Im Herzen Kanadas - Eine Liebe am Yukon River - Christopher Ross - E-Book

Im Herzen Kanadas - Eine Liebe am Yukon River E-Book

Christopher Ross

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Beschreibung

Eine junge Frau wagt das scheinbar Unmögliche und kämpft in der verschneiten Weite Kanadas um ihr Überleben und die Liebe. 1897: Als Tochter eines reichen Brauereibesitzers soll Florence möglichst schnell eine gute Partie heiraten. Allerdings hat Flo ihre ganz eigenen Pläne: Als einzige weibliche Reporterin für die Milwaukee News ist sie auf der Suche nach einer großen Story, die ihr ein anderes Leben ermöglicht. Die unverhoffte Gelegenheit bietet sich, als der Starreporter der Zeitung ausfällt und stattdessen Flo die Reise nach Nordkanada wagt, wo Goldfunde die Menschen in Scharen anziehen. Aber obwohl Flo auf der Schiffsreise dorthin vier besondere Frauen kennenlernt, die in der Fremde schon bald zu herzlichen Freundinnen werden, hat sie die Herausforderungen der Wildnis unterschätzt. Und die Gier der Menschen – denn ein Mann aus ihrer eigenen Vergangenheit scheint davon besessen, sie niemals als freie Frau ihren Weg gehen zu lassen. Doch da ist auch noch George, ein junger Polizist der kanadischen Einheit, der Flo seine Hilfe anbietet … Lebensnah und bewegend erzählt der Meister des romantischen Abenteuerromans von ebenso verschiedenen wie gleichsam mutigen Frauen, die es mitten im gefährlichen Goldrausch wagen wollen, sich ihr eigenes Stück vom Glück zu erobern. Fans von Sarah Lark und des »Yellowstone«-Serienuniversums werden begeistert sein!

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Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

1897: Als Tochter eines reichen Brauereibesitzers soll Florence möglichst schnell eine gute Partie heiraten. Allerdings hat Flo ihre ganz eigenen Pläne: Als einzige weibliche Reporterin für die Milwaukee News ist sie auf der Suche nach einer großen Story, die ihr ein anderes Leben ermöglicht. Die unverhoffte Gelegenheit bietet sich, als der Starreporter der Zeitung ausfällt und stattdessen Flo die Reise nach Nordkanada wagt, wo Goldfunde die Menschen in Scharen anziehen. Aber obwohl Flo auf der Schiffsreise dorthin vier besondere Frauen kennenlernt, die in der Fremde schon bald zu herzlichen Freundinnen werden, hat sie die Herausforderungen der Wildnis unterschätzt. Und die Gier der Menschen – denn ein Mann aus ihrer eigenen Vergangenheit scheint davon besessen, sie niemals als freie Frau ihren Weg gehen zu lassen. Doch da ist auch noch George, ein junger Polizist der kanadischen Einheit, der Flo seine Hilfe anbietet …

Originalausgabe November 2025

Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Monia Pscherer

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / shutterstock AI

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (rb)

 

ISBN 978-3-69076-742-2

 

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt und als solches Dokument seiner Zeit von uns veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags oder des Autors wider. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

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Christopher Ross

Im Herzen Kanadas Eine Liebe am Yukon River

Roman

 

Kapitel 1

 

Als jüngste Reporterin der Milwaukee News bekam Flo meist Aufträge, um die jeder ihrer erfahrenen Kollegen einen großen Bogen machte. Man schickte sie zum Abschlussball der Highschool, der Rettung einer hilflosen Katze von einem Baum­, dem hundertsten Geburtstag eines verdienstvollen Bürgers oder dem Konzert eines deutschen Chors im Palm Garden wie an jenem Freitagabend im Juli 1897. Ein Abend, der ihr lange im Gedächtnis bleiben würde.

Der größte Biergarten von Milwaukee lag im Osten der Stadt, wo die meisten der zahlreichen deutschen Einwanderer lebten und in unmittelbarer Nachbarschaft der bekannten Schlitz Brewery. Überdacht von einer riesigen Kuppel beeindruckte der Palm Garden mit einer Vielzahl von importierten Palmen, die zwischen den Tischen für ein exotisches Ambiente sorgten. Es duftete nach gegrillter Bratwurst, Sauerkraut und frisch gezapftem Bier, das in großen Gläsern serviert wurde. Unter der reich verzierten Kuppel hing Zigarrenrauch.

Auch das Milwaukee Journal und andere Zeitungen hatten junge Redakteure geschickt, die entweder versuchten, Flo näher kennenzulernen, oder spöttisch auf sie herabblickten. »Ihr müsst noch viel lernen, wenn ihr mich schlagen wollt«, sagte sie, als sie ihnen zuprostete. Obwohl ihr Vater eine Brauerei besaß, mochte sie kein Bier und hatte Limonade bestellt. »Wie ich meinen Chef kenne, bekomme ich mindestens zwei Spalten für meinen Artikel.« Es bereitete ihr Spaß, die Konkurrenz zu necken, besonders wenn sie so hochnäsig war wie der vorlaute Bursche neben ihr. Er hielt sich für einen angehenden Starreporter und prahlte damit, schon bald über ein Spiel der Milwaukee Brewers berichten zu können. Die Brewers waren das bekannteste Baseballteam in Wisconsin.

»Zehn Zeilen wird er dir geben«, spottete er, »auf der vorletzten Seite bei den Kleinanzeigen.« Er lachte schadenfroh. »Und wenn ich im November über die Präsidentschaftswahl berichte, hängst du beim Jubiläum des Kaninchenzüchtervereins oder bei einem neugeborenen Rehlein im West Park rum.«

»Abwarten, mein Lieber. Abwarten.«

Flo hieß eigentlich Florence Schmitt, aber jeder nannte sie Flo, außer ihrem Chefredakteur, der »Miss Florence« vorzog. Mit ihren locker hochgesteckten Haa­ren und ihrer schlanken Figur, vor allem aber ihren leuchtend blauen Augen konnte sie einem Mann leicht den Kopf verdrehen, hielt sich aber zurück. Sie wollte nicht mal den Verdacht aufkommen lassen, sie habe ihre Stellung nur ihrem attraktiven Aussehen zu verdanken. Schlimm genug, dass manche Leute glaubten, ihr Vater habe damit zu tun. Auch wenn seine Brauerei nicht so viel Umsatz wie Schlitz oder Pabst machte, war er ein einflussreicher Mann.

»Ist dein Verlobter nicht eifersüchtig, wenn du ständig mit uns unterwegs bist?«, fragte Will Sampson, ein anderer Kollege. Das starke deutsche Bier hatte ihn mutiger als sonst gemacht.

Flo wusste längst, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte. »Verlobter? Was für ein Verlobter?«

»Na, der vornehme junge Bursche, mit dem ich dich neulich auf der Wells Street gesehen hab. Dreiteiliger Anzug, kesser Bowlerhut, Spazierstock ... als hättest du ihn auf der Michigan Avenue in Chicago aufgelesen. Hast du?«

»William?« Sie ärgerte sich, überhaupt mit ihm gesehen worden zu sein. »Das war nicht mein Verlobter und auch nicht mein Freund. Wenn du’s genau wissen willst, er arbeitet für meinen Vater, und ich hab ihn zur Bank begleitet.«

»Dann hast du gar keinen Freund?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Du bist ganz schön vorlaut«, konterte sie.

»Und warum holt er dich dann ab?« Sampson blickte zum Ausgang und grinste über das ganze Gesicht. Ein junger Mann, der seiner Beschreibung von William entsprach, hatte die Bierhalle betreten und blickte sich suchend um. Als er sie entdeckte, kam er geradewegs auf sie zu. »Das ist er doch, oder?«

Flo war viel zu erstaunt, um etwas zu sagen. Sie war ein paarmal mit William ausgegangen, ein Fehler, wie sie inzwischen glaubte, aber mit einem so grimmigen Gesicht und so entschlossen, wie er auf sie zukam, verhielt er sich eher wie ein Mann, der seine Verlobte beim Fremdgehen erwischte. Das spöttische Grinsen der jungen Reporter schien ihn zusätzlich in Rage zu bringen.

»Ich bringe dich nach Hause, Flo!«, sagte er, ohne sie zu begrüßen.

Er wollte sie von ihrem Stuhl ziehen, doch sie zog rechtzeitig ihre Hand zurück. Von den Nachbartischen blickten bereits einige Neugierige herüber. Es kam öfter vor, dass eine wütende Ehefrau ihrem Mann die Leviten las und ihn aus der Bierhalle zerrte, umgekehrt erlebte man es höchst selten, eigentlich nie. Welcher Mann würde sich auf diese Weise zum Gespött der Leute machen?

»Ich bin beruflich hier, William.«

»Das sehe ich«, antwortete er spöttisch. Sein arrogantes Verhalten passte zu seinem dreiteiligen Anzug, den sorgfältig gescheitelten Haaren und dem sauber getrimmten Schnurrbart. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf ihre Kollegen, hatte wohl keine Lust, sich mit ihnen anzulegen. »Was sollen die Leute denken, wenn du in aller Öffentlichkeit mit anderen Männern flirtest und Bier trinkst?«

»In meinem Glas ist Limonade, falls du es noch nicht bemerkt hast«, erwiderte sie, »und würde ich Bier trinken, wäre es auch nicht schlimm. Immerhin bin ich die Tochter eines bekannten Brauers. Und jetzt lass mich in Ruhe!«

»Willst du mich zum Narren halten?« Dass sich einige der anderen Gäste über ihn lustig machten und einer der Kellner bereits misstrauisch zu ihnen herüberblickte, schien ihn nicht zu stören. »Sei vernünftig und komm jetzt.«

Sie wollte keine Szene heraufbeschwören und sich zum Gespött der ganzen Bierhalle machen und gab nach. »Na schön, aber glaube nicht, dass du mich nach Hause bringen darfst. Selbst wenn du mit einer goldenen Kutsche hier wärst, würde ich nicht einsteigen.« Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und wandte sich an ihre Kollegen. »Es war mir eine Freude, mit euch anzustoßen.«

»Pass gut auf dich auf, Kollegin!«, rief Sampson ihr nach.

Flo verabschiedete sich auch vom Manager des Palm Gardens, der sie eingeladen hatte, und folgte William nach draußen. Einer Berührung ging sie bewusst aus dem Weg. Sie beherrschte sich nur mühsam, spürte die spöttischen Blicke der anderen Reporter im Rücken und legte sofort los, als sie die Bierhalle verlassen hatten und außer Sichtweite waren. »Was fällt dir ein?«, fuhr sie ihn an. »Wir sind weder verlobt noch verheiratet, und selbst wenn, würde ich dir nicht erlauben, mich auf diese Weise vorzuführen. Was soll das?«

Er blieb stehen und bemühte sich um eine versöhnliche Miene. »Ich meine es doch nur gut mit dir, Flo. Eine Frau gehört nicht in eine Bierhalle, und schon gar nicht in Gesellschaft anderer Männer. Ich habe dir einen Gefallen getan.«

»Einen Gefallen? Du hast dich unmöglich benommen.«

Ihre Reaktion schien ihn zu überraschen. »Wir sind ein Paar«, sagte er. Es klang fast ein wenig weinerlich. »Auch wenn wir uns noch nicht lange kennen, ist doch klar, dass wir für immer zusammenbleiben werden. Eigentlich dachte ich, wir würden uns bald verloben und heiraten.«

»Das meinst du tatsächlich im Ernst, was?« Sie fragte sich langsam, warum sie überhaupt mit ihm ausgegangen war. »Wie kommst du denn darauf?«

»Wir haben uns doch gut verstanden. Du hast mich sogar geküsst.«

»Auf die Wange«, sagte sie. »Ein Fehler, wie ich inzwischen weiß. Und von Verlobung oder Heirat war schon gar nicht die Rede. Wie auch, nach drei oder vier Rendezvous? Selbst wenn in unserer Beziehung alles perfekt wäre, dürftest du es niemals wagen, meinen Vater um meine Hand zu bitten.«

»Aber ich liebe dich, Flo!«

»Du liebst mich nicht«, erwiderte sie. »Und jetzt entschuldige mich. Meine Straßenbahn kommt, und ich möchte so schnell wie möglich nach Hause.«

»Ich bin mit der Pferdedroschke hier. Lass mich wenigstens ...«

»Gib dir keine Mühe, William.«

Flo überquerte die Straße und stieg in den orangefarbenen Trolley. Sie hütete sich, aus dem Fenster zu blicken, und war erleichtert, als die Bahn den Blicken von William entschwand. Die Fahrt zum Lake Park dauerte eine knappe halbe Stunde. Sie stieg aus und ging zum Haus ihrer Eltern, einer zweistöckigen Villa, die aus einem Giebelhaus und einem angrenzenden Turm bestand, von dem man einen guten Blick auf den Park und den nahen Lake Michigan hatte. Vor dem Haus bellten die beiden Wachhunde, als sie das Eisentor öffnete, beruhigten sich aber schnell, als sie erkannten, wer den Garten betrat.

»Ihr Vater wartet in der Bibliothek auf Sie«, sagte die Haushälterin.

»Danke, Mary.«

Flo klopfte, bevor sie eintrat. Ihr Vater saß in seinem Lieblingssessel, rauchte Zigarre und blätterte in einem Buch. Seine Eltern, die aus Erlangen stammten, dort ebenfalls eine Brauerei betrieben hatten und um 1850 nach Amerika ausgewandert waren, hatten zwei Kisten mit Büchern verschifft, darunter einige Fachbücher über die Braukunst. Auch er war sehr bele­sen, und in seinen Regalen hatte sich eine stattliche Bibliothek angesammelt. Er lebte lange genug in Milwaukee und beherrschte die englische Sprache fast wie ein Einheimischer. Nur seinen deutschen Akzent hatte er nicht verloren.

»Da bist du ja«, sagte er. »Ich hab dich durchs Fenster kommen sehen.«

»Ist etwas spät geworden, ich weiß.«

»Und du bist ohne Begleitung gekommen. Hatte denn keiner deiner Kollegen den Anstand, dich nach Hause zu begleiten? Und warum hast du keine Pferdedroschke genommen? Es ziemt sich nicht für eine Frau, allein unterwegs zu sein, schon gar nicht spätabends. Was sollen denn die Nachbarn denken.«

Sie setzte sich auf den Hocker neben seinen Schreibtisch und versuchte ihn mit einem Lächeln zu versöhnen. »Ein Kollege hat mich zum Trolley gebracht«, antwortete sie. Dass es sich dabei um einen aufdringlichen Verehrer gehandelt hatte, verriet sie ihm nicht. »Heutzutage sagt niemand mehr was, wenn man als Frau allein unterwegs ist, schon gar nicht mit der Straßenbahn.«

»Ich möchte nicht, dass man schlecht über dich redet«, erwiderte er. Wie immer, wenn er verärgert war, paffte er nervös an seiner Zigarre. »Schlimm genug, dass du den zweifelhaften Beruf einer Reporterin gewählt hast. Warum hast du nicht den jungen Bierbrauer geheiratet, den ich dir vorgestellt habe? Die Verbindung wäre gut für mein Geschäft gewesen, und du hättest den respektablen Platz in der Gesellschaft gefunden, der einer Frau wie dir zusteht.«

»Soll ich jemanden heiraten, den ich nicht liebe?«

Er winkte missmutig ab und ließ dabei Asche auf den Boden fallen. »Was hat denn Liebe damit zu tun? Die kommt nach der Heirat von selbst, wenn man ein paar Jahre zusammen gewesen ist. Wichtig wäre vor allem, unserer Familie und unserer Brauerei eine Zukunft zu geben. Mit zwei Brauereien in unserer Familie hätten wir sogar Schlitz und Pabst den Rang ablaufen können. Und du wärst die Gattin eines aufstrebenden Brauers gewesen und hättest in den besten Kreisen verkehrt. Als angesehene Gattin mit tadellosem Ruf. Einer Reporterin erweist doch niemand Respekt. Sogar für einen Mann ist der Beruf anrüchig.«

Ihr Vater schimpfte nicht zum ersten Mal über ihren Wunsch, als Reporterin von sich reden zu machen. In fast allem, was er ihr vorwarf, schwang das Bedauern mit, keinen Sohn zu haben. Nach ihrer Geburt hatte ihre Mutter keine Kinder mehr bekommen können, und er war dazu gezwungen, eine Tochter zu seiner Nachfolgerin zu machen. Da er sich nicht vorstellen konnte, einer Frau die Leitung seiner Brauerei zu überlassen, und sie auf seinen Vorschlag, den jungen Brauer zu heiraten, nicht eingegangen war, hatte er das Gefühl, vor einem Scherbenhaufen zu stehen und versagt zu haben. William, der zusammen mit seinem Bruder einmal das Bankhaus seiner Eltern erben würde, wäre vielleicht ein halbwegs adäquater Ersatz gewesen, doch von ihm wusste er nichts.

»Der Beruf ist schon lange nicht mehr anrüchig, und seit einigen Jahren lassen sich auch immer mehr Frauen zur Reporterin ausbilden. Kolumnen über Haushalt und Erziehung schreiben sie schon seit einigen Jahren, aber inzwischen berichten sie auch über Wirtschaft und Politik. Die Welt verändert sich rapide, Vater. Du weißt, dass ich keine verbissene Frauenrechtlerin bin, aber ein wenig mehr Anerkennung und Respekt hätten wir Frauen doch verdient.«

Er paffte einige Zeit, als wollte er sich hinter der Rauchwolke verstecken, dann sagte er: »Ich bin müde, Flo. Ich finde, wir sollten jetzt schlafen gehen.«

»Sicher, Vater. Gute Nacht.«

Flo war froh, endlich in ihr Zimmer zu kommen, und sank auf ihr Bett. Sie wohnte im zweiten Stock des Giebelhauses und konnte bis auf den Lake Michi­gan sehen. Der See, der ihr groß und weit wie ein Ozean erschien, spiegelte den blassen Dreiviertelmond, der sich mühsam zwischen den aufziehenden Regenwolken behauptete. Das Tuten eines Frachters tönte aus dem nächtlichen Dunst herüber. Am Ufer flammte das rotierende Licht des Leuchtturms auf.

Die Worte ihres Vaters hatten sie mehr geschmerzt, als sie sich anmerken ließ. Sie war stolz darauf, ein angesehenes College besucht und bei einer angesehenen Zeitung als Reporterin untergekommen zu sein, auch wenn sie sich dort ähnlichen Vorurteilen ausgesetzt sah. Ein Großteil ihrer männlichen Kollegen lehnte Frauen in der Redaktion ab, es sei denn, sie arbeiteten an den Schreibmaschinen und tippten ihre Texte ab. Die Aktionen der Suffragetten, die sich in ihren Demonstrationen für das Frauenwahlrecht in Wisconsin einsetzten, hatten sie nervös gemacht. Flo tippte ihre Beiträge selbst, bediente ihre Underwood routinierter als so manche junge Schreibkraft und war selbstbewusst genug, sich gegen den Spott mancher männlicher Kollegen zu wehren.

Ihr Vater war in den Traditionen verhaftet, in denen er aufgewachsen war. Er war der Meinung, eine Frau könnte nur in der Rolle bestehen, die ihr die Natur angeblich vorgegeben hatte, und wenn sie überhaupt einen Beruf ergriff, sollte sie als Lehrerin oder Krankenschwester arbeiten. Ihre Mutter und sogar mehrere ihrer Freundinnen dachten leider genauso, obwohl sich der Anteil weiblicher Reporter im letzten Jahrzehnt erhöht hatte und Frauen auch in anderen Berufen auf dem Vormarsch waren. Sie hatte nichts gegen einen Ehemann und Kinder, im Gegenteil, sie hätte nichts dagegen gehabt, den Mann ihrer Träume zu treffen, nur wollte sie mehr als Ehefrau und Mutter sein, viel mehr.

Sie wandte sich vom Fenster ab und drehte sich noch einmal um, als sie ei­ne dunkle Gestalt nahe dem Parkeingang entdeckte. Ein Mann mit Bowlerhut. Zu­nächst glaubte sie an eine optische Täuschung, doch als der Mann sich ihr zuwandte und sie genauer hinblickte, bestätigte sich ihr Verdacht. William war ihr bis nach Hause gefolgt und hatte sich vor dem Park postiert, um in ihrer Nähe zu sein. Einen anderen Grund konnte sie sich nicht vorstellen. Sie holte ihr Opernglas aus einer Schublade, um sicherzugehen, und sah sich bestätigt.

»William!«, flüsterte sie aufgebracht. »Was soll das?«

Sie war froh, im Dunkeln zu stehen, trat aber dennoch hastig zur Seite und schmieg­te sich an den bodenlangen Vorhang. William machte ihr Angst. Bei ihren ersten Verabredungen war er freundlich und zuvorkommend gewesen, hatte sie wie eine Lady behandelt und nicht einmal andeutungsweise durchblicken lassen, dass er sie einmal auf diese Weise bedrängen würde. Obwohl auch damals schon durchklang, wie er die Welt sah, genauso wie ihr Vater nämlich, obwohl er nur wenige Jahre älter als sie war und es eigentlich besser wissen müsste. Auch ohne sein Verhalten an diesem Abend hätte sie es wohl nicht länger bei ihm ausgehalten. Ein Mann wie er benahm sich nur wie ein Gentleman, solange er um sie warb, danach betrachtete er sie lediglich als Besitz.

Sie blickte noch einmal durch ihr Opernglas und erkannte, dass er wohl länger dort stehen bleiben wollte. Ein seltsames Vorgehen, wenn man eine Frau für sich gewinnen wollte. Sie beschloss, sich nicht länger darum zu kümmern und ihm so schnell wie möglich klarzumachen, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Wenn er nur einen Funken Anstand besaß, würde er sich zurückziehen und sie in Ruhe lassen. Daran, dass er sich in eine Besessenheit hineinsteigern und sie weiterhin auf diese Weise bedrängen könnte, wollte sie nicht denken. Das würde auch seine Familie niemals zulassen. Sein Vater war ein angesehener Mann, leitete eine Bank an der Grand Avenue und wäre sicher entsetzt, wenn er ihn jetzt sehen könnte.

 

In dieser Nacht schlief sie kaum, doch als sie am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, war er verschwunden und sie glaubte, lediglich einen bösen Traum erlebt zu haben. Umso größer war ihr Entsetzen, als sie das Haus ver­ließ und ihn auf dem Kutschbock eines Einspänners sitzen sah. Er lächelte, als wäre nichts geschehen, und schien nur darauf zu warten, dass sie zu ihm kam.

Sie zögerte nur kurz und näherte sich ihm mit entschlossenen Schritten. »William! Was willst du hier? Und warum hast du gestern Abend vor dem Lake Park gestanden und auf unser Haus gestarrt? Hast du nichts Besseres zu tun?«

»Ich wollte in deiner Nähe sein«, antwortete er kleinlaut. »Ich hätte dich nicht so bedrängen dürfen, das weiß ich auch, und ich entschuldige mich dafür ...« Er griff nach der roten Rose, die er neben sich auf dem Kutschbock liegen hatte, und reichte sie ihr. »Ich hoffe, du verzeihst mir, Flo. Wir lieben uns, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mein Leben mit dir teilen zu dürfen. Du wirst die schöne Frau an meiner Seite und die Mutter unserer Kinder sein.«

Flo ignorierte die Rose und bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. Nur wer sie gut kannte, hätte das leichte Zittern in ihrer Stimme bemerkt. »Das bildest du dir ein, William. Ich gebe zu, ich hätte dir früher sagen müssen, dass ich dich nicht liebe und aus uns beiden kein Paar werden kann, aber woher sollte ich auch ahnen, dass du nach drei oder vier Verabredungen von Verlobung und Heirat sprichst. Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht heiraten.«

Seine Augen verengten sich, und in seine Stimme kroch ein gefährlicher Unterton. »Du willst dich von mir trennen? Du willst mich abkanzeln wie einen dummen Jungen? Das kannst du nicht tun, Flo! Ich bin ein respektabler Mann und werde eines der angesehensten Bankhäuser von Milwaukee erben. Die meisten Frauen würden sich glücklich schätzen, ihr Leben an meiner Seite ver­bringen zu dürfen. Wie kannst du es wagen, mir eine solche Abfuhr zu erteilen?« Er legte die Rose zurück und nahm die Zügel auf. »Du gehörst mir, Flo! Ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben an einen anderen verschwendest.«

»Tut mir leid«, sagte Flo noch einmal.

William wendete den Einspänner und trieb die Pferde an. Noch als er die nächste Kreuzung überquerte, hörte sie, wie er fluchte und auf sie schimpfte.

Kapitel 2

 

Die Redaktion der Milwaukee News lag im ersten Stock eines Ziegelbaus an der North Avenue. Flo stand immer noch unter dem Eindruck ihrer unliebsamen Begegnung mit William, als sie aus der Straßenbahn stieg. Sie schüttelte ihn erst ab, als sie das Gebäude betrat und das vertraute Klappern der Schreibmaschinen im Newsroom hörte. Nur wenige der älteren Reporter beherrschten den Umgang mit den ungewohnten Tasten und verließen sich auf die Hilfe der jungen Damen, die dafür eingestellt worden waren. Bis Ende des Jahres sollten alle Reporter das Zehnfingersystem beherrschen, verlangten die Besitzer der Zeitung, schon um das Gehalt der Damen einzusparen. Flo hatte bereits einen Kurs absolviert und eine eigene Underwood auf ihrem Schreibtisch stehen.

»Hey, Kiddo«, begrüßte King sie wie jeden Morgen. Charles King war der Starreporter der News, ein schlanker Mann um die Vierzig mit weichen Gesichtszügen und pomadigen, in der Mitte gescheitelten Haaren. Er trug eine schwarze Weste über seinem Hemd und seine geliebte Fliege. »Beeilen Sie sich mit Ihrem Artikel, der Chef wartet schon darauf. Sie haben zwanzig Zeilen.«

»Schon fertig«, antwortete sie. »Muss ihn nur noch abtippen.«

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und machte sich an die Arbeit. Das Tip­pen fiel ihr inzwischen leicht, obwohl man Kraft und Ausdauer brauchte, um ständig in die Tasten zu hauen. Anfangs hatte sie noch Muskelkater in den Armen bekommen, doch inzwischen schrieb sie ähnlich flüssig wie die Frau­en, die nichts anderes taten und dabei kaum Anzeichen von Erschöpfung zeigten.

Während der anderthalb Jahre, die sie schon für die Milwaukee News arbeitete, hatte sie gelernt, »auf Zeile« zu schreiben, und auch diesmal schaffte sie den gewünschten Umfang. Hier und da noch eine bessere Formulierung, dann war sie fertig und reichte das Manuskript an King weiter. Der überflog es und reichte es an sie zurück: »Bring es zum Chef, der wollte dich sowieso sehen.«

Ed Morris, der Chefredakteur, ein beleibter Mann mit Halbglatze, residierte in einem verglasten Büro, von dem aus er den gesamten Newsroom überblicken konnte. Er schien ständig zu schwitzen und schnaufte ungeduldig, als sie eintrat und den Artikel auf die Papierstapel auf seinem Schreibtisch legte.

»Miss Florence, was gibt’s? Ihr Bericht über den Chorabend?«

»Ja, Sir. Sie wollten mich sehen?«

»Stimmt, setzen Sie sich.« Er deutete auf den Besucherstuhl und lehnte sich in seinem Chefsessel zurück. »Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Miss Florence?«

»Anderthalb Jahre, Sir.«

»Und jeder hatte mir von Ihnen abgeraten. Eine Frau im Newsroom brächte genauso viel Unglück wie eine blinde Passagierin an Bord eines Schiffes. Aber Sie haben sich gut gemacht.« Er deutete ein Lächeln an, selten genug bei ihm, und überflog ihren Artikel. »Den Schluss würde ich ändern. Haben Sie ein Zitat von einem Chormitglied über die Bierhalle oder, noch besser, über unser Bier?«

Sie checkte ihre Notizen, die sie ebenfalls dabeihatte. »Von einem der Sänger ... unser Bier wäre wie Nektar und besser für seine Stimme als Honig.«

»Das muss unbedingt rein.« Er gab ihr den Artikel zurück und blickte sie prüfend an. »Ich denke, Sie können sich bald mal an was Größerem versuchen, Miss Florence. Ich komme auf Sie zu, okay? Aber heute lesen Sie erst mal Korrektur, vor allem die Todesanzeigen. Nicht dass noch jemand am Leben ist.«

»Wird gemacht, Sir.«

Sie kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück. Die tägliche Redaktionskonferenz begann erst in einer knappen Stunde, und sie hatte genug Zeit, um den letzten Absatz ihres Artikels zu ändern. Das Zitat machte sich tatsächlich gut. Sie las den Artikel noch einmal durch und gab ihn weiter, schenkte sich einen Becher Kaffee ein, bevor sie sich die Probeabzüge mit den Todesanzeigen geben ließ.

»Schon wieder die Todesanzeigen?«, fragte King.

»Solange es nicht meine eigene ist.«

»Ist Morris zufrieden mit dir?«

Sie blickte von ihrer Arbeit auf. Diesmal zeigte sie ein spöttisches Lächeln. »Er will mir bald was Größeres geben. Vielleicht lässt er mich den Präsidenten interviewen, wenn er nach Milwaukee kommt. Ich hätte ein paar gute Fragen.«

»Zum Wahlrecht für Frauen?«, fragte er.

»Unter anderem.«

Die Redaktionskonferenz begann pünktlich. Wie jeden Morgen trafen sich die Redakteure im Besprechungsraum, die meisten mit Notizblock und frisch gefülltem Kaffeebecher. Flo setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, wie es ihre Stellung gebot. Irgendwann, das wusste sie, würde sie mit am Tisch sitzen.

»Heute ist ein wichtiger Tag«, begann Morris. »Die Kollegen der Seattle Times haben etwas ins Rollen gebracht, was auch unsere Auflage erheblich steigern könnte.« Er hielt eine Ausgabe der Zeitung mit der Schlagzeile »Gold! Gold! Gold!« hoch. »Die Zeitung ist nur wenige Wochen alt. Was damals über den Ticker ging, ist tatsächlich wahr. Am Klondike River in Alaska und im Yukon-Territorium von Kanada ist ein Goldrausch ausgebrochen, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt, sogar den Goldrausch von 1849 in Kalifornien. Angeblich ist die halbe Welt auf den Beinen, um im hohen Norden reich zu werden. Man bräuchte die Goldklumpen nur aufzuheben, sie lägen für jeden sichtbar in den Flüssen herum. Vor einigen Wochen sind die ersten beiden Schiffe mit erfolgreichen Goldgräbern in San Francisco und Seattle gelandet, und ob ihr’s glaubt oder nicht, Leute ... mit einer Tonne Gold an Bord!«

Auch Flo hatte schon von dem Goldrausch gehört – seit es Telegrafen gab, sprachen sich solche Neuigkeiten schnell herum –, aber sie hätte niemals die Ausmaße dieser neuen Goldfunde erahnt. Die Menschen waren schnell dabei, einen neuen Goldrausch auszurufen, wenn irgendwo Gold gefunden wurde.

»Ich weiß, das klingt alles nach einem neuen Presserummel, aber diesmal scheint es wirklich zu stimmen: Am Klondike gibt es Unmengen von Gold.« Er hatte mehrere Ausgaben der Seattle Times dabei und ließ sie herumgehen. »Die Kollegen haben sich das nicht aus den Fingern gesaugt, und die vielen Menschen, die sich schon auf dem Weg zu den Goldfeldern befinden, sind der beste Beweis dafür, mit welchem Ereignis wir es zu tun haben. Ein Ereignis, an dem auch wir teilhaben wollen. Die Berichterstattung könnte uns eine Auflagensteigerung von mehreren Tausend Exemplaren bringen, aber nur, wenn wir selbst mittendrin sind.«

»Sie wollen einen Reporter zum Klondike schicken?«, fragte jemand.

»Und ob ich das will«, bestätigte Morris, »und ich möchte so gute Beiträge, dass wir damit den San Francisco Chronicle, die New York Times und jede andere Zeitung in den USA abhängen. Ich möchte Geschichte schreiben!«

Alle Blicke richteten sich auf King, den einzigen Reporter der News, der für einen so verantwortungsvollen Auftrag infrage kam. Auch Morris rechnete anscheinend fest mit ihm und lächelte verheißungsvoll, auch wenn er gezwungen wäre, einen weiteren Reporter einzustellen. Die Reise zum Klondike war beschwerlich, und Lake würde mindestens ein halbes Jahr unterwegs sein.

»Wie sieht’s aus, Charly?«

King schien unter den bewundernden Blicken seiner Kollegen zu wachsen. »Klingt verlockend, Chef. Aber ich werde lange unterwegs sein und vielleicht den harten Winter in Alaska oder am Yukon verbringen müssen. Erinnern Sie sich noch an den Blizzard von 1886? Einer meiner ersten großen Einsätze für die Chicago Tribune. In Alaska und am Yukon soll es doppelt so kalt sein.«

»Sie bekommen ein Schmerzensgeld, keine Bange, und ihr Spesenkonto wird so hoch sein, dass es für etliche Monate reicht. Ich habe bereits mit den Besitzern gesprochen und grünes Licht bekommen. Über die genauen Bedingungen sprechen wir nach der Konferenz unter vier Augen. Einverstanden?«

King brauchte nicht lange zu überlegen. »Natürlich, Sir.«

»Hat noch jemand was auf dem Herzen?«

»Ich, Sir!« Flo wusste selbst nicht, was sie dazu bewog, den Arm zu heben. Übertriebenes Selbstvertrauen? Die Überzeugung, eine gute Idee zu haben? Die Hoffnung, mit ihrem Vorschlag kein spöttisches Lachen zu provozieren?

 Es war wohl mehr ein Reflex, der alle anderen auf sie blicken ließ.

»Miss Florence?« Morris klang neugierig.

»Ich könnte den Kollegen King doch begleiten.« Ihre Worte lösten ein auf­ge­regtes Stimmengewirr aus, und sie fügte schnell hinzu: »Warten Sie doch erst mal ab, was ich zu sagen habe. Natürlich bin auch ich dafür, Mister King die Berichterstattung zu überlassen, aber wäre es nicht interessant, auch eine weibliche Stimme zu hören? Ich könnte über die persönlichen Schicksale interessanter Goldsucher und anderer Menschen am Yukon berichten, das Menschliche und Gefühlvolle in den Mittelpunkt stellen. Soviel ich weiß, haben wir sehr viele weibliche Leser, die sicher an solchen Berichten interessiert wären.«

Das aufgeregte Gemurmel verstummte nicht, im Gegenteil, es wurde lauter, und einige Kollegen sprangen sogar auf und protestierten. »Eine Frau am Klondike? Wo kämen wir denn da hin! Sie wollen eine Anfängerin losschicken?«

Morris hob beide Arme und gebot Ruhe. »Beruhigen Sie sich, meine Herren! Wir sind hier nicht beim Football oder beim Rodeo.« Er wartete, bis sich die Aufregung etwas gelegt hatte, und fuhr fort: »So dumm finde ich den Vorschlag gar nicht. Eine weibliche Stimme könnte uns tatsächlich entscheidende Vorteile gegenüber der Konkurrenz bringen. Was sagen Sie dazu, King?«

»Was soll ich sagen, Chef?«

»Sie sind doch sonst nicht auf den Mund gefallen«, machte Morris sich über ihn lustig. Er schien seine Verlegenheit zu genießen. »Egal.« Er wandte sich an Flo. »Abgemacht, Miss Florence. Sie werden King begleiten und sich unterwegs an seine Anweisungen halten. Ich nehme an, Sie wissen, was Sie erwartet. Sie werden ein knappes Jahr am Klondike verbringen müssen, und nach dem, was ich gehört habe, gibt es dort keine Luxushotels, und im Winter soll es so kalt werden, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Sie werden während dieser Zeit weder Ihre Verwandten noch Ihre Freunde sehen. So weit klar?«

»Sicher, Sir.«

»Was ist mit Ihnen, King?«

»Ich bin geschieden, und Freunde hab ich keine.«

Morris war wenig überrascht. »Sie werden übermorgen aufbrechen. Mit dem Zug nach Seattle, von dort mit dem Schiff nach Skagway und noch vor dem Winter über die Pässe nach Dawson City, dem Zentrum des Goldrauschs. Ich gebe Ihnen eine Broschüre mit, die mir ein Freund aus San Francisco geschickt hat, da steht alles drin, was Sie wissen müssen. Solange noch Schiffe nach Seattle und San Francisco verkehren, schicken Sie so viele Artikel, dass wir genug Vorrat für den Winter haben, wenn Sie in Dawson festsitzen und keine Möglichkeit haben, uns zu erreichen. Einen Telegrafen gibt es dort nicht. Sobald der Postweg wieder offen ist, schicken Sie uns alles, was Sie geschrieben haben. Wann Sie zurückkehren, entscheiden wir später. Über die Einzelheiten sprechen wir jeweils unter vier Augen. Ist das in Ihrem Sinne?«

»Natürlich, Sir«, antworteten Flo und King im Chor.

Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz wähnte sich Flo in einem Traum. Für einen Augenblick bekam sie Angst vor ihrer eigenen Courage, wenn sie daran dachte, wie viele Strapazen mit dem Auftrag und der beschwerlichen Reise verbunden waren, doch als ihr klar wurde, welche Chance sie sich mit ihrem mutigen Vorgehen erarbeitet hatte, hellte sich ihre Miene auf. Sie würde einem Ereignis beiwohnen, das in die Geschichte eingehen würde, und bekam die einmalige Chance, sich einen Namen als erfolgreiche Journalistin zu machen. Wenn alles nach Plan verlief, würde ihr Name sogar auf Seite eins erscheinen.

Daran änderte auch die grimmige Miene des Mannes nichts, den sie begleiten würde. Die Entscheidung des Chefredakteurs hatte ihn genauso überrascht wie die anderen Reporter. »Keine Angst, Kollege«, sagte sie mit einem leich­ten Grin­sen, »ich werde Ihnen nicht zur Last fallen. Ich kann einiges aushalten.«

»Wollen wir’s hoffen, Kiddo«, erwiderte King.

Unter vier Augen mit dem Chefredakteur erfuhr Flo von ihrer Gehaltserhöhung, die aber nur zaghafte Freude auslöste, als sie die Broschüre überflog und von den horrenden Preisen erfuhr, die in Dawson City allein für Dinge des täglichen Bedarfs verlangt wurden. Ihre Spesen waren großzügig bemessen, dennoch würde sie wenig Gelegenheit haben, Geld auf ihr Sparkonto zu legen.

»Ich denke mal, Sie wissen, welchen Vertrauensvorschuss ich Ihnen mit dem Auftrag gebe, Miss Florence«, sagte Morris. »King und Sie werden sehr lange unterwegs sein und es mit erfolgreichen Konkurrenten aus San Francisco, Chicago, New York, vielleicht sogar der ganzen Welt zu tun bekommen. Ich habe erfahren, dass sogar ein Reporter aus Australien zum Klondike unterwegs sein soll, obwohl ich bezweifle, dass er rechtzeitig dort sein wird.« Er zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Er schwitzte bei jeder Temperatur. »Ihre Unterlagen bekommen Sie morgen. Telegrafische Reservierungen für Ihre Tickets, das Hotel in Seattle und die Schiffspassage.«

»Und in Dawson City kümmern wir uns selbst um eine Unterkunft?«

»Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben«, erwiderte er. »Könnte sogar sein, dass Sie in einem Zelt übernachten müssen. Steht jedenfalls in der Broschüre.«

»Wir werden es überleben.« Sie lächelte mutig.

»Heute und morgen sind King und Sie vom Dienst befreit. Reden Sie mit Ihren Eltern, Ihren Freunden und packen Sie Ihre Sachen. Wie gesagt, Sie werden sehr lange weg sein. Alles, was in der Broschüre steht, kaufen Sie am besten bei einem Outfitter in Seattle.« Er stand auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich wünsche Ihnen und King viel Glück und Erfolg.«

»Aye, Sir. Vielen Dank, Sir.«

 

William und sein aufdringliches Verhalten waren längst vergessen, und als er ihr auf dem Heimweg doch in den Sinn kam, musste sie so laut lachen, dass sich die anderen Fahrgäste in der Straßenbahn erstaunt nach ihr umdrehten. Sollte er noch mal auf die Idee kommen, sie zu belästigen, war sie wahrscheinlich längst zum Klondike unterwegs, in einem Zug nach Westen, an Bord eines Dampfers, der an der kanadischen Westküste entlangfuhr, auf einem der Trails.

 

Ganz so einfach verlief ihr Abschied jedoch nicht. Als sie nach Hause kam, empfingen ihre Eltern sie mit strenger Miene und baten sie in den Salon. Beim Anblick der roten Rosen auf dem Esstisch blieb sie abrupt stehen und war viel zu überrascht, um ihr Entsetzen in Worte zu fassen. »O nein!«, rief sie nur.

Ihr Vater griff nach der Karte, die neben der Vase lag, und sagte: »Ich nehme an, du weißt, von wem die Blumen sind?« Es klang mehr wie eine Feststellung.

»Ich kann’s mir denken. William Sanders?«

»William Sanders vom Bankhaus Sanders & Co, dem Bankhaus, das die Konten unserer wichtigsten Konkurrenten betreut. Darf ich fragen, was dich dazu bewogen hat, ihm Hoffnungen zu machen? Und warum wir nichts davon wissen? Ich nehme an, du hast dich heimlich mit dem jungen Mann getroffen.«

Sie erholte sich nur langsam von dem Schrecken. »Es ist nicht so, wie ihr denkt. Ich war ein paarmal mit ihm spazieren, habe aber schnell gemerkt, dass es ein Fehler war.« Sie berichtete ihnen vom vergangenen Abend. »Ich will nichts von ihm wissen und habe ihm das auch deutlich gesagt. Warum er mir dennoch nachstellt und mir sogar Blumen schickt, weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht dazu ermutigt. Aber das spielt jetzt alles sowieso keine Rolle mehr.«

»Wie soll ich denn das verstehen?«, fragte ihr Vater.

Ihr war klar, was sie ihren Eltern zumutete. »Ihr habt von dem großen Goldrausch in Alaska und am Klondike gehört? Mit einer Tonne Gold sind die ersten Goldsucher aus dem Norden zurückgekehrt. Ein Jahrhundertereignis!«

»Und was hast du damit zu tun?«

Sie räusperte sich verlegen. »Ich werde zusammen mit unserem Starreporter zum Klondike reisen und darüber berichten. Unser Chefredakteur hat mir heute den Auftrag gegeben. Das ist eine große Ehre. Wenn meine Berichte bei unserer Leserschaft ankommen, schaffe ich es vielleicht auf Seite eins und werde einmal so bekannt und erfolgreich wie Charly King, unser Starreporter.« Sie strahlte schon wieder. »Ist das nicht herrlich? Wir werden ein Dreivierteljahr am Klondike bleiben. Übermorgen geht es schon los, mit dem Zug nach Seattle und dann mit dem Dampfer weiter nach Skagway. Ist das nicht aufregend?«

Ihre Eltern schwiegen betreten, blickten sie verwirrt an, als hätten sie nicht verstanden, was sie ihnen gerade mitgeteilt hatte. Für ein paar Sekunden war es so still, dass man das Ticken der Wanduhr hören konnte, dann begann ihre Mutter zu weinen, und ihr Vater sagte: »Das willst du uns wirklich antun?«

»Ich liebe euch sehr«, erwiderte sie, »und ich weiß, dass die Nachricht sehr überraschend kommt. Auch für mich und für uns alle in der Redaktion. Ich habe erst heute Morgen in der Konferenz erfahren, dass ich zum Klondike fahren darf. Von so einem Auftrag träumen selbst erfahrene Reporter, das ist etwas ganz Besonderes.« Sie sah, dass sich beide etwas beruhigten. »Ich gehe vielleicht einen anderen Weg, als ihr gedacht habt, aber die Zeiten haben sich geändert, und ich kann zum Vorbild für viele Frauen werden. Habt Vertrauen! Ich werde dem Namen unserer Familie alle Ehre machen, das verspreche ich.«

»Wir werden sehen«, sagte ihr Vater immer noch verstört.

Kapitel 3

 

Erst am nächsten Morgen wurde Flo bewusst, auf was sie sich eingelassen hatte. Die Goldfelder lagen über zweitausend Meilen von Milwaukee entfernt, eine fremde Welt mit ungeahnten Herausforderungen, die ihrem Leben eine völlig neue Richtung geben würden. Ungefähr neun Monate würde sie von zu Hause wegbleiben, eine lange Zeit, in der unendlich viel passieren konnte. Für die Milwaukee News war sie bisher nur in der Umgebung unterwegs gewesen.

Sie hatte einen Koffer und einen Rucksack gepackt, die notwendigste Kleidung, drei Bücher für die langen Winterabende, einen Erste-Hilfe-Kasten, Nähzeug, genügend Schreibpapier, einen Notizblock und mehrere Bleistifte. Alles, was in der Broschüre stand, würde sie in Seattle kaufen. Am liebsten hätte sie auch eine Schreibmaschine mitgenommen, aber die Underwood war viel zu schwer. Ob es in Dawson City eine Schreibmaschine gab, bezweifelte sie.

Vor dem Haus wartete ein Angestellter ihres Vaters mit einem Zweispänner auf sie. Ihr Vater hatte sich mit einer geschäftlichen Verabredung entschuldigt, und ihre Mutter hatte sich bereits von ihr verabschiedet, weil eine Verabschiedung am Bahnhof ihr zu stark zugesetzt hätte. Beide hatten sich mit ihrer Reise nach Alaska und Kanada arrangiert und ihr sogar Glück gewünscht, waren aber zu sehr in ihren Traditionen verwurzelt, um eine Frau in einem Männerberuf, wie sie sich ausdrückten, zu akzeptieren und sich hinter sie zu stellen. Auch die Verwandten, vor allem ihr Onkel in Duluth, fanden ihr Benehmen skandalös.

Nicht nur der Kutscher ihres Vaters wartete vor dem Haus, auch William hatte dort wieder Posten bezogen, diesmal ohne Pferdewagen, und empfing sie mit einer roten Rose. »Flo, ich möchte mich entschuldigen. Ich habe mich gehen lassen und nicht wie ein Gentleman benommen. Verzeihst du mir?«

»Meinetwegen«, antwortete sie wenig charmant, während der Kutscher ihr Gepäck auf den Wagen hievte, »aber das ändert nichts daran, dass ich ab sofort eigene Wege gehen werde. Wenn du ehrlich bist, ist es für uns beide das Beste.«

Sie ignorierte die Rose und ließ sich von dem Angestellten auf den Kutschbock helfen. William erkannte jetzt erst, dass sie verreisen würde, und trat dicht an den Wagen heran. In seiner Miene mischten sich Entsetzen, Angst und Wut.

»Wo willst du hin?«, fragte er. Er klang beinahe panisch.

»Ich arbeite für eine Zeitung«, antwortete sie einigermaßen gefasst, »und habe einen wichtigen Auftrag übernommen. Ich werde wohl erst im nächsten Sommer zurückkommen, du hältst dich also besser von unserem Haus fern.«

»Nächstes Jahr?« Seine Stimme überschlug sich fast.

»Tut mir leid. Fahren Sie bitte, Kutscher!«

Noch bevor William etwas erwidern konnte, trieb der Angestellte die Pferde an. »Das kannst du mir nicht antun! Ich liebe dich, Flo!«, rief er, aber sie drehte sich nicht einmal nach ihm um und bedeutete dem Kutscher, um Gottes willen nicht anzuhalten. Obwohl sie ihm keine Erklärung schuldig war, sagte sie: »Er kann einfach nicht akzeptieren, dass ich nichts von ihm wissen will. Verstehen Sie das?«

Der Kutscher hütete sich, ihr zu antworten, und war sichtlich erleichtert, als sie das Lake Front Depot an der East Wisconsin Street erreicht hatten und King ihr vom Wagen half. »Guten Morgen, Kiddo. Sie können das Mister weglassen, schließlich werden wir monatelang zusammen sein. Alles okay mit Ihnen?«

»Meine Eltern wollten mich nicht gehen lassen.«

Er nahm ihr Gepäck vom Wagen und stellte es neben seine beiden Koffer. »Hab ich mir schon gedacht. Sie machen sich Sorgen um ihre Tochter, das müssen Sie ihnen nachsehen. Ist nicht gerade alltäglich, dass sich eine Frau aus wohlhabendem Haus eine Arbeit als Reporterin sucht und um die halbe Welt reist, anstatt sich um das Wohlergehen von Mann und Kindern zu kümmern.«

»Ich hab keinen Mann und keine Kinder. Geben Sie’s zu, es gefällt Ihnen gar nicht, dass ich Sie zum Klondike begleiten darf. Sie sind der gleichen Meinung wie mein Vater, dass eine Frau zu Hause bleiben sollte und, wenn es unbedingt sein muss, als Lehrerin oder Krankenschwester arbeitet. Ist doch so, oder?«

King grinste etwas süffisant. »Die Aufteilung hat sich doch bewährt.«

»Bisher vielleicht«, sagte sie. »Weil sich die Frauen nicht gewehrt haben. Ich bin, weiß Gott, keine Frauenrechtlerin und laufe auch nicht mit einem Protestschild über die Wisconsin Street, aber ich bin sehr wohl der Meinung, dass man das tun sollte, wozu einem der liebe Gott das Talent geschenkt hat. Ich bin eine gute Reporterin, davon bin ich überzeugt, und es wird vielleicht etwas dauern, aber irgendwann wird man meinen Namen genauso gut kennen wie Ihren.«

»Ich werde immer die Nummer eins bei den News sein, Kiddo!«

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und hielt unter dem Giebeldach, das die Gleise entlang das eindrucksvolle Gebäude mit dem schlanken Uhrturm schützte. Die Lok schnaufte nervös, als wäre sie auf der Fahrt von Chicago nach Milwaukee außer Puste geraten, und stieß dichte Dampfwolken aus. Ein Dienstmann half ihnen, ihr Gepäck zu verstauen, und unterstützte sie beim Einsteigen.

Der Augenblick, in dem der Zug aus dem Bahnhof fuhr, war ein bewegender Moment für Flo. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging sie auf große Fahrt. Ihr Mut, während der Redaktionskonferenz die Hand zu heben, und ihr gesteigertes Selbstbewusstsein hatten ihr einen Auftrag verschafft, den sie vor wenigen Tagen noch als unerreichbaren Traum angesehen hätte. Sie wusste, wo Alaska und der Yukon lagen, aber sie hatte nur eine vage Ahnung von dem, was sie dort erwarten würde. Dennoch konnte sie kaum abwarten, mit der Arbeit zu beginnen.

Als sie aus dem Fenster blickte, glaubte sie für einen Sekundenbruchteil, William am Ufer des Lake Michigan stehen zu sehen, doch als sie genauer hinblickte, bemerkte sie, wie ein kleiner Junge auf den Mann zurannte und ihn umarmte, ein Vater mit seinem Sohn. Die Sonne stand weit über dem östlichen Horizont und beleuchtete einen der zahlreichen Frachter, die von den Eisenerzminen am Lake Superior kamen. Sein Tuten klang unheimlich über den See.

Flo mochte den Lake Michigan. Im Sommer verbrachte sie so manchen freien Tag am Strand oder fuhr mit ihrem Segelboot am Ufer entlang. Sie war eine exzellente Seglerin. Der See war riesig und friedlich, wenn das Wetter mitspielte, und ein Ungeheuer, wenn sich dunkle Wolken am Himmel ballten und Blitze ins Wasser zuckten. Erst vor einem knappen Jahr war ein Frachter in Seenot geraten und vor der Küste von Wisconsin gesunken. King hatte damals für die Milwaukee News berichtet, eine seiner bekanntesten Artikelserien.

»Und Sie?«, fragte sie ihn. »Haben Sie auch jemanden zurückgelassen?«

»Ich lebe allein«, antwortete King. »Ich brauche keine Frau, und Kinder schon gar nicht. Mit einer Familie im Nacken wäre ich nie ein erfolgreicher Reporter geworden. Die meisten Starreporter, die ich kenne, sind entweder ledig oder geschieden. Und die paar, die verheiratet sind, haben nur Ärger. Unser Beruf taugt nichts für Familienmenschen. Werden Sie auch noch merken.«

»Vielleicht beweise ich mal das Gegenteil.«

»Haben Sie einen Verlobten oder einen Freund?«

Sie musste an William denken. »Nein.«

»Na, sehen Sie?«

Flo hatte keine Lust auf eine längere Diskussion und blickte wieder aus dem Fenster. Sie hatten Milwaukee und den Lake Michigan hinter sich gelassen und fuhren durch dünn besiedeltes Farmland. Wenn nicht gerade die dunklen Rußwolken der Dampflok am Fenster vorbeizogen und ihr die Sicht versperrten, sah sie verstreute Farmen mit Maisfeldern und Kartoffeläckern. Auf den Weiden grasten Kühe. Vor allem deutsche Einwanderer hatten dafür gesorgt, dass Wisconsin für erstklassige Milchprodukte und besonders Käse bekannt wurde. Und Bier, wie sie in Gedanken lächelnd anmerkte. Schlitz, Pabst und Schmitt, die Brauerei ihres Vaters, waren alle Unternehmen deutscher Einwanderer.

Sie war froh, King nichts über William erzählt zu haben. Nicht auszudenken, wie King reagiert hätte, wenn der aufdringliche Bankierssohn am Bahnhof erschienen wäre. Obwohl sie weder einen Verlobten noch einen Freund hatte und ihr Vater vor lauter Arbeit selten mit ihrer Mutter zusammen war, wollte sie nicht glauben, was King behauptete. Auch in einer verantwortungsvollen Stellung, die einen wie jetzt in ein Land fern der Heimat führte, sollte es möglich sein, eine gute Beziehung zu führen. Alles, was man brauchte, war das Glück, den richtigen Partner zu finden. Einen Mann, den man über alles liebte und mit dem man alles teilen konnte, die guten und die weniger guten Zeiten. Sie glaubte fest daran, hoffte sogar, dieses Glück einmal zu erleben.

 

Sie erreichten St. Paul am späten Nachmittag und fuhren über die eindrucksvolle Stone Arch Bridge zum Union Depot in Minneapolis, ihrer einzigen Umsteigestation. Der Express stand schon bereit. Sie besaßen Tickets für den Schlafwagen und meldeten sich beim Schaffner, einem dunkelhäutigen Mann, der konstant guter Laune zu sein schien. Er verstaute ihr Gepäck und führte sie zu ihrem Abteil. Tagsüber würden Flo und King im selben Abteil sitzen, nachts war eine ausziehbare Liege in einem Nachbarabteil für sie reserviert. An beiden Enden des Wagens gab es winzige Badezimmer, ein ungeahnter Luxus.

King mochte ein guter Reporter sein, als Mann und vor allem als Reisebegleiter war er eher langweilig. Er sagte wenig, als hätte er Angst, zu viel über sich preiszugeben, und hantierte stundenlang mit seinen Spielkarten herum. Dass er gern spielte, war ihr schon früher aufgefallen, die wöchentlichen Pokerabende mit einigen Kollegen waren ein Highlight für ihn. Er mischte die Karten, legte Patience und fluchte leise, wenn er eine falsche Karte zog.

»Spielen Sie Poker, Kiddo?«, fragte er.

»Ich heiße Florence oder Flo.« Sein »Kiddo« nervte langsam.

»Und? Spielen Sie Poker?«

»Ich kann nur Old Maid.«

»Ich dachte, das spielen nur Kinder.«

Flo las lieber in einem ihrer Bücher oder blickte aus dem Fenster, obwohl es während der ersten Stunden ihrer Fahrt wenig zu sehen gab. Im Red River Country gab es weniger Farmen als in Wisconsin, aber größere Felder mit Weizen, Zuckerrüben und Kartoffeln. Fargo war eine typische Präriestadt mit einer Main Street, die sie an Bilder aus der Pionierzeit erinnerte und eher langweilig auf sie wirkte. Bismarck, nach einem deutschen Politiker benannt, den ihr Vater oft erwähnte, beeindruckte durch ein mächtiges Kapitol, das sie bereits sah, bevor der Zug in den Bahnhof fuhr. Außerhalb der Städte breitete sich die Prärie wie eine endlose Ebene aus, die sagenhaften Great Plains, über die sie so oft gelesen hatte, die ehemalige Heimat bekannter Indianerstämme wie die Sioux und Cheyenne. Inzwischen lebten sie alle in Reservaten der Regierung.

Die erste Nacht in ihrem Schlafabteil verlief angenehmer, als sie befürchtet hatte. Nachdem sie in dem winzigen Badezimmer gewesen war, kehrte sie in ihrem Morgenrock zu ihrem Abteil zurück, zog den Vorhang vor und legte sich auf die herausgezogene Sitzbank. Sie las noch eine Weile im Licht der trüben Nachtlampe, lauschte dem rhythmischen Rattern der Räder und schlief ein.

Jedes Mal, wenn der Zug in einen Bahnhof fuhr und die Bremsen quietschten, schreckte sie aus dem Schlaf. Sie blickte neugierig durch einen Spalt im Vorhang, sah einige Farmer einsteigen, die vielleicht ihre Ersparnisse für ein Ticket geopfert hatten und ebenfalls zu den Goldfeldern unterwegs waren, hörte die Dampflok, die bei einem Halt immer besonders laut zu schnaufen schien, und sank zurück, wenn sie den Schaffner auf einen der Wagen steigen sah. Sobald sie das vertraute Rattern der Räder hörte, schloss sie die Augen.

 

Das Frühstück brachte ihr der Schaffner ans Bett, ein Service, für den sie sehr dankbar war, denn erst nach einem Kaffee fühlte sie sich für den Tag gerüstet. Der Kaffee der Great Northern war nicht so stark, wie ihn ihre ebenfalls deutschstämmige Haushälterin zubereitete, war aber wesentlich besser als die braune Brühe, die in der Redaktion auf dem Herd stand. Dazu gab es Rührei, ein bisschen trocken, aber immerhin, frischen Toast und Marmelade und sogar etwas Obst. »Ich hab schon schlechter gefrühstückt«, meinte King trocken. Er verfeinerte jeden Kaffee mit einem Schuss Whiskey aus seinem Flachmann.

Während draußen die Prärie vorbeizog, blieb Flo nicht untätig. Sie wollte nicht die ganze Fahrt ihrem Kollegen gegenübersitzen und ihm beim Patiencelegen zusehen und hatte beschlossen, ihren ersten Artikel über die Zugfahrt zu schreiben. Der Zug war voll besetzt, und es waren sicher etliche Glücksritter an Bord, die ebenfalls in Seattle auf ein Schiff umsteigen und am Klondike reich werden wollten. »Voller Hoffnung nach Nordwesten« würde sie den Bericht überschreiben. Der zweite Artikel würde die Schiffsreise beschreiben.

King schüttelte den Kopf, als sie ihn über ihre Pläne informierte. »Eigentlich überflüssig, aber wenn Sie meinen, Kiddo. Die Frauen sollen auch was zu lesen bekommen, hat Morris gesagt, also drücken Sie ruhig auf die Tränendrüse.«

Mit Notizbuch und Bleistift machte sie sich auf den Weg. Sie ging von einem Wagen zum nächsten, musterte die Passagiere und wurde sich bewusst, dass fast ausschließlich Männer an Bord waren. Sie saßen auf Holzbänken oder auf dem Boden, wirkten weniger enthusiastisch als zu Beginn ihrer Reise, wie sie annahm und von ihren Gesichtern ablas. Lediglich bei ihrem Anblick hellten sich einige Mienen auf. Einige Männer pfiffen anerkennend oder riefen Komplimente, andere nahmen respektvoll ihre Hüte, Kappen und Mützen ab.

Einer der Männer fiel ihr besonders auf, schon wegen seines Mantels, der aus lauter verschieden bunten Stoffflecken zusammengesetzt war. Er saß gegen die Wand gelehnt auf dem Boden und musste um die sechzig sein. Ein weißer Vollbart bedeckte sein Kinn, und in seinen Augen brannte noch genug Feuer, um sich auf ein großes Abenteuer wie die Fahrt zum Klondike einzulassen.

»Darf ich?«, fragte sie und setzte sich neben ihn, ohne seine Antwort abzuwarten. »Ich bin Flo von den Milwaukee News und möchte Ihnen gern einige Fragen stellen.« Sie lächelte. »Keine Angst, dauert nur ein paar Minuten.«

Ein Raunen ging durch den Wagen. Wann setzte sich eine hübsche junge Frau schon mal zu einem Oldtimer wie diesem Mann in seinem bunten Mantel? Der Alte war selbst so erstaunt, dass er es nicht wagte, ihr zu widersprechen.

»Hey, Patch! Womit hast du das verdient?«, rief einer.

»Was ist mit mir, Lady?«, fragte ein anderer.

»Patch?«, hakte sie nach.

»Patch wie Patchwork Eddy.« Er berührte seinen Mantel fast liebevoll. »So nennen mich die meisten wegen meines Patchworkmantels. Woher sollen sie wissen, dass meine Frau die Stoffreste wegen der Kosten genommen hat?«

»Sie wollen zum Klondike?«

»Worauf Sie sich verlassen können.«

»Und woher haben Sie das Geld für die Fahrkarte?«

»Haben Sie ’ne Zigarre?«, fragte er.

»Leider nein.« Sie zog einen Quarter aus ihrer Rocktasche und gab ihm die Münze. »Kaufen Sie sich im nächsten Bahnhof eine. Woher kommen Sie?«