Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung - Ludwig Roman Fleischer - E-Book

Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung E-Book

Ludwig Roman Fleischer

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Beschreibung

Gabriel Ender - ehemaliger Rundfunksprecher - nimmt an einem Therapieseminar für Eltern mit behinderten Kindern teil. Die Veranstaltung findet auf einem süditalienischen Campingplatz statt, dessen Padrone Felice Belli einen Dachboden-Radiosender betreibt. Ender - bei den Selbsterfahrungssitzungen bloß autistischer Außenseiter - lässt die "Geschichte der letzten Zeit" Revue passieren: Seine Frau hat nach mehreren Fehlgeburten von einem prominenten Spezialisten eine „Zellimplantation“ vornehmen lassen und ist von Enders Klon entbunden worden. Bald nach der Geburt des behinderten Kindes ist sie durch einen Autounfall ums Leben gekommen, wobei der Verdacht auf Selbstmord besteht. Felice Belli - als Neapolitaner in dieser lucanischen Provinz ein ungeliebter Eindringling - hat einst "den Dschungel von Briezza" zu einem "Europacamp" gemacht, um Kultur, Zivilisation und Wohlstand hierher zu bringen. Selbst Vater eines behinderten Sohnes, hat er nicht nur die deutsche Selbsterfahrungsgruppe eingeladen, sondern beherbergt auch Flüchtlinge. Es kommt zu Anfeindungen und Drohungen seitens der Dorfjugend, die Autos der Deutschen werden beschädigt, ein krankes Flüchtlingskind stirbt, nachdem die ärztliche Hilfe hintertrieben worden ist. Felice lädt Ender ein, mit ihm im Dachbodensender "den Tag zuende zu senden", was der betrunkene Ender nur allzu wörtlich nimmt. Während der Sendung, die parallel mit einem Marienfeuerwerk abläuft, werfen die Dorfjugendlichen Molotow-Cocktails. Die Flüchtlingszelte bleiben unbeschädigt, Enders Zelt - in dem er ursprünglich sein Kind zurücklassen wollte - geht hingegen in Flammen auf. Der Text variiert den Mythos vom Erzengel Gabriel, der am Jüngsten Tag durch einen Trompetenstoß den Weltuntergang verkünden soll. Das Camp ist eine Miniaturwelt, eine "zweite Schöpfung" im Sinne Thomas von Aquins. Der Campingsender steht für Humanität, der "Dschungel, der das Camp umgreift", für Barbarei. Die beiden Welten - jene "drinnen" und jene "draußen" - verbinden sich letztlich in Enders Bewusstsein (dem eigentlichen "Sender"). Die vorgebliche "Rettung" des Kindes - das der betrunkene Ender während des Feuers im Zelt geglaubt hat - bewegt ihn, die Rolle als Vater seines „Ebenbildes“ endlich zu akzeptieren.

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Ludwig Roman Fleischer, Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung

ROMAN

© Ludwig Roman Fleischer und Sisyphus 2008 und 2012 www.sisyphus.at

Der Autor

Ludwig Roman Fleischer

wurde 1952 in Wien geboren und lebt da als Lehrer und Schriftsteller. 1990 gewann er beim Bachmann-Wettbewerb den Ernst Willner-Preis. Seither sind von ihm ein knappes Dutzend Bücher erschienen; zuletzt »Edam und Ava« (Ein Schüttelreimepos nach John Milton, Sisyphus 2004) und »Weihnachten im Entzug« (Roman, Sisyphus 2004).

Das Buch

Die Behinderung oder Gabriels letzte Sendung

Gabriel Ender - ehemaliger Rundfunksprecher - nimmt an einem Therapieseminar für Eltern mit behinderten Kindern teil. Die Veranstaltung findet auf einem süditalienischen Campingplatz statt, dessen Padrone Felice Belli einen Dachboden-Radiosender betreibt. Ender - bei den Selbsterfahrungssitzungen bloß autistischer Außenseiter - lässt die "Geschichte der letzten Zeit" Revue passieren: Seine Frau hat nach mehreren Fehlgeburten von einem prominenten Spezialisten eine „Zellimplantation“ vornehmen lassen und ist von Enders Klon entbunden worden. Bald nach der Geburt des behinderten Kindes ist sie durch einen Autounfall ums Leben gekommen, wobei der Verdacht auf Selbstmord besteht.

Felice Belli - als Neapolitaner in dieser lucanischen Provinz ein ungeliebter Eindringling - hat einst "den Dschungel von Briezza" zu einem "Europacamp" gemacht, um Kultur, Zivilisation und Wohlstand hierher zu bringen. Selbst Vater eines behinderten Sohnes, hat er nicht nur die deutsche Selbsterfahrungsgruppe eingeladen, sondern beherbergt auch Flüchtlinge. Es kommt zu Anfeindungen und Drohungen seitens der Dorfjugend, die Autos der Deutschen werden beschädigt, ein krankes Flüchtlingskind stirbt, nachdem die ärztliche Hilfe hintertrieben worden ist.

Felice lädt Ender ein, mit ihm im Dachbodensender "den Tag zuende zu senden", was der betrunkene Ender nur allzu wörtlich nimmt. Während der Sendung, die parallel mit einem Marienfeuerwerk abläuft, werfen die Dorfjugendlichen Molotow-Cocktails. Die Flüchtlingszelte bleiben unbeschädigt, Enders Zelt - in dem er ursprünglich sein Kind zurücklassen wollte - geht hingegen in Flammen auf.

Der Text variiert den Mythos vom Erzengel Gabriel, der am Jüngsten Tag durch einen Trompetenstoß den Weltuntergang verkünden soll. Das Camp ist eine Miniaturwelt, eine "zweite Schöpfung" im Sinne Thomas von Aquins. Der Campingsender steht für Humanität, der "Dschungel, der das Camp umgreift", für Barbarei. Die beiden Welten - jene "drinnen" und jene "draußen" - verbinden sich letztlich in Enders Bewusstsein (dem eigentlichen "Sender"). Die vorgebliche "Rettung" des Kindes - das der betrunkene Ender während des Feuers im Zelt geglaubt hat - bewegt ihn, die Rolle als Vater seines „Ebenbildes“ endlich zu akzeptieren.

1. KAPITEL

Ich habe mein Leben im Sender beendet! Gabriel Enders Mikrophon wird zur beschworenen Schlange. Er weiß sich als bloß ehemaliger Rundfunksprecher und ahnt sich als bloßer Träumer, der den Auftrag des Intendanten – weiterzusenden – nicht befolgt.

Das Fenster der Erinnerung ist mit Traumtau beschlagen. Ender hofft noch, anderswo und anderswann, anderswie und anderswarum kein anderer zu sein als er. Vogelzwitschern, Grasgeraschel, Knacken im Geäst. Ein leichter Wind wischt über das Zelt, und Ender vernimmt Atemzüge, die nicht die seinen sind. Er streckt den Arm aus, seine Hand fühlt kühle Haut, der Schock stößt ihn ins Übliche: in die Geschichte der letzten Zeit. Das Leben im Sender beendet. Auf Reisen gegangen. Gestern hier angekommen:Europacamp Briezza, Region Basilicata, mit eigenem Radiosender. Gestern: das war, als ein gewisser Karlheinz aus Köln vor dem Büro an einem Klapptisch saß, an seinem Laptop herumklapperte, Dateifragmente kontrollierte und wissen wollte, ob man man war.

„Du bist Ender Gabriel, Gabriel Ender?“

„Ich sei Ender,“ variierte Ender bei sich, nickte aber bloß. Karlheinz fuchtelte sich Fliegen von der schweißbenetzten Glatze, beorgelte seinen Computer und sagte schließlich, ohne Ender angesehen zu haben:

„Ender, ja, da hab ich ihn.“

Auf dem Klapptisch lag ein Stapel jener Werbebroschüren, von denen man ihm, Ender, seinerzeit im Jugendamt ein Exemplar gegeben hatte. Hochglanzsee in Grün, geblähte Segel, Wasserlilien, von Balkenlettern überwachsen: SELBSTERFAHRUNG IM EUROPACAMP BRIEZZA, daneben das Selbsterfahrer–Logo: über einem stilisierten Rollstuhl zwei einander gereichte Hände, (die eine behindert, die andere unbehindert, wie Ender dachte), Untertitel: WIR SUCHEN EINEN NEUEN ANFANG.

Ender öffnet den Zippverschluss und reißt damit ein Loch in die Düsterkeit des Zeltes. Das Zelt stammt aus der Zeit vor der letzten Zeit, wie Ender sich erinnert: ein silberner Tunnel mit blauem Saum, wie immer in der Kühle der Nacht ein wenig geschrumpft und runzelig geworden. Im Schlafsack neben jenem Enders wird noch geschlafen, Ender wirft sich im Knien eine Trainingsjacke um die nackten Schultern, greift nach Waschzeug, Handtuch, Thermosflasche, kommt auf die Beine und macht sich auf in einen neuen Tag, der von der letzten Zeit regiert wird. Die letzte Zeit begann, als EndersFamilienstandsich änderte und er diese Veränderung besiegelte, indem er zwei Kreuze auf ein Formular strichelte, weil ihn die Sekretärin nach einem verkrampften Mitgefühlsausdruck sachlich auf dieneue Steuersituationaufmerksam gemacht hatte.

Dem Endertunnel gegenüber eine sorgsam angeordnete Gasse aus Zelten, davor Autos, Kinderbuggies, Traggestelle, neben einem Wohnmobil ein leerer Rollstuhl. Die Zelte scheinen sich im Atemrhythmus ihrer Bewohner zu heben und zu senken, Ender geht auf Zehenspitzen. Vor einem trockenen Brunnenbecken, in dessen Mitte eine steinerne Muttergottes steht, ihren schielenden Erlösersäugling im Arm, hält Ender an: zu seiner Linken das geweißelte Blockhaus, ebenerdig Bar, Büro und Laden, im ersten Stock die Wohnung desPadrone, im Dachgeschoss mit den zwei Fensterschlitzen ein Tagesrest aus Enders Traum: der Sender, wie eine in der Morgensonne silbrig glänzende Antennenapplikation vermuten lässt. Wir bieten zwei Varianten: Seminar eins auf Schloss Castiglione, Toscana, Seminar zwei auf dem Campeggio Europa in Briezza, Basilicata, beste Ausstattung, warme und kalte Duschen, Koch– und Grillgelegenheit, Sportplatz, beste medizinische Versorgung und als besondere Attraktion die privateRadiostazione Briezza, die von der Direktion betrieben wird und von den Seminarteilnehmern bei Bedarf benutzt werden kann.

Es war wohl der Sender, der den Ausschlag für Briezza gab, eine kleine Sentimentalität: benutzen dürfen statt müssen.

„Du bist Rundfunksprecher? Na, das is ja `n Ding. Da ham wir ja nen Vollprofi unter uns.“

„Ich war,“ wollte Ender sagen, doch schwieg er, weil man niemals etwas anderes ist als was man war.

„Da werden wir zusammen mal auf Sendung gehen, so richtig unter kundiger Führung, was? Is gar nich so übel, der Kasten, wirst sehen.“

Ender wurde durch lautes Gemecker und Geblöke abgelenkt: An dasBlockhaus grenzte eine Weide, man sah einige Schafe grasen, und einen angepflockten Ziegenbock, den es zu ihnen hinzog – der Strick war zum Zerreißen gespannt, das Pflöckchen bog sich. Ein trotz der Hitze ungeschoren gebliebener Widder stand vor dem Ziegenbock aufgepflanzt, die Hörner gesenkt, bereit, seine Herde zu verteidigen. Drei Kinder am Holzzaun begannen, das Gemecker und Geblöke nachzuahmen, ein Knabe presste seine Fäuste an die Schläfen, mit vorgestreckten Zeigefingern, die Hörner darstellen sollten, und stürzte sich auf seine beiden Spielgefährten. Sie ergriffen kreischend die Flucht.

„Also, das is ja jäck, nich?“ freute sich Karlheinz in kehligem Kölsch, „`n richtiger Profi.“

Ender war aufgestanden, hatte sich routinemäßig an den Rücken gegriffen: die Schnalle desSnuglywar verschlossen gewesen. Es konnte nichts passieren: kein Sturz, keine Verletzung drohte, kein Schädeltrauma, keine bleibende Behinderung, sein Fleisch und Blut, das Ebenbild, hing sicher wie in Abrahams Schoß an seiner Brust.

„Herzlich willkommen,“ rief Karlheinz ihm nach, als Ender – Snugly an der Brust – auf die steinerne Maria zuging, die er jetzt – auf die Waschbaracke zuhaltend – hinter sich lässt.

Ender in einem säuberlich schwarz–weiß gekachelten Raum. Es riecht andeutungsweise nach Urin und eindeutig nach Desinfektionsmittel. Ender hält seinem Spiegelblick nicht stand, greift in die Tasche seiner Trainingsjacke und erfühlt das Fläschchen, das er in der letzten Zeit immer bei sich trägt wie einen Talisman: Symbol der steten Möglichkeit, die Wirklichkeit zu schwänzen. Er schaufelt sich kaltes Wasser ins Gesicht und schüttelt heftig den Kopf.

2. KAPITEL

Ender rasiert und erinnert, erinnert und rasiert Ender. Auch damals einen neuen Anfang suchend, nahm Ender die Rasierschaumdose zur Hand, wie Ender jetzt. Limonenfrische, elektronisch getestet, biologisch abbaufähig, gibt babyweiche Haut. Es floss Blut, wie immer, wenn die Klinge neu ist. Schaum aufgetragen, sich Rasiergrimassen und Blutmuster geschnitten. Den bevorstehenden Morgen memoriert: Die Zeit – in fünf Minuten ist es. Sie hören die Weltnachrichten, dachte es in Ender, denkt Ender. Morgendliche Üblichkeit. Worte wie Weltnachrichten. Gegen einander austauschbar, ohne Sinnverlust oder Sinngewinn. So oft verwendet, dass sie sich auf nichts Bestimmtes mehr beziehen.

Ender ertastete den Knopf des Badezimmerradios und suchte nach dem Popsender. „Ich kenn den Kerl im Spiegel zwar nicht, putz ihm aber trotzdem die Zähne.“ Enders Radio klang anders: der seriöse Sender, der Kulturkanal, Weltgeschehen zwischen Inventionen von Bach, und wenn schon Humoristisches, dann von Byron, Lichtenberg oder wenigstens Karl Farkàs.

Das Eichhörnchen im Badezimmerfenster saß vor seinem Kobel und putzte sich. Birgitt wartete im Spital, gefügiggespritzt für denharmlosen Eingriff. „Eine reine Routineangelegenheit“, hatte Professor Demeter gesagt, „seien Sie völlig unbesorgt. Ihre Frau wird wieder hundertprozentig fruchtbar sein und dann sind Sie an der Reihe.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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