter die Nase reiben?« Nachdem er seiner Wut freien Lauf gelassen hatte, ging es ihm entschieden besser.

»Genau, Thomas«, sagte der Kanzler. »Ich mache das ganz bewusst, damit du begreifst, wie wichtig es ist, dass wir alles, aber auch ALLES tun, damit unser Projekt ein Erfolg wird. Damit die Krankheit besiegt wird – um jeden Preis.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, drehte sich um fünfundvierzig Grad und starrte an die Wand.

»Ich will mein Weihnachten wiederhaben.«

5

25.12.223 | 10:52 Uhr

Die Stille, die sich daraufhin ausbreitete, war so drückend, dass Thomas am liebsten aufgesprungen und hinausgestürmt wäre. Irgendwann kam ihm sogar die absurde Idee, dass Anderson vielleicht gestorben war – und dass er nun in Totenstarre vor ihm saß, die Augen glasig und aufgerissen.

Aber Andersons Brust hob und senkte sich im Rhythmus seiner Atemzüge, während er weiter an die Wand starrte.

Thomas bedauerte ihn schon fast. Und er hielt die Stille nicht mehr aus. »Ich auch«, sagte er. »Ich will mein Weihnachten auch wiederhaben.« Es war die Wahrheit – einfach und trotzdem unmöglich.

Aber Anderson schien ganz vergessen zu haben, dass Thomas noch da war. Sein Kopf schnellte herum, als er Thomas’ Stimme hörte. »Ich … tut mir leid«, stotterte er und drehte sich wieder zum Schreibtisch um. »Was hast du gesagt?«

»Ich will auch, dass wieder alles normal ist«, sagte Thomas. »So wie früher, bevor ich auf die Welt gekommen bin. Aber das passiert nicht, oder?«

»Doch, Thomas, es kann wieder so werden.« In Andersons Augen schimmerte ein Licht auf. »Die Welt ist in einem katastrophalen Zustand, aber wir können eine Heilung finden. Das Wetter wird sich irgendwann normalisieren, es wird schon besser … Die Cranks sterben vielleicht aus; alle unsere Simulationen sagen uns, dass sie sich gegenseitig auslöschen werden. Es gibt noch genügend Gesunde und wir können unsere Welt wieder aufbauen, wir müssen nur verhindern, dass die Gesunden sich mit dieser verfluchten Seuche anstecken …«

Er starrte Thomas an, als warte er auf eine Antwort. Aber Thomas hatte keine.

»Weißt du, wie unsere Einrichtung heißt, Thomas?«, fragte der Kanzler.

Thomas zuckte die Schultern. »Sie haben gerade ANGST erwähnt und die Wachen draußen haben das Wort auf ihrer Uniform stehen. Heißt das hier wirklich so?«

Der Kanzler nickte. »Manchen Leuten passt das nicht, aber ich finde es absolut logisch. Es erklärt, was wir hier machen.«

»Um jeden Preis …« Thomas zitierte die Worte, die der Kanzler zuvor verwendet hatte, um ihm zu zeigen, dass er verstanden hatte. Obwohl er es insgeheim bezweifelte.

»Um jeden Preis.« Anderson nickte. »Richtig.« Seine Augen blitzten. »ANGST steht für ABTEILUNG NACHEPIDEMISCHE GRUNDLAGENFORSCHUNG SONDEREXPERIMENTE TODESZONE. Der Name soll die Leute daran erinnern, warum es uns gibt, was unser Ziel ist und wie wir es erreichen wollen.« Er hielt inne und fügte nachdenklich hinzu: »Ich glaube nicht, dass die Welt sich irgendwann von selbst regeneriert. Unser Ziel ist, die Menschheit zu retten. Was hätte es sonst für einen Sinn?«

Er sah Thomas eindringlich an und wartete erneut auf eine Antwort. Thomas’ Herz schlug inzwischen so schnell, dass er kaum die Hälfte von dem verstand, was Anderson von sich gab. Der Ausdruck »Todeszone« jagte ihm eine Höllenangst ein. Was in aller Welt sollte das bedeuten? Das klang fast noch schlimmer als »Sonderexperimente«.

Thomas hatte sich vorgenommen diesen Leuten jede Menge Fragen zu stellen, sobald er Gelegenheit dazu hatte. Nun saß er da und die Fragen wurden nicht weniger, sondern mehr. Aber von einem bestimmten Punkt an war es ihm egal. Er war müde, wütend und verwirrt. Er wollte nur noch zurück in sein Zimmer und allein sein.

»Wir werden in den nächsten Jahren alle Hände voll zu tun haben«, fuhr der Kanzler fort. »Wir haben ein paar junge Überlebende hierhergebracht – Kinder wie dich – und wir sind jetzt weit genug, um mit der Arbeit anzufangen. Wir werden verstärkt Tests durchführen, um zu sehen, wer von unseren Prob…, unseren Schülern es ganz an die Spitze schafft. Und an deiner Stelle würde ich mich anstrengen, Thomas. Als Immuner bist du natürlich im Vorteil, aber hier ist mehr als die Biologie gefragt, um erfolgreich zu sein. Wir haben wahrhaft Großes vor – fantastische Gebilde müssen geschaffen werden, biomechanische Labors … Wunder des Lebens … Das alles wird letztendlich zur Kartografierung der Todeszone führen. Wir werden herausfinden, welche Unterschiede die Immunität bewirkt, und dann eine Heilung entwickeln. Da bin ich mir ganz sicher.«

Mit leuchtenden Augen hielt er inne. Thomas saß stocksteif da und zwang sich ruhig zu atmen. Anderson wurde ihm langsam unheimlich.

Der Kanzler merkte, dass er zu weit gegangen war, und stieß einen Seufzer aus. »Also, ich schätze, das reicht fürs Erste. Du wirst älter, Thomas, und du schneidest besser in den Testprogrammen ab als die meisten anderen. Wir halten große Stücke auf dich und ich wollte dich endlich einmal persönlich kennenlernen. Du darfst von jetzt an mehr erwarten, Junge … Du bekommst mehr Freiheiten und wirst eine wichtigere Rolle bei ANGST spielen. Klingt doch gut, oder?«

Thomas nickte, ehe er sich bremsen konnte. Es klang wirklich gut. Hier war es manchmal wie im Gefängnis und er wollte nur noch raus. Vielleicht hatte sich gerade eine Tür geöffnet?

»Darf ich Sie noch etwas fragen?«, sagte er, weil ihm dieser grässliche Ausdruck nicht aus dem Kopf ging: Todeszone.

»Ja, natürlich.«

»Was bedeutet … ›Todeszone‹?«

Zu seiner Überraschung lächelte Anderson. »Ah, entschuldige. Ich dachte, du wüsstest das. So nennen wir das Gehirn, weil dort Der Brand den größten Schaden anrichtet, indem er irgendwann das Leben der Infizierten zerstört. Und dagegen kämpfen wir. Wir sehen es als Schlachtfeld. Die Todeszone.«

Thomas verstand nur annähernd, was er damit meinte. Aber die Erklärung ließ ihn aufatmen.

»Also ist das abgemacht?«, sagte Anderson. »Bist du bereit deinen Beitrag zu den Aufgaben zu leisten, denen wir uns verschrieben haben?«

Thomas nickte.

Der Kanzler trommelte ein paarmal mit einem Finger auf den Schreibtisch. »Fantastisch. Dann darfst du jetzt in dein Zimmer zurückgehen und dich ausruhen. Dir steht Großes bevor.«

Ein Anflug von Begeisterung stieg in Thomas auf, aber gleich darauf schämte er sich, obwohl er selbst nicht sagen konnte, warum.

Thomas wurde von derselben Frau in sein Zimmer zurückgebracht, die ihn abgeholt hatte, und diesmal konnte er seine Neugier nicht bezähmen. Im letzten Moment, ehe die Tür zuging, quetschte er seine Hand in den Spalt und hielt sie auf.

»Ähm, Entschuldigung«, sagte er hastig. »Kann ich Sie mal was fragen?«

Die Frau sah ihn zweifelnd an. »Das ist keine gute Idee, fürchte ich. Alles hier steht unter strenger Bewachung. Tut mir leid.« Sie wurde rot.

»Aber …« Thomas suchte nach Worten. »Dieser Typ … Kanzler Anderson … er hat was von großen Dingen gesagt, die uns bevorstehen. Gibt es hier noch mehr von meiner Sorte? Sind das alles Kinder? Und wann treffe ich endlich mal einen von ihnen?« Er hasste sich für die Hoffnung, die in ihm aufstieg. »Zum Beispiel das Mädchen von nebenan … Teresa. Wann seh ich die endlich mal?«

Die Frau seufzte, in ihren Augen lag aufrichtiges Mitgefühl. »Ja, es gibt noch viele andere, aber für dich ist jetzt das Wichtigste, dass du bei den Tests gut abschneidest, dann lernst du irgendwann auch die anderen kennen. Ich kann mir vorstellen, wie einsam du sein musst. Und es tut mir so leid, wirklich. Vielleicht ist es ein Trost für dich, dass ihr alle im selben Boot sitzt. Aber das wird sich bald ändern, ich verspreche es dir.« Sie wollte die Tür schließen, aber Thomas hielt sie erneut auf.

»Wie lange noch?«, fragte er und es klang so verzweifelt, dass er sich schämte. »Wie lange muss ich noch allein bleiben?«

»Ach, nur …« Die Frau seufzte wieder. »Nicht mehr lange, wie ich schon sagte. Vielleicht ein Jahr.«

Thomas riss schnell seine Hand weg, als sie die Tür zuwarf. Er stürzte durch sein Zimmer, krümmte sich auf seinem Bett zusammen und kämpfte gegen die Tränen an.

Ein ganzes Jahr.

6

12.03.224 | 07:30 Uhr

Früher Morgen, das Klopfen an der Tür. Pünktlich wie die Uhr. Nicht immer dasselbe Gesicht, aber immer zur selben Zeit. Trotzdem hoffte Thomas auf jemand Bestimmtes – auf die netteste Ärztin in dieser Einrichtung. Weitaus die netteste. Sie war es gewesen, die ihn vor knapp drei Monaten zum Kanzler gebracht hatte. Aber leider kam meistens jemand anderes.

Heute jedoch nicht. Heute stand sie vor der Tür, als er aufmachte.

»Dr. Paige!« Er konnte nicht sagen, warum sie ihm sympathisch war, er fühlte sich einfach wohl in ihrer Gesellschaft. »Hi.«

»Hi, Thomas. Weißt du was?«

»Was?«

Mit einem warmen Lächeln sagte sie: »Du wirst mich von jetzt an viel öfter sehen. Ich wurde dir zugeteilt. Nur dir. Na, was sagst du?«

Thomas war begeistert. Obwohl er Dr. Paige erst ein paarmal gesehen hatte, war sie schon fast wie eine Freundin für ihn. Trotzdem brachte er nur ein »Cool« heraus, um seiner Freude Ausdruck zu verleihen.

Inhalt

Cover

James Dashner: Die Auserwählten – Phase Null

Wohin soll es gehen?

Prolog

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Epilog

Danksagung

James Dashner

Ilse Rothfuss

Impressum