Die Bibliothek der verborgenen Erinnerungen - Kekla Magoon - E-Book

Die Bibliothek der verborgenen Erinnerungen E-Book

Kekla Magoon

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Beschreibung

Eine abenteuerliche Zeitreise in die eigene Familiengeschichte Als ihr geliebter Großvater stirbt, hinterlässt er seiner elfjährigen Enkelin Dally eine geheime Nachricht und eine Karte. Dally folgt dieser (natürlich) und entdeckt die ›Bibliothek der Geheimnisse‹, ein uraltes mächtiges Gebäude, in dem die Bücher zwar nicht ausgeliehen werden können, aber Portale sind zu großen Abenteuern – auch ins eigene Leben. Dally taucht tief ein in die Geheimnisse ihrer eigenen Familiengeschichte, geht mit ihren Piraten-Vorfahren im 19. Jahrhundert auf Kaperfahrt, wird aber auch Zeugin, wie ihre Familie Diskriminierung in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erdulden muss. So lernt sie ihren Großvater, aber auch ihren Vater und die scheinbar so unnahbare Mutter neu und besser kennen.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Die Bibliothek der Geheimnisse, ein Ort der Fantastischen Begegnungen, sogar mit sich selbst!

 

Dallys geliebter Großvater hinterlässt ihr eine geheime Nachricht und eine Karte. Dally folgt dieser und entdeckt die ›Bibliothek der Geheimnisse‹, ein uraltes mächtiges Gebäude, in dem die Bücher zwar nicht ausgeliehen werden können, aber Portale sind zu großen Abenteuern, auch ins eigene Leben. Dally taucht tief ein in die Geheimnisse ihrer eigenen Familiengeschichte, geht mit ihren Vorfahren im 19. Jahrhundert auf Kaperfahrt, wird aber auch Zeugin, wie ihre Familie Diskriminierung im 20. Jahrhundert erdulden muss. So lernt sie ihren Großvater, aber auch ihren Vater und die scheinbar so unnahbare Mutter neu und besser kennen. Eine große Abenteuergeschichte voll Weisheit und Herzenswärme.

Kekla Magoon

Die Bibliothek der verborgenen Erinnerungen

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

 

 

 

Für die Abenteurerinnen, die Träumer und

die Geheimnishüterinnen und -hüter

1

Dally blieb einen Augenblick stehen, ihre Hand bereits auf dem Türknauf, und atmete einmal tief durch. In den ganzen elfeinhalb Jahren ihres bisherigen Lebens hatte sich noch nie etwas so wichtig angefühlt. Die Mappe fest umklammert, die über ihr Schicksal entscheiden konnte, drehte sie den Knauf und schob sich ins Vorzimmer. Ein Teppich mit leuchtend blauen und goldenen Quadraten führte sie wie ein Laufsteg zu dem Empfang, doch nach den ersten paar Schritten zwang sich Dally, vom Teppich aufzusehen. Sie hob den Kopf und zog die Schultern zurück. Selbstbewusst. Überzeugt. Entschlossen, zu bekommen, was sie wollte.

»Hi«, sagte sie zu der Frau mit den Locken, die hinter dem L-förmigen Empfangstresen stand. »Ich habe einen Termin um halb vier.«

»Hallo, Miss Peteharrington«, sagte die Empfangsdame. »Sie können natürlich gleich rein.«

Dally warf einen Blick zu der Digitaluhr auf dem Empfangstisch. 15:28 Uhr.

»Ich bin ein bisschen zu früh«, sagte sie, die Mappe fest an sich gedrückt. »Soll ich lieber warten?«

Die Empfangsdame lächelte leicht mit einer Mischung aus Güte und Traurigkeit. »Ist vielleicht besser. Ich ruf mal kurz durch.« Sie griff nach dem Hörer und drückte einen Knopf.

»Ihr Fünfzehnuhrdreißig-Termin wäre jetzt da.«

Dally nickte. Ihr gefiel dieser geschäftsmäßige Ton.

»Ist gut«, sagte die Empfangsdame in den Hörer. Und zu Dally: »Sie hat jetzt Zeit für Sie. Sie können rein.«

»Danke«, erwiderte Dally, schlug ihre Mappe auf und warf noch einen letzten Blick hinein.

»Viel Glück«, flüsterte die Frau.

Dally hoffte, dass sie kein Glück brauchen würde. Ich habe eine sehr überzeugende Präsentation vorbereitet, sagte sie sich. Nach außen sagte sie höflich: »Danke.«

Dally folgte mit erhobenem Blick und die Mappe fest in der Hand einem weiteren blau-gold gemusterten Teppich in Richtung Bürotür. In der Mappe befanden sich ein Tablet mit schon aufgerufener Slideshow und zusätzlich ein Ausdruck der vollständigen Präsentation in siebzehn Punkten, mit zwei Tortendiagrammen, drei Forschungsberichten und einem Flipchart-Bild, das in sauberster Blockschrift sämtliche Argumente auflistete.

Wenn all das ihre Mutter nicht überzeugte, dann wusste sie auch nicht mehr weiter.

Dally war vorbereitet. Sie hatte den Termin für den heutigen Montagnachmittag bereits am Freitag gemacht. Natürlich musste sie nicht jedes Mal einen Termin machen, um mit ihrer Mutter zu sprechen, doch während der Geschäftszeiten war es bestimmt eine gute Idee. Dally brauchte heute unbedingt ein Ja, und bei ihrer Mutter ohne Vorwarnung einzudringen, hätte ihr sicher die Laune verdorben.

Während der letzten drei Schultage hatte Dally in ihrer Freizeit – der nicht verplanten Stunde nach dem allgemeinen Unterricht und vor ihren Privatstunden in Betriebswirtschaft – recherchiert und ihre Gedanken geordnet. Dann, übers Wochenende hatte sie mehrfach die Präsentation vor dem Spiegel einstudiert. Ihre Mutter brauchte einen sehr guten Grund dafür, dass Dally etwas außer der Reihe unternehmen durfte, deshalb hatte Dally eine ganze Mappe mit Gründen gesammelt.

»Hallo, Delilah«, sagte ihre Mutter. Sie kam um den Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand entgegen. »Schön, dich zu sehen.«

»Finde ich auch«, antwortete Dally, nahm die Hand ihrer Mutter und schüttelte sie fest, so wie sie es gelernt hatte.

»Bitte«, sagte ihre Mutter und deutete auf die beiden Stühle an der Besucherseite des Schreibtischs. Es war so ein typisches Chef-Gebaren, um klarzumachen: Nimm Platz, aber vergiss nicht, wer hier das Sagen hat.

Die Stühle waren tiefe Sessel und ziemlich groß. Dally hockte sich vorn auf den Rand des einen, damit ihre Füße noch den Boden berührten. Normalerweise gefiel es ihr, sich nach hinten zu schieben und zu sehen, wie ihre Füße vorn in die Luft ragten, doch es passte nicht, sich im Sessel herumzuflegeln, während sie versuchte, erwachsen und geschäftsmäßig zu wirken.

Dallys Mutter war stets absolut die Geschäftsfrau. Ihre gewellten braunen Haare waren im Nacken zu einem festen Knoten zusammengebunden und ruhten auf einem frisch gebügelten Blusenkragen. Die feinen Züge ihres glatten, blassen Gesichts wirkten gelassen. Dally hatte dieses Gen für ein ständig gepflegtes Äußeres nicht geerbt. Ihre Schuluniform war hoffnungslos zerknittert. Und ihre üppige schwarze Lockenpracht hatte sie vor dem Meeting zwar irgendwie gebändigt, doch die Wangen schienen zu glühen, was bestimmt deutlich zu sehen war. Das Äußere war nur eines der vielen, vielen Dinge, in denen sich ihre Mutter und sie unterschieden.

Die lehnte sich jetzt hinter dem Schreibtisch in ihren Stuhl zurück. »Interessant, dass du einen Termin gemacht hast. Ich denke, es geht um etwas Geschäftliches, das du mit mir besprechen willst?«

Dally saß einen Augenblick schweigend da. Sie hatte diesen Teil wieder und wieder geübt und wusste genau, wie sie einsteigen wollte, doch auf einmal war alles anders, jetzt, da sie in dem beeindruckenden Büro mit dem riesigen braunen Schreibtisch hockte, im Schein des Nachmittagslichts, das durch die Fenster drang, und unter dem drängenden Blick ihrer Mutter, der auf ihrem Auftritt lastete.

»Hier ist dein Termin«, forderte ihre Mutter sie auf. »Was hast du auf dem Herzen?«

Dally musste schlucken. »Ja, ich habe eine Präsentation gemacht«, sagte sie, platzierte ihr Tablet auf dem Schreibtisch, den Bildschirm zu ihrer Mutter gerichtet, und begann mit der Slideshow. Erst mit den Infos einsteigen, dann mit dem Deal kommen, rief sie sich in Erinnerung. Sie öffnete ihre Mappe und zog Blatt eins heraus.

»Wusstest du, dass neunzig Prozent aller Studierenden, die an einer der acht renommiertesten Unis der Welt angenommen werden, einen erfolgreichen Leistungsnachweis in außerschulischen Aktivitäten vorweisen können?« Sie legte die Studie auf den Schreibtisch und klickte das nächste Bild an.

»Und wusstest du, dass die Lebenskompetenz, die Kinder durch Outdoor-Programme wie Pfadfinderei oder Camping gewinnen, die Sozialisierung verbessern, die Kreativität stärken und tatsächlich auch die Aktivität des Gehirns intensivieren?« Sie legte die zweite wissenschaftliche Untersuchung auf den Schreibtisch.

»Und wusstest du« – das war der entscheidende Punkt –, »dass Kinder, die trauern, stark profitieren, wenn sie die Möglichkeit haben, das Gedenken an den Verstorbenen zu ehren?«

Dallys Mutter warf einen Blick auf das gerahmte Foto neben ihrem Bildschirm – nur kurz, die Augen ganz schnell hin und her bewegend. Einmal blinzeln und du hattest es schon verpasst. Aber Dally blinzelte nicht, weshalb ihre Augen dem Blick automatisch folgten.

Sie musste aber zweimal hingucken. Das Foto stand mit dem Rücken zu ihrer Mutter, das heißt, anstatt auf die Rückseite des Rahmens zu schauen, wie sie es beim letzten Mal getan hatte, als sie im Büro ihrer Mutter gewesen war, blickte Dally jetzt voll in das beste Foto, das je von ihr und Grandpa gemacht worden war. Sie saßen am Küchentisch und betrachteten einen Schokokuchen. Mit der Gabel in der Hand, lächelte Grandpa zu ihr hinab und sie lachte zu ihm hoch. Dally hatte das gleiche Foto auch selbst in ihrem Zimmer hängen. Jeden Tag sah sie es an. Wieso hatte ihre Mutter das Foto weggedreht?

»Ähm …« Dally legte die dritte Studie, die über Kinder und Trauern, auf den Schreibtisch. Dann kam sie zum Deal. »Es gibt ein neues Programm für die Zeit nach dem Unterricht, das diese Woche an der Schule startet«, erklärte sie. »Nennt sich Abenteuer-Club und ich hätte gern deine Erlaubnis, daran teilzunehmen. Hier sind die Argumente, warum das eine gute Idee ist.«

Dally klickte durch die sorgsam zusammengestellte Slideshow aus Charts und Fakten, während Grandpa ihr aus dem Foto zulächelte. Sie hoffte, er würde ihr Glück bringen, was ihre Präsentation anging. (Plötzlich spürte sie, dass sie vielleicht doch ein bisschen Glück brauchen könnte.)

In ihrem bisherigen Leben war Grandpa immer die wichtigste und liebste Person der ganzen Welt gewesen. Er war immer da gewesen, mit seinem weichen donnernden Lachen, dem zerknitterten Lächeln in den Augenwinkeln und den großen, starken Armen, die perfekt geeignet waren für so was wie Drücken, Schaukelanschieben und Hilfestellung beim Auf-die-Bäume-Klettern. Er hatte mit ihr, ihrer Mutter sowie dem Koch und der Haushälterin, die auch bei ihnen wohnten, in dem Anwesen gelebt. Das ganze Grundstück hatte ursprünglich ihm gehört, bevor er es Dallys Mutter vermachte, sich aus dem Geschäft zurückzog und sie den Konzern übernahm.

Die Peteharringtons waren echt ziemlich reich, und die wichtigste Aufgabe bestand für Dallys Mutter darin, dass das auch immer so blieb. Sie arbeitete den ganzen Tag und die halbe Nacht und sorgte sich ständig ums Geld, obwohl Dally sicher war, sie hatten mehr als genug davon. Grandpa nannte es eine unheimliche Fixiertheit, und ab und zu hatte er seiner Tochter gedroht, »dir das Geschäft wegzunehmen und keinen Dollar zu lassen, damit du mal lernst, was wirklich wichtig im Leben ist«. Doch Dallys Mutter war eine raffinierte und äußerst besonnene Geschäftsfrau, und als Grandpa jenen Satz sagte, hatte sie einen Stapel Papiere aufgetischt, die ihn rot werden und die Fäuste ballen ließen, bis die Knöchel weiß wurden. Dally hatte das alles vom Flur vor dem Arbeitszimmer aus beobachtet, wo sie sich hinter der Ritterrüstung versteckte, um zu sehen, worum der Streit zwischen den beiden ging. »Du bist nicht die Tochter, die ich großgezogen habe«, sagte Grandpa mit bebender Stimme. Worauf Dallys Mutter nur kühl antwortete: »Du hast kein Stimmrecht mehr in dieser Firma.« Und während sich Grandpa über die Unterlagen beugte, ergänzte sie noch: »Die Geschäftsberichte sind hervorragend. Vielleicht bin ich ja nicht die Tochter, die du dir gewünscht hast, aber ich bin genau die Tochter, die du großgezogen hast.«

Grandpa hatte die Firma von Dallys Urgroßvater geerbt und ihre Mutter wiederum von ihm. Auch Dally wurde darauf getrimmt, einmal die Geschäfte zu übernehmen. Schon ganz früh war sie in Privatstunden mit Privatlehrern gelandet, die ihr so wichtige Geschäftsdinge beibrachten wie Wirtschaftslehre, Buchhaltung und den Sinn und Zweck von Profit. Diese Unterrichtsstunden langweilten Dally bis in die Knochen. Sie hasste Tabellen und Zahlen. Dafür liebte sie Wörter und Geschichten, Geheimnisse und Abenteuer, doch innerhalb der Gemäuer des Peteharrington-Anwesens gab es davon nicht viel – außer man nutzte seine Fantasie.

Dally hatte reichlich Fantasie und jede Menge wunderbares Spielzeug, sehnte sich aber nach jemandem, mit dem sie spielen konnte. Sie hatte keine Geschwister, es gab nur wenige Nachbarn und die auch noch weit weg. Und die Klassenkameraden fanden sie irgendwie komisch. Vielleicht war sie einfach zu lebhaft oder zu schnell im Erfinden von ungewöhnlichen, hoch komplizierten Spielen.

Grandpa hatte Dallys Trauer und Einsamkeit erkannt und versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Er hatte eine Stunde pro Tag zum Spielen ausgehandelt als Freiraum jenseits von Schule und Hausaufgaben. Nach dieser Stunde begann der Wirtschaftsunterricht. Zwei lange Stunden saß Dally dann an einem kleinen Schreibtisch vor einem Whiteboard, während sich ihr Privatlehrer langatmig über diese oder jene Grafik ausließ, die ihr die Welt der Hochfinanz demonstrieren sollte. Wenn er redete, wanderten Dallys Gedanken zurück und spielten noch einmal all das Schöne und Lustige durch, das sie zuvor am Nachmittag erlebt hatte. Diese eine Stunde pro Tag nach der Schule, die sie mit Grandpa im Garten verbracht hatte, wo sie auf Bäume kletterte, vom Steg aus in den See sprang (es war wirklich ein sehr großes Anwesen) oder in der Bibliothek der Familie in herrlichen alten Büchern stöberte, Puzzles legte – diese eine Stunde war das absolut Wunderbarste am ganzen Tag gewesen und, wenn sie alle Stunden zusammennahm, das Beste in ihrem Leben.

Natürlich hatten sie auch die Sommer zusammen verbracht, wenn Dally in keine Schule musste. Ihre Mutter hatte sie zwar in etlichen Camps zur Erweiterung ihres Wissens angemeldet – Mathe- oder Naturkunde-Camps, Kommunikations-Camps und auch mal in einem ganz normalen altmodischen Ferienlager, die alle besser waren als die schrecklichen privaten Unterrichtsstunden –, doch wenn sie zu Hause war, stahlen Grandpa und sie sich manchmal für ein Wochenende auf seinem Segelboot fort. Sie genossen es, sowohl von Land als auch vom Meer aus die Küste von South Carolina zu erforschen – allein schon in Dallys mittelgroßer Heimatstadt Welleston ließen sich eine Menge Dinge erkunden, vom Einkaufsviertel im Zentrum und dem historischen Hafen bis zum Kulturzentrum, den Parks und den Dutzenden von Stadtteilen. Manchmal fuhren sie sogar an der Küste entlang bis nach Charleston oder kampierten in den Blue Ridge Mountains. Es hatte nie Mangel an Abenteuern gegeben, wenn Grandpa dabei war.

»Zusammengefasst«, sagte Dally zum Abschluss ihrer Präsentation, »bin ich der Ansicht, dass die Teilnahme am Abenteuer-Club eine hervorragende Gelegenheit für mich bietet, Grandpa zu ehren und die Erinnerung an ihn zu bewahren, während ich gleichzeitig neue Fähigkeiten erwerbe und Freunde gewinne. Wie du an den wissenschaftlichen Studien sehen kannst, sind all diese Dinge wichtig für Menschen in meinem Alter.«

Dally atmete tief aus. Sie hatte es wirklich gut hingekriegt, ihre Punkte darzulegen und alle Diagramme zu erläutern. Sie unterbrach sich bei dem Bild, auf dem Gibt es noch Fragen? stand, und legte den Papierausdruck ihrer Präsentation vor ihre Mutter auf den Schreibtisch. Die würde stolz auf Dally sein, dass sie eine so professionelle Slideshow zusammengestellt hatte und gleichzeitig einen Back-up-Plan lieferte. »Und, was meinst du?«

»Ich meine, du hast auch so schon genug von deinem Großvater in dir«, antwortete ihre Mutter. »Das da wird nicht helfen.« Sie berührte eine der Forschungsstudien. »Aber ich weiß, dass Anregung wichtig ist. Deshalb hast du ja deinen Privatlehrer.«

»Privatlehrer bedeutet Geschäft«, betonte Dally. »Aber wie Grandpa immer gesagt hat, es gehört mehr zum Leben als nur die Arbeit.« Es war falsch, das zu sagen, und Dally wusste es in dem Moment, als die Worte aus ihrem Mund kamen. O nein. Für ihre Mutter gab es nichts Wichtigeres im Leben als ihre Arbeit.

»Mein Vater war kein verantwortungsvoller Mensch«, sagte sie. »Ich weiß, für dich wirkte er wie jemand, mit dem man viel Spaß haben kann, aber –« Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich in den Schreibtischstuhl zurück und starrte eine Weile an die Decke.

Dally ließ die Stille anwachsen. »Bitte«, sagte sie schließlich nach einer ganzen Weile. »Es ist wichtig für mich.«

»Dein Großvater ist tot«, antwortete ihre Mutter. »Es ist an der Zeit, sich von ihm zu lösen und weiterzumachen.«

Weiterzumachen … und sein Foto wegzudrehen?

»Vermisst du ihn denn gar nicht?« Dallys Stimme wurde laut und überschlug sich peinlicherweise. Das hier war ein Geschäfts-Meeting. Sie musste cool und selbstbewusst bleiben, wie ihre Mutter immer sagte. Für Gefühle war später Zeit.

»Er war mein Vater«, antwortete ihre Mutter, was keine wirkliche Antwort auf Dallys Frage war.

Dally schniefte laut und riss sich zusammen. »Natürlich«, sagte sie. »Also, ich glaube, er würde wollen, dass ich bestimmte Dinge in seiner Abwesenheit beibehalte. Der Abenteuer-Club trifft sich auch bloß zweimal die Woche.«

Ihre Mutter antwortete mit zusammengepressten Lippen: »Während deiner Freistunde?«

»Ja. Also, es dreht sich um zweieinhalb Stunden nach der Schule. Dienstags und donnerstags. Aber –« Dally hatte die Frage erwartet und klickte die letzte Grafik an. »Das sind trotzdem nur fünf Stunden jede Woche.« Sie hatte es ausgerechnet und eine hübsche Kalender-Grafik gemacht, um es zu zeigen. »Wenn ich montags, mittwochs und –«

»Der Stundenplan deines Privatlehrers steht bereits«, sagte ihre Mutter. »Wir drei haben eine Abmachung unterschrieben.«

»Ja, aber das war vorher?«

»Du willst dein Wort brechen? Wie willst du je erfolgreich sein, wenn sich die Leute, mit denen du Geschäfte machst, nicht auf dich verlassen können?«

»Nein, ich … ich will ja nur Zeiten ausgleichen … ähm …« Dally suchte nach dem professionellen Wort. »Ich will den ursprünglichen Plan nur anpassen … wegen einer veränderten Sachlage. Die Ankündigung für den neuen Abenteuer-Club gibt es erst seit letzter Woche.«

»Tut mir leid, Delilah. Meine Antwort ist nein.«

»Aber …« Dally hatte erwartet, dass das Meeting hart werden würde, aber nicht, dass es scheitern könnte. Sie hatte doch recherchiert und Diagramme gezeichnet!

Ihre Mutter faltete die Hände. »Gut, wenn das alles ist, dann darfst du jetzt gehen.«

»Nein. Das ist nicht alles.« Dally sprang auf. »Du bist uneinsichtig.«

»Ich bin deine Mutter. Ich muss nicht einsichtig sein.«

»Aber –«

»Dein Unterricht hat Priorität. Ende der Diskussion. Raus jetzt.«

»NEIN«, sagte Dally nun noch lauter und stampfte mit dem Fuß auf. Wegen des dicken Teppichs war nichts zu hören, und sie kam sich nur umso dämlicher vor, weil sie nicht cool geblieben war.

Ihre Mutter schob sich vom Schreibtisch weg und stand auf. »Hör zu, das hier ist mein Büro. Du bist gekommen, um etwas zu präsentieren. Das Ganze war gut durchdacht, und ich bin stolz auf dich. Aber manchmal bekommt man in der Geschäftswelt nun mal nicht, was man will.«

»In der Familie ist es genauso, nehme ich an.« Dally schniefte wieder. Die Tränen hatten die Augen zwar noch nicht erreicht, aber tief in ihrem Herzen spürte sie schon, wie sie ihre Koffer packten und in den Zug stiegen.

»In der Familie noch mehr als sonst wo«, sagte Dallys Mutter leise, aber entschieden. Die schreckliche Wahrheit dessen, was sie sagte, hallte durch das schicke Büro. Ich bin nicht die Tochter, die mein Vater wollte. Du bist nicht die Tochter, die ich wollte.

Dally sammelte ihre Präsentations-Unterlagen ein, drehte sich um und hielt den Kopf hoch. Sie würde das Büro verlassen haben, bevor sie anfing zu weinen. So musste es sein.

2

Dally rannte durch die Flure des Peteharrington-Anwesens zu Grandpas Arbeitszimmer. Die Arme ausgestreckt, warf sie sich gegen die Tür und – uff! Anstatt locker durchzukommen, wie sie es erwartet hatte, krachte sie mit voller Wucht gegen die schwere, geschnitzte Holzfläche. Die vertraute große Messingklinke gab nicht nach.

Die Tür war seit seinem Tod verschlossen, in ihrer Trauer und ihrem Frust hatte Dally das völlig vergessen. Sie sackte zu Boden, drückte mit ihrem Rücken gegen die verriegelte Tür und ließ den Zug ihrer Tränen nach oben rumpeln.

»Sie ist schrecklich«, flüsterte Dally und wünschte sich, Grandpa wäre da und würde sie hören. »Wie konntest du mich nur allein lassen?«

Bei der Verlesung von Grandpas Testament hatte sie erfahren, dass er ihr ein Konto hinterlassen hatte, das nur für sie bestimmt war und erst angerührt werden durfte, wenn sie das einundzwanzigste Lebensjahr erreichte. Der Notar hatte ihr einen großen beigefarbenen Umschlag mit ihrem Namen drauf hingehalten, und Dally war vorgetreten, um ihn entgegenzunehmen, doch ihre Mutter war schneller gewesen. »Der kommt in den Safe«, hatte sie erklärt. »Bis du volljährig bist.«

Dally verstand das nicht. Der Umschlag war doch für sie. Selbst wenn sie das Geld nicht anrühren durfte, bevor sie einundzwanzig wurde, wäre es doch ein gutes Gefühl gewesen, das Einzige, das Grandpa ihr sonst hinterlassen hatte, in Händen zu halten. Sie hatte ganz still in ihrer Schuluniform dagesessen und den Umschlag angestarrt, der auf den Knien ihrer Mutter lag, während sich der Notar endlos weiter über Immobilien, Investments, Ausschüttungen und alle möglichen anderen Dinge ausließ, die Dally nicht wirklich verstand.

Aber sie verstand (dank des Privatunterrichts) genug vom Finanzwesen, um zu wissen: Es bedurfte nicht eines so großen Umschlags zur Überschreibung eines Bankkontos. Wenn ihr Grandpa ihr nichts anderes als Geld hinterlassen hatte, hätte es keinen Umschlag gebraucht.

Es musste mehr in dem Umschlag sein – da war sich Dally sicher. Doch er war weggeschlossen.

Zumindest fürs Erste.

Durch die Tür hörte sie, wie die alte Standuhr vier schlug. Dally blieben nur noch fünfzehn Minuten, bevor der Unterricht bei ihrem Privatlehrer begann.

»Miss Dally?« Hannah, die Haushälterin, kam um die Ecke gehetzt und öffnete ihre Arme. »Oh, hier bist du, Schatz. Alles in Ordnung, Herzchen?«

Dally wischte sich die Wangen an ihrem Pulloverärmel ab. »Ja, alles okay.« Sie rappelte sich hoch und wich Hannah aus. Dally war nicht in der Stimmung, sich von irgendwem außer Grandpa trösten zu lassen, egal, wie warm und weich Hannahs Umarmung wahrscheinlich sein würde.

Hannah stemmte eine Faust in die Hüfte. »Ähem. Also, du weißt doch, ich höre alles, was in diesem Haus läuft, und ich denke, es ist an der Zeit für eine Aufheiterung …« Sie streckte die Hand aus und hielt ihr eines von Dallys Lieblingsbonbons mit Orangengeschmack hin. Als sie noch kleiner war, hatte Dally tagelang vergeblich versucht, das Versteck ausfindig zu machen, wo Hannah sie aufbewahrte. Hannah hatte immer einen Muntermacher in ihren Taschen, wenn sich Dally das Knie anschlug oder eine Niederlage einstecken musste. Sie nahm ihr das eingewickelte Bonbon ab. »Danke, Hannah. Ich nehm es mit in den Unterricht.« Es blieb noch ein wenig Zeit, bevor sie dem Privatlehrer ihre Hausaufgaben vorlegen musste, doch sie wollte allein sein, um nachzudenken. Als sie um die Ecke verschwand, riss sie die Folie ab und steckte sich das köstliche Bonbon eilig in den Mund. Sie fühlte sich dadurch nicht wirklich viel besser, aber wenigstens auch nicht schlechter.

Es war natürlich verlockend, den Unterricht zu schwänzen und reiten zu gehen oder sonst was. Manchmal stellte sie sich vor, einfach davonzureiten und nie wieder etwas von sich hören zu lassen. Niemand würde sie vermissen. Wie das wohl wäre, überlegte sie, einfach wegzulaufen und sich allein in der Welt durchzuschlagen? Aber sie war ja erst elfeinhalb.

Das Einzige, das vielleicht ihr Schicksal ändern könnte, war, an den Umschlag zu kommen, den Grandpa ihr hinterlassen hatte.

 

In jener Nacht, nach dem langweiligen Unterricht und dem üblichen Abendbrot allein in dem großen Esszimmer, lag Dally im Bett und überlegte. Wartete ab.

Sie wusste, wie man ein Schloss knackte. Grandpa und sie hatten darüber in einem Buch gelesen. Fast eine Woche lang hatten sie an Schlössern geübt und danach ihre Fähigkeiten an verschiedenen Türen im Peteharrington-Anwesen erprobt, einschließlich der von Grandpas Arbeitszimmer.

Dally rollte sich zum Nachttisch hinüber und zog die Schublade auf. Sie wühlte zwischen Haargummis, Schals, Nagelclips und was sonst noch herum, bis sie endlich den weichen Lederbeutel ertastete, eingewickelt in seine eigenen Schnüre. Ja, da war er. Sie besaß noch ihr eigenes Einbrecher-Werkzeug.

Dally zog es aus dem Beutel. Drei schmale, flache Teile aus Metall, die kühl in der Hand lagen, aber glühend heiß in ihrem Kopf brannten.

Dally glitt unter der Bettdecke vor. Die Luft war kalt, deshalb zog sie schnell ihren lavendelfarbenen Bademantel über und trat, das Werkzeug fest umklammert, hinaus in den Flur.

Auf Zehenspitzen schlich sie durch das Peteharrington-Anwesen. In ihrem Kopf hörte sie Grandpas Stimme so deutlich, als ob er direkt hinter ihr stünde. Dally, ich sagte einundzwanzig, nicht knapp zwölf.

»Außergewöhnliche Umstände, Grandpa«, flüsterte Dally zurück. »Wenn du wirklich da wärst, würdest du es verstehen.«

Das Schloss zu Grandpas Arbeitszimmer aufzubrechen, fühlte sich an wie einem lang vermissten Freund die Hand schütteln: vertraut, doch neu und erfüllt von dem Versprechen, wieder miteinander verbunden zu sein. Das Dunkel im Flur machte es schwierig, die eigenen Finger zu sehen, aber Dally wagte nicht, um diese Uhrzeit Licht zu machen. Es war sowieso egal, denn zum Schlösserknacken brauchte man vor allem Gefühl.

Das letzte Mal, dass sie so spät im Flur gestanden hatte, war noch mit Grandpa gewesen, als sie sich wieder einmal zum Schwimmen im See aus dem Haus geschlichen hatten: Grandpa in seiner lächerlichen halbmondförmig knappen Badehose, über die sich ihre Mutter (und alle anderen) immer lustig machte, und Dally in ihrem äußerst bequemen schwarz-purpurnen Sport-Badeanzug, dem Teil, von dem ihre Mutter behauptete, dass es nicht sehr feminin wirke. Allein in der Dunkelheit können wir sein, wer wir wollen, Dally-Schatz, hatte Grandpa gesagt. Er war gut darin gewesen, zu helfen, dass sie sich besser fühlte, wenn sie mal wieder so gar nicht in die Welt um sie herum zu passen schien. Sie hatten sich abgeklatscht, danach waren sie den Steg entlanggelaufen und in den See gesprungen, wo sie planschten und kicherten und um die Wette zu den Sonnenfelsen hinüberschwammen. Jedes Mal war es natürlich Grandpa gewesen, der gewann, denn er war größer und stärker als Dally, doch sie holte immer mehr auf. Sie spürte ein leichtes Stechen im Herzen. Jetzt würde sie nie die Chance bekommen, ihn zu schlagen – ein Meilenstein, dem sie mit jedem Zentimeter, den sie wuchs, mehr entgegengefiebert hatte.

Dally hatte nicht geahnt, dass das Schwimmen damals ihr letzter Tanz im Mondlicht sein würde, doch selbst wenn, hätte sie nichts, aber auch gar nichts anders gemacht, und darin lag eine Art Freude, die neben der Trauer in ihrem Kopf herumgeisterte. Sie lächelte bei der Erinnerung, während endlich das Schloss unter ihren Fingern aufsprang.

Dally drückte die Tür auf, und Grandpa-Gerüche drangen ihr entgegen. Sie schloss die Augen und ließ sich von ihnen einhüllen wie von einer Umarmung. Alte Bücher. Frische Möbelpolitur. Der Geruch von Pfeifenrauch. Dieses altmodische, nach Wald riechende Parfüm, das er so liebte und das leider nicht mehr hergestellt wurde. Er hatte die letzten Flakons behutsam eingeteilt, doch nicht zu behutsam. Dally trat auf das Sideboard zu, in dem Grandpa ein paar Flaschen Alkohol aufbewahrte, die Lesebrille und das Parfüm in dem laubgrünen Flakon. Dally erinnerte sich an den Tag, als er das Siegel des letzten Fläschchens geöffnet hatte. Inzwischen war es nur noch zu etwa einem halben Zentimeter gefüllt. »Ich will diesen letzten Flakon nicht überleben«, hatte Grandpa gesagt, »aber ich will auch nicht, dass er mich überlebt.«

»Das ist eine Zwickmühle«, hatte Dally geantwortet.

»Mehr ein Glücksspiel«, hatte er erwidert. Und als Dally ihn verwirrt ansah, hatte er gekichert: »Irgendwann wirst du das verstehen, Dally-Schatz.«

Dally berührte den Flakon. Vermutlich erinnerte sie sich deshalb an das Gespräch, weil es das einzige Mal gewesen war, dass Grandpa ihr etwas nicht erklärt hatte, was sie verwirrte. Gewöhnlich war er immer der gewesen, auf den sie sich verlassen konnte, dass er die Wahrheit sagte, egal, wie lang, wie schwierig und erwachsen die Antwort auch sein mochte. Vielleicht steckte ja genau das in dem Umschlag. Etwas Langes, Schwieriges und Erwachsenes.

Bei geschlossener Tür und wenn die schweren Vorhänge nur einen Schimmer des Mondlichts hereinließen, war das Arbeitszimmer wie ein Kokon, deshalb traute sich Dally, nach der Kette der Schreibtischlampe zu greifen und sie zu ziehen. Dann ging sie zum Safe, der sich hinter einem einfachen Goldrahmen mit Grandpas Lieblingslandkarte versteckte. Dally hatte seine Begeisterung für das hässliche alte Stück Leinwand nie verstanden, doch irgendwann hatte er ihr erzählt, dass dieses Stück der Ausgangspunkt eines großen Abenteuers in seinem Leben gewesen sei. Jetzt würdigte sie die Karte kaum eines Blickes, als sie den Rahmen zur Seite schwenkte und nach dem Safe-Schloss griff.

Sie wusste natürlich die Kombination. Grandpa war alles andere als geheimniskrämerisch gewesen, wenn er die acht Ziffern vor ihren Augen eingab, und die Zahlenfolge würde sie garantiert nicht vergessen, weil es ihr Geburtsdatum war, nur von hinten nach vorn gelesen.

Sie kurbelte an dem großen Ziffernrad, und die Tür des Safes sprang auf.

3

Es war kein sonderlich großer Safe, doch er war ziemlich vollgestopft. Stapel von wichtig aussehenden Unterlagen. Schachteln, die die wertvollsten Edelsteine aus Grandpas Sammlung enthielten. Abzüge von einer Handvoll kostbarer Familienfotos. Dally blätterte in einem schiefen Stapel beigefarbener Umschläge mit Aufklebern wie URKUNDE, WILLENSERKLÄRUNGEN, FIRMA, bis sie schließlich den mit der Aufschrift DALLY entdeckte.

Vorsichtig schloss sie den Safe wieder und ließ alles andere so, wie sie es vorgefunden hatte. Sie legte den Umschlag auf den geschnitzten Mahagoni-Schreibtisch und stieg in Grandpas großen Lederstuhl. Erst dann fiel ihr die Flasche mit dem Parfüm ein, die auf dem Sideboard stand, und sie glitt noch einmal von ihrem Platz und sprühte einen Spritzer gegen die Rückenlehne. Danach setzte sie sich in die Duftwolke und atmete tief ein. Irgendwie schien es ihr richtig, Grandpas Botschaft an sie hier zu lesen, in dem Teil, der ihm am allernächsten gewesen war.

Der Umschlag war mit üblichem Kleber und zusätzlich mit einem Siegel aus Grandpas schickem Siegelwachs verschlossen, doch Dally brach ihn rücksichtslos auf – es würde sowieso unmöglich sein, ihre Spuren zu verwischen bei dem, was sie tat.

In dem Umschlag befanden sich drei Dinge. Das erste war eine ausgeleierte alte Scheckhefthülle mit nur einem Blatt drin. Auf dem scheckförmigen Blatt standen der Name einer Bank, von der Dally noch nie gehört hatte, und eine Kontonummer.

Das zweite schien eine Landkarte zu sein. Sie war mit blauer Tinte handschriftlich auf ganz normales Druckerpapier gezeichnet, das Grandpa wahrscheinlich hastig von einem der vielen Stapel auf dem Sideboard hinter ihr gezogen hatte. Dally lächelte liebevoll. Das war der typische Weg für ihn, Dinge schnell aufzunotieren. Er hatte nie ein richtiges Notizbuch in Reichweite liegen gehabt oder ein immer präsentes Tablet, wie ihre Mutter.

Auf den ersten Blick ergab die Karte nicht viel Sinn. Sie war skizzenhaft und alles darin war entweder mit Buchstaben – DS, PA, SB, KM, DGB, X – oder winzigen Zahlen – 25, 85, 41 – beschriftet. Für jeden anderen hätte sie womöglich wie eine abstrakte Zeichnung gewirkt, aber Dally hatte mit Grandpa so viele Karten betrachtet, dass sie derlei sofort erkannte.

Und das dritte war ein Brief auf ähnlichem Papier, in Grandpas vertrauter gedrungener Handschrift.

Oben auf der Seite stand getippt ein kleiner Hinweis, der lautete: »Letzter Wille und Testament von John Peteharrington Jr.: Anhang 17«. Das musste nachträglich von dem Notar ergänzt worden sein, nahm Dally an. Doch sie interessierte nur, was Grandpa für sie aufgeschrieben hatte.

Mein lieber Dally-Schatz,

es schmerzt mich, zu wissen, dass du diesen Brief in dem reifen Alter von elfeinhalb Jahren lesen wirst. (Wir wissen beide, dass du nicht warten wirst, bis du volljährig bist, oder?) Mein größter Wunsch wäre gewesen, dich zu der wunderschönen Frau heranwachsen sehen zu dürfen, die du ganz sicher einmal sein wirst, doch die Welt hat es für angebracht gehalten, uns jetzt zu trennen.

Mir wäre lieber, du würdest mit dem Weiterlesen warten, bis du erwachsen bist, aber wie heißt es so schön: Die Vergangenheit ist bloß das Vorspiel. Und ich kenne nur zu gut dein ungeduldiges Herz. Also gut.

Die Karte ist für dich ganz allein und du weißt alles Nötige, um dich in ihr zurechtzufinden. Wenn du dich entscheidest, der Karte zu folgen, darfst du niemandem davon erzählen. Sie ist unser letztes gemeinsames Geheimnis.

Ich liebe dich, meine süße Enkelin. Du weißt, ich habe nie zu denen gehört, die darüber spekulieren, was nach dem Tod kommt, doch ich vertraue fest darauf, meine wunderbare Dally, dass wir uns wiedersehen werden.

Alles Liebe

Dein Grandpa

Dally las den Brief dreimal, dann drückte sie ihn an sich. Zur sicheren Aufbewahrung schob sie ihn vorsichtig zurück in den Umschlag. Aber die Karte behielt sie zurück. Für die brauchte sie einfach mehr Zeit. Sie machte sich nicht die Mühe, den Umschlag wieder mit Klebeband zu schließen – wenn jemand tatsächlich nachschaute, wäre ohnehin klar, dass er geöffnet worden war. Aber egal, Dally war sowieso nicht überzeugt, dass das, was sie getan hatte, wirklich falsch war. Sie legte den Umschlag zurück in den Safe, machte das Licht aus und lief auf Zehenspitzen zurück in ihr Zimmer.

Das Peteharrington-Anwesen war die Art von Herrschaftssitz, in dem die Tochter der Familie eine ganze Suite für sich allein hatte. Dazu gehörten ein Schlafzimmer, ein Spielzimmer, ein Wohnzimmer, ein Bad und ein Ankleidezimmer, ganz zu schweigen von dem begehbaren Schrank, der so groß war, dass sie auf dem Teppich einen Schneeengel machen konnte, ohne auch nur einen einzigen Schuh umzuwerfen. Ihr Flügel war praktisch ein Haus für sich.

Dally lief zu der hellsten Lampe in ihrer Suite: der Bambus-Leselampe im Wohnzimmer. Sie knipste sie an, und der Strahl legte sich über ihren purpurfarbenen Lieblings-Sitzsack vor dem eingebauten Bücherregal und der Wand mit den besonderen Familienfotos. Die vertrauten Bilder verloren sich normalerweise im Hintergrund, doch in dieser Nacht nahm sich Dally einen Augenblick Zeit, um sie genauer anzusehen. Der größte Rahmen, genau in der Mitte, enthielt ein professionell fotografiertes Familienporträt mit allen Mitgliedern: Dally, im Alter von einem Jahr, auf dem Schoß ihrer Mutter. Wilde schwarze Locken umrahmten ihr lächelndes, pausbäckiges hellbraunes Gesicht. Ihre Hände lagen vor ihr, wie mitten in einem beglückten Beifallklatschen erstarrt. Ihre Großmutter saß neben ihrer Mutter und Grandpa und Dallys Vater standen dahinter. Alle lächelten.

Die meisten der anderen Fotos, die um das Familienbild herumhingen, zeigten sie und Grandpa – einschließlich ihrem Lieblingsbild mit dem Kuchen. Es gab auch eines mit ihrer Großmutter, auf dem diese das Baby Dally hielt. Grandma war aber gestorben, noch bevor Dally zwei wurde, und Dally konnte sich kaum an sie erinnern. Zwei Fotos zeigten sie als Kleinkind mit ihrem Vater: Auf dem einen stand sie auf Skiern zwischen seinen Beinen, auf dem andern saß sie in einem Wanderrucksack auf seinen Schultern. Man sah deutlich, dass sie verwandt waren – Dally mochte die dunkle Hautfarbe und die breiten Gesichtszüge ihres Vaters. Das letzte Foto der Galerie zeigte sie mit ihrer lächelnden Mutter nach dem Kindergartenabschluss.

Da waren es nur noch zwei. Dally riss sich von den Fotos los, tief berührt von der Trauer über die Wahrheit.

Sie schwenkte die Bambuslampe in Richtung des kleinen Teeparty-Tischchens und ließ sich neben Raymond, ihrem Stofftier-Koala, niederplumpsen.

Sie drückte ihm die Pfote.

Raymonds glasige schwarze Augen sahen sie mitleidig an. Obwohl Dally eindeutig zu alt für Kinder-Teepartys war, musste sie zugeben, dass es sich wohltuend anfühlte, jetzt einen vertrauten Freund an ihrer Seite zu haben.

»Du schenkst schon mal Tee ein, und ich schau mir die Karte an«, sagte Dally.

Von mir aus gern, glaubte sie Raymond antworten zu hören. Sie legte die Karte auf den Tisch und betrachtete sie jetzt, wo sie vernünftiges Licht hatte, genau.

Die erste Zahl, die ihr ins Auge sprang, war die 17,5. Es war eine ganz besondere Zahl für Dally, und Grandpa hatte das gewusst. Dally brauchte zu Fuß genau siebzehneinhalb Minuten von der Schule bis zur Haustür des Peteharrington-Anwesens, auch wenn ein Großteil der letzten Minute für die Durchquerung des Grundstücks über den ansteigenden Zufahrtsweg zum Haus draufging. Die Schule endete um drei und Dallys Privatunterricht in Wirtschaftskunde begann um Viertel nach vier. Dieser Ablauf war immer ein Stein des Anstoßes zwischen Dally und ihrer Mutter gewesen. (Das war so ein typischer Grandpa-Ausdruck gewesen: Stein des Anstoßes. Es bedeutete einfach, dass Dally und ihre Mutter über das Thema gestritten hatten.) Dally sollte nach der Schule eine Stunde Freizeit haben, und sie fand unfair, dass es in Wahrheit bloß siebenundfünfzigeinhalb Minuten waren. Sie war der Meinung, dass der Privatunterricht erst um halb fünf anfangen dürfte, um eine volle Stunde für sich zu haben, aber ihre Mutter fand sich schon großzügig, dass sie nicht den größeren Teil der Wegzeit in die Stunde einbezog und den Unterricht um Punkt vier ansetzte. Patt. (Oder manche würden es vielleicht Kompromiss nennen.)

Deshalb war Grandpa jeden Tag pünktlich um 15:17:30 Uhr auf den Stufen zum Haus gestanden und sie hatten etwa sechsundfünfzigeinhalb Minuten Spaß gehabt, was ihr noch ca. 1 Minute für den Weg zu dem Unterrichtsraum ließ.

Entscheidend war, dass sie das Rätsel gelöst hatte! Wenn siebzehneinhalb Dally-Gehminuten die Entfernung zwischen Dallys Schule (DS) und dem Peteharrington-Anwesen (PA) waren, dann war das der Schlüssel für die Karte. Alle weiteren Zahlen darauf mussten auch Dally-Gehminuten bedeuten.

Es gab nur zwei Probleme bei dieser Lösung. Natürlich landete ihr Blick als Erstes auf der größten Zahl von allen: 143. Einhundertdreiundvierzig Minuten waren fast zweieinhalb Stunden. So viel Zeit hatte Dally einfach nicht zur Verfügung. Der Weg hin und zurück würde fünf Stunden und mehr dauern, je nachdem, was es an dem Ort zu tun gab, zu dem der Weg führte. Selbst am Wochenende würde sie allein niemals so lange wegbleiben dürfen.

Das zweite Problem war die Maßeinheit. Die Entfernung entsprach 17,5 Gehminuten im Dally-Tempo. Das hatte für das letzte Schuljahr gestimmt. Doch über den Sommer war sie gewachsen, und mit ihren längeren Schritten lag sie jetzt unter siebzehn Minuten. Noch so ein Meilenstein, den Dally gern mit Grandpa geteilt hätte. Gerade jetzt, weil es bedeutete, dass er mit seinen Berechnungen leicht danebenlag. Dally wusste, dass der Unterschied keine große Bedeutung für den Zweck der Karte hatte – 17,5 war einfach der Maßstab und sie konnte die anderen Entfernungen entsprechend berechnen – trotzdem spürte sie weiter den Stich im Herzen.

Wohin führte die Karte? Unter dem Licht der Bambuslampe wurde klar, dass das X kein weiterer Buchstabe war, sondern das Kreuz, das die entscheidende Stelle markiert, so wie in jeder guten Schatzkarte. Das Kreuz befand sich direkt unter den Buchstaben DGB. Hmm.DGB? Bei den drei Buchstaben klingelte nichts, was sie natürlich nur umso mehr anspornte, dort hinzukommen und die Bedeutung herauszufinden.

Dally gähnte.

D, hast du heute Nacht überhaupt noch mal vor zu schlafen?, stellte sie sich vor, Raymond fragen zu hören, diesmal mit ernsthaft besorgtem Blick.

»Ich werde es rausfinden«, erklärte sie ihm. »Aber ich glaube, ich muss das nicht alles heute mehr schaffen.« Sie küsste seine gesteppte graue Nase und knipste die Bambuslampe aus.

Doch Geduld war nicht wirklich ein typisches Merkmal von Dally. Sie kroch ins Bett und glitt in den Schlaf, aber in ihrem Kopf wirbelten weiter die Gedanken über Dinge wie Kartenmaßstäbe, die Umrechnung von Gehminuten in Fahrminuten sowie Busfahrpläne.

4

Am nächsten Morgen in der Schule ging Dally in den Bereich, wo man die öffentlichen Buslinien einsehen konnte, und checkte den Fahrplan. In Welleston gab es jede Menge Bus- und Shuttle-Verbindungen, die kreuz und quer durch die Stadt führten, doch nur ganz wenige bedienten ihre wohlhabende Gegend. Unglücklicherweise passte keine zu dem, was Dally vorhatte. Aber zum Glück hatte Dally noch einen Plan B.

Ihre Mutter verweigerte ihr den Besitz eines Handys, bevor sie zwölf wurde, was leider noch ein paar Monate hin war. Also lieh sich Dally eines von einem Klassenkameraden (es war ganz leicht, jemanden zu finden, dessen Eltern in Sachen Handy nicht so strikt waren) und wählte eine Nummer, die sie auswendig wusste.

»Limos und Co.«, sagte eine angenehme Männerstimme.

»Hi, Mr. Jerry, hier ist Delilah Peteharrington.«

»Ooooh, Miss Delilah.« Mr. Jerrys Tonfall stieg von neutral zu freundlich. »Wie kann ich heute behilflich sein?«

»Ich brauch nach der Schule einen Wagen«, antwortete sie. »Kann ich für eine Stunde einen reservieren?«

»Was mir zur Verfügung steht, das steht auch Ihnen zur Verfügung, Schätzchen«, sagte Mr. Jerry. Und Dally hörte am anderen Ende der Leitung das Klicken der Laptop-Tastatur. »15 Uhr?«

»Ja. Und wenn ich fertig bin, müssen Sie mich Viertel nach vier wieder zu Hause abliefern. Das heißt, ich brauche Sie wahrscheinlich ein bisschen länger als eine Stunde.«

»Das geht schon in Ordnung, mein Herz«, sagte Mr. Jerry und tippte es ein.

Dally schluckte einmal schwer. »Abrechnung natürlich wie immer von unserem üblichen Konto.« Dieser Punkt war ein gewisses Risiko, aber Dallys Mutter bestellte so oft ein Fahrzeug, dass Dally hoffte, die Extraausgabe würde vielleicht nicht auffallen.

»Aber sicher. Alles eingetragen«, antwortete Mr. Jerry. »Der Fahrer steht um drei Uhr auf dem Abholstreifen.«

»Danke, Mr. Jerry. Sie sind der Beste.«

»Vergessen Sie’s nicht, Miss.«

Dally drückte auf Beenden und ging zu Chip zurück, dem Jungen, der ihr das Handy geborgt hatte. Er stand mit zwei seiner Freunde zusammen, die ganz aufgeregt von dem Abenteuer-Club sprachen. Es war ihr unangenehm, sie zu unterbrechen, deshalb wartete sie ein paar Schritte entfernt. Sie ertrug den stechenden Schmerz, zu sehen, wie sie sich neckten, ganz eng miteinander waren und einen lustigen Nachmittag planten. Dann erklärte einer von ihnen, der Amir hieß: »Das wird die nächste Stufe!«, und wirbelte herum, um sich mit jemand anderem zu unterhalten.

»Hey, Dally«, sagte der andere Junge, als er sie sah.

»Hi, Evan.« Sie bemühte sich, seinen richtigen Namen zu verwenden. Evan hatte sich kürzlich als trans geoutet und sein Anredepronomen geändert.

»Und, was hat deine Mom gesagt?«, fragte Chip, der auf sie zutrat, als Evan Amir hinterherlief.

»Gesagt?«, wiederholte sie.

»Wegen dem Abenteuer-Club.« Er zog ein Blatt aus seiner Mappe: den unterschriebenen Zustimmungswisch.

Dally seufzte. »Ach so. Sie hat Nein gesagt.« Woher wusste Chip überhaupt, dass sie sich für den Club interessierte?

»Na und?«, erklärte er und wedelte mit seinem Zettel. »Gibt ja noch andere Wege …«

Dally verstand nicht genau, was er meinte, wusste aber auch nicht so recht, wie sie Chip fragen sollte. Sie reichte ihm das Handy und sagte: »Auf jeden Fall danke.«

»Klaro.« Der rothaarige Junge nahm ihr das Handy ab und lächelte. »Ist irgendwie schön zu wissen, dass ausnahmsweise ich mal was hab, was du nicht hast.«

Dally lächelte zurück, aber was er gesagt hatte, erzeugte in ihr ein etwas komisches Gefühl. Chip hatte ihrer Einschätzung nach doch so manches, was sie nicht hatte. Zum Beispiel das Handy, aber auch Freunde wie Amir und Evan und dazu den Zustimmungswisch seiner Eltern zur Teilnahme am Abenteuer-Club, pünktlich an diesem Nachmittag. Das war etwas, das Dally weder kaufen noch borgen konnte. Doch sie sagte nichts. Dally hatte gelernt, sich nicht über Dinge zu beklagen, die sie nicht besaß. Die Menschen verstanden nicht, wie man so viel Geld haben und sich trotzdem nach etwas sehnen konnte.

Chip stammte aus einer recht wohlhabenden Familie, wie die meisten Schüler und Schülerinnen in Dallys Privatschule. Doch die Peteharringtons waren laut einem Zeitungsartikel neulich »reicher als Gott«. Etliche Eltern von Dallys Klassenkameraden arbeiteten für das Unternehmen, das Dally zur Tochter der Chefin machte. Als sie noch klein waren, hatten ihre Schulfreunde begeistert gejohlt, wenn sie zum Spielen und Erkunden in das Peteharrington-Anwesen kommen durften. Doch als sie älter wurden, hatten sie angefangen, Dally mit anderen Augen zu sehen. Stück für Stück hatte sie immer weniger Freunde gehabt. Und selbst wenn sie mal jemanden besonders mochte, war es immer schwerer geworden, Zeiten zum Spielen zu finden, wo sie doch nun ihren privaten Wirtschaftsunterricht bewältigen musste.

Geld machte das Leben leicht, das wusste Dally. Es würde ihr wohl niemals an Essen, Büchern oder Spielzeug fehlen und das war ein großes Glück. Doch es gab eben auch vieles, das mit Geld nicht zu haben war: Lachen zum Beispiel und die passenden Leute dazu. Oder Zeit für Abenteuer.

Dally sah, wie Chip noch ein wenig weiter mit seinem Zustimmungszettel herumwedelte. Dann streckte sie die Schultern und ging in ihre Klasse.

Der Abenteuer-Club würde das ganze Schuljahr laufen. Vielleicht würde sie ja noch irgendwann später dazustoßen können. Aber egal, der Nachmittag heute würde ihr ganz eigenes Abenteuer sein. Und fürs Erste musste das reichen.

 

Dally nutzte die Stunde zum stillen Lernen in der Schule, um Grandpas Karte mit dem Stadtplan zu vergleichen und sich für eine Adresse zu entscheiden, zu der sie der Fahrer bringen sollte. Als Erstes maß sie die tatsächliche Entfernung zwischen Schule und Zuhause mithilfe der kleinen Maßstabsangabe unten am Rand des Stadtplans. Dann schuf sie sich einen eigenen Maßstab, der zehn Dally-Gehminuten (in ihrem alten Lauftempo) darstellte. Diesen Maßstab verwendete sie, um jede Schrittangabe aus Grandpas Karte mit der Straßenkarte zu vergleichen.

Zum Beispiel zeigte Grandpas Karte drei Streckenteile zwischen »PA« und »SB«, die zusammen eine Dally-Gehzeit von fünfundfünfzig Minuten ergaben. Dally folgte der Route auf dem Stadtplan und stellte fest, dass sie vom Peteharrington-Anwesen zur Stadtbücherei führte. Grandpa und sie waren den Weg viele Male gegangen, und es hatte immer ungefähr eine Stunde gedauert. Deshalb schloss Dally, dass »SB« die Stadtbücherei meinte. Und als sie den Weg zum »KM« übertrug, landete sie beim städtischen Kunstmuseum.

Ja! Sie hatte den Code geknackt.

Aufgeregt maß sie die Strecke zwischen »PA« und dem X nach, das das geheimnisvolle »DGB« markierte. Sie überprüfte noch mal ihr Ergebnis und wählte dann einen Ort, von dem sie hoffte, dass er knapp drei Häuserblocks von dem X entfernt lag. Das endgültige Ziel musste zwischen Grandpa und ihr geheim bleiben. In diesem Punkt war der Brief eindeutig gewesen.

Als sie aus der Schule kam und die Abholspur checkte, wartete nicht irgendein unbekannter Fahrer in einer gewöhnlichen Limousine auf sie, sondern Mr. Jerry persönlich in einer Stretchlimo. Er parkte Stoßstange an Stoßstange mit den von Eltern oder Tagesmüttern gesteuerten Kombis und SUVs.

»Na super, du Schickimicki-Tussi«, rief einer der Jungs aus ihrer Klasse, als sie auf die Stretchlimo zutrat. Ihr Magen sackte ein bisschen nach unten. Das war es, genau diese Dinge, die sie ein kleines bisschen anders sein ließen als der Rest. Es war ihr nicht eingefallen, um ein schlichteres Fahrzeug zu bitten. Ihre Mutter hätte den großen Auftritt vielleicht geliebt, aber Dally versuchte lieber unterm Radar zu fliegen.

Trotzdem musste sie unfreiwillig lächeln, als Mr. Jerry ausstieg und winkte. Und er lächelte breit und gut gelaunt zurück. Er trug eine kleine Chauffeursmütze sowie Schlips und Weste in gepflegtem Schwarz, die Weste mit einer in Gold gestickten Blume auf dem Revers. Mr. Jerry hob die Mütze in Richtung Dally und lief auf leisen Sohlen und mit dem Auftreten eines Musikers zu der hinteren Tür. Sie konnte die Klänge von Jazz förmlich bei jeder seiner Bewegungen hören.

»Ich fass es nicht«, sagte Dally. »Der Chef persönlich.«

»Nur das Beste für die Dame.« Mr. Jerry tippte noch einmal an seine Hutkrempe und verbeugte sich knapp, als er ihr die Tür öffnete.

»Schön, Sie zu sehen, Mr. Jerry.« Und das stimmte wirklich, trotz ihres Wunsches, nicht aufzufallen.

»Ganz meinerseits, Miss Delilah.«

Sie stieg ein und warf ihren Rucksack auf den Nebensitz. Mr. Jerry schloss die Tür. Dally öffnete eine der kleinen Wasserflaschen, die in dem Getränkehalter bereitstanden. Ausreichend zu trinken war wichtig vor einem Abenteuer.

»Wohin, mein Herz?« Mr. Jerry manövrierte die Stretchlimo bereits aus der Abholspur, als er fragte.

Dally reichte ihm die Adresse, für die sie sich entschieden hatte. Dem Stadtplan zufolge war es eine Bäckerei, was als einleuchtendes Ziel durchgehen konnte.

»Sind Sie sicher?«, fragte Mr. Jerry nach.

»Ja, wieso?«

»Nicht gerade Ihr Stadtviertel«, antwortete Mr. Jerry. »Und Ihre Mutter ist einverstanden?«

Dally hatte nicht damit gerechnet, so schnell in Sachen Erlaubnis in Zugzwang zu kommen. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und suchte in ihrem Hirn nach einer Antwort, die nicht gelogen war.

»Meine Mutter möchte, dass ich die Dinge des Lebens lerne, um erwachsen zu werden«, erklärte sie. »Ich habe eine Stunde nach der Schule für meine Erkundungen. Um Viertel nach vier muss ich zu Hause sein.«

Mr. Jerry nickte, als wenn diese Erklärung für ihn Sinn ergab. »Tja, Sie werden sehr schnell erwachsen, Miss D.«

Die zwei unterhielten sich, während der Wagen zuerst an den funkelnden Ladenfronten des Einkaufsviertels vorbeischoss, dann an den weniger glamourösen Einkaufszentren und schließlich an Straßenzügen, die eher an Industriegegenden erinnerten. Breite Wege zum Flanieren wurden von schmuddeligen Parkplatzflächen, mit Unkraut überwucherten Brachen und verriegelten Lagerhäusern abgelöst. Nach den Lagerhäusern tauchten zwar wieder Geschäfte auf, doch alles wirkte grauer und ziemlich heruntergekommen. Es gab wieder Bürgersteige, und dort wimmelte es nur so von Menschen – Leuten, die einfach entlangliefen, einkauften, auf Stufen hockten, hin und her eilten, ja sogar tanzten. So viele Menschen! Dally erblickte Gesichter in allen Farben von blass bis dunkel. Ein von Schwarzen bewohntes Viertel – Dally konnte sich nicht erinnern, auf ihren Erkundungstouren mit Grandpa je dort gewesen zu sein. Das war überraschend. Auch wenn Grandpa ein Weißer war, hatte er doch immer dafür gesorgt, Dally eine diverse Welt zu zeigen. Sie hatten Schwarzenviertel erkundet, die viel weiter von zu Hause entfernt lagen, warum dann nicht dieses, das so viel näher lag?

Die Stretchlimo bog um eine Ecke und bremste ab. Eine riesige Menschenmenge füllte die Straße.

»Verdammt«, sagte Mr. Jerry. »Ziemlich voll hier.«

Musik dröhnte von irgendwoher. Einige Leute tanzten zu dem Rhythmus. Mr. Jerry hupte, und die Leute bildeten eine Gasse zum Bordstein hin und ließen den Wagen vorbei.

»Ist hier ein Fest?«, fragte Dally.

»Die Straße weiter unten hat ein neuer Brathähnchen-Laden aufgemacht«, antwortete Mr. Jerry. »Soll gut sein. Butterweich und so.«

»Und die ganzen Leute hier stehen für Brathähnchen an?«, fragte Dally ungläubig.

»Alle sind auf den Beinen. Sie wissen doch, wie die Leute sind.« Mr. Jerry kicherte.

Dally nickte lächelnd, wie es sich gehörte, doch um ehrlich zu sein, wusste sie es nicht. Dally war halb weiß, halb schwarz, aber nachdem ihr Vater starb, als sie ganz klein war, und er kaum Familie besaß, die noch am Leben war, hatte sie auch wenig Erfahrung damit, in eine schwarze Gemeinschaft einzutauchen. So wie ihre Mutter nun einmal war, hatte Dally die meiste Zeit ihres Lebens im Umfeld von Weißen verbracht – in der Schule, im Geschäft, in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Sie wusste genau, was Mr. Jerry gemeint hatte, als er sagte, das sei nicht ihr Stadtviertel, und es machte sie sehr traurig.

Als sie aus dem Heckfenster blickte und das spontane Straßenfest beobachtete, fand sie das Ganze ziemlich aufregend. Das Gefühl von Gemeinschaft, Fremde, die auf der Straße Freundschaften schlossen. Das Lachen, die Musik, das Tanzen.

Die Unterdrückung, sagte eine leise Stimme in Dallys Hinterkopf. Sie lehnte sich in den Sitz zurück und seufzte. Es war ohne Zweifel die Stimme ihrer Mutter. Ihrer Mutter, die glaubte, dass es einzig und allein Geld brauche, um die Probleme zu lösen, die daher rührten, dass man eine braune Hautfarbe hatte, und dass einen der Aufstieg aus der Armut und der Umzug in einen anderen Stadtteil – so wie es Dallys Vater gemacht hatte – vor Rassismus schützen. Ihre Mutter hielt es eindeutig für das, was zählte, und Dally hatte den Verdacht, dass die Privilegien, die sie genoss, an anderer Stelle ihren Preis hatten.

Kurz darauf hielt Mr. Jerry vor der Bäckerei. Auch dieses Haus war ziemlich schäbig und heruntergekommen, doch das Licht im Innern wirkte freundlich und einladend.

»Sind Sie sicher?«, fragte Mr. Jerry erneut. Er sah sie im Rückspiegel an.

»O ja«, antwortete Dally. Sie schaute auf die Uhr. Die Fahrt hatte nur etwa zwanzig Minuten gedauert. »Ich komme rechtzeitig zurück, damit ich um Viertel nach vier wieder zu Hause bin.«

»Ich werde hier sein«, sagte Mr. Jerry. Er hob die Zeitung hoch, wie um zu beweisen, dass er sich gut zu beschäftigen wisse.

Dally schnappte sich ihren Rucksack, sprang aus dem Auto und trat in die Bäckerei. Der süßliche, brotartige Geruch, der ihr in die Nase drang, warf sie fast um. Sie machte sich innerlich eine Notiz, auf dem Rückweg einen Cupcake zu kaufen, wenn ihr noch Zeit blieb.

Zum Glück besaß der Laden eine Hintertür. Die schien zwar nicht für Kunden bestimmt, war aber auch nicht verschlossen. Dally hielt den Atem an, als sie die Klinke drückte, dann atmete sie erleichtert aus, als sie auf einer Gasse landete. Sie folgte Grandpas Karte, die sie sich eingeprägt hatte, und hüpfte eilig den Bordstein entlang, an den letzten drei Wohnblocks vorbei.

 

Das Ziel war … wenig beeindruckend. Geradezu enttäuschend. So schlimm, dass Dally schon anfing, ihre Berechnung im Kopf zu überprüfen. Nach kurzem Nachdenken war sie sich aber sicher, dass alles stimmte.

Doch da war nichts. Irgendwie sogar weniger als nichts. Bloß Unkraut, das durch irgendwas hochwuchs, was vielleicht mal ein Stück Kopfsteinpflaster gewesen war, hässlich und gewöhnlich, mit den Bäumen eines Parks als ferner Kulisse dahinter.

Sie wühlte Grandpas Karte aus dem Rucksack und verglich sie noch einmal mit dem Stadtplan. Die Karte, die er ihr hinterlassen hatte, führte genau hierher, da war sie sich sicher. Sie hatte einen guten Orientierungssinn, und Grandpa hatte das gewusst.

Dally legte die Hände an ihre Lippen. »Ich bin hier«, rief sie laut. »Also was ist jetzt?«

Ein leichtes Summen erfüllte Dallys Ohren. Sie zog an einem ihrer Ohrläppchen und hoffte, so zu klären, was sie fühlte. Dann blinzelte sie. Kein spezielles Blinzeln, nur so ein ganz normales superschnelles Augen zu, Augen auf. Eines, über das man sonst gar nicht nachdenkt.

Aber Dally dachte über dieses Blinzeln nach. Denn bevor sie die Augen schloss, hatte sie in ein Nichts gestarrt – und als sie sie wieder aufschlug, war alles anders.

Ein großes altes Gebäude aus Naturstein und funkelnden Fenstern wuchs vor ihren Augen empor. Es stand felsenfest, so als wenn es bereits hundert Jahre dort gestanden hätte. Eine breite, flache Treppe führte von dem Bürgersteig, auf dem sich Dally befand, zu einem verzierten Eingang. In den Stein über den Säulen waren drei einfache Worte gemeißelt: DIE GEHEIMNIS-BIBLIOTHEK.

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