Die bekanntesten Werke von Tschechow - Anton Pawlowitsch Tschechow - E-Book

Die bekanntesten Werke von Tschechow E-Book

Anton Pawlowitsch Tschechow

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Beschreibung

Die bekanntesten Werke von Anton Pawlowitsch Tschechow versammeln eine Vielzahl an Erzählungen und Dramen, in denen der Autor das Alltagsleben und die psychologischen Nuancen seiner Figuren meisterhaft einfängt. Tschechows literarischer Stil zeichnet sich durch subtile Ironie, prägnante Dialoge und eine tiefe Menschenkenntnis aus, die geprägt ist von seiner Beobachtungsgabe. In einer Zeit, die von gesellschaftlichen Umwälzungen und inneren Konflikten geprägt war, gelingt es Tschechow, universelle Themen wie das Streben nach Sinn, die Zerbrechlichkeit der Beziehungen und die Komplexität des menschlichen Daseins eindringlich darzustellen. Tschechow, geboren 1860 in Taganrog, war nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, sondern auch Arzt und passionierter Beobachter des menschlichen Verhaltens. Diese duale Perspektive spiegelt sich in seinen Werken wider, die sowohl von persönlicher Erfahrung als auch von einem tiefen Verständnis für die menschliche Psychologie geprägt sind. Seine Werke können als sowohl gesellschaftskritisch als auch psychologisch durchdrungen betrachtet werden, was Tschechow zu einer Schlüsselfigur der russischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts macht. Leser, die sich für die menschliche Natur und die Komplexität der Beziehungen interessieren, werden von Tschechows einfühlsamen, jedoch auch kritischen Erzählungen und Charakterstudien gefesselt sein. Die bekanntesten Werke bieten nicht nur einen Einblick in die russische Seele, sondern auch in zeitlose Themen, die nach wie vor relevant sind. Dieses Buch ist eine unbedingt zu empfehlende Lektüre für alle, die die Schönheit der Nuancen in der Literatur schätzen. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Anton Pawlowitsch Tschechow

Die bekanntesten Werke von Tschechow

Bereicherte Ausgabe. Die Dame mit dem Hündchen + Drei Schwestern + Die Möwe + Der Kirschgarten + Onkel Wanja
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547675136

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Autorenbiografie
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Die bekanntesten Werke von Tschechow
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Werksammlung vereint unter dem Titel „Die bekanntesten Werke von Tschechow“ zwei zentrale Bereiche seines Schaffens: Novellen und Kurzgeschichten sowie Dramen. Sie richtet sich an Leserinnen und Leser, die Tschechows Stimme in ihrer charakteristischen Spannweite erleben möchten: die knappe, leise dringliche Prosa und das Theater, in dem das Unausgesprochene die Bühne beherrscht. Der Band versteht sich als verlässliche Einführung und zugleich als konzentrierter Überblick über das, was Tschechow zum unverzichtbaren Klassiker gemacht hat. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, präsentiert er die Stücke und Erzählungen, die seine ästhetische Signatur und anhaltende Wirkung beispielhaft sichtbar machen.

Die Zusammenstellung folgt einem klaren Zweck: Sie möchte die prägendsten Textsorten Tschechows in einer zugänglichen Form bündeln und so die innere Verwandtschaft zwischen kurzer Prosa und Drama sichtbar machen. Enthalten sind Erzählungen und Novellen, in denen sich Tschechows Stillage im Kleinen verdichtet, sowie Dramen, die seine szenische Kunst und die Kunst des Subtexts entfalten. Nicht enthalten sind seine umfangreiche Korrespondenz und andere dokumentarische Texte, die Tschechows Werkgeschichte flankieren. Die vorliegende Auswahl konzentriert sich auf die literarischen Hauptgattungen, in denen Tschechows Einfluss bis heute ungebrochen fortwirkt.

Anton Pawlowitsch Tschechow gilt als einer der bedeutendsten Erzähler und Dramatiker der modernen Literatur. Seine Doppelrolle als Arzt und Schriftsteller prägt die Genauigkeit seiner Beobachtung, die spröde Zärtlichkeit seiner Figurenzeichnung und die nüchterne Aufmerksamkeit für körperliche wie seelische Zustände. Er schreibt über Alltägliches und lässt dabei das Wesentliche hervortreten. Mit sparsamen Mitteln erzeugt er eine Atmosphäre, in der das Banale und das Existentielle ineinandergreifen. Die hier versammelten Texte zeigen, wie Tschechow die literarischen Konventionen seiner Zeit leise verschob und eine Form des Realismus entwickelte, die diskret, hintersinnig und nachhaltig ist.

Die Novellen und Kurzgeschichten dieser Sammlung demonstrieren Tschechows Meisterschaft in der Ökonomie des Erzählens. Er verzichtet auf spektakuläre Wendungen und vertraut auf die Kraft der Beobachtung. Charaktere werden in wenigen Strichen erfasst, Situationen präzise angedeutet, Zeiträume in knappen Szenen geöffnet. Offene Enden und bewusst zurückhaltende Wertungen laden zur aktiven Lektüre ein. Der Blick bleibt gelassen und zugleich aufmerksam für Nuancen: eine Geste, ein Blick, ein ungesagtes Wort. So entstehen Erzählräume, in denen das Nichtgesagte Gewicht erhält und die Lesenden die Deutung gemeinsam mit dem Text formen.

Thematisch kreisen die Prosastücke um das Aufeinanderstoßen von Wunsch und Wirklichkeit, um Arbeit und Müßiggang, Krankheit und Genesung, Nähe und Entfremdung. Die sozialen Konstellationen wirken vertraut und doch unabschließbar: Provinz und Großstadt, Tradition und Umbruch, privates Glück und öffentliche Rollen. Tschechow vermeidet eindeutige Lehren; er zeigt Menschen, die tastend handeln, scheitern, hoffen. Humor blitzt auf, oft leise und beiläufig, und unterläuft Pathos, wo es droht, sich festzusetzen. Diese Balance verleiht den Erzählungen ihre besondere Tonlage: ein Mitgefühl ohne Sentimentalität, eine Genauigkeit ohne Härte.

Stilistisch kennzeichnen Tschechows Prosa Zurückhaltung, dichte Metaphorik in kleinen Dosen und eine Perspektivführung, die Nähe herstellt, ohne sich aufzudrängen. Er bevorzugt die Andeutung gegenüber der Ausführung und die Konstellation gegenüber der Demonstration. Geräusche, Wetter, Gegenstände – scheinbar nebensächliche Details – tragen Bedeutung, ohne symbolisch überladen zu sein. Der Rhythmus seiner Sätze ist unaufgeregt, sein Witz trocken. Diese Form der Unterstatement-Ästhetik ermöglicht eine Komplexität, die nicht durch Argumente, sondern durch Wahrnehmung entsteht. Das Ergebnis ist eine Prosa, die Langzeitwirkung entfaltet und die Lesenden immer wieder neu bindet.

Die Dramen in diesem Band zeigen Tschechows Theater als Kunst der verlangsamten Spannung. Handlung verlagert sich nach innen; äußere Ereignisse treten zurück zugunsten eines Geflechts aus Beziehungen, Stimmungen und stillen Verschiebungen. Was zählt, sind Pausen, Untertöne, Blicke, das Nebeneinander von Gesprächsfäden. Figuren sprechen oft aneinander vorbei und offenbaren gerade dadurch, was sie bewegt. Die Bühne wird zum Resonanzraum des Alltäglichen. Komik und Melancholie sind untrennbar verwoben; die leise Komik entlastet, ohne zu verharmlosen, und die Traurigkeit schärft den Blick, ohne ihn zu verdunkeln.

Inhaltlich thematisieren die Stücke Übergänge: zwischen Generationen, Ordnungen, Lebensentwürfen. Zeit wird erfahrbar als Gegenwart, die verrinnt, während Zukunft und Vergangenheit miteinander ringen. Arbeit, Kunst, Besitz, Bildung, Liebe – all dies erscheint als Frage der Haltung, nicht als Frage der Thesen. Figuren ringen um Deutungshoheit über ihr Leben; sie suchen Gründe, rechtfertigen Entscheidungen, vertagen Aufbrüche. Das Dramatische entsteht aus der Reibung zwischen Sehnsucht und Gewohnheit. Tschechow zeigt keine Heldenreise, sondern schichtweise freigelegte Situationen, in denen Entscheidungen möglich wären, aber nicht erzwungen werden.

Formell setzt Tschechow im Drama auf Ensemble und Gleichgewicht. Es gibt keine erdrückende Zentralfigur; Bedeutung verteilt sich auf viele Stimmen. Szenen sind so gebaut, dass Nebensächlichkeiten zu Trägern von Sinn werden: ein Lied, ein Geräusch, ein Blick aus dem Fenster. Die Sprache bleibt einfach, doch sie führt in Tiefenräume des Unausgesprochenen. Gerade die Mischung aus komischen und ernsten Registern stiftet eine Wahrhaftigkeit, der Theater bis heute verpflichtet ist. Die Welt auf der Bühne wirkt nicht exemplarisch, sondern konkret und widersprüchlich – und gewinnt daraus ihre allgemeine Gültigkeit.

Die Verbindung der beiden Bücher – Prosa und Drama – lässt Tschechows Werk als zusammenhängende Poetik der Aufmerksamkeit erscheinen. Die Erzählungen schulen den Blick für Zeichen am Rand; die Stücke machen hörbar, was zwischen den Sätzen liegt. Beides zusammen zeigt eine Ethik des Hinschauens: Urteilen wird aufgeschoben, Wahrnehmung vorangestellt. Figuren erhalten Würde, indem sie ernst genommen werden, auch wenn sie scheitern oder irren. Diese Haltung erklärt, warum Tschechows Texte Generationen überdauern: Sie laden nicht zu schneller Identifikation ein, sondern zu geduldiger Nähe.

Die anhaltende Bedeutung dieses Werks liegt in seiner Modernität ohne Parolen. Tschechow hat Möglichkeiten des Erzählens und Spielens eröffnet, die heute selbstverständlich scheinen: psychologische Feinzeichnung ohne Erklärungspathos, Dramaturgie des Subtexts, komische Ernsthaftigkeit. Seine Texte inspirieren Interpretationen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, weil sie nicht auf Botschaften reduziert werden können. Sie halten Ambivalenzen aus und geben den Lesenden wie Zuschauenden eine aktive Rolle. In Zeiten überdeutlicher Meinungen sind sie Schule der Nuance und der Empathie – ein Grund, warum sie weiter gelesen und gespielt werden.

Diese Ausgabe ist als Einladung gedacht, Tschechow in zwei komplementären Formen kennenzulernen und wiederzuentdecken. Wer die Erzählungen liest, hört bereits das leise Rauschen seines Theaters; wer die Dramen erlebt, erkennt in ihnen die Ökonomie der Prosa. Zusammen bieten sie ein Panorama der Möglichkeiten, das im Kleinen groß und im Alltäglichen bedeutsam wird. Möge die Lektüre die Lust wecken, in Tschechows Welt länger zu verweilen, die Pausen auszuhalten, die Untertöne zu hören und das Offene nicht als Mangel, sondern als Reichtum zu begreifen.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904) gilt als einer der prägendsten Schriftsteller der späten Zarenzeit und als maßgeblicher Erneuerer sowohl der Kurzprosa als auch des modernen Theaters. In einer Epoche beschleunigter gesellschaftlicher Umbrüche verschob er die Literatur vom großen Pathos zur leisen, präzisen Beobachtung des Alltäglichen. Seine Kunst setzte auf Subtext, Andeutung und moralische Zurückhaltung statt auf didaktisches Urteil. Dadurch eröffnete er neue Möglichkeiten für psychologische Tiefe und Ambivalenz. Heute wirkt sein Werk als Referenzpunkt für Autorinnen und Autoren, die innere Handlungen, offene Enden und unspektakuläre Konflikte produktiv machen. Sein Einfluss reicht weit über Sprache und Nation hinaus.

Ausgebildet wurde Tschechow an der Moskauer Universität in der Medizin; der ärztliche Blick auf Symptome, Milieus und Leid prägte dauerhaft seine Erzählhaltung. Früh veröffentlichte er kurze Skizzen und Feuilletons, deren humorvolle Pointen allmählich einem nüchternen, beobachtenden Ton wichen. Stilistisch stand er in der russischen realistischen Tradition und nahm zugleich Impulse eines gemäßigten Naturalismus auf, ohne sich programmatisch zu binden. Präzision, Ökonomie und eine Ethik des Nicht-Verurteilens wurden zu Leitlinien. Die Diagnosefähigkeit des Arztes übersetzte er in literarische Verfahren: genaue Details, zurückhaltende Erzählerstimmen und eine dramaturgische Aufmerksamkeit für scheinbar nebensächliche Zeichen, die den Kern eines Schicksals erhellen.

Mit zunehmender Reife verlegte Tschechow den Schwerpunkt auf Novellen und Kurzgeschichten, die durch knappe Komposition, suggestive Bilder und offene Schlüsse wirken. Er bevorzugte Episoden aus Provinz und Stadt, in denen kleine Gesten und verfehlte Gelegenheiten das Entscheidende markieren. Konflikte erscheinen selten als spektakuläre Ereignisse, sondern als stille Verschiebungen in Beziehungen und Selbstbildern. Die Erzählperspektiven bleiben oft nahe an der Figur und verzichten auf allwissende Belehrung. Dadurch entsteht eine besondere Spannung zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit. Die Sammlung Novellen und Kurzgeschichten zeigt diese Methode in ihrer Vielfalt: humoristische Töne, stiller Schmerz, moralische Ambiguität und eine präzise, unpathetische Sprache.

Parallel dazu entwickelte Tschechow seine Dramen, die den Begriff der Bühnenhandlung neu fassten. Statt spektakulärer Wendungen setzen sie auf Ensembleführung, Pausen, beiläufige Gespräche und untergründige Sehnsüchte. Figuren sprechen oft über Nebensächliches, während existenzielle Entscheidungen im Subtext gären. Diese Poetik der Verzögerung fordert vom Publikum erhöhte Aufmerksamkeit und eröffnet Raum für Mehrdeutigkeit. Zeitgenössische Reaktionen schwankten, doch bald wurde die Modernität dieser Form erkannt. Seine Dramen beeinflussten Spielweisen, Regiekonzepte und das Verständnis von Tragikomik im 20. Jahrhundert. Die Sammlung Dramen dokumentiert die Spannweite: vom leichten Ton der Komödie bis zu stiller Melancholie, stets ohne eindeutige moralische Urteile.

Sein ärztlicher Beruf blieb mehr als Erwerb: Er behandelte über Jahre auch Bedürftige und verband Empirie mit Mitgefühl. Eine lange, beschwerliche Reise in eine abgelegene Strafkolonie im Fernen Osten nutzte er für umfassende Erhebungen zu Lebensverhältnissen; die Beobachtungen stärkten sein Interesse an Verantwortung und Reformen. Er engagierte sich zeitweise für Bildungs- und Gesundheitsprojekte, ließ in ländlichen Regionen Infrastruktur mitaufbauen und arbeitete unermüdlich, trotz zunehmender gesundheitlicher Belastungen. In den Novellen und Kurzgeschichten spiegelt sich diese Haltung in der genauen, urteilsfreien Darstellung sozialer Realitäten. Auch die Dramen verweigern Pathos und lassen menschliche Würde in unscheinbaren Situationen aufscheinen.

In den späteren Jahren verschlechterte sich seine Gesundheit durch eine Lungenerkrankung, weshalb er längere Zeiträume in milderen Klimazonen verbrachte und seine Kräfte sorgfältig einteilte. Dennoch entstanden weitere Novellen und Kurzgeschichten sowie späte Dramen, die seine Poetik der Andeutung nochmals verdichteten. Leserschaft und Theater kreisten zunehmend um sein Werk; Inszenierungen zeigten, wie reich die scheinbar einfachen Situationen an Konflikt und Gefühl sind. 1904 starb Tschechow während eines Aufenthalts im badischen Badenweiler. Sein literarischer Rang stand da bereits fest: als Autor, der ohne Programmschrift die Formen erneuerte und das moderne Sprechen über Sehnsucht, Vergeblichkeit und Hoffnung entscheidend mitprägte.

Das Vermächtnis Tschechows liegt in der nachhaltigen Veränderung literarischer Erwartungen: Die Novelle als präzises, offenes Erkenntnisinstrument; das Drama als Raum für Zwischentöne, Schweigen und unaufgelöste Spannungen. Über Generationen prägte er Schreibweisen und Schauspielkunst, von realistischen Formen bis zu minimalistisch-modernen Experimenten. Übersetzungen erschließen sein Werk weltweit; Neuinszenierungen zeigen die Aktualität seiner Fragen nach Sinn, Verantwortung und Nähe. Die vorliegende Sammlung Novellen und Kurzgeschichten und Dramen macht seine Doppelbegabung sichtbar und bietet einen konzentrierten Zugang ohne Vorkenntnisse. Sie zeigt, wie ein leiser, urteilsferner Blick auf Menschenbilder wirken kann – fern von Sensation, nah an der Erfahrung.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Anton Pawlowitsch Tschechow (1860–1904) schrieb seine Novellen, Kurzgeschichten und Dramen im Russland der späten Zarenzeit, zwischen den Reformen nach 1861 und den Krisen um 1904. Die in der Sammlung vertretenen Texte entstanden überwiegend in den 1880er- und 1890er-Jahren sowie in Tschechows letzten Lebensjahren. Sie reagieren auf eine Übergangsperiode: auf beschleunigte Modernisierung, anhaltende ländliche Armut, die Erosion des Landadels und die Herausbildung neuer städtischer Milieus. In diesem Rahmen entwickelte Tschechow eine nüchterne, genaue Beobachtung sozialer Verhältnisse und eine dramatische Form, die Alltagsrede, Pausen und Subtext nutzte, um Spannungen einer Gesellschaft im Wandel sichtbar zu machen.

Die Befreiung der Leibeigenen 1861 veränderte Eigentums- und Arbeitsverhältnisse tiefgreifend, ohne die sozialen Konflikte zu lösen. Viele Gutsbesitzer gerieten in Schulden, Landgemeinden kämpften mit Steuern und knappen Ressourcen, und die staatlichen Reformen schufen neue Behördenwege. Nach dem Attentat auf Alexander II. 1881 folgte unter Alexander III. eine konservative Phase mit verstärkter Zensur. Dieses politische Klima prägt den Hintergrund vieler Prosastücke, in denen Beamte, Lehrkräfte, Landärzte und Kleinbürger auftreten. Es bildet auch die Folie für Dramen, die den schwindenden Handlungsspielraum einer provinziellen Elite und die begrenzte Reichweite persönlicher Pläne ausloten.

Die rasche Urbanisierung der 1890er-Jahre und das Wachstum einer lesenden Öffentlichkeit förderten die Zeitschriftenkultur, in der Tschechow als Autor Fuß fasste. Er publizierte regelmäßig in großen Blättern und „dicken Journalen“, die Fortsetzungsliteratur und Kurzprosa verbreiteten. Die Zeitungspresse verlangte knappe Formen, pointierte Beobachtungen und thematische Aktualität. Dadurch wurden Motive wie Mietskasernen, Wartezimmer, Redaktionsräume oder Gerichtssäle zu typischen Schauplätzen. Tschechows Zusammenarbeit mit dem Verleger Alexei Suvorin und dessen Blatt „Nowoje Wremja“ trug zur Reichweite seiner Prosa bei, zugleich sensibilisierte ihn die Presselandschaft für öffentliche Debatten und die Mechanismen der Zensur.

Tschechows Medizinstudium in Moskau und seine langjährige Tätigkeit als Landarzt prägten Stoffwahl und Verfahren. Die zemstwo-gestützte Provinzmedizin konfrontierte ihn mit Epidemien, Armut und bürokratischen Engpässen. Während der Choleraepidemie von 1892 leistete er praktische Hilfe in Dörfern um sein Gut Melichowo. In den Prosatexten spiegelt sich ein empirischer Blick auf Krankheit, psychische Belastungen und soziale Determinanten von Gesundheit. In den Dramen verschiebt sich das medizinische Wissen in eine subtile Beobachtung alltäglicher Symptome von Erschöpfung, Nervosität und Resignation, die weniger spektakuläre Krankheiten als das Klima einer überforderten Gesellschaft sichtbar machen.

Die Reise nach Sachalin 1890 markiert eine seltene, sorgfältig dokumentierte Feldforschung eines Schriftstellers in der Zarenzeit. Tschechow führte dort eine Volkszählung durch und studierte das Strafkolonialsystem. Das daraus hervorgegangene Sachalin-Buch (1890er-Jahre) verband Statistik mit Ethnografie und Berichten über Verwaltung, Arbeit und Familienleben. Die Erfahrungen schärften in späteren Erzählungen den Blick auf Recht, Strafe und die Ambivalenz von „Besserung“. Sie verstärkten Tschechows Skepsis gegenüber moralischen Vereinfachungen. Für die Dramen blieb Sachalin indirekt bedeutsam, indem es Fragen nach Verantwortung staatlicher Institutionen und persönlichen Gewissensentscheidungen in einen größeren imperialen Horizont stellte.

Das Provinzleben nach der Reformära bildet einen Kern des Tschechow-Kosmos. Der allmähliche Verfall mancher Güter, schleppende Infrastruktur, Wege- und Schulfragen oder der Streit um lokale Budgets sind wiederkehrende Konstellationen. Tschechow lebte von 1892 bis 1899 in Melichowo, wo er unentgeltlich behandelte und den Bau von Schulen unterstützte. Diese praktische Gemeinwohlperspektive verleiht vielen Texten eine genaue Kenntnis dörflicher und kleinstädtischer Entscheidungswege. In den Dramen erscheinen Landhäuser, Amtszimmer und Provinztheater als Bühnen einer Gesellschaft, die zwischen Tradition und Modernisierung laviert und in der materielle Zwänge Handlungsspielräume definieren.

Die russische Theaterlandschaft um 1900 befand sich im Umbruch. Star- und Deklamationsstil verloren an Autorität, während das 1898 gegründete Moskauer Künstlertheater von Konstantin Stanislawski und Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko Ensemblearbeit und psychologisch nuanciertes Spiel entwickelte. Tschechows „Die Möwe“ scheiterte 1896 in St. Petersburg, wurde aber 1898 am neuen Theater zum Paradestück eines anderen Stils: Pausen, beiläufige Gesten und genaue Rhythmen ersetzten pathetische Effekte. „Onkel Wanja“, „Drei Schwestern“ und „Der Kirschgarten“ festigten diesen Wandel. Damit verschränkte Tschechows Dramatik die Bühnenreform mit einer modernisierten Wahrnehmung alltäglicher Konflikte.

Intellektuell war das späte 19. Jahrhundert von Diskussionen um Positivismus, Tolstojanertum, Populismus und aufkommenden Marxismus geprägt. Tschechow hielt politische Distanz, beteiligte sich aber an öffentlichen Fragen, etwa durch sein Eintreten für rechtsstaatliche Prinzipien. 1898 distanzierte er sich vom Verleger Suvorin im Kontext der Dreyfus-Affäre, ein aufsehenerregender europäischer Justizskandal. In Prosa und Dramen erscheint dieses Klima als Feld von Debatten über Verantwortung, Bildung und soziale Nützlichkeit. Figuren sprechen in Tonlagen, die die Spannbreite der Intelligenzija spiegeln: vom reformerischen Pragmatismus bis zur Müdigkeit einer erschöpften, aber noch meinungsstarken Schicht.

Zensur und Aufführungspraxis beeinflussten sowohl die Veröffentlichung der Geschichten als auch die Bühnenkarriere der Dramen. Dramatische Texte mussten Genehmigungsverfahren durchlaufen, und riskante Anspielungen wurden häufig abgemildert. Tschechows Technik der Andeutung und des Unausgesprochenen war ästhetische Entscheidung und pragmatische Antwort zugleich. Die Kürze vieler Erzählungen entsprach dem Format von Zeitschriften, ermöglichte aber auch, soziale Mikrostrukturen innerhalb enger Grenzen sichtbar zu machen. In der Theaterpraxis setzten Regisseure auf realistische Bühnenbilder und genaue Requisiten, die den sozialen Ort der Handlung – Amtsstube, Salon, Garten – historisch glaubhaft verankerten.

Die Rolle der Frau wandelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Mit höheren Kursen wie den Bestuschew-Kursen in St. Petersburg wuchs der Bildungszugang, während gesetzliche Beschränkungen fortbestanden. Tschechows Prosatexte registrieren die Spannungen zwischen neuen Ansprüchen und alten Erwartungen. Auf der Bühne arbeitete er eng mit Schauspielerinnen des Moskauer Künstlertheaters zusammen. Die Ehe mit der Schauspielerin Olga Knipper ab 1901 war auch künstlerische Kooperation; sie prägte Rollen in den späten Dramen. So verbinden sich in der Sammlung Debatten über Bildung, Beruf und Ehe mit einer Theaterpraxis, die differenzierte weibliche Figuren ernst nahm.

Das Russische Reich war ein multiethnischer, vielsprachiger Raum, dessen Peripherien – Schwarzmeerraum, Kaukasus, Steppe, Fernost – Tschechow aus Reisen kannte. Diese Räume liefern nicht bloß exotische Kulissen, sondern verweisen auf Verkehrsnetze, Machtasymmetrien und Grenzerfahrungen innerhalb des Imperiums. Erzählungen nutzen Eisenbahnstationen, Poststraßen, Steppe oder Meeresrouten als soziale Übergangszonen, in denen Regeln und Erwartungen verhandelt werden. Die Dramen verlagern dieses Wissen in Andeutungen von Herkunft, Militärdienst, Verwaltungsposten und Versetzungen – Hinweise auf einen Staat, der durch Mobilität zusammengehalten wird und gleichzeitig den Einzelnen in komplexe Hierarchien einbindet.

Technische Innovationen – Eisenbahn, Telegrafie, neue Drucktechniken – verdichteten Räume und beschleunigten Kommunikation. In der Prosa Tschechows fungieren Fahrpläne, Depeschen und Zeitungen als Indikatoren moderner Zeitregime. Die Bühnentechnik seiner Zeit erlaubte detailreiche Innenräume, Geräuschkulissen und Lichtwechsel, die unaufdringlich den Übergang von Tages- zu Jahreszeiten markieren. Solche technischen Marker ersetzen spektakuläre Ereignisse durch ein präzises Taktmaß des Alltags. Die Modernisierung erscheint damit nicht als Triumph, sondern als Prozess, der Erwartungen hebt, Routinen verändert und die Diskrepanz zwischen technischen Möglichkeiten und sozialen Strukturen offenlegt.

Die intellektuelle Kultur der Zeit bewegte sich zwischen religiöser Tradition und säkularer Wissenschaft. Orthodoxe Feiertage, Pilgerwesen und lokale Frömmigkeit standen neben naturwissenschaftlichen Lektüren, medizinischen Handbüchern und juristischen Diskursen. Tschechows Texte registrieren diese Koexistenz, ohne sie programmatisch aufzulösen. Die Geschichten zeigen situative Ethik, Amts- und Berufsethos sowie private Gewissensentscheidungen; die Dramen verlagern moralische Konflikte in Alltagsgespräche und soziale Rituale. Damit tritt an die Stelle einer dogmatischen Perspektive eine genaue Beobachtung von Sprache, Gewohnheit und Umgebung, die normative Ordnungen als verhandelbar und prekär erscheinen lässt.

Die späten 1890er- und frühen 1900er-Jahre brachten Krisen, die das Zarenreich erschütterten: Arbeitskämpfe, Attentate, politische Vereinsamung der Regierung und 1904 der Beginn des Russisch-Japanischen Krieges. Tschechow, seit 1897 gesundheitlich stark eingeschränkt, schrieb in dieser Atmosphäre seine letzten Dramen. Ihr Resonanzraum ist die Wahrnehmung eines epochalen Übergangs, in dem Besitzverhältnisse, Bildungskarrieren und Beamtenwege unsicher werden. 1904 starb er in Badenweiler. Kurz zuvor war „Der Kirschgarten“ in Moskau uraufgeführt worden, ein Werk, das die Bühne zur Chronik von Veränderungsdruck, Erinnerungskultur und ökonomischen Zwängen einer auslaufenden Epoche macht.

Die russische Rezeption wurde vom Moskauer Künstlertheater geprägt, das Tschechow zum Kanon der neuen Bühne machte. Wiederaufnahmen und Tourneen festigten ein Spiel, das Ensembleharmonie und psychologische Präzision betonte. In der frühen Sowjetzeit diskutierte man Tschechow als „kritischen Realisten“, dessen nüchterne Darstellung gesellschaftlicher Missstände mit neuen politischen Lesarten kompatibel schien. Gleichzeitig gab es kontroverse Inszenierungsansätze, die zwischen psychologischem Realismus und stilisierteren Formen pendelten. Trotz wechselnder ideologischer Vorgaben behauptete sich Tschechow im Repertoire, weil seine Figurenkonstellationen soziale Gegensätze ohne propagandistische Auflösung sichtbar machen.

International verbreiteten sich Tschechows Dramen und Prosa im frühen 20. Jahrhundert durch Übersetzungen ins Deutsche, Englische und andere Sprachen. Tourneen des Moskauer Künstlertheaters in den 1920er-Jahren trugen den Bühnenstil nach Europa und Nordamerika. In der Prosa wirkten seine offenen Enden, Perspektivwechsel und ökonomische Erzählweise auf Autorinnen und Autoren der Moderne. Gerade im angelsächsischen Raum beriefen sich Erzähler des 20. Jahrhunderts auf Tschechows Kunst, Alltägliches ernst zu nehmen. Diese internationale Rezeption schärfte den Blick auf seine Texte als Labor sozialer Erfahrung, das kulturelle Grenzen überschreitet, ohne lokalspezifische Details zu nivellieren.

Die in dieser Sammlung versammelten Novellen, Kurzgeschichten und Dramen kommentieren ihre Zeit, indem sie die Reibungsflächen von Reform, Bürokratie, Bildung, Eigentum und persönlicher Verantwortung präzise benennen. Spätere Deutungen variierten: In der Sowjetunion überwogen sozialhistorische Lesarten; nach 1945 betonten Inszenierungen oft existenzielle Kommunikationsformen; seit dem späten 20. Jahrhundert rücken Globalisierung, Geschlechterrollen und institutionelle Trägheit in den Fokus. Die Texte bleiben anschlussfähig, weil sie nicht Lösungen verkünden, sondern Bedingungen zeigen, unter denen Entscheidungen entstehen oder unterbleiben. Genau darin liegt ihre historische Aussagekraft und ihre dauerhafte interpretative Beweglichkeit.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Novellen und Kurzgeschichten – Frühe satirische Skizzen

Kurze, pointierte Geschichten zeichnen Beamte, Ärzte und kleine Leute in komischen, teils absurden Situationen. Die Handlung bewegt sich rasch auf eine Wendung zu, die Eitelkeit, Bürokratie und Alltagsblindheit entlarvt. Der Ton ist leicht und ironisch, unterlegt von nüchterner Menschenbeobachtung.

Novellen und Kurzgeschichten – Reife Erzählungen über Provinz, Gewissen und Nähe

Erzählungen aus der Provinz folgen Figuren, deren leise Sehnsüchte und moralische Entscheidungen ihr Leben unmerklich verschieben. Konflikte entstehen aus Blicken, Pausen und unausgesprochenen Erwartungen, weniger aus spektakulären Ereignissen. Der Stil ist sparsam und empathisch, mit offenen Enden.

Novellen und Kurzgeschichten – Späte, melancholische Miniaturen über Sehnsucht

Späte Kurzprosa kondensiert Begegnungen, verpasste Chancen und das Verrinnen der Zeit zu zurückhaltenden Momentaufnahmen. Kleine Gesten und Landschaftsbilder tragen die Bewegung, Bedeutungen liegen zwischen den Zeilen. Der Grundklang ist still-melancholisch, durchsetzt von feinem, unsentimentalem Humor.

Dramen – Familienensembles und Künstlerträume

Verwandte, Gäste und Angestellte verstricken sich in Beziehungsgeflechten, in denen künstlerische Ambitionen mit Alltagspflichten kollidieren. Entscheidungen fallen nebenbei, während Gespräche, Musik und Warten den Rhythmus prägen. Der Ton schwankt zwischen Zärtlichkeit und schneidender Ironie.

Dramen – Provinz, Stillstand und gesellschaftlicher Wandel

Gutshäuser und Provinzstädte bilden den Schauplatz für Figuren zwischen Vergangenheit und Moderne. Ökonomischer Druck, soziale Umbrüche und unklare Zukunftsaussichten treiben sie an, ohne dass große Taten die Bühne dominieren. Veränderung zeigt sich in Andeutungen, Off-Szenen und leisen Verschiebungen.

Dramen – Tragikomische Alltagsmomente und Subtext

Komik entsteht aus Missverständnissen, Nebensätzen und scheinbar beiläufigen Routinen, die das Tragische nicht aufheben, sondern schärfen. Emotionale Höhepunkte werden gebrochen, indem sie im Alltäglichen verankert bleiben. Subtext, Pausen und Schweigen tragen die Konflikte stärker als Deklamation.

Übergreifende Themen und Stil

Wiederkehren unerfüllte Wünsche, moralische Ambivalenz, das Auseinanderdriften von Selbstbild und Wirklichkeit sowie die Würde unscheinbarer Existenzen.

Stilistisch bevorzugt Tschechow Andeutung vor Auflösung: offene Enden, elliptische Struktur, Ensembleperspektiven und die Gleichrangigkeit von Komik und Ernst.

So entfalten selbst kleine Szenen nachhaltige Wirkung, ohne auf laute Konflikte angewiesen zu sein.

Die bekanntesten Werke von Tschechow

Hauptinhaltsverzeichnis
Novellen und Kurzgeschichten
Dramen

Novellen und Kurzgeschichten

Inhaltsverzeichnis
Ein wehrloses Geschöpf
Eine Tochter Albions
Das Drama
Das Kunstwerk
Mnemotechnik
Der Tod des Beamten
Ja, das Publikum!
Starker Tobak
Ein Chamäleon
Aus dem Regen in die Traufe
Teure Stunden
Das Gewinnlos
Die Sünde
Schlafen!
Eine schreckliche Nacht
Der Redner
Die Nacht vor der Verhandlung
Verwirrung der Geister
Schatten des Todes
Die Verleumdung
Der Kuß
Die Dame mit dem Hündchen
Der Rächer seiner Ehre
Ein Glücklicher
Der teure Hund
Der Dramatiker
Der Gast
Der Kater
Ein Unikum
Die Rache
Die Freude!
Duell (Ein Zweikampf)
Eine Schutzlose
Auf der Post
In den Chambregarnies
In der Barbierstube
Nur seine Frau!
Kaschtanka
Schlechte Aufführung
Der geheimnisvolle Fremde
Eine neue, sehr angenehme Bekanntschaft
Blaue Wunder
Genie! Genie!
Eine unruhige Nacht
Ein mißlungenes Debut
Tsss! . . .
Ohne Auslagen
Das schwedische Zündholz
Der Löwen- und Sonnenorden
Grischa
Die Apothekerin
Der Orden
Eine problematische Natur
Der teure Hund
Plappertasche
Die Sirene
Der Dicke und der Dünne
Der böse Knabe
Ein bekannter Herr
Der Repetitor
Einmal im Jahr
In der Sommerfrische
Der Taugenichts
In der Osternacht
Das Ende des Komödianten
Der Typhus
Wolodja
Jonytsch
Im Alter
Die Kinder
Zinotschka
Die letzte Mohikanerin
Die Jungens
Eine Bagatelle
Zu Hause
Ein Fall aus der Praxis
Ein Verhängnis
Ein Ereignis
Die Leichtbeschwingte
Wolodja der Große und Wolodja der Kleine
Die Hexe

Der Taugenichts

Inhaltsverzeichnis

Übersetzt von Alexander Eliasberg

I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX

I

Inhaltsverzeichnis

Mein Chef sagte mir: »Ich behalte Sie nur mit Rücksicht auf Ihren ehrenwerten Herrn Vater, sonst wären Sie schon längst hinausgeflogen.« Ich antwortete: »Exzellenz tun mir zu viel Ehre an, wenn Sie annehmen, daß ich fliegen kann.« Und dann hörte ich ihn noch sagen: »Schaffen Sie diesen Herrn fort, er geht mir auf die Nerven.«

Nach zwei Tagen war ich entlassen. So habe ich, seitdem ich sozusagen erwachsen bin, zum großen Kummer meines Vaters, des Stadtarchitekten, bereits neun Stellungen gewechselt. Ich war in allen möglichen Ressorts angestellt gewesen, aber alle neun Stellungen glichen sich wie die Wassertropfen: überall mußte ich sitzen, schreiben, dumme oder rohe Bemerkungen anhören und warten, daß man mich entläßt.

Mein Vater saß, als ich zu ihm kam, tief in seinem Sessel und hielt die Augen geschlossen. Sein mageres, trockenes Gesicht mit einem bläulichen Schimmer auf den rasierten Stellen – (er hatte einige Ähnlichkeit mit einem katholischen Organisten) drückte Demut und Ergebenheit aus. Ohne meinen Gruß zu erwidern und ohne die Augen zu öffnen, sagte er zu mir:

»Wenn meine teure Frau, deine Mutter, noch lebte, so wäre dein Leben für sie eine Quelle unaufhörlicher Schmerzen. In ihrem frühen Tode erblicke ich Gottes Vorsehung. Ich bitte dich, du Elender,« fuhr er fort, die Augen öffnend, »sag' einmal selbst, was soll ich mit dir machen?«

In früheren Jahren, als ich noch jünger war, wußten alle meine Verwandten und Bekannten sehr gut, was mit mir zu machen wäre: die einen rieten zum Einjährigendienst, andere zu einer Stellung in einer Apotheke, und die dritten zu einer am Telegraph. Jetzt, wo ich fünfundzwanzig Jahre alt bin und die ersten grauen Haare an den Schläfen habe, wo ich bereits Einjähriger, Apothekerlehrling und Telegraphist gewesen bin, scheint alles Irdische für mich erschöpft, und man rät mir nichts mehr, sondern seufzt nur oder schüttelt den Kopf.

»Was denkst du dir eigentlich?« fuhr mein Vater fort. »Andere junge Leute haben in deinem Alter schon eine sichere soziale Position; aber was bist du? Ein Proletarier, ein Bettler, der seinem Vater zur Last fällt!«

Und er begann, seiner Gewohnheit gemäß, davon zu sprechen, daß die Jugend von heute an Unglauben, Materialismus und übermäßiger Einbildung zugrunde gehe und daß man die Liebhaberaufführungen verbieten müsse, weil sie die jungen Leute von der Religion und von ihren Pflichten ablenkten.

»Morgen gehen wir zusammen hin, du wirst deinen Chef um Entschuldigung bitten und ihm versprechen, deine Pflicht gewissenhaft zu tun,« so schloß er seine Rede. »Keinen einzigen Tag darfst du ohne eine soziale Position bleiben.«

»Ich bitte Sie, hören Sie mich an, sagte ich mürrisch. Ich erwartete nichts Gutes von diesem Gespräch. »Das, was Sie eine gesellschaftliche Position nennen, ist ein Privileg des Kapitals und der Bildung. Aber die Besitzlosen und die Ungebildeten verdienen sich ihr Stück Brot durch körperliche Arbeit, und ich sehe gar nicht ein, warum ich eine Ausnahme bilden soll.«

»Wenn du von körperlicher Arbeit zu sprechen anfängst, so sind deine Worte immer dumm und abgeschmackt!« sagte mein Vater gereizt. »Begreif es doch, du stumpfsinniger Mensch, begreife es doch, du Schafskopf, daß du außer der rohen körperlichen Kraft auch noch einen Geist Gottes, ein heiliges Feuer in dir hast, das dich im höchsten Maße vom Esel oder vom Reptil unterscheidet und der Gottheit nahebringt! Dieses Feuer ist im Laufe von Jahrtausenden von den besten unter den Menschen gewonnen worden. Dein Urgroßvater, der General Polosnjew hat bei Borodino gekämpft, dein Großvater war Dichter, Redner und Adelsmarschall, dein Onkel – Schulmann, und endlich ich, dein Vater, bin Architekt. Alle Polosnjews haben das heilige Feuer gehütet, nur damit du es auslöschst!«

»Man muß gerecht sein,« sagte ich. »Der körperlichen Arbeit unterziehen sich Millionen von Menschen.«

»Sollen sie sich ihr nur unterzieben! Sie können eben nichts anderes. Körperliche Arbeit kann jeder leisten, selbst der größte Dummkopf und Verbrecher, sie charakterisiert den Sklaven und den Barbaren, während das heilige Feuer nur wenigen gegeben ist!«

Dieses Gespräch fortzusetzen, hatte gar keinen Zweck. Mein Vater vergötterte sich, und für ihn war nur das überzeugend, was er selbst sagte. Außerdem wußte ich sehr gut, daß der Hochmut, mit dem er über die körperliche Arbeit sprach, weniger auf den Erwägungen bezüglich des heiligen Feuers beruhte, als auf der Angst, daß ich wirklich Arbeiter und der ganzen Stadt zum Spott werden könnte; vor allen Dinge aber hatten schon alle meine Altersgenossen die Universität absolviert und waren auf dem besten Wege, Karriere zu machen; der Sohn des Reichsbankdirektors z. B. besaß schon den Rang eines Kollegienassessors, ich aber, sein einziger Sohn, war noch nichts! Dieses Gespräch fortzusetzen, war zwecklos und unangenehm, aber ich saß noch immer da und machte schwächliche Einwendungen in der Hoffnung, daß er mich vielleicht am Ende doch verstehen würde. Für mich war ja die ganze Frage ganz einfach und sonnenklar: es handelte sich nur noch darum, auf welche Weise ich mein Stück Brot verdienen könnte. Aber mein Vater wollte das Einfache nicht einsehen, sondern sprach in gedrechselten, süßlichen Sätzen von Borodino, vom heiligen Feuer, von meinem Onkel, dem vergessenen Dichter, der einst schlechte, verlogene Gedichte geschrieben, und nannte mich in seiner rohen Art einen Schafskopf und einen stumpfsinnigen Menschen. Und ich sehnte mich so sehr danach, verstanden zu werden! Trotz alledem liebe ich aber meinen Vater und meine Schwester, und die kindliche Gewohnheit, sie in allen Dingen um Erlaubnis zu fragen, ist in mir so tief eingewurzelt, daß ich mich von ihr wohl kaum jemals freimache; ganz gleich, ob ich im Recht oder Unrecht bin, ich fürchte immer, ihnen Kummer zu bereiten, fürchte, daß mein Vater einen roten Hals bekommt oder daß ihn gar der Schlag trifft.

»In einem dumpfen Zimmer zu sitzen,« sagte ich, »Papiere abzuschreiben und mit einer Schreibmaschine zu konkurrieren, ist für einen Menschen in meinem Alter beschämend und beleidigend. Wie kann da überhaupt von einem heiligen Feuer die Rede sein!«

»Es ist immerhin geistige Arbeit,« entgegnete mein Vater. »Aber genug, brechen wir dieses Gespräch ab. Doch für jeden Fall muß ich dich warnen: wenn du deinen Dienst nicht wieder antrittst und deinen verächtlichen Neigungen folgst, so entziehen wir dir, ich und meine Tochter, unsere Liebe. Ich werde dich enterben, das schwöre ich dir bei Gott!«

Ich sagte darauf ganz aufrichtig, nur um die Reinheit der Motive, von denen ich mich mein Leben lang leiten lassen wollte, zu zeigen:

»Diese Frage erscheint mir nicht so wichtig. Ich verzichte auf die Erbschaft schon von vornherein.«

Diese Worte verletzten meinen Vater ganz wider Erwarten äußerst schwer. Er wurde über und über rot.

»Untersteh dich nicht, mit mir so zu sprechen, Dummkopf!« schrie er mit einer dünnen, kreischenden Stimme. »Du Taugenichts!« Und er versetzte mir mit einer geschickten, gewohnten Bewegung schnell hintereinander zwei Ohrfeigen. »Du vergißt dich letztens gar zu oft!«

In meiner Kindheit mußte ich, wenn mich mein Vater schlug, stramm, die Hände an der Hosennaht, stehen und ihm gerade ins Gesicht sehen. Und wie er mich jetzt schlug, fiel ich gleichsam in meine Kinderjahre zurück, und stand stramm und sah ihm in die Augen. Mein Vater war alt und sehr mager, seine Muskeln waren aber wohl dünn und zäh wie Riemen, denn seine Schlägt taten sehr weh.

Ich zog mich ins Vorzimmer zurück, aber hier ergriff er seinen Regenschirm und schlug mich damit einigemal auf Kopf und Schultern; in diesem Augenblick öffnete meine Schwester die Wohnzimmertüre, um zu sehen, woher der Lärm komme; als sie die Szene sah, wandte sie sich sofort mit einem Ausdruck von Mitleid und Schreck wieder fort, ohne auch nur ein Wort für mich einzulegen.

Mein Entschluß, in die Kanzlei nicht zurückzukehren, sondern ein neues Arbeitsleben zu beginnen, stand unwankbar fest. Es blieb mir nur noch übrig, die Art der Arbeit zu wählen, und das erschien mir nicht sonderlich schwer, da ich mich für außerordentlich stark, ausdauernd und jeder Arbeit gewachsen hielt. Mir stand ein eintöniges Arbeitsleben mit Hunger, Armeleutegeruch, Roheit und der ständigen Sorge um das tägliche Brot bevor, Und – wer weiß? – vielleicht werde ich, wenn ich durch die Große Adelsstraße von der Arbeit heimgehe, mehr als einmal den Ingenieur Dolschikow beneiden, der von geistiger Arbeit lebt; aber jetzt freute es mich nur, an alle meine zukünftigen Schwierigkeiten zu denken. Einst hatte ich von einer geistigen Tätigkeit geträumt und mich schon als Lehrer, Arzt oder Dichter gesehen, aber die Träume blieben eben Träume. Der Hunger nach geistigen Genüssen – z. B. nach Theater und Büchern, war in mir bis zur Leidenschaft entwickelt, ob ich aber auch die Fähigkeit besaß, mich auf diesen Gebieten selbst zu betätigen, das weiß ich nicht. Auf dem Gymnasium hatte ich eine unüberwindliche Abneigung gegen Griechisch, so daß ich aus der vierten Klasse austreten mußte. Lange Zeit nahm ich Privatunterricht und bereitete mich für die fünfte Klasse vor; dann diente ich in den verschiedenen Ressorts, wobei ich den größten Teil des Tages nichts zu tun hatte, aber das nannte man geistige Arbeit! Das Studium und der Staatsdienst erforderten weder Geistesanspannung, noch Talente, weder persönliche Fähigkeiten, noch schöpferischen Aufschwung: sie waren rein mechanisch. Solche geistige Arbeit schätze ich aber viel niedriger als die körperliche ein, ich verachte sie und glaube nicht, daß sie ein müßiges, sorgloses Leben auch nur einen Augenblick lang zu rechtfertigen vermag, da sie doch selbst nur Betrug und eine Form von Müßiggang ist. Die wahre geistige Arbeit habe ich wahrscheinlich nie gekannt. Der Abend brach an. Wir wohnten in der Großen Adelsstraße, der Hauptstraße unserer Stadt, auf der in den Abendstunden in Ermangelung eines ordentlichen Stadtgartens unsere vornehme Welt zu promenieren pflegte. Diese schöne Straße ersetzte zum Teil einen Garten, da sie zu beiden Seiten von Pappeln eingefaßt war, die, besonders nach einem Regen, herrlich dufteten, und aus den Gartenzäunen Akazien, Fliederbüsche, Faul- und Apfelbäume hervorlugten. Die Maiendämmerung, das zarte, junge Grün voller Schatten, der Fliederduft, das Summen der Käfer, die Stille, die Wärme – wie neu und ungewöhnlich war das alles, obwohl es sich jedes Jahr wiederholte! Ich stand vor der Gartenpforte, und sah mir die Spaziergänger an. Mit den meisten von ihnen war ich aufgewachsen und hatte als Kind gespielt; jetzt wäre ihnen aber meine Bekanntschaft peinlich gewesen, denn ich war ärmlich und nicht nach der Mode gekleidet, und meine engen Hosen und plumpen Stiefel waren allen zum Spott. Zudem stand ich überhaupt in schlechtem Ruf, da ich keine gesellschaftliche Position besaß und oft in billigen Gasthäusern Billard spiele; außerdem vielleicht auch aus dem Grunde, weil man mich zweimal ohne den geringsten Anlaß meinerseits auf die Gendarmerie vorgeladen hatte.

Im großen Hause gegenüber, beim Ingenieur Dolschikow, spielte man Klavier. Es dunkelte, und am Himmel leuchteten die Sterne auf. Da kommt langsam, in seinem altmodischen Zylinder mit breiter, nach oben gebogener Krempe, nach allen Seiten grüßend, Arm in Arm mit meiner Schwester mein Vater gegangen.

»Sieh einmal!« sagt er zu meiner Schwester und zeigt mit demselben Regenschirm, mit dem er mich vorhin geprügelt, nach oben: »Sieh den Himmel! Die Sterne, selbst die winzigsten unter ihnen sind ganze Welten! Wie nichtig ist doch der Mensch im Vergleich zum Weltall!«

Und das sagte er in einem Ton, als ob es ihm schmeichelhaft und angenehm wäre, so nichtig zu sein. Was war er doch für ein talentloser, unbedeutender Mensch! Leider war er unser einziger Architekt, und aus diesem Grunde ist bei uns in den letzten fünfzehn – zwanzig Jahren kein einziges anständiges Haus erstanden. Wenn man bei ihm einen Plan bestellte, so zeichnete er immer zuerst einen Saal und ein Wohnzimmer; ebenso wie die Institutschülerinnen der guten alten Zeit nur von einer bestimmten Stelle des Zimmers, nämlich vom Ofen zu tanzen verstanden, so vermochte sich die künstlerische Phantasie meines Vaters nur vom Saal und Wohnzimer aus zu entfalten. Daran zeichnete er ein Eßzimmer, ein Kinderzimmer und ein Kabinett und verband alle diese Räume durch Türen, so daß jedes Zimmer zu einem Durchgangszimmer wurde und je zwei oder auch drei Türen zuviel hatte. Seine Phantasie war augenscheinlich verworren und dürftig; als fühlte er, daß irgend etwas fehlte, griff er jedesmal zu allerlei Anbauten, die er einfach aneinanderreihte. Ich sehe auch heute noch die engen Vorzimmer und Korridore, die krummen Treppchen zum Zwischenstock, wo man nur gebückt stehen konnte und wo drei Riesenstufen in der Größe von Pritschen den Fußboden ersetzten. Die Küche befand sich aber unbedingt im Kellergeschoß und hatte eine gewölbte Decke und einen Ziegelfußboden. Die Fassade blickte eigensinnig und langweilig drein und hatte trockene, nichtssagende Linien; das Dach war niedrig und flach, und auf den dicken, gleichsam geschwollenen Schornsteinen saßen unbedingt Drahtkappen mit schwarzen quietschenden Wetterfahnen. Alle diese von meinem Vater erbauten Häuser ähnelten sich und erinnerten mich aus irgendeinem Grunde an seinen Zylinderhut und seinen trockenen und eigensinnigen Nacken. Im Laufe der Zeit gewöhnte man sich in der Stadt an die Geschmacklosigkeit meines Vaters, sie faßte Wurzeln und wurde zu unserm Stil.

Nach dem gleichen Stil gestaltete er auch das Leben meiner Schwester. Es begann damit, daß er sie Kleopatra taufte (mich hatte er aber Missail genannt). Als sie noch ein Kind war, machte er ihr mit seinen Reden über die Sterne, über die alten Weisen und über unsere Ahnen Angst, erklärte ihr lang und breit, was das Leben und was die Pflicht sei; und auch jetzt, da sie bereits sechsundzwanzig Jahre alt war, betrieb er ihre Erziehung auf die gleiche Weise und erlaubte ihr, nur mit ihm allein Arm in Arm zu gehen. Aus irgendeinem Grunde bildete er sich ein, es müsse früher oder später ein anständiger junger Mann kommen, der sie aus Achtung vor den Tugenden ihres Vaters heiraten würde. Sie aber betete den Vater an und glaubte an seinen ungewöhnlichen Geist.

Es war ganz dunkel geworden, und die Straße leerte sich allmählich. Im Hause war das Klavierspiel verstummt. Das Tor wurde weit geöffnet, und über unsere Straße rollte mit gedämpftem Schellengeläute eine Troika. Der Ingenieur fuhr mit seiner Tochter spazieren. Es war Zeit zum Schlafen.

Ich hatte zwar im Hause mein eigenes Zimmer, wohnte aber auf dem Hofe in einer Hütte, die an einen Stall angebaut war. Die Hütte hatte einst zum Aufbewahren von Pferdegeschirr gedient, und in den Wänden steckten große Haken. Jetzt stand sie leer, und mein Vater benutzte sie als Ablage für seine Zeitungen, die er halbjährlich binden ließ und die niemand anrühren durfte. Wenn ich hier wohnte, kam ich meinem Vater und seinen Gästen weniger unter die Augen, und es schien mir, daß, wenn ich nicht in einem richtigen Zimmer wohnte und nicht jeden Tag zu Hause zu Mittag aß, die Worte meines Vaters, daß ich ihm zur Last falle, weniger verletzend seien.

Meine Schwester erwartete mich schon. Sie brachte mir heimlich mein Abendessen: ein kleines Stück kaltes Kalbfleisch und eine Scheibe Brot. Bei uns zu Hause hieß es immer: »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.« Meine Schwester stand unter dem Drucke solcher Redensarten und dachte nur noch daran, wie sie die Ausgaben vermindern könnte; deshalb aß man bei uns im allgemeinen schlecht. Sie stellte den Teller auf den Tisch, setzte sich auf mein Bett und fing zu weinen an.

»Missail,« sagte sie, »was tust du uns an?«

Sie bedeckte ihr Gesicht nicht, die Tränen fielen ihr auf Brust und Hände, und ihre Züge drückten tiefe Trauer aus. Sie sank auf das Kissen, ließ den Tränen freien Lauf, zitterte am ganzen Leibe und schluchzte.

»Du hast schon wieder deine Stellung verloren,« sagte sie. »Wie schrecklich ist das!«

»Aber so höre doch, Schwester, begreife mich ...« fing ich an. Ihre Tränen brachten mich zur Verzweiflung.

Wie zum Trotz war das Petroleum in meinem Lämpchen ausgebrannt; es qualmte und wollte verlöschen. Die alten Haken an den Wänden blickten streng drein, und ihre Schatten bewegten sich.

»Erbarme dich unser!« sagte meine Schwester, sich vom Bette erhebend. »Unser Vater ist tief unglücklich, und ich bin krank und fürchte den Verstand zu verlieren. Was wird aus dir?« fragte sie schluchzend, die Hände nach mir ausstreckend. »Ich bitte dich, ich flehe dich im Namen unserer verstorbenen Mutter an: geh wieder in Stellung!«

»Ich kann nicht, Kleopatra!« sagte ich, obwohl ich fühlte, daß nicht mehr viel fehlte, daß ich mich ergebe. »Ich kann nicht!«

»Warum dene nicht?« fuhr meine Schwester fort. »Warum? Nun, wenn du dich mit deinem Chef nicht vertragen kannst, so suche dir eine andere Stellung. Warum sollst du zum Beispiel nicht zur Eisenbahn gehen? Ich habe eben mit Anjuta Blagowo gesprochen; sie behauptet, daß man dich bei der Eisenbahn ganz bestimmt nehmen wird, und verspricht sogar, sich für dich zu verwenden. Um Gottes willen, Missail, überlege es dir! Ich flehe dich an!«

Wir sprachen noch ein Weilchen, und ich gab schließlich nach. Ich sagte ihr, daß der Gedanke an eine Stellung beim Eisenbahnbau mir noch gar nicht gekommen und daß ich nicht abgeneigt sei, die Sache zu probieren.

Sie lächelte freudig unter Tränen und drückte mir die Hand. Sie weinte fort und konnte sich lange nicht beruhigen. Ich aber ging in die Küche nach Petroleum.

II

Inhaltsverzeichnis

Unter den Veranstaltern von Liebhaberaufführungen, Konzerten und lebenden Bildern zu wohltätigen Zwecken spielten in unserer Stadt die Aschogins, die im eigenen Hause auf der Großen Adelstraße wohnten, die erste Rolle; sie gaben jedesmal ihre Räume her und übernahmen alle Scherereien und Auslagen. Diese reiche Gutsbesitzersfamilie besaß im Landkreise ein Gut von dreitausend Deßjatinen mit einem herrlichen Herrenhause, liebte aber das Landleben nicht und wohnte im Winter wie im Sommer in der Stadt. Die Familie bestand aus der Mutter, einer groß gewachsenen, hageren, vornehmen Dame, die die Haare kurz geschoren trug und sich nach englischer Mode kleidete, und aus drei Töchtern, die man niemals bei ihren Namen nannte, sondern einfach mit die Aelteste, die Mittlere, die Jüngste bezeichnete. Alle drei Töchter hatten ein spitzes Kinn, waren unschön und kurzsichtig, hielten sich gebückt, kleideten sich wie die Mutter und lispelten höchst unangenehm. Trotzdem nahmen sie unbedingt an jeder Vorstellung teil und betätigten sich immer zu wohltätigen Zwecken; entweder spielten sie, rezitierten oder sangen. Sie waren sehr ernst und lächelten niemals; selbst in Possen mit Gesang spielten sie ohne den leisesten Humor, mit einem so geschäftsmäßigen Ausdruck, als wenn sie Buchhaltung trieben.

Ich liebte unsere Aufführungen und ganz besonders die häufigen, etwas unordentlichen, geräuschvollen Proben, nach denen man immer ein Abendbrot bekam. An der Auswahl der Stücke und der Verteilung der Rollen beteiligte ich mich nicht. Ich betätigte mich nur hinter den Kulissen. Ich malte die Dekorationen, schrieb die Rollen ab, soufflierte, schminkte die Darsteller und sorgte für solche Effekte wie Donner, Nachtigallenschlag usw. Da ich weder eine gesellschaftliche Position noch anständige Kleider besaß, hielt ich mich bei den Proben abseits, im Schatten der Kulissen und schwieg.

Die Dekorationen malte ich bei den Aschogins auf dem Hofe oder im Stall. Mir half dabei der Maler oder »Unternehmer für Malerarbeiten«, wie er sich nannte, Andrej Iwanow. Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, groß, sehr mager und blaß; er hatte eine eingefallene Brust, eingedrückte Schläfen und blaue Ringe um die Augen und sah sogar etwas unheimlich aus. Er litt an irgendeiner auszehrenden Krankheit, und jeden Herbst und Frühling hieß es von ihm, daß er sterbe. Aber er stand immer wieder auf und sagte dann verwundert: »Ich bin nun wieder nicht gestorben!«

In der Stadt nannte man ihn »Rettich« und behauptete, daß das sein richtiger Name sei. Er liebte das Theater ebenso wie ich, und sobald er hörte, daß man wieder eine Liebhaberaufführung plane, ließ er alle seine Arbeiten liegen und ging zu den Aschogins, um Dekorationen zu malen.

Am Tage nach der Aussprache mit meiner Schwester arbeitete ich vom frühen Morgen an bei den Aschogins. Die Probe war auf sieben Uhr abends angesetzt, und eine Stunde vor Beginn hatten sich schon alle Liebhaber im Saale versammelt. Die Aelteste, die Mittlere und die Jüngste gingen auf und ab und lasen ihre Rollen. Rettich lehnte schon in seinem langen rotbraunen Mantel mit einem Tuch um den Hals an der Wand und blickte mit andächtigen Augen auf die Bühne. Frau Aschogina-Mutter ging bald auf den einen, bald auf den anderen Gast zu und sagte einem jeden etwas Angenehmes. Sie hatte die Manier, einen jeden scharf ins Gesicht zu blicken und so leise zu sprechen, als wären es lauter Geheimnisse.

»Es muß doch recht schwer sein, Dekorationen zu malen,« sagte sie leise zu mir. »Als Sie eintraten, sprach ich gerade mit Madame Muffke von den Vorurteilen. Mein Gott, ich habe mein ganzes Leben lang gegen die Vorurteile gekämpft! Um die Dienstboten von der Grundlosigkeit des Aberglaubens zu überzeugen, pflege ich stets drei Lichter anzuzünden und alles Wichtige am Dreizehnten zu beginnen.«

Nun kam die Tochter des Ingenieurs Dolschikow, eine üppige, schöne Blondine, die, wie man sich erzählte, lauter Pariser Sachen trug. Sie spielte nicht mit, aber bei allen Proben stand stets ein Stuhl für sie auf der Bühne bereit, und man begann mit der Vorstellung nicht eher, als bis sie, strahlend und alle durch ihre Toiletten in Verwunderung versetzend, in der ersten Reihe erschien. Als Großstädterin hatte sie das Privilegium, während der Proben Bemerkungen zu machen, und sie machte sie mit einem freundlichen, herablassenden Lächeln, dem man ansehen konnte, daß sie unsere Aufführungen als ein Kinderspiel betrachten, Man erzählte sich, sie hätte am Petersburger Konservatorium Gesang studiert und wäre sogar einen ganzen Winter lang in einer Operntruppe aufgetreten. Sie gefiel mir außerordentlich, und ich pflegte sie bei den Proben und Aufführungen nicht aus den Augen zu lassen.

Ich hatte schon das Heft in die Hand genommen, um mit dem Soufflieren zu beginnen, als plötzlich meine Schwester erschien. Ohne Mantel und Hut abzulegen, ging sie auf mich zu und sagte:

»Ich bitte dich, komm mit!«

Ich folgte ihr. Hinter der Bühne stand in der Türe Anjuta Blagowo, gleichfalls in Hut, mit einem dunklen Schleier vor dem Gesicht. Sie war die Tochter des Vizepräsidenten des Kreisgerichts, der schon sehr lange, fast seit der Gründung des Gerichtshofes in unserer Stadt amtierte. Da sie groß und schön gewachsen war, wirkte sie obligatorisch an den lebenden Bildern mit, und wenn sie irgendeine Fee oder Ruhmesgöttin darstellte, glühte ihr Gesicht vor Scham; aber in den Stücken spielte sie nicht mit und kam zu den Proben immer nur im Vorbeigehen, wenn sie jemand sprechen mußte. Auch jetzt war sie offenbar nur auf dem Sprunge hier.

»Mein Vater hat von Ihnen erzählt,« sagte sie trocken, ohne mich anzusehen und errötete. »Dolschikow hat eine Stelle für Sie bei der Bahn in Aussicht gestellt. Gehen Sie morgen zu ihm hin, er wird zu Hause sein.«

Ich verbeugte mich und dankte für die Bemühungen.

»Das können Sie übrigens lassen,« sagte sie, auf mein Soufflierheft zeigend.

Dann gingen sie und meine Schwester auf die Frau Aschogina zu und tuschelten eine Weile mit ihr, zu mir herüberblickend. Sie schienen etwas zu beraten.

»In der Tat,« sagte Frau Aschogina leise, an mich herantretend und mir gerade ins Gesicht blickend: »in der Tat, wenn Sie das von ernsthafter Beschäftigung ablenkt,« sie nahm mir das Heft aus der Hand, »so können Sie das jemand anders übergeben. Machen Sie sich darüber keine Sorgen, lieber Freund, gehen Sie mit Gott.«

Ich verabschiedete mich von ihr und ging verlegen hinaus. Auf der Treppe sah ich auch meine Schwester und Anjuta Blagowo weggehen. Sie sprachen eifrig über etwas, wahrscheinlich über meinen Eintritt in den Eisenbahndienst, und hatten es sehr eilig. Meine Schwester war bisher noch niemals bei einer Probe gewesen; daher hatte sie wohl jetzt Gewissensbisse und fürchtete, der Vater könnte erfahren, daß sie ohne seine Erlaubnis bei den Aschogins gewesen war.

Ich ging zu Dolschikow am nächsten Tag, bald nach zwölf. Ein Diener führte mich in ein sehr schönes Zimmer, das dem Ingenieur als Empfangszimmer und zugleich als Arbeitszimmer diente. Hier war alles weich, elegant und kam einem Menschen wie mir, der so etwas noch nie gesehen hatte, sogar seltsam vor. Lauter teure Teppiche, riesengroße Sessel, Bronzen, Bilder in Gold- und Plüschrahmen; an den Wänden Photographien, die sehr schöne Frauen mit klugen Gesichtern in ungezwungenen Posen darstellten; eine Tür führte aus dem Empfangszimmer auf die Veranda und in den Garten, und ich sah Fliederbüsche, einen gedeckten Tisch mit vielen Flaschen und einem Rosenstrauß; alles duftete nach Frühling, nach teuren Zigarren, alles atmete Glück und alles schien sagen zu wollen: siehst du, dieser Mensch hat sein Leben lang gearbeitet und schließlich alles Glück erreicht, das auf dieser Welt möglich ist. Am Schreibtische saß die Tochter des Ingenieurs und las in einer Zeitung.

»Sie kommen zu meinem Vater?« fragte sie. »Er nimmt gerade eine Dusche, gleich wird er kommen. Bitte, setzen Sie sich.«

Ich setzte mich.

»Sie wohnen, glaube ich, uns gegenüber?« fragte sie wieder nach einer Pause.

»Jawohl.«

»Vor Langweile schaue ich oft zum Fenster hinaus. Sie müssen es entschuldigen,« fuhr sie fort, in die Zeitung blickend, »ich sehe oft Sie und Ihre Schwester. Sie hat einen so gutmütigen und besorgten Gesichtsausdruck.«

Nun kam Dolschikow herein. Er trocknete sich mit einem Handtuch den Hals ab.

»Papa, es ist Herr Polosnjew,« sagte die Tochter.

»Ja, ja, Blagowo hat mir schon von Ihnen erzählt,« wandte er sich lebhaft an mich, ohne mir die Hand zu reichen. »Aber, hören Sie einmal, was soll ich für Sie tun? Was habe ich für Stellen zu vergeben? Ihr seid doch wirklich merkwürdige Menschen!« fuhr er sehr laut fort, in einem Tone, als ob er mir eine Rüge erteilte. »Täglich kommen an die zwanzig Menschen zu mir, die sich einbilden, daß ich hier ein Ministerium habe! Ich habe ja nur die Bauarbeiten unter mir, meine Herren, und kann nur Schwerarbeiter brauchen: Mechaniker, Schlosser, Erdarbeiter, Tischler, Brunnengräber. Ihr alle versteht aber nur in den Schreibstuben zu hocken. Ihr seid alle nichts als Schreiber!«

Er atmete dasselbe Glück wie seine Teppiche und Sessel. Voll, gesund, rotbackig, mit breiter Brust, frisch gewaschen, in farbigem Kattunhemd und Pluderhose, sah er wie ein Spielzeug, wie ein Kutscher aus Porzellan aus. Er hatte ein rundes, lockiges Bärtchen ohne ein einziges graues Haar, eine Adlernase und dunkle, klare, unschuldige Augen.

»Was verstehen Sie zu tun?« fuhr er fort. »Gar nichts verstehen Sie! Ich bin Ingenieur und gut versorgt, aber bevor ich diese Eisenbahn bekam, mußte ich lange schuften. Ich bin als Maschinist auf der Lokomotive herumgefahren und habe ganze zwei Jahre als einfacher Wagenschmierer in Belgien gearbeitet. Urteilen Sie nun selbst, mein Bester, was für eine Arbeit soll ich Ihnen anbieten?«

»Gewiß, das stimmt ...« stotterte ich in höchster Aufregung. Der Blick seiner klaren, unschuldigen Augen irritierte mich.

»Verstehen Sie wenigstens mit einem Telegraphenapparat umzugehen?« fragte er nach einiger Überlegung.

»Ja, ich habe schon den Telegraphen bedient.«

»Hm ... Nun, wir wollen sehen. Gehen Sie vorläufig nach Dubetschnja. Ich habe dort schon einen sitzen, aber der ist ein ganz unmöglicher Kerl.«

»Worin wird meine Tätigkeit bestehen?« fragte ich.

»Das wird sich schon zeigen. Gehen Sie nur hin, ich werde das Nötige anordnen. Aber um das eine muß ich Sie bitten: daß Sie mir nicht trinken und mich mit keinen Bittschriften behelligen. Sonst jage ich Sie gleich hinaus.«

Er ließ mich stehen und nickte mir nicht einmal mit dem Kopf. Ich verbeugte mich vor ihm und seiner Tochter, die in der Zeitung las, und ging. Es war mir so traurig zumute, und ich hatte so wenig Lust, die Stadt zu verlassen. Ich liebte meine Vaterstadt. Sie schien mir so hübsch und heimlich. Ich liebte dieses Grün, die stillen sonnigen Morgenstunden, das Läuten unserer Kirchenglocken; aber die Menschen, mit denen ich in dieser Stadt zusammenwohnte, langweilten mich und waren mir fremd, zuweilen sogar widerlich. Ich liebte sie nicht und verstand sie auch nicht.

Ich konnte nicht verstehen, wozu und wovon alle diese fünfundzwanzigtausend Menschen existierten. Ich wußte, daß die Stadt Kimry von Stiefeln lebte, daß Tula Samowars und Gewehre produzierte, daß Odessa eine Hafenstadt war, was aber unsere Stadt darstellte und was sie leistete, das war mir unbekannt. Die Große Adelsstraße und noch zwei andere bessere Straßen lebten von Zinsen und von den Gehältern, die der Staat den Beamten zahlte; wovon aber die übrigen acht Straßen lebten, die parallel zueinander drei Werst weit liefen und hinter dem Hügel verschwanden, das war für mich immer ein unlösbares Rätsel.

Und wie diese Menschen lebten, das war die reinste Schande! Es gab weder einen Stadtgarten, noch ein Theater, noch ein anständiges Orchester; die Stadt- und die Klubbibliothek wurden ausschließlich von halbwüchsigen Jungen besucht, und die Zeitschriften und neuen Bücher lagen monatelang unaufgeschnitten herum; selbst die reichen und gebildeten Menschen schliefen in schwülen, engen Räumen auf Holzbetten mit Ungeziefer, hielten ihre Kinder in scheußlichen, schmutzigen Löchern, die sie Kinderzimmer nannten, und die Dienstboten, selbst die alten und geachteten, mußten in der Küche auf dem Fußboden schlafen und sich mit elenden Lumpen zudecken. An Fleischtagen roch es in allen Häusern nach Kohlsuppe, und an Fasttagen – nach Stör und Sonnenblumenöl. Man aß schlecht zubereitete Speisen und trank ungesundes Wasser. Im Rathause, beim Gouverneur, beim Bischof, in allen Häusern sprach man jahrelang davon, daß wir in unserer Stadt kein billiges gutes Trinkwasser haben und daß man beim Staate eine Anleihe von zweihunderttausend Rubel machen sollte, um eine Wasserleitung zu bauen; auch die sehr reichen Leute, von denen es in unserer Stadt an die drei Dutzend gab, und die manchmal ganze Güter am Kartentisch verspielten, tranken das schlechte Wasser und sprachen ihr Leben lang mit großem Eifer von der Anleihe. Ich konnte das nicht verstehen: mir schien es viel einfacher, die zweihunderttausend Rubel aus eigener Tasche zu zahlen.

Ich kannte in unserer Stadt keinen einzigen ehrlichen Menschen. Mein Vater nahm Bestechungsgelder an und bildete sich ein, daß man sie ihm aus Achtung für seine seelischen Eigenschaften schenke; die Gymnasiasten mußten, um alljährlich versetzt zu werden, zu ihren Lehrern in Pension gehen, wofür sich diese ordentlich bezahlen ließen; die Frau des Stadtkommandanten ließ sich zur Zeit der Einberufungen von den Rekruten bestechen und sogar mit Alkohol traktieren, und einmal passierte es, daß sie in der Kirche beim Gottesdienst unmöglich von den Knien aufstehen konnte, da sie betrunken war; auch die Ärzte mußten bei den Einberufungen geschmiert werden, und der Bezirksarzt und der Veterinär hatten alle Fleischläden mit einer Steuer belegt; an der Kreisschule konnte man Atteste kaufen, die die Berechtigung zum Freiwilligendienst gaben; die Pröpste nahmen von den ihnen unterstellten Geistlichen und Kirchenvorstehern Geldgeschenke an; in allen Ämtern rief man jedem Besucher nach: »Es ist üblich, sich zu bedanken!«, und der Besucher kehrte um, um dreißig oder vierzig Kopeken zu geben. Diejenigen aber, die keine Bestechungsgelder annahmen, wie die Gerichtsbeamten, waren hochmütig, reichten bei der Begrüßung nur zwei Finger, zeichneten sich durch die Kälte und Beschränktheit ihrer Urteile aus, waren dem Kartenspiel und dem Trunke ergeben, heirateten reich und wirkten auf ihre Umgebung zweifellos schädlich und demoralisierend. Nur die jungen Mädchen atmeten Reinheit; die meisten von ihnen hatten hohe Bestrebungen und ehrliche, keusche Seelen; aber sie verstanden das Leben nicht und glaubten, daß die Bestechungsgelder in Anerkennung der seelischen Eigenschaften gegeben werden. Wenn sie aber heirateten, alterten sie früh, versumpften schnell und versanken hoffnungslos im Schlamme der trivialen, kleinbürgerlichen Existenz.

III

Inhaltsverzeichnis

In unserer Gegend wurde eine Eisenbahn gebaut. An den Abenden vor den Feiertagen zogen Banden von zerlumpten Kerlen durch die Stadt, die man »Eisenbahner« nannte und vor denen man sich fürchtete. Gar oft sah ich, wie man so einen Kerl mit blutendem Gesicht, ohne Mütze zur Polizei führte, während hinter ihm als corpus delicti ein Samowar oder frischgewaschene, noch neue Wäsche getragen wurde. Die »Eisenbahner« drängten sich meistens bei den Schenken und auf den Märkten herum. Sie aßen und tranken, schimpften unflätig und begleiteten jede Dirne mit gellendem Pfeifen. Zur Unterhaltung dieser immer hungrigen Lumpen pflegten unsere Ladenbesitzer Katzen und Hunde mit Schnaps betrunken zu machen oder einem Hunde eine leere Petroleumkanne an den Schwanz zu binden; dann fingen sie zu pfeifen an, und der Hund raste, vor Entsetzen heulend, durch die Straße, während die Kanne dröhnte. Dem Hunde schien es, daß er von einem Ungeheuer verfolgt werde, er lief weit vor die Stadt ins freie Feld hinaus, bis ihn die Kräfte verließen; es gab in unserer Stadt mehrere Hunde, die immer zitterten und die Schweife eingezogen hielten; von ihnen sagte man, daß sie dieses Spiel nicht hatten ertragen können und verrückt geworden seien.

Der Bahnhof wurde fünf Werst von der Stadt erbaut. Man erzählte sich, daß die Ingenieure fünfzigtausend Rubel dafür gefordert hätten, daß der Bahnhof näher bei der Stadt läge; die Stadtverwaltung hätte dafür aber nur vierzigtausend geben wollen; wegen der zehntausend Rubel hätte sich das Geschäft zerschlagen; die Stadtverwaltung bereute es nun schwer, da sie bis zum Bahnhof eine Chaussee anlegen mußte, die viel teurer zu stehen kam. Auf der ganzen Strecke lagen schon die Schwellen und die Schienen und verkehrten Dienstzüge, die das Baumaterial beförderten; es fehlten nur noch die Brücken, die Dolschikow zu bauen hatte, und auch einige Stationsgebäude waren noch nicht ganz fertig.

Dubetschnja – so hieß unsere erste Station – lag siebzehn Werst von der Stadt entfernt. Ich ging zu Fuß. Die Saaten leuchteten grün in der Morgensonne. Die Gegend war flach und freundlich, und in der Ferne hoben sich klar der Bahnhof, die Hügel und entfernte Gutsgebäude ab ... Wie schön war es hier in Gottes freier Natur! Und wie gern wollte ich diese Freiheit genießen, wenigstens diesen einen Morgen lang, und nicht daran denken müssen, was in der Stadt vorging, nicht an meine Schwierigkeiten und an den Hunger, der mich quälte, denken müssen! Nichts hinderte mich am Lebensgenuß so sehr wie dieses nagende Hungergefühl, wenn meine besten Gedanken sich sonderbar mit den Vorstellungen von Buchweizengrütze, Koteletts und Bratfischen verquickten. Da stehe ich allein im Felde, blicke auf eine Lerche, die in der Luft unbeweglich zu schweben scheint und wie in einem hysterischen Anfall schmettert, und denke mir dabei: »Wie gut wäre es jetzt, ein Stück Butterbrot zu essen!« Oder ich setze mich am Straßenrande nieder, schließe die Augen, um auszuruhen und diesen herrlichen Frühlingsgeräuschen zu lauschen, und plötzlich muß ich an den Geruch gebratener Kartoffeln denken. Obwohl ich groß gewachsen und kräftig gebaut bin, bekam ich im allgemeinen wenig zu essen, und daher war der Hunger meine wesentlichste Empfindung im Laufe des Tages; darum verstand ich vielleicht auch so gut, weshalb so viele Menschen nur des Brotes wegen arbeiten und nur vom Essen sprachen.

In Dubetschnja arbeitete man gerade am Verputz der Innenwände des Stationsgebäudes und baute eine hölzernen Oberstock am Wasserturm. Es war heiß, es roch nach Kalk, und die Arbeiter trieben sich träge zwischen den Haufen von Schutt und Spänen herum; der Weichensteller schlief vor seinem Häuschen, und die Sonne brannte ihm gerade ins Gesicht. Kein einziger Baum war zu sehen. Leise summten die Telegraphendrähte, auf denen hie und da Habichte ausruhten. Ich drückte mich zwischen dem Schutt umher, wußte nicht, was anzufangen und dachte an die Antwort des Ingenieurs auf meine Frage, was ich hier zu tun haben würde: »Das wird sich schon zeigen.« Was konnte sich aber in dieser Wüste zeigen? Die Maurer sprachen von irgendeinem Polier und von einem gewissen Fedot Wassiljew; ich verstand es nicht, und meiner bemächtigte sich allmählich ein Unlustgefühl, – ein körperliches Unlustgefühl, bei dem man seine Arme und Beine und seinen ganzen großen Körper fühlt und nicht weiß, was mit ihnen anzufangen.

Nachdem ich mindestens zwei Stunden so herumgebummelt, bemerkte ich eine Reihe von Telegraphenstangen, die rechts von der Strecke abbogen und vor einer weißen Mauer aufhörten; die Arbeiter sagten mir, daß dort die Baukanzlei sei, und nun begriff ich endlich, daß ich mich dorthin zu wenden hatte.

Es war ein sehr altes, verwahrlostes Gutshaus. Die Mauer aus weißem porösem Stein war verwittert und stellenweise eingefallen. Der Seitenflügel, dessen blinde Wand nach dem Felde lag, hatte ein rostiges Eisendach, auf dem hie und da einige frisch geflickte Stellen glänzten. Durch das Tor sah ich einen sehr geräumigen Hof, der mit wildem Steppengras bewachsen war, und ein altes Herrenhaus mit Jalousien an den Fenstern und einem hohen, vor Rost ganz roten Dach. Rechts und links standen zwei vollkommen gleiche Seitenflügel; die Fenster des einen waren mit Brettern vernagelt, vor dem andern aber, dessen Fenster offen standen, war Wäsche zum Trocknen aufgehängt und weideten Kälber. Der letzte Telegraphenpfahl stand auf dem Hofe, und der Draht ging in eines der Fenster des Flügels, der mit seiner blinden Wand nach dem Felde lag. Die Türe war offen, und ich trat ein. Am Tisch mit dem Telegraphenapparat saß ein Herr mit dunklem Lockenkopf, mit einer Leinenjacke bekleidet; er blickte mich erst streng und mürrisch an, lächelte aber dann gleich und sagte:

»Guten Tag, kleiner Nutzen!«

Es war Iwan Tscheprakow, mein ehemaliger Schulkollege, den man aus der zweiten Klasse wegen Rauchens relegiert hatte. Wir pflegten einst zusammen zur Herbstzeit Stieglitze, Zeisige und Kernbeißer zu fangen und am frühen Morgen, wenn die Eltern noch schliefen, auf dem Markte zu verkaufen. Wir lauerten auch den Staren auf, schossen sie mit seinem Schrot an und sammelten dann die verwundeten. Die einen starben bei uns in schrecklichen Qualen (ich erinnere mich auch heute noch, wie sie nachts in ihrem Käfig stöhnten), die anderen aber, die wieder gesund wurden, verkauften wir und schworen dabei, daß es lauter Männchen seien. Einmal war mir auf dem Markte nur ein einziger Star übriggeblieben, den ich lange nicht anbringen konnte und schließlich für eine Kopeke verkaufte, »Es ist ja immerhin ein kleiner Nutzen!« sagte ich damals zum Trost, die Kopeke in die Tasche steckend, und von nun an hieß ich bei den Gassenjungen und Gymnasiasten »kleiner Nutzen«. Es kam auch jetzt noch vor, daß Gassenjungen und Händler mich damit neckten, obgleich wohl niemand mehr den Ursprung dieses Spitznamens kannte.