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Diplomarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,5, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Sonderpädagogik), Sprache: Deutsch, Abstract: Eine grundlegende Frage in der Erziehungswissenschaft – und somit auch in der Sonderpädagogik – ist, was Inhalt und Aufgabe von Erziehung ist, an welchen gesellschaftlichen Leitbildern sie sich orientiert und aus welchen Gründen sich für die Vermittlung bestimmter Werte entschieden wird. Die Antwort lautet meist, dass man für das Leben erziehe, die Kinder auf die Gesellschaft vorbereiten wolle bzw. müsse, so dass sie zu einem verantwortungsbewussten und nützlichem Mitglied selbiger würden und am gesellschaftlichen Leben mit so wenig Einschränkungen wie möglich teilnehmen könnten. Lebenswelten zeichnen sich dadurch aus, dass sie spezifische Umgangs- und Gesprächsformen beinhalten, sind gekennzeichnet durch spezifische Wege der Lebensgeschichte und Drehbücher – schließlich resultieren aus ihnen signifikante Begründungs- bzw. Rechtfertigungsmuster und Handlungsannahmen. Wie sehen aber PädagogInnen selber die (ihnen meist fremden) Lebenswelten ihrer Klientel welche Stellung nehmen sie in ihrer Arbeit ein, woher nehmen sie ihre Informationen und inwiefern ist dieseSichtweise von Bedeutung für ihre pädagogische Arbeit? Anliegen dieser Arbeit ist es, diese Fragen, unter Zuhilfenahme der Beschreibung persönlicher Erfahrungen von PädagogInnen, in Form von leitfadengestützten Interviews, zu klären. Grundlegend ist diesbezüglich, ob überhaupt oder wenn ja, welche Unterschiede von PädagogInnen und Schülern wahrgenommen werden und welche Probleme oder welche Möglichkeiten die eigene Sichtweise auf divergente Lebenswelten bietet. Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn gesellschaftliche Werte und Normen, Erwartungen und Ziele nicht mehr eindeutig sind und Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Übertragung der Vorstellungen von PädagogInnen diesbezüglich auf alle Individuen bestehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2007
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1.1 Theorien zur Lebenswelt 6
1.2 Lebenswelten marginalisierter Jugendlicher 28
1.3 Die Negierung der Lebenswelt durch
2.1 Erkenntnisinteresse 47
2.2 Konzeption der Studie 49
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2.4 Datenauswertung I 56
2.5 Datenauswertung II 69
3.1 Die Bedeutung der Sicht von PädagogInnen auf die 84
Lebenswelten der Klientel für pädagogische Arbeit
3.2 Grenzen und Möglichkeiten pädagogischer Einflussnahme 85
im Hinblick auf divergente Lebenswelten
4. Pädagogisch- professionelles Handeln
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Einleitung
Eine grundlegende Frage in der Erziehungswissenschaft - und somit auch in der Sonderpädagogik - ist, was Inhalt und Aufgabe von Erziehung ist, an welchen gesellschaftlichen Leitbildern sie sich orientiert undaus welchen Gründensich für die Vermittlung bestimmter Werte entschieden wird.
Die Antwort lautet meist, dass man für das Leben erziehe, die Kinder auf die Gesellschaft vorbereiten wolle bzw. müsse, so dass sie zu einem verantwortungsbewussten und nützlichem Mitglied selbiger würden und am gesellschaftlichen Leben mit so wenig
Einschränkungen wie möglich teilnehmen könnten. BREZINKA versteht unter Erziehung den Versuch des Erziehers, das Gefüge der psychischen Dispositionen zu beeinflussen. (vgl. 1981, 149) UnterErziehungszielkann ihm nach eine Norm verstanden werden, die für den Educanden eine bestimmte psychische Disposition beschreibt. (vgl. ebd., 86f./151) „Eine vernünftige Auswahl der zweckmäßigen Mittel und eine Kontrolle des Erfolgs der Erziehung sind nur möglich, wenn vorher eindeutig beschrieben worden ist, welches als Ideal gesetzten seelischen Endzustand die Educanden erreichen sollen.“(ebd., 87) Diese Ideale variieren jedoch von Zeit zu Zeit, da sie unter Anderem abhängig sind von den Ziel- und Zweckvorgaben der Erziehenden, die wiederum durch gesellschaftlichen Wandel beeinflusst werden. (vgl. ebd., 149)„Alles, was sich Menschen an wertvollen Persönlichkeitseigenschaften ausdenken können und jede beliebige Kombination dieser Eigenschaften kann zum Erziehungsziel gemacht werden.“(ebd., 153)
Aktuell ergibt sich - zum Beispiel hinsichtlich des 1. Artikels des SGB VIII1, der besagt, dass„[j]eder junge Mensch […] ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer
1Abrufbar unter: [http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-Anlagen/sgbvlll,property=pdf,bereich=,rwb=true.pdf,] S.6
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eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit [hat] -dasProblem der Offenheit dieser Zielbestimmung. In der Erziehungswissenschaft wird diese elementare Fragehinsichtlich derProblematik der Zielbestimmung- diskutiert. BRANDT beschreibt dieses unter dem Aspekt einer offenen und pluralistischen Gesellschaft, in der ein festumrissenes Erziehungsbild nicht mehr möglich ist. (1974, 176)„Das Gefühl für die Absolutheit und unbedingte Gültigkeit von Werten und daraus resultierenden Forderungen in bezug auf das Verhalten ist also weitgehend verloren gegangen.“(BRANDT, 1974, 177)
Konkrete Ziele und verallgemeinerbare Inhalte zu benennen, wird demnach in unserer pluralistischen, ausdifferenzierten
Gesellschaft zunehmend schwerer. Individualität ist ein hoher Wert und wird gleichzeitig zum Ziel pädagogischer Arbeit, kann aber auch zum Problem für jeden, und in besonderem Maße zu einer paradoxen Aufgabe für PädagogInnen2, werden.
Die Individualität jedes Kindes zu entdecken und zu fördern ist schon längst selbstverständlicher Anspruch moderner Pädagogik. Diese Prämisse erfordert jedoch ein hohes Maß an Verständnis und Offenheit für die Einzigartigkeit des Kindes und Interesse an den ihr zugrunde liegenden Bedingungen.
Eine wesentliche Bedingung, die zu dieser Einzigartigkeit führt, kann als „Lebenswelt“ bezeichnet werden, die in vielfältiger Weise Einfluss auf die Sozialisation, Entwicklung und das Wesen jedes Menschen ausübt.
Alfred SCHÜTZ setzt sich erstmals in soziologischer Hinsicht mit Lebenswelten auseinander und definiert mit dem Lebensweltbegriff den Gegenstand der Soziologie im Allgemeinen und begründet die
Im Folgenden werden Pädagogen und Pädagoginnen als „PädagogInnen“ beschrieben, da2
dieser Begriff das relativ ausgewogene Geschlechterverhältnis dieser Profession beschreibt. Bezüglich der Klientel der befragten PädagogInnen - die zu einem überwiegenden Teil aus männlichen Schülern besteht - wird jedoch lediglich die männliche Form „Schüler“ genutzt.
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Soziologie des Alltags. Jürgen HABERMAS greift auf die Grundlagen von SCHÜTZ zurück und analysiert die Strukturen der Lebenswelt im Hinblick auf Handlung und Sprache als Ausdruck von Lebenswelten (Punkt 1.1.1)
Was prägt den Menschen ganz konkret innerhalb seiner Lebenswelt? Welche Einflussgrößen sind hier zu finden und zu analysieren und wie wirken sich diese letztlich auf verschiedene Individuen in ihren Milieus und somit auch auf die pädagogische Arbeit aus? Dies ist insofern relevant, als dass Individualität in modernen Gesellschaften zwar einen hohen Wert darstellt, Ungleichheitenhinsichtlich unterschiedlicher Werte, Lebensbedingungen etc. - die als störend für das Funktionieren einer Gesellschaft wahrgenommen werden, jedoch durch Erziehung ausgeglichen bzw. vermieden werden sollen.
BOURDIEU und HRADIL beschreiben eben diese Unterschiede und deren zugrunde liegenden Bedingungen aus soziologischer Sicht. (Punkt 1.1.2 und 1.1.3) Inwiefern sich solche Unterschiede auf Individuen auswirken und worin sie begründet bzw. warum sie sozialstrukturell wichtig sind, wird in den Ausführungen zu Deutungsmustern und deren Analyse (1.1.1.1/1.1.1.2) und unter Zuhilfenahme des Etikettierungsansatzes (1.1.4) erläutert. Ob und inwiefern diese Unterschiede in Deutschland, insbesondere bei Jugendlichen, bestehen und welche Faktoren deren Lebenswelt hinsichtlich von Marginalität - welche den Schwerpunkt der dieser Arbeit, hinsichtlich der Besonderheiten dieser pädagogischen Klientel darstellt - bestimmen, ist Inhalt des Punktes 1.2. Vielfältige Studien, die die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen untersuchen, geben Einblicke dahingehend, in welcher Lebenswelt, mit welchen Werten und Sichtweisen, diese leben und zeigen ihre individuellen Lebensbedingungen auf. Diese Untersuchungen werden insofern relevant, als dass Kindheit und Jugend Veränderungen unterliegt und diese Veränderung neue Herausforderungen an Kinder, Jugendliche, Eltern und PädagogInnen stellt. (Punkt 1.2.2.1)
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Unzweifelhaft zeigen diese Studien die Divergenz der Lebensbedingungen und Lebenswegen von marginalisierten
Jugendlichen und der Lebenswelt von PädagogInnen. Wie sich diese Unterschiede auf pädagogische Arbeit in (Bildungs-) Institutionen auswirken und worin sie begründet sind, zeigen die Ausführungen unter Punkt 1.3.
Lebenswelten zeichnen sich dadurch aus, dass sie spezifische Umgangs- und Gesprächsformen beinhalten, sind gekennzeichnet durch spezifische Wege der Lebensgeschichte und Drehbücherschließlich resultieren aus ihnen signifikante Begründungs- bzw. Rechtfertigungsmuster und Handlungsannahmen. Wie sehen aber PädagogInnen selber die (ihnen meist fremden) Lebenswelten ihrer Klientel3welche Stellung nehmen sie in ihrer Arbeit ein, woher nehmen sie ihre Informationen und inwiefern ist diese Sichtweise von Bedeutung für ihre pädagogische Arbeit? Anliegen dieser Arbeit ist es, diese Fragen, unter Zuhilfenahme der Beschreibung persönlicher Erfahrungen von PädagogInnen, in Form von leitfadengestützten Interviews, zu klären (Punkt 2.4 und 2.5). Grundlegend ist diesbezüglich, ob überhaupt oder wenn ja, welche Unterschiede von PädagogInnen und Schülern wahrgenommen werden und welche Probleme oder welche Möglichkeiten die eigene Sichtweise auf divergente Lebenswelten bietet. Schwierigkeiten ergeben sich dann, wenn gesellschaftliche Werte und Normen, Erwartungen und Ziele nicht mehr eindeutig sind und Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Übertragung der Vorstellungen von PädagogInnen diesbezüglich auf alle Individuen bestehen. Ausgehend davon, dass PädagogInnen -vor allem
AkademikerInnen - vorwiegend der Mittelschicht angehören, ergeben sich - hinsichtlich einer Klientel, der Marginalität zugeordnet werden
3Der Begriff Klientel/ Klienten soll darauf hindeuten, dass diese Arbeit nicht bloß Schüler und Schülerinnen als Zielgruppe (institutionalisierter) pädagogischer Arbeit in Augenschein nimmt, sondern, dass alle Ausführungen diesbezüglich die gesamte Klientel pädagogischer Arbeit mit einbeziehen.
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kann - folgende Probleme: Wenn eigene Werte und Ziele pädagogischer Arbeit an eine Klientel weitergegeben werden, deren Lebenswelt sich stark von der der PädagogInnen unterscheidet, ist eine Reflexion dieser Werte, hinsichtlich der Sinnhaftigkeit der Übertragbarkeit in andere Lebenswelten, grundlegend. Die Relevanz der Sichtweise auf die heterogenen Lebenswelten ist in zweierlei Hinsicht zu untersuchen. Zum Einen gilt es aufzeigen, welche möglichen Schwierigkeiten, wie z.B. stratifikatorisches4Denken, daraus resultieren - zum Anderen ob es ein der Verschiedenartigkeit innewohnendes Potenzial zu erkennen und zu nutzen gilt (Punkt 3). Auch das Aufzeigen und der Umgang mit Widersprüchen, Schwierigkeiten und Paradoxien im pädagogischen Handeln werden unter dem Aspekt des Verstehens - als Grundlage pädagogischer Arbeit - beleuchtet. Eine Einordnung dieses Ansatzes sonderpädagogischer Arbeit mit marginalisierten Jugendlichen, in die professionelles5Diskussion um pädagogisch-Handeln, ist
schließendlich Ziel dieser Arbeit (Punkt 4). Die nun folgenden Darstellungen der Theorien zur Lebenswelt sind dafür grundlegend. Es wird zu zeigen sein, dass die Kenntnis von Theorien bedeutend ist für ein besseres Verständnis der Klientel und für Probleme, die sich in pädagogischer Arbeit - maßgeblich durch die den gesellschaftlichen, institutionellen und persönlichen Anspruch anpädagogische Arbeit - ergeben.
Stratifikatorischmeint hier eine normative Hierarchisierung unterschiedlicher4
Lebenswelten, in der deren zugrunde liegende Werte, Haltungen, Rituale, Sprachcodes etc. miteinander verglichen werden. Aufgrund eines fehlenden bzw. fehlinterpretierten Verständnisses für andere Lebenswelten und ihre je eigenen Sinnstrukturen, übertragen PädagogInnen - als Vertreter der symbolischen Macht - ihre Werte etc. in die Lebenswelt ihrer Klientel. Diesem Denken kann die grundlegende Annahme einer Beurteilung von z.B. Handlungsorientierungen in besser/ schlechter - nicht aber in sinnvoll/ nicht sinnvollzugeschrieben werden.
Pädagogische Professionalitätsoll in dieser Arbeit als der Einbezug von5
wissenschaftlichen Theorien - und die Anwendung der daraus resultierenden Begrifflichkeiten und Deutungsmöglichkeiten - in pädagogischer Arbeit verstanden werden. Das daraus resultierende, reflektierte Wissen stellt demzufolge die Grundlage eines gelungenen Theorie-Praxis-Verhältnis dar.
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1. Lebenswelten
1.1 Theorien zur Lebenswelt
Im Hinblick darauf, dass es in dieser Arbeit um die Beschreibung und Auseinandersetzung von bzw. mit den Lebenswelten
marginalisierter6Jugendlicher gehen soll, ist eine präzise Betrachtung das Phänomens `Marginalität´ hinsichtlich von Ursachen und Auswirkungen auf die betreffenden Individuen und die Gesellschaft erforderlich. Unterschiedliche Perspektiven auf dieses Phänomen, ermöglichen die folgenden Modelle und Theorien. Zusätzlich zu grundlegenden Alltags- und Lebenswelttheorien - wie sie bei SCHÜTZ oder HABERMAS zu finden sind - ist hier eine Erläuterung des Habitusbegriffs von BOURDIEU, der Theorie sozialer Ungleichheit nach HRADIL und des Etikettierungsansatzes nützlich.
1.1.1 Der Lebensweltbegriff in der Soziologie von
SCHÜTZ und HABERMAS
Als Vertreter der klassischen phänomenologisch orientierten Lebenswelttheorie ist ALFRED SCHÜTZ zu nennen, der das Konzept für die soziologische Analyse einführt. Er wählt den Begriff der Lebenswelt, um den Gegenstand der Sozialwissenschaften im