Die Bärenflüsterin - Christopher Ross - E-Book

Die Bärenflüsterin E-Book

Christopher Ross

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Beschreibung

Bären, Liebe und eine mutige junge Frau vor der wildromantischen Kulisse der Sierra Nevada Paula, die gerade ihr Biologie-Studium abgeschlossen hat, macht ein Praktikum bei einem bekannten Tierfilmer. Als das Team während der Dreharbeiten von einem Grizzly überrascht wird, folgt Paula ihrem Instinkt und schafft es, den Bären allein mit Worten zur Umkehr zu bewegen. Die Aufnahmen werden im Fernsehen gezeigt, woraufhin ihr die Stadt Clearwater in Kalifornien ein Jobangebot macht. Sie soll dort als Bärenflüsterin arbeiten, da die Stadt es mit einer regelrechten "Bärenplage" zu tun hat: Immer mehr Bären wühlen im Abfall und kommen den  Menschen bedrohlich nahe. Doch nicht immer ist Paula allein mit Worten erfolgreich. Trotz ihres leidenschaftlichen Einsatzes wird ein Bärenjunges und seine Mutter zum Abschuss freigegeben werden. Da kommt ihr unerwartet der junge Brian zu Hilfe, der kürzlich selbst von einem Bären angegriffen wurde. Ein neues romantisches Abenteuer von Erfolgsautor Christopher Ross

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Über das Buch

Die junge Paula arbeitet als Bärenflüsterin in Clearwaters, Kalifornien. Die Stadt hat es mit einer regelrechten Bärenplage zu tun und Paula schafft es, die Tiere allein mit Worten zur Umkehr zu bewegen. Doch nicht immer ist sie erfolgreich. Trotz leidenschaftlichen Einsatzes wird ein Bärenjunges und seine Mutter zum Abschuss freigegeben werden. Da kommt ihr unerwartet der junge Brian zu Hilfe, der kürzlich selbst von einem Bären angegriffen wurde …

Bären, Liebe und eine mutige Frau – der neue Roman von Christopher Ross!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Paula erhielt den Anruf am späten Vormittag. Es war der Tag nach ihrer Abschlussfeier und sie hatte gerade erst geduscht und war nun auf dem Weg in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu machen, als sich ihr Handy mit dem Fauchen eines wütenden Grizzlys meldete. Sie war nach der langen Nacht noch so benommen, dass sie vor ihrem eigenen Klingelton erschrak.

»Miss Paula Jackson?«, vergewisserte sich die Stimme am anderen Ende. Und nachdem Paula zugestimmt hatte, fuhr sie fort: »Hier ist Lori Bowles von Redwood Publishers. Sie hatten sich mit einem Manuskript bei unserem Wettbewerb für den besten Aufsatz über Bären beworben. ›Das Geheimnis der Bären‹ stammt doch von Ihnen?«

Paula hatte den Wettbewerb schon fast vergessen. Obwohl sie gerade erst ihr Bachelorstudium in Biologie beendet hatte, war sie so mutig gewesen, an einem Artikel über die Körpersprache der Bären zu arbeiten. Dann hatte sie das Manuskript »aus Jux und Dollerei«, wie sie mehrmals betont hatte, an den Verlag geschickt. Seitdem waren zwei Monate vergangen, und sie hatte vermutet, dass es längst im Papierkorb gelandet war. »›Das Geheimnis der Bären‹ … ja, das stimmt.«

»Nun«, machte Lori es spannend, »ich kann Ihnen die freudige Nachricht überbringen, dass Sie den ersten Preis gewonnen haben, eine Veröffentlichung in unserem neuen Bärenbuch und die versprochene Bear Safari in den Katmai National Park nach Alaska. Herzlichen Glückwunsch, Paula! Alle Unterlagen für die Reise sowie den Vertrag habe ich bereits gestern in die Post gegeben.«

Paula war so überrascht, dass sie gerade noch ein »Vielen Dank!« herausbrachte, bevor das Gespräch beendet war. Sie ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und setzte sich. »Wow!«, stieß sie hervor. Mit dem Gewinn gingen gleich zwei ihrer Träume in Erfüllung: eine Veröffentlichung in einem angesehenen Verlag und eine Reise zu den Braunbären an der Pazifikküste von Alaska. Nirgendwo sonst gab es so viele Grizzlys in freier Wildbahn zu sehen. Das war etwas anderes als die Bären im Bear Center, wo Paula während der Semesterferien gearbeitet hatte.

Sie gönnte sich einen zweiten Kaffee und rief Mary-Beth an, ihre beste Freundin. Mary-Beth stammte aus Houston und war für das Studium nach Berkeley, Kalifornien, gezogen. Im Anschluss wollte sie sofort wieder in ihre Heimat zurückkehren. Mit ihren konservativen Ansichten und ihrem Südstaaten-Dialekt war die Texanerin mehrmals angeeckt, auch bei den Professoren, und ihr ständiger Hunger und ihr starkes Übergewicht hatte ein Übriges dazu getan, sie ins Abseits zu stellen. Zudem nahm Mary-Beth kein Blatt vor den Mund, was auch nicht allen schmeckte. Paula gehörte zu den wenigen Frauen, die sie in Schutz genommen hatten.

»Paula?«, meldete Mary-Beth sich verschlafen. »Weißt du, wie spät es ist?«

»Halb elf«, antwortete Paula.

»Morgens oder abends?«

»Morgens … ich bin auch gerade erst aufgestanden.«

Paula hörte durchs Telefon, wie Mary-Beth sich aufsetzte und einmal kräftig gähnte. »Halb elf? Ich hab wohl doch zu viel von diesen Drinks erwischt.«

»Caipirinhas … das waren Caipirinhas.«

»Ich weiß nur, dass sie stark waren. Hast du?«, fragte die Texanerin neugierig.

»Hast du was?«

»Mit diesem Football-Typen geschlafen?«

»Nee … nicht mein Typ. Viel zu anstrengend.«

Mary-Beth klang verwundert. »Wie kannst du so einen laufen lassen? Hast du nicht gemerkt, wie er dich angehimmelt hat? Der steht auf dich.«

In Paulas Leben gab es keinen Mann. Alex Swanson, mit dem sie zur Abschlussparty gegangen war, zählte nicht. Ein netter Kerl, das mochte sein, eine große Nummer im Footballteam der Uni und eine Rakete im Bett, wenn man den Erzählungen einiger Cheerleader glauben konnte. Aber er war auch so arrogant, dass er aus allen Wolken gefallen war, als sie ihn nach der Feier nicht zu sich nach Hause eingeladen hatte. Paula war so leichtsinnig gewesen, sich von ihm küssen zu lassen, hatte ihren Fehler aber sofort bereut und war in ihr Apartment geflohen.

Eine Beziehung, noch dazu mit einem Mann, der seine Freundin nur als attraktives Schmuckstück betrachtete, hätte sie im Augenblick nur behindert. Sie hatte nichts gegen Männer, ganz im Gegenteil, solange sie sie nicht von ihrer Karriere abhielten. Den Bachelor hatte sie geschafft, aber sie wollte mehr, ihren Master machen und »irgendetwas mit Bären«, an einer Universität, in der Forschung, als Autorin, was auch immer.

»Ich hab gewonnen, Mary-Beth«, sagte Paula.

»Gewonnen? Den New-York-Marathon?«

Paula erzählte ihr vom Anruf des Verlags. »Stell dir vor, mein Artikel erscheint in einem Buch, und ich darf zu den Bären im Katmai National Park! Weißt du, was das bedeutet? Ich komme bis auf wenige Schritte an sie ran.«

»Wow! Das ist noch besser als eine Nacht mit dem Football-Typ.«

»Und wenn sich das mit der Veröffentlichung herumspricht, finde ich sicher einen Job, mit dem ich mein Masterstudium finanzieren kann. Das hab ich mir nicht mal in meinen Träumen erhofft. Mein Aufsatz in einem Buch!«

»Und wann soll es losgehen?«

»Steht alles in den Unterlagen, die sie mir geschickt haben. Sobald wie möglich, nehme ich an. Die Touren finden nur im Sommer statt.« Paula machte eine Pause und trank einen Schluck. »Und du? Schon gepackt für Texas?«

»Ich fliege am Freitag. Wie wär’s mit einer Abschiedspizza?«

»Heute Abend bei Luigi’s?«

»Abgemacht!«

Luigi’s war ein italienisches Lokal in der Innenstadt von Berkeley, eher unscheinbar und einfach eingerichtet, aber wegen seiner guten Pizzas und seiner freundlichen Bedienung sehr beliebt. Sie bekamen einen der kleinen Tische am Fenster.

»Warum grinst du denn so?«, fragte Mary-Beth, als sie sich setzten.

»Die Unterlagen sind da. Es geht schon übermorgen los.«

»So schnell?«

»Ich hab mit den Veranstaltern in Anchorage in Alaska telefoniert. Bei den Touren zu den Grizzlys sind maximal fünf Personen zugelassen, und sie hatten zufällig noch einen Platz frei. Sonst hätte ich bis Mitte August warten müssen.«

»Katmai National Park … liegt der nicht auf einer Insel?«

»Halbinsel«, verbesserte Paula, »ungefähr dreihundert Meilen südwestlich von Anchorage. Hab mich heute Nachmittag noch mal schlaugemacht. Wir fliegen mit einem Wasserflugzeug zur Hallo Bay an der Pazifikküste. Da treiben sich um diese Zeit die meisten Bären rum. Ich schicke dir ein Foto.«

»Wie du gefressen wirst?«

Paula lachte. »Du solltest meinen Aufsatz lesen. Da steht drin, wie man erkennt, was in Bären vor sich geht. Ich habe etliche Monate im Bear Center gearbeitet, da lernt man, wie Bären gestrickt sind. Wenn man sich an die Regeln hält, kann nichts passieren. Es sei denn, man verhält sich so dumm wie Timothy Treadwell.«

»Der Typ, der von einem Grizzly gefressen wurde?«

Ihr Professor hatte die Geschichte erzählt. Der »Grizzly Man«, wie er genannt wurde, hatte jeden Sommer im Katmai National Park verbracht, um unter seinen geliebten Grizzlys zu leben. Er gab ihnen Namen wie in einem Disney-Film und fütterte die Jungen – ein absolutes No-Go unter Experten und Tierfilmern. Als er sich auf ein Kräftemessen mit einem aggressiven Grizzly einließ, tötete ihn der Bär. Seine Freundin, die verzweifelt versucht hatte, ihn zu retten, wurde ebenfalls zerfleischt. Kurz zuvor hatte sie noch die Kamera eingeschaltet, allerdings in der Aufregung vergessen, den Deckel vom Objektiv zu nehmen. Doch allein die Tonaufnahmen klangen grausam genug.

»Treadwell war nicht ganz richtig im Kopf. Drogen, Alkohol … außerdem hielt er sich für den größten Grizzly-Kenner aller Zeiten. Am liebsten wäre er wohl mit ihnen auf die Jagd gegangen. Aber so bescheuert bin ich nicht.«

Mary-Beth grinste. »Das will ich doch hoffen.«

»Und du? Hast du schon einen Job in Houston?«

»Vielleicht fange ich an der Uni an, als wissenschaftliche Assistentin. Aber Scooter will, dass ich erst mal eine Pause einlege und ihm ein paar Monate auf der Ranch helfe, bevor ich einen Job in Houston annehme. Er braucht jemanden, der ihm die Buchhaltung macht. Mit Zahlen hat es Scooter nicht so.«

»Ein halbes Jahr, länger würde ich das nicht machen«, warnte Paula. Sie kannte Scooter nicht, hatte aber genug über Mary-Beth’ Freund gehört, um ihn für einen typisch texanischen Macho zu halten, der seine Frau an den heimischen Herd bindet und die Oberhand behalten will. »Nicht, dass du umsonst studiert hast.«

»Ich kriege das schon hin.«

»Sicher«, erwiderte Paula, ohne recht daran zu glauben. Mary-Beth war zu verliebt in Scooter, um sich gegen ihn durchzusetzen, gehorchte ihm beinahe bedingungslos. »Gibt es was Schöneres, als mit seinem Mann und den Kindern in einem eigenen Heim zu wohnen?«, hatte sie einmal gefragt, und Paula hatte geantwortet: »Hm … aber nur mit einem Mann, der mir auf Augenhöhe begegnet und nicht den Macho heraushängen lässt.«

Es wurde schon dunkel, als sie sich vor dem Lokal umarmten und gegenseitig Glück wünschten. In ihrem Apartment ließ Paula sich auf die Couch fallen und las in einem Buch, wieder mal ein Krimi von William Kent Krueger, der seine Romane meist in der Wildnis spielen ließ und stets einen greisen Indianer zu Wort kommen ließ, was Paula sehr mochte. Diesmal ging es um einen neunzigjährigen Schamanen, der Grizzly-Bären zu Krafttieren zählte, die eine magische Wirkung auf Menschen haben und ihr Leben verändern konnten. So wie Wölfe und Adler.

Den nächsten Tag verbrachte Paula damit, die Liste abzuarbeiten, die sie von den Veranstaltern der Bear Safari bekommen hatte. Wetterfeste Kleidung, darunter eine wasserdichte Jacke mit Kapuze, Kopfbedeckung mit Insektennetz, Handschuhe, Wanderschuhe, Wasserflasche, Kamera, Fernglas und vor allem hoch wirksames Insektenspray wegen der oftmals lästigen Moskitos. Was sie nicht sofort abhaken konnte, weil sie es schon besaß, kaufte sie in einem nahen Einkaufszentrum.

Ihre Eltern, die einen Drugstore im San Fernando Valley bei Los Angeles besaßen, freuten sich über den Gewinn ihrer Reise und wünschten ihr Glück, wenn ihre Mutter auch mal wieder zu besorgt war und sie mehrmals ermahnte, doch »um Himmels willen« vorsichtig zu sein. »Meine Helikopter-Mama« nannte Paula ihre Mutter insgeheim. Natürlich meldete sie sich auch am nächsten Morgen noch mal, als sie bereits am Flughafen stand und auf den Abflug wartete.

Der Flug von San Francisco nach Anchorage dauerte ungefähr viereinhalb Stunden. Paula vertrieb sich die Zeit mit ihrem Krimi, blickte alle paar Minuten aus dem Fenster, konnte aber vor lauter Nebel und regnerischem Dunst kaum etwas sehen. Erst während des Landeanflugs bekam sie einen ersten flüchtigen Eindruck von der unermesslichen Natur Alaskas und Anchorage, das auf einer Halbinsel bis in das Cook Inlet reichte und ringsum von Wildnis und den schroffen Chugach Mountains umgeben war.

Nach ihrer Ankunft checkte sie in dem Hotel ein, das die Veranstalter für sie gebucht und bezahlt hatten, und nutzte den Nachmittag für eine Stadtrundfahrt, die sie auch zum Portage-Gletscher führte. Etliche Teilnehmer, die schon vor einigen Jahren dort gewesen waren, zeigten sich enttäuscht, weil sich der Gletscher während der letzten Jahre so weit zurückgezogen hatte, dass nur noch wenig Eis zu sehen war.

»Von wegen, es gibt keinen Klimawandel«, sagte ein junger Mann, der mit einigen Freunden an der Tour teilnahm, zu einem anderen Jugendlichen, »das sollten sich deine Eltern mal ansehen, dann würden sie vielleicht anders denken. Aber in Alabama ticken die Uhren anders. Da glauben die meisten Leute auch noch, dass die Erde eine Scheibe ist.«

Direkt neben Paula sagte ein übergewichtiger Mann, ungefähr sechzig, mit angegrauten Haaren und künstlich gebräunter Haut, zu seiner Frau: »Nun hör dir diesen Schnösel an! Noch feucht hinter den Ohren und glaubt schon, die Weisheit für sich gepachtet zu haben. Dabei hat es schon vor vielen Tausend Jahren solche Klimawechsel gegeben. Oder warum sind die Dinosaurier ausgestorben? Auch als ich klein war, stand schon was über Waldbrände und Hochwasser in der Zeitung, oder etwa nicht? Ist doch alles nur Panikmache!«

Er scherte sich nicht darum, ob man ihn hören konnte, und lachte nur, als einige ihn vorwurfsvoll anblickten. Seine Frau zupfte ihn am Ärmel, was wohl bedeuten sollte, dass ihr seine Kommentare peinlich waren und er doch lieber den Mund halten sollte. »Wir waren doch auch mal jung«, sagte sie.

Paula war nahe daran, sich einzumischen, wusste aber, dass eine Diskussion mit dem Mann nichts bringen würde. Selbst mit wissenschaftlichen Argumenten ließen sich manche Menschen nicht überzeugen, das hatte sie auf Veranstaltungen ihrer Universität mehrmals erfahren, vor allem bei Diskussionen über Tier- und Naturschutz.

Noch am selben Abend traf Paula das Ehepaar wieder. Beim Abendessen im Hotelrestaurant saß es am Nebentisch, und sie erfuhr, dass die beiden ebenfalls auf die Bear Safari gingen. Sie gab sich ebenfalls als Teilnehmerin zu erkennen, und der Mann und seine Frau stellten sich als Roger und Mary Campbell aus Montgomery in Alabama vor. »In meiner Fabrik produzieren wir Antriebsteile für Kraftfahrzeuge, vor allem für Hyundai. Die Reise hab ich meiner Frau zum Hochzeitstag geschenkt. Zum Glück kann ich mir solche Geschenke leisten, nicht wahr, mein Schatz?«

Paula kam es eher so vor, als habe er sich die Reise selbst geschenkt. Sie verriet ihm, dass sie die Bear Safari gewonnen hatte und Bären einer ihrer Schwerpunkte während des Studiums gewesen seien. Vor allem Braunbären.

»Was? Bären kann man studieren?«, wunderte sich Roger Campbell. »Also, ich träume eher davon, mal so einen Koloss vor die Flinte zu bekommen. Ich bin leidenschaftlicher Jäger, wissen Sie? Hab letztes Jahr sogar einen Löwen in Afrika geschossen.« Seine Brust schien anzuschwellen. »Aber man ist ja kein Unmensch und will auch seiner Gattin etwas gönnen. Vor allem, wenn sie es schon vierzig Jahre mit einem ausgehalten hat. Das schafft nicht jede Frau.«

»Einundvierzig Jahre. Wir sind einundvierzig Jahre verheiratet.«

Campbell überging den Einwand. »Nächstes Jahr werde ich wieder allein losziehen, vielleicht gehe ich dann sogar auf Bärenjagd. Ein Foto mit einem erlegten Grizzly fehlt mir noch in meiner Sammlung und würde sich gut neben den Fotos mit dem Löwen und der Giraffe machen. Mann, das war eine Safari! Der alte Hemingway hätte seine Freude an uns gehabt. Stimmt doch?«

»Keine Ahnung«, sagte Mary.

»Sie mögen Hemingway?«, fragte Paula.

»In der Schule haben wir mal was von ihm gelesen, aber ist eine halbe Ewigkeit her«, sagte Roger Campbell lachend. »Ich weiß nur, dass er Großwildjäger war, Unmengen von Rum trank und sich jedes Jahr mit einem anderen Weib vergnügte. Habe ich in einem Film über ihn gesehen. Der hatte es echt drauf.«

»Roger!«, wies ihn Mary zurecht. »Die Leute sehen schon her.«

»Dann gehen wir am besten an die Bar. Kommen Sie, Paula.«

Paula konnte die beiden schlecht vor den Kopf stoßen. Sie würde den ganzen morgigen Tag mit ihnen verbringen müssen und wollte keine schlechte Stimmung aufkommen lassen, auch wenn ihr der Mann immer unsympathischer wurde. Was seine Frau anging, hatte Paula den Eindruck, dass sie sich vor allem darauf beschränkte, leise auf ihren Mann einzureden, wenn er zu laut wurde.

Campbell bestellte ein Bier, seine Frau ein Glas Rotwein und Paula eine Diet Coke. Sie würden am nächsten Morgen früh aufstehen müssen, wenn sie rechtzeitig am Lake Hood sein wollten. Auf dem riesigen See außerhalb der Stadt startete das Wasserflugzeug, das sie in die Happy Bay bringen würde. Paula erhob ihr Glas. »Auf eine interessante und aufregende Bear Safari!«

Während der halben Stunde, die Paula an der Bar blieb, sprach Campbell ausschließlich über sich. Er zeigte Fotos auf seinem Handy, die ihn mit erlegten Löwen, Giraffen und einem Elefanten zeigten. Immer in der gleichen Stellung, in seiner Safari-Kleidung kniend neben den erlegten Tieren, ein schweres Jagdgewehr in beiden Händen. Und er prahlte mit seinem beruflichen Erfolg, den schwarzen Zahlen und dem Super-Deal mit Hyundai. Dass er die Firma von seinen Schwiegereltern geerbt hatte, erwähnte er nur am Rande.

»Und Sie schießen die Tiere nur wegen der Fotos?«, fragte Paula.

»Früher sind die Männer in den Krieg gezogen, um ihren Mut und ihre Männlichkeit zu beweisen«, antwortete er. »Ich gehe auf die Jagd und messe mich mit wilden Tieren, die eigentlich stärker sind als ich und eine faire Chance gegen mich haben. Ein Kräftemessen zwischen zwei gleichwerten Gegnern.«

Paula wusste, dass die Wahrheit anders aussah: Die angeblich wilden Tiere wurden teilweise mit Beruhigungsmitteln geimpft und hatten oft gar nicht mehr die Kraft, sich gegen die zweibeinigen Jäger zu wehren. Sie war Mitglied einer Studentengruppe gewesen, die solche Praktiken angeprangert hatte, verzichtete aber darauf, ihm weiter Kontra zu geben. Nachdem sie ihre Cola ausgetrunken hatte, verabschiedete sie sich so freundlich wie möglich und ging zu den Aufzügen.

Ein junges Pärchen fuhr mit ihr in den vierten Stock. »Ich werde meinem Großvater ewig dankbar sein für das schöne Geschenk«, sagte die junge Frau, »die Bear Safari wird sicher ein einmaliges Erlebnis.«

Er lächelte nur und antwortete: »Du und deine Bären! Die hätten wir uns doch auch im Zoo ansehen können.«

»Das ist doch gar kein Vergleich, David.«

»Na, mir soll’s recht sein. Solange wir nicht zahlen müssen.«

Paula verzichtete dieses Mal darauf, sich als Safari-Teilnehmerin vorzustellen, und war froh, als sie endlich im vierten Stock angelangt waren und sie in ihr Zimmer verschwinden konnte. Das kann ja heiter werden, dachte sie, bevor sie sich auszog und ins Bad ging.

2

Als Paula am nächsten Morgen aus dem Aufzug trat, warteten die anderen Teilnehmer der Bear Safari bereits in der Hotellobby. Roger Campbell berichtete von seiner letzten Großwildjagd, was weder seine Frau noch das junge Paar zu interessieren schien, das Paula am vergangenen Abend im Aufzug getroffen hatte. Letztere stellten sich als David und Ellen Morgan vor. Sie kamen aus der Gegend von San Bernardino und arbeiteten auf der Obstplantage von Ellens Großvater, er im Vertrieb, sie in der Buchhaltung.

Wie alle anderen hatte auch Paula ihren Rucksack dabei. Sie würden eine Nacht in einem Zeltlager in der Hallo Bay verbringen, um am frühen Morgen, wenn die Bären am aktivsten waren, gleich zur Stelle zu sein. Für Verpflegung war gesorgt, auch Schlafsäcke hielten die Veranstalter bereit. Im Rucksack befanden sich Kleidung, Verbandszeug, Taschenlampe und alles andere, was man ihr empfohlen hatte. Bären- und Pfefferspray waren ausdrücklich verboten, vor allem in Flugzeugen auch nicht erlaubt. Ihre kleine Kamera trug Paula in der Hosentasche, das Fernglas um den Hals und die Wasserflache am Gürtel, wie sie es auch von Wanderungen in Kalifornien gewohnt war.

Der altersschwache Kleinbus, der sie zum Lake Hood bringen würde, war pünktlich. Der Fahrer, anscheinend indianischer Abstammung, hatte einen Rocksender eingeschaltet und schlug den hektischen Takt auf dem Lenkrad mit. Den Weg zur Anlegestelle für Wasserflugzeuge schien er im Schlaf zu kennen. Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatten, öffnete er die Schiebetür und nickte dankbar, als reichlich Trinkgeld in seiner ausgestreckten Hand landete.

Der Pilot, ein bärtiger Bursche, der mehrmals betonte, einen Hubschrauber in Afghanistan geflogen zu haben, wartete schon auf sie. Er begrüßte sie im Namen des Veranstalters und führte sie zu der Cessna. Während er den Motor startete, wies er auf die Sicherheitsbestimmungen hin. Paula flog zum ersten Mal mit einem Wasserflugzeug und blickte wie gebannt nach draußen, als sie mit röhrendem Motor über den See rasten, gegen den Wind abhoben und in einer weiten Kurve nach Südwesten flogen.

»Unter uns sehen Sie Cook Inlet«, informierte der Pilot über Kopfhörer, »eine Bucht, benannt nach dem britischen Seefahrer. James Cook ankerte schon 1778 als erster Europäer in der Bucht vor der Kenai-Halbinsel.«

Paula saß neben Ellen, die ebenso begeistert wie sie beim Anblick des weiten Landes schien, das sich unter ihnen ausbreitete. Das helle Sonnenlicht ließ das Wasser der Bucht silbrig glänzen und brachte die teilweise schneebedeckten Berge und tiefgrünen Wälder zum Leuchten. Wie mochte sich dieser James Cook gefühlt haben, als er sein Segelschiff in die damals noch verlassene Bucht steuerte? Allein, verloren und tief beeindruckt von der übermächtigen Natur? Hungrig darauf, die Geheimnisse dieses Landes zu erforschen?

»Zum ersten Mal in Alaska?«, fragte Paula ihre Nachbarin.

»Ich bin nie aus Kalifornien rausgekommen«, antwortete sie bereitwillig. Sie war ein paar Jahre älter als Paula, hatte rötliche Haare und Sommersprossen. »Ich hab mein ganzes Leben unter Orangenbäumen verbracht. Wussten Sie, dass es verschiedene Orangenarten gibt? Auf der Plantage meines Großvaters wachsen vor allem Navel- und Valencia-Orangen, die größten und besten.«

»Und was ist mit Ihren Eltern? Arbeiten die auch auf der Plantage?«

Ellen lachte. »Mein Vater hat es mit Computern. Er arbeitet für eine IT-Firma und hat dort auch meine Mutter kennengelernt. Ich habe jeden Sommer bei meinen Großeltern verbracht und kann mir nichts Schöneres als die Arbeit für seine Firma vorstellen. Meinem Mann geht es genauso. Ich habe ihn auf einer County Fair kennengelernt, einem Jahrmarkt in San Bernardino. Er war Leiter einer Großmarkthalle, und mein Großvater hat ihn sofort eingestellt.«

»Und jetzt wollen Sie endlich mal in ein Land, in dem keine Orangen wachsen?«, fragte Paula. »Ihr Mann scheint weniger begeistert zu sein.«

»David mag Tiere nicht besonders. Nicht mal Hunde und Katzen.«

»Und trotzdem kommt er mit?«

»Er wollte meinen Großvater nicht brüskieren«, antwortete Ellen. Sie warf einen Blick auf ihren Mann und senkte die Stimme. »Grandpa ist erleichtert, dass wir seine Firma fortführen wollen und er in Ruhe seinen Lebensabend genießen kann. Seit seinem Schlaganfall wohnen meine Großeltern in Clearwater, einer kleinen Stadt in Kalifornien südlich vom Lake Tahoe. Es gefällt ihm dort, er kann nach Herzenslust angeln und spazieren gehen, auch wenn er alle paar Tage anruft und sich erkundigt, wie es in der Firma läuft.« Sie lachte leise. »Manchmal hört es sich fast so an, als wollte er es sich noch mal überlegen.«

»Und mit der Reise will Ihr Großvater sich bei Ihnen bedanken?«

»Oder uns weglocken, um für ein paar Tage noch mal selbst das Zepter schwingen zu können.« Sie lachte wieder. »Egal, ich bin ihm sehr dankbar.«

»Und wie kommt er ausgerechnet auf eine Bear Safari?«

Ellen brauchte nicht zu überlegen. »Er wusste, dass ich mich, solange ich denken kann, für Bären interessiere. Und dass ich einen riesigen Plüschteddy besitze, den ich nach ihm benannt habe: Grandpa Jacob. Die Idee für die Alaska-Reise hatte er, als er eine Doku über Bärensafaris im Fernsehen sah. Zum Glück! Ohne Grandpa hätten wir uns einen so teuren Urlaub niemals leisten können.«

Die Landschaft unter ihnen veränderte sich nicht. Die Bucht Cook Inlet war größer, als Paula gedacht hatte, und jenseits der Ufer erstreckte sich scheinbar unberührte Wildnis bis zum Horizont. Nachdem sie die Kenai-Halbinsel passiert hatten, kam für ein paar Minuten das offene Meer in Sichtweite, bevor Kodiak Island auftauchte und im Westen der Katmai National Park mit seinen Bergen, Wäldern, Seen und Stränden sichtbar wurde. Der Pilot drosselte den Motor und drückte die Cessna nach unten. Er hatte mit einigen Windböen zu kämpfen, die Campbell, der auch während des Fluges nur über sich geredet hatte, sichtbar blass werden ließen und seine Frau zu einem heimlichen Grinsen verleiteten. Paula sah, wie er verstohlen nach ihrer rechten Hand griff.

Sie landeten in einer Gischt von schäumendem Meerwasser und hielten auf den Strand zu, bis der Sand sie ausbremste. Über eine Planke, die der Pilot von einem der Schwimmer über das Wasser legte, stiegen sie an Land. Sie winkten dem Piloten zu, als er die Cessna vom Ufer wegsteuerte und abhob.

Auf ihren Guide brauchten sie nicht lange zu warten. Ein sportlicher Mann um die vierzig mit einem kantigen Gesicht, dem man ansah, dass er sich meist im Freien aufhielt. Sein angegrauter Bart war ein paar Tage alt.

»Ich freue mich, Sie hier im Katmai National Park zu begrüßen!«, hieß er sie willkommen. »Mein Name ist Mark Bellingham, und ich bin Ihr Guide. Ich würde sagen, wir gehen erst mal ins Camp und lernen uns beim Lunch näher kennen. Und heute Nachmittag starten wir unseren ersten Ausflug zu den Bären. Einverstanden?«

Im Gänsemarsch stapften sie durch das hohe Gras zum Camp. Vereinzelt leuchteten bunte Wildblumen, vor allem das leuchtend rote Fireweed, die Schmalblättrigen Weidenröschen, im dichten Grün. Der ausgetretene Pfad führte zu einigen kuppelförmigen Zelten, die aus der Ferne wie Bunker wirkten und ihr Zuhause für die nächsten beiden Tage sein würden. Aus der Nähe betrachtet sah man, dass sie aus stabilen Gerüsten und wasserdichten Zeltplanen bestanden und sogar Fenster hatten.

»Im Camp sind Sie absolut sicher«, versprach Mark. »Die Zelte sind durch einen elektrischen Zaun gegen die Bären geschützt, was aber nicht heißen soll, dass wir hier auf Vorsichtsmaßnahmen verzichten können. Auf keinen Fall sollten Sie Essensreste oder Abfall offen herumliegen lassen. Dafür haben wir verschließbare Container. Und verlassen Sie bitte nicht auf eigene Faust das Camp, vor allem nicht allein. Im »Bear Country«-Wildpark wandern nur Narren allein. Die Bären im Nationalpark gewöhnen sich zwar langsam an neugierige Zweibeiner, lassen sich aber ungern überraschen. Einen Folder mit allem, was Sie über Bären wissen müssen, finden Sie übrigens auch in Ihrem Zelt.«

Paula bekam ein eigenes Zelt zugeteilt, das aus einem Wohnabteil mit einem Tisch und zwei Klappstühlen und einem durch eine Plane abgeteilten Schlafabteil bestand. Zum Essen trafen sie sich an einem langen Tisch im Küchenzelt, wo der Guide, der auch als Koch herhalten musste, gebratenes Huhn mit Kartoffeln und Gemüse servierte. Alle waren ungeduldig, wollten so schnell wie möglich zu den Bären, hörten aber aufmerksam zu, als Mark von den Bären im Nationalpark berichtete.

»Über zweitausend Braunbären leben innerhalb der Parkgrenzen«, erklärte der Guide. »Die meisten Touristen beobachten die Tiere beim Fischen in den Brooks Falls. Da gibt es sogar Holzbrücken, von denen man sie fotografieren kann. Aber relativ ungestört kann man sie nur hier in der Hallo Bay beobachten. Haben Sie keine Angst – wenn Sie sich an die Regeln des Nationalpark-Service halten, kann nichts passieren. Grundregel Nr. 1: Weniger als fünfzig Schritte solltest du dich keinem Bären nähern. Grundregel Nr. 2: Trage nichts Essbares bei dir, das sie wittern könnten. Grundregel Nr. 3: Geh niemals allein! Geh in Gruppen und unterhalte dich laut. Grundregel Nr. 4: Wenn dir ein Bär zu nahe kommt, lauf niemals weg! Niemals! Bären sind schneller als du, die würden sogar Rennpferde abhängen. Mach dich so groß wie möglich und breite die Arme aus, rede möglichst sanft auf den Bären ein. Wenn nichts mehr hilft, leg dich mit abgewinkelten Beinen auf den Boden, dann verliert er meist das Interesse.«

»Und wenn er mich fressen will?«, fragte Roger Campbell nervös.

Mark zog einen orangefarbenen Gegenstand aus der Tasche, der auf den ersten Blick wie ein Textmarker aussah. »Für wirkliche Notfälle, wenn der Bär so nahe ist, dass nichts anderes mehr hilft, habe ich einen ›Flare‹ dabei: eine Leuchtpistole im Mini-Format, mit der man auch ausgewachsene Braunbären auf Abstand halten kann. Entweder mit einer Leuchtpatrone oder einem sogenannten ›Bear Bang‹, der einen lauten Knall verursacht und den Bär ablenkt.«

»Mit dem kleinen Ding?«, fragte Campbell ungläubig.

»Kleines Ding, große Wirkung«, antwortete Mark. »Zum Glück musste ich es noch nie anwenden. Wenn man sich so verhält, wie es die Ranger vom Nationalpark-Service empfehlen, braucht man es nicht.« Nachdem alle ihre Teller abgewaschen hatten, schulterte er seinen Rucksack. »Es kann losgehen, Leute!«

Paula trug ihre Baseballmütze mit dem herunterziehbaren Moskitonetz, eine Vorsichtsmaßnahme, die sie auf zahlreichen Wanderungen vor lästigen Insekten bewahrt hatte. Sie gehörte zu den Menschen, auf die sich Moskitos besonders gern stürzten. Ihr Handy hatte sie in ihrem Zelt gelassen. Von der Hallo Bay konnte man nur mit einem Satellitentelefon anrufen.

Außerhalb des Camps spürte Paula eine gewisse Unruhe, eine Mischung aus freudiger Erwartung und Nervosität, wie sie wohl jeder empfand, der im Begriff stand, wilden Raubtieren ohne einen schützenden Zaun gegenüberzutreten. David Morgan und Mary Campbell schien es genauso zu gehen. Doch selbst Roger spähte ängstlich in die Runde, kaum dass sie das Camp verlassen hatten. Von einem erfahrenen Großwildjäger hätte Paula etwas anderes erwartet.

Nur Ellen zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität. Sie marschierte fröhlich plappernd hinter dem Guide her und konnte es kaum erwarten, ihre geliebten Bären zu treffen. Als wären die Bären genauso harmlos und kuschelig wie ihr Plüschteddy. »Wusstet ihr, dass hier gar keine Grizzlys leben?« Sie freute sich über den fragenden Blick ihres Mannes und fuhr fort: »Hier an der Küste spricht man von Braunbären. Natürlich sind sie mit Grizzlys verwandt, aber Braunbären ernähren sich von reichhaltigerem Futter und sind deshalb größer. ›Braunbär‹ klingt irgendwie freundlicher, stimmt’s? Aber wartet, bis ihr die Kolosse seht. Einige von ihnen wiegen über tausend Pfund.« Sie blickte den Guide an. »Stimmt’s?«

»Stimmt«, gab Mark ihr recht. »Wenn wir Glück haben, bekommen wir Bär Nr. 420 zu sehen. Wir haben ihn Jabba getauft, nach dem fetten Schurken aus Star Wars. So viele Lachse wie er schnappt sich kein anderer Bär.«

Ihre ersten Bären sahen sie, als sie die Bucht erreichten. Eine Bärin, die in einer Flussmündung im Norden der Bucht stand und nach Lachsen fischte, während ihre beiden Jungen in der Nähe spielten. Die Bärin verlor ihre Jungen nicht aus den Augen und ermahnte sie mit einem lauten Grunzlaut, wenn sie sich zu weit von ihr entfernten. Sie war eine geübte Jägerin, schaffte es innerhalb kürzester Zeit, zwei riesige Lachse aus dem Wasser zu fischen und sich mit ihren Jungen darüber herzumachen. Obwohl sie hungrig war und genüsslich fette Stücke aus den Fischen riss, behielt sie ihre Umgebung genau im Auge.

Mark bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, stehen zu bleiben, um die Bärin und ihren Anhang nicht zu stören. »Sie haben ja sicher schon gehört, wie aggressiv Bärenmütter werden können, wenn man ihrem Nachwuchs zu sehr auf die Pelle rückt«, sagte er. »Das ist Bär Nr. 473, wir nennen sie Marie. Sie ist besonders empfindlich, was die Jungen angeht. Sie hat ihren ersten Wurf im Frühjahr verloren. Ein Bär, der Marie selbst erobern und eigenen Nachwuchs mit ihr haben wollte, hat sie totgebissen. Danach wurde sie erneut brünstig und ließ sich von dem Mörder ihrer Jungen schwängern. Jetzt wacht sie noch panischer über ihren Nachwuchs.« Der Guide bemerkte Ellens entsetztes Gesicht. »Die Natur kann sehr grausam sein. Nur die Starken überleben hier.«

Paula wusste natürlich, dass sich Bären nicht auf einen Partner festlegten, und die Natur nicht nur bei ihnen auf das Auswahlprinzip setzte. Die Natur kannte kein Mitleid mit Geschöpfen, die ihren Launen nicht gewachsen waren. Marie und ihre Jungen waren jetzt auf sich allein gestellt und konnten froh sein, dass so viele Lachse in diesem Sommer zu den Flüssen schwammen. Doch ungefährlich war ihr Leben nicht. Nur wenige Minuten nachdem Paula ihr Fernglas auf sie und die Kleinen gerichtet hatte, tauchte ein männlicher Bär auf und vertrieb sie missgelaunt von ihrem Platz. Paula schoss einige Fotos, verbrachte aber noch mehr Zeit damit, die Bären durch ihr Fernglas zu studieren. Nirgendwo war man der Wildnis so nahe wie hier, auch wenn sie während ihrer dreistündigen Wanderung zwei anderen Gruppen begegneten. Aber die Bucht bot so viel Platz, dass sich Menschen und Tiere in der Abgeschiedenheit verloren.

Sie wanderten in respektvoller Entfernung an den Bären vorbei. Am Ufer bildeten zahlreiche Mulden ein Labyrinth von stehenden Gewässern, dazwischen lagen Gestrüpp und ausgebleichtes Treibholz. Vor ihnen glänzte das Wasser der Bucht. Als sie das Ufer erreicht hatten und zwei Bären weit hinter ihnen durch das Gras stapften, blieben sie stehen und genossen einen Anblick, so perfekt, wie man ihn sonst nur in Filmen zu sehen bekam. Die Bären vor dem Mount Kukak und Mount Steller mit ihren schneebedeckten Gipfeln, die verführerisch in der Nachmittagssonne strahlten. Die Berge gehörten zu einer Kette von Vulkanen, die sich über die Aleuten-Halbinsel zog.

Paula war glücklich. Sie sonderte sich ein paar Schritte von den anderen ab und erfreute sich am Anblick der Bären und dem selten schönen Sommerwetter. Einen besseren Tag hätte sie nicht erwischen können. Die Sonne strahlte vom beinahe wolkenlosen Himmel, der Wind war stark genug, um die meisten Moskitos zu vertreiben, und die Nähe der Tiere gab ihr die Illusion, zum Beginn der Schöpfung zurückgereist zu sein. Ein Erlebnis, besonders für eine Biologin, die für ihr Masterstudium eine Abschlussarbeit über Braunbären plante.

»Ist das alles nicht einmalig?«, fragte Ellen. Ihre Stimme klang gedämpft, schon aus Ehrfurcht von den großen Tieren, aber ihre strahlende Miene verriet, wie sehr sie diesen Ausflug genoss. Sie schoss ein Foto nach dem anderen und blickte durch ihr Fernglas, um die Bären so noch besser im Blick zu haben. »Was meinst du, David? Sag doch was! Ist das nicht ein tolles Erlebnis? Sieh dir diese riesigen Tiere an!«

Falls David sich in seiner Haut nicht wohl fühlte, versuchte er zumindest, sich nichts anmerken zu lassen. »Sicher, mein Schatz, sicher! Sehr beeindruckend! Wirklich einmalig!«

Paula hatte eher den Eindruck, dass er es gar nicht erwarten konnte, wieder zu seinen Orangen nach Kalifornien zurückzufliegen – ähnlich wie Campbell, der sich sichtlich unwohl in Gesellschaft der Bären fühlte. Ob er seine Elefanten und Löwen in Gesellschaft gejagt hatte, mit eingeborenen Jägern, die ihm die Arbeit weitgehend abgenommen hatten? Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er einem der afrikanischen »Big Five« furchtlos gegenübergetreten war. Seine Frau schien nicht überrascht, lächelte nur still in sich hinein.