Die Birmingham-Akten: Hexenjagd - Sonja Amatis - E-Book

Die Birmingham-Akten: Hexenjagd E-Book

Sonja Amatis

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Beschreibung

Der finale Teil! Zum letzten Mal müssen sich Jardeen, Tami und Willarth den Murphy-Flüchen stellen. Was auf dem Spiel steht, haben sie noch nicht begreifen dürfen, als sie bereits mitten im Chaos stehen. Neue Verbündete. Alte Feinde. Schwere Verluste. Hexenjagd. Und nur zehn Tage Zeit, um nicht bloß zu schaffen, was noch nie zuvor gelungen ist, sondern die wichtigste Anforderung überhaupt zu erfüllen: bis zum Ende überleben. Dies ist der siebte und letzte Teil der Reihe Der Titel des 1. Teils lautet: Die Birmingham-Akten: Golemjammer. Teil 2: Die Birmingham-Akten: Sirenengesang Teil 3: Die Birmingham-Akten: Nymphenreigen Teil 4: Trolldebatten Teil 5: Feentanz Teil 6: Dämonenfeuer Ca. 104.000 Wörter Inklusive ca. 2000 Wörter Index Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 525 Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der finale Teil!

Zum letzten Mal müssen sich Jardeen, Tami und Willarth den Murphy-Flüchen stellen. Was auf dem Spiel steht, haben sie noch nicht begreifen dürfen, als sie bereits mitten im Chaos stehen. Neue Verbündete. Alte Feinde. Schwere Verluste. Hexenjagd. Und nur zehn Tage Zeit, um nicht bloß zu schaffen, was noch nie zuvor gelungen ist, sondern die wichtigste Anforderung überhaupt zu erfüllen: bis zum Ende überleben.

 

 

Dies ist der siebte und letzte Teil der Reihe

Der Titel des 1. Teils lautet:

Die Birmingham-Akten: Golemjammer.

Teil 2: Die Birmingham-Akten: Sirenengesang

Teil 3: Die Birmingham-Akten: Nymphenreigen

Teil 4: Die Birmingham-Akten: Trolldebatten

Teil 5: Die Birmingham-Akten: Feentanz

Teil 6: Die Birmingham-Akten: Dämonenfeuer

 

Ca. 104.000 Wörter

Inklusive ca. 2000 Wörter Index

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 525 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

von

Sonja Amatis

 

„Lang, lang ist es her“, flüsterte Isolda und betrachtete ihre Mitstreiter. Björk, der machtvolle Dschinn, der eher unwillig in Jardeens Armbanduhr lebte – oder zumindest behauptete, unwillig deswegen zu sein. Madrash, der König der Feuerdrachen. Groshphank, ein ganz und gar prächtiger Wissensdämon, auch wenn er kaum so groß wie eine menschliche Hand war und äußerlich einer unglaublich hässlichen Kröte ähnelte. Er musste mehrere Zeitdimensionen und Weltenebenen überspringen, um zu ihnen gelangen zu können. Dafür benötigte er Hilfestellung, die Björk ihm zur Feier des Anlasses gerne geleistet hatte. Es waren noch zehn Tage bis zum Frühlingsäquinoktium. Die Tagundnachtgleiche, die dieses Jahr auf den 20. März fallen würde. Mitternacht diesen Tages würde sich entscheiden, welche Seite die Schlacht gewonnen hatte.

Über sechshundert Jahre Kampf, Magie und Murphyfluch würden sich mit einem Schlag erfüllen. Unendlich viele kleine Gefechte waren ausgefochten worden. Verbündete gewonnen und verloren, Lügen erzählt, Verluste und Gewinne aufgewogen. Es war höchste Zeit, dass es vorüberging. Isolda hatte alles auf eine Karte gesetzt, als sie im vergangenen Jahr Willarth erschaffen hatte. Er hatte einen Teil ihrer Seele erhalten, wodurch sie sich angreifbar und verletzlich gemacht, zugleich aber die stärkste denkbare Waffe gegen den Murphy-Fluch erhalten hatte. Ein Golem, der von reiner Unschuld und allumfassender Liebe erfüllt war, sich auf dem besten Weg befand, das gesamte geschriebene Wissen der Welt zu sammeln und dazu loyal und treu an Jardeen hing, bereit, ihn und dessen Gefährten bis zum letzten Lumpenfaden zu beschützen. An ihm prallte der Murphy-Fluch ab. Die Hexenseele schützte ihn auf vielfältige, komplexe Weise vor körperlicher Vernichtung, sofern nicht mehr Gewalt aufgewandt wurde, als ein Murphy-Fluch investieren konnte, ohne die Kontrolle zu verlieren. Er war nicht unangreifbar, doch sehr robust – an Körper, Geist und Seele. Ohne Willarth hätten die Auserwählten es nicht soweit geschafft, wie sie bereits gekommen waren, allem Leid zum Trotz, das sie auf ihrem Weg ertragen mussten.

Selbstverständlich war dies auch Björk zu verdanken, ohne den manche Vorstöße des feindlichen Fluchs übel ausgegangen wären. Er war der Ankerpunkt des Gegenfluchs. Keineswegs widerwillig, wie er gerne behauptete, und selbstverständlich war er vorher gefragt worden, ob er diesen Job übernehmen würde. Der alte Griesgram, er gab sich gerne grantig. Es sollte nach Möglichkeit niemand bemerken, wie sehr er sich für die Sterblichen interessierte – das galt als unseriös in Dschinn-Kreisen.

Madrash hingegen interagierte niemals und unter gar keinen Umständen mit Menschen. Er hatte lediglich die notwendige feurige Elementarmagie geliefert, damit der Gegenfluch wirksam werden konnte. Björk stand für die Luft, Isolda die Erde. Eigentlich hätte es einen Wasserelementar benötigt, um den Kreis zu schließen, doch es wollte sich keiner finden. Groshphank war dem Kristallelement zugeordnet, was erstaunlich gut funktionierte. Vielleicht trug es eine Mitschuld daran, welche ausufernden Wellen jede Murphy-Hochphase schlug. Neben reichlich Zerstörung gab es jedes Mal auch überraschende Großerfolge. Gute Dinge geschahen in einem facettenreichen Ausmaß, was niemand auf diese Weise vorhersehen konnte. Isolda war dankbar, dass die kleine freche Kröte auf ihrer Seite stand. Niemand konnte sich erlauben, dieses Kerlchen zum Feind zu haben … Bezeichnenderweise strebte Groshphank nicht nach Macht. Er war selig, wenn er in Ruhe und beschaulichem Frieden leben konnte. Um das zu erreichen, hatte er sich bei zwei bezaubernden Männern eingenistet und ließ sich von ihnen und ihrem Butler verwöhnen.

„Du siehst ziemlich bescheiden aus“, sagte Björk und musterte Isolda tadelnd von der Seite. „Die Menschen sind nicht blind. In der letzten Hochphase um Weihnachten und Silvester herum konnten sie sehen, wie schwach du geworden bist. Seitdem ist es noch schlimmer geworden. Nicht mehr lange, und du kannst nicht einmal mehr deine Illusion von Hässlichkeit aufrecht erhalten!“

„Ich bin irrelevant. Und zur Hölle, nichts könnte irrelevanter als mein Aussehen sein. Alles hängt von Willarth ab. Damit er stark bleibt, muss ich ihn vor meinen Gedanken und Erinnerungen schützen. Er würde zugrunde gehen, wenn er nur einen einzigen Blick auf meinen Teil unserer gemeinsamen Seele werfen könnte. Und wenn es mich in Stücke reißt und ich ohnmächtig darniederliege: Er muss geschützt bleiben. Nur dann können wir dieses Spiel gewinnen.“

„Wirst du es ihnen sagen? Wer und was du wirklich bist?“, fragte Björk.

„Was sollte es ihnen nutzen? Wissen ist gefährlich“, fuhr Groshphank dazwischen. Ungewöhnlich ernst und still war er, der sonst so muntere und freche kleine Dämon. Vermutlich vergnügte er sich damit, mögliche Varianten zu berechnen, wie sich die nahe Zukunft entwickeln könnte. Da schon winzigste Kleinigkeiten genügten, das gesamte Bild zu verändern, könnte das Kerlchen auch noch zehn Jahre lang rechnen, ohne dass ihm die Möglichkeiten ausgehen würden.

„Tochter der Wyrd“, murmelte Madrash, was einem Scherz so nahe kam, wie es einem Drachen möglich war. Die alten Germanen hatten für fast alles eine eigene Gottheit besessen. Das Schicksal – Wurt oder Wyrd, je nach Aussprache und Gebiet – war keine Göttin – oder Gott, denn über das Geschlecht wurde gestritten –, sondern unspezifisch wie der Tod. Manche glaubten, dass Wyrd eine Naturgottheit war, die in Ausnahmefällen auch menschenähnliche Gestalt annehmen konnte … Was nicht gänzlich falsch war. Isolda war keine Tochter der Wyrd.

„Ja, ich bin eine Norne“, murmelte sie mit einem schmallippigen Lächeln. Einst hatte man sie Skuld genannt. Die Norne, also jenes Schicksalsweib, dessen Blick in die Zukunft gerichtet war. Loretta war Urd, die Norne der Vergangenheit, und Cynthia trug damals den Namen Verdandi, die Norne der Gegenwart. Sie besaßen eine deutliche Vormachtstellung unter den Hexen, waren mächtiger, älter als ihre Schwestern.

Das meiste von dem, was Menschen über Nornen, Hexen und Hexenmacht zu wissen glaubten, war höchstens lachhaft zu nennen. Isolda hatte jedenfalls keine Verbindung zu irgendwelchen Weltenbäumen, sie webte ganz gewiss nicht das Schicksal der Menschen, egal mit welcher Art von Schicksalsfäden, und sie vergeudete auch keine Lebenszeit damit, über das Werden und Vergehen der Neugeborenen nachzudenken.

Es entsprach jedoch der Wahrheit, dass sie Mächte besaß, über die andere Hexen nicht verfügten und viel mehr wusste, als sie es je zugeben würde. Wie Groshphank gerade schon richtig angemerkt hatte, Wissen war gefährlich. Sie verschleierte stets, wie weitreichend ihre Kenntnisse tatsächlich gingen, stellte sich dumm, betrieb anstrengenden Aufwand mit Fragen und Ritualen und Lügen. Juliette war mit die Einzige, die sie durchschaute. Sie zeigte es, indem sie immer mal wieder eindeutig falsche Behauptungen in die Welt setzte und Isolda provozierte, diese zu korrigieren. So wie sie einmal behauptet hatte, Isolda wäre gezwungen, Willarth zu lieben, denn jeder Schöpfer liebte sein Werk … Damals hatte noch niemand gewusst, dass der Kleine eine eigene Seele besaß, bis auf Juliette, die sofort begriffen hatte, was es bedeutete – keine Hexe war in der Lage, eine beseelte Kreatur zu erschaffen. Keine Hexe war in der Lage zu lieben. Nornen waren da etwas anders aufgestellt, obwohl auch sie streng genommen zu den Dämonen gehörten. Allerdings bezogen sie ihre Kraft nicht aus der Hölle und ja, Isolda war fähig zur Liebe.

War schon interessant, dass ein Mischling ohne Schwierigkeiten erfasste, was selbst die anderen Hexen nicht bemerkten. Wobei Isolda die Erste war, die jederzeit zugeben würde, dass der größte Teil ihrer Hexenschwestern – Loretta ausdrücklich ausgenommen – ein degenerierter Haufen hutzeliger Weiber war, den man für wenig gebrauchen konnte.

„Die Wahl deiner Helden war mutig“, sagte Groshphank freundlich. „Klar, es war klug genug, keine reinrassigen Menschen zu nehmen, um sie in den Mittelpunkt des Fluchs zu stellen. Das hat ja nun jahrhundertelang zuverlässig alle fünfzehn Jahre aufs Neue zu keinem Ergebnis als Pattsituationen geführt. Tami ist als Sirenenmischling wahnsinnig interessant. Vielleicht stellt er sich auch noch dem Rest seines Mischlingserbes, da ist noch einiges rauszuholen … Jardeen hingegen hat nicht viel mehr als seine Schönheit zu bieten.“

„Schau genauer hin, Schatzi“, knurrte Isolda. „Das kannst du besser! Siehst du nicht, was für eine Weltmacht dieser Junge ist? Er bezaubert sie alle, auf subtile Weise. Selbst diejenigen, die zunächst vor ihm zurückschrecken, weil sie sich vor der sexuellen Komponente seiner Ausstrahlung fürchten. Die Leute, die anfangs aggressiv und ablehnend reagieren, schließen ihn eben doch ins Herz, sobald sie spüren, dass er das alles nicht plant. Mit seinem Vater als einzige Ausnahme. Außerdem ist er der Einzige, der Tami am Leben halten kann, und der ist mit seinem Erbe die wahre Supermacht, wie du richtig erkannt hast. Dafür musste er allerdings erst einmal hineinwachsen und sich stark verändern, lernen, seine Sirenennatur anzunehmen und sich der Magie von Wasser und Luft zu öffnen. Ohne Jardeen wäre das nicht möglich gewesen.“

„Zuguterletzt kann man nicht häufig genug betonen, was die wahre Macht der Nymphen ist“, brummte Björk.

„Eben. Die beiden Jungs sind die Wucht. Es war nicht mutig, sondern klug, sie auszuwählen.“ Isolda nickte entschieden. Diskussion beendet.

Ab jetzt würde es zehn Tage lang täglich einen schweren Schlag des Murphyfluchs geben. Wenn am Ende die Halbgöttin Evyngea, Stammmutter der Flügelkreaturen, zu neuem Leben erwachen sollte, hatte die Gegenseite gewonnen. Wurde dieses Ereignis erfolgreich verhindert, gewann Isoldas Seite und würde damit den jahrhundertelangen Kampf endlich entscheiden. Darauf hatten sie sich mit ihren Feinden verständigt, nachdem alle vorherigen Bemühungen entweder mit beidseitiger Niederlage oder Sieg geendet waren.

Die Helden wussten nichts davon, und so musste es bleiben. Ihre Geheimwaffe war Daphne, die letzte der Walküren, und Juliette, die Nachtmahrentochter. Douglas brachte die Schlagkraft und körperlichen Schutz. Susan schenkte neue Ideen. John war als Susans Beschützer unumgänglich. Sie brauchte nicht unbedingt einen Mann, dafür einen Freund, der bedingungslos an ihrer Seite stand – ihre überragende Intelligenz kam zu einem hohen Preis, denn sie war ohne Hilfe nicht in der Lage, diese Welt zu ertragen.

Brobro war sowieso stets ein gewichtiges Zünglein an der Waage. Yigo, der verstoßene Botenfeenmann, der bei Jardeen und Tami eingezogen war, brachte ein gänzlich neues Element mit ins Spiel. Und Willarth hielt sie alle zusammen, er war das Licht im Dunkeln.

Nie zuvor waren sie besser für den epischen Kampf gerüstet gewesen. Nie zuvor hatte die Gegenseite erbarmungsloser gegen sie gekämpft und alles versucht, Tami und Jardeen umzubringen, um damit den Sieg zu erreichen.

Alles war möglich.

Niemand wusste, wie es ausgehen würde.

Noch zehn Tage. Dann war es entschieden.

Isolda war gespannt …

 

Trauerfeier mit Hindernissen oder: Wenn dir der Himmel auf den Kopf fällt

 

Noch zehn Tage …

 

„Ich bin verrückt nach dir“, murmelte Tami und drückte Jardeen fest an sich.

Sein Mann.

Der strahlte ihn gerade an, sie hatten heißen Sex genossen und ließen sich noch einige Minuten Zeit mit kuscheln und küssen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis Yigo nach ihnen schauen würde.

Das jüngste Mitglied ihrer verrückten kleinen Männer-WG blieb genauso ungern allein wie Willarth. Die zwei akzeptierten, dass Tami und Jardeen sich tägliche Auszeiten im Badezimmer gönnten und in dieser Zeit auch nicht gestört werden wollten. Dennoch linste Yigo stets nach ihnen, wenn ihm das Ganze zu lang dauerte. Botenfeen kannten keine Scham und für sie war es wichtig, dass die Sippe ununterbrochen zusammenhockte. Wenigstens akzeptierte er, dass er sie nicht ansprechen oder sich anderweitig bemerkbar machen durfte, solange sie noch innig zugange waren. Nichts tötete die Lust zuverlässiger, als der Anblick von Yigos blauem Haarschopf, der in seinen feinen schottenkarierten Hosen – handgeschneidert von Douglas – und breitem Lächeln auf dem Badewannenrand erschien und lustig anfing zu plaudern, während sie noch mit vollem Körpereinsatz um Befriedigung bemüht waren. Es waren einige Tränchen geflossen, wenn sie entsprechend ungehalten reagiert hatten, bis sie sich alle aneinander anpassen konnten. Mittlerweise funktionierte es gut. Yigo war ein wundervolles Geschöpf, sein sonniges Gemüt ergänzte sich mit Willarth‘. Er litt mittlerweile keine Ängste mehr, dass er sie mit seiner Anwesenheit belästigen könnte. Der arme kleine Kerl war aus der Gemeinschaft der Botenfeen verstoßen worden, weil er eigenmächtig entschieden hatte, Jardeens Nachricht an Tami nicht weiterzugeben, um größeren Schaden zu verhindern. Er war ungewöhnlich lebhaft und intelligent für eine männliche Fee, keineswegs unterwürfig und gehorsam, wie es eigentlich von ihm verlangt wurde. Nachrichten zu hinterfragen war eine Todsünde für Botenfeen, das Überbringen zu verweigern völlig undenkbar. Man hatte ihm die Möglichkeit gegeben, sein Verhalten zu bereuen, Besserung zu geloben. Da er nicht versprechen konnte, in ähnlicher Situation nicht wieder auf diese Weise zu reagieren, war die Verbannung unumgänglich gewesen. Wie hatte er gelitten, gerade in der Anfangszeit! Auf seine Stirn war ein Feenzeichen magisch eingebrannt worden, das weithin sichtbar leuchtete und jedem zeigte, dass er ein Verbannter war. Ihm war bei Todesstrafe verboten, jemals wieder eine Botschaft zu überbringen. Selbst wenn er damit die gesamte Welt vor der Vernichtung bewahren könnte, gäbe es keine Ausnahme. Lediglich aus eigenem Antrieb durfte er Neuigkeiten weitergeben oder Fragen stellen, die anderen zugute kamen. Etwas, was der Kleine mittlerweile zur Kunstform perfektioniert hatte.

„Wir sollten mal langsam in die Gänge kommen“, murmelte Jardeen. „Daphne braucht uns.“

Worte, die wie Säure brannten. Daphnes Mann Sebastian war vor vier Tagen ermordet aufgefunden worden. Sie hatten gewusst, dass es geschehen würde. Als Walküre war Daphne genetisch-mystisch verpflichtet, sich ausschließlich in Männer zu verlieben, denen ein gewaltsamer, brutaler Tod drohte. Mit Sebastian hatte sie sich ihrem Erbe als letzte überlebende Walküre dieser Welt gestellt, von dem ihr vorher nichts bewusst gewesen war. Sie hatte geglaubt, verflucht zu sein, Männern den Tod zu bringen, genau wie all die anderen Frauen in ihrer Linie dies geglaubt hatten, weil sie die Wahrheit nicht kannten. Nun wusste sie, dass es nicht ihre Schuld war. Dass diese Männer auf jeden Fall sterben würden und durch sie die Möglichkeit erhielten, in den letzten Tagen oder Wochen vor ihrem Tod zum einen glücklicher zu sein als jemals zuvor in ihrem Leben, zum anderen eine letzte Heldentat zu vollbringen, für die ihnen sonst womöglich der Ansporn gefehlt hätte.

Sebastian war Schriftsteller gewesen, er hatte ein großartiges Theaterstück geschrieben und bei den Vorbereitungen für die Inszenierung geholfen, bis Unbekannte ihn nachts überfallen und zu Tode geprügelt hatten. Dieses Stück sollte das Potential besitzen, das moderne Theater zu revolutionieren. Vermutlich wäre es nicht rechtzeitig fertig geworden, hätte Daphne ihn nicht gedrängt, jedes seiner Worte gefeiert, ihn vielfach inspiriert.

Heute sollte er bestattet werden und sie würden alle kommen, um ihr beizustehen. Es war unglaublich traurig … Sie hatten Sebastian gekannt und sehr gemocht. Im Voraus zu wissen, dass dieser fröhliche junge Mann grausam sterben musste, war niederschmetternd gewesen. Wie Daphne das ertragen konnte, blieb ein Rätsel. Pflichterfüllung hin oder her, sie hatte ihn geliebt.

Hand in Hand verließen Jardeen und Tami das Bad, mittlerweile voll bekleidet, gewaschen und dank der Meerjungfrauenpinsel mit glatt gebürsteten Gesichtern. Sie fanden Yigo und Willarth friedlich vereint in der Küche beim Frühstück. Der eine vergnügte sich mit Honigperlen, der andere mit althebräischen Gesetzestexten, die Willarth in magische Energie umwandeln und für den Rest seiner Existenz nicht mehr vergessen würde.

„Guten Morgen, ihr beide“, murmelte Tami und sorgte erst einmal für Kaffee. Essen würden er und Jardeen nichts, Daphne hatte in der Einladung klar gemacht, dass es anschließend Häppchen geben würde. Ohne Koffein wollte sich Tami allerdings nicht unter Menschen begeben, das könnte gefährlich enden. „Habt ihr gut geschlafen? Süß geträumt?“

Yigo bejahte, Willarth hingegen legte den Kopf zur Seite und wirkte verdutzt.

„Da hat mich gerade ein seltsames Zitat angesprungen“, sagte er. „Von dem Schriftsteller Victor Hugo, der sagte: Zigarren verwandeln Gedanken in Träume.“

„Das … ist tatsächlich sehr seltsam.“ Tami furchte die Stirn und überlegte angestrengt, was dieses Zitat bedeuten könnte. Zigarren waren diese merkwürdigen Dinger, die aus getrockneten Pflanzen gedreht und dann geraucht wurden. Heutzutage strikt verboten, weil Pflanzen viel zu kostbar waren, um solche Dinge mit ihnen anzustellen. Das bedeutete nicht, dass die Menschheit das Rauchen gänzlich aufgegeben hätte – Nikotin war so gut wie jede andere Droge, um davon abhängig werden zu können. Es existierten verschiedenste Möglichkeiten, Nikotinverdampfer auf Wasserbasis legal zu benutzen, auch wenn das viele Luxusrationen kostete. Sicherlich gab es auch noch Menschen, die heimlich Zigarren und Zigaretten herstellten und auf dem Schwarzmarkt verkauften, einfach weil sie es konnten. Trotzdem begriff Tami den Sinn des Zitats nicht.

„Fürst Otto von Bismarck soll gesagt haben: Man sollte immer erst eine Zigarre rauchen, bevor man die Welt umdreht.“ Willarth dachte noch intensiver nach, bevor er sein hübsches Golemgesicht in Knautschfalten legte. „Bedeutet dann wohl, dass Rauchen entspannt und Genuss bereitet und man dadurch zu Großtaten fähig wird.“ Er hielt den Kopf auf die andere Seite. „Die möglichen Gesundheitsschäden für den menschlichen Körper sind allerdings zu groß, um das Rauchen zu empfehlen, Mr. Ellian. Es gibt zwar keine Untersuchungen, wie der Körper eines Sirenenenkels mit Nikotin und den rund viertausendachthundert Chemikalien, die eine durchschnittliche Zigarette der alten Zeit enthielt, fertig werden könnte, aber ich halte das Risiko für nicht tragbar.“

„Ist in Ordnung, Willarth“, brummte Jardeen und nahm einen großen Schluck Kaffee. „Solange du uns die Koffeinzufuhr nicht begrenzen willst, ist alles in bester Ordnung, versprochen.“

Willarth zuckte leicht. Vermutlich verschluckte er sich gerade an siebenundneunzig verschiedenen, einander widersprechenden Studien zum Thema Koffein. Er hatte jedoch gelernt, dass es oft besser für alle Beteiligten war, mit seinem Wissen nicht herauszuplatzen, um niemanden zu nerven oder zu überfordern.

Jardeen hatte heute eine schwere Nacht gehabt. Mehrfach hatte er Tami mit Wimmern, Stöhnen und unterdrückten Schreien geweckt und erst als Tami ihm vorgesungen hatte, war für sie beide Ruhe gewesen. Sie hatten zu viel durchgemacht. Zu viel in zu kurzer Zeit. Der Tod seiner Mutter an Weihnachten war für Jardeen lediglich das I-Tüpfelchen eines vollkommen unerträglichen, verlustreichen Jahres gewesen. Der Bruch seiner Verlobung, Rückkehr nach Birmingham, wo er niemals mehr hatte leben wollen, die sofortige Verwicklung in den Murphy-Fluch, unter eine einstürzende Kirche verschüttet worden zu sein, mehrere schmerzliche Gathering-Erlebnisse, Zusammenstoß mit der Sirenenkönigin, Begegnung mit seiner nymphischen Ahnin, schwere Folter mittels Psycho-Drogen, Stefáns Ermordung, zuletzt der Unfalltod seiner Mutter … Und das war nur das, was Jardeen selbst durchmachen musste, nebenher stand er Tami zur Seite, dem es kein bisschen besser ergangen war. Die Entführung durch den Dschinn, tagelang in einer Sirenenbrutkammer eingesperrt, aus der er schwer traumatisiert zurückgekehrt war, der Tod der Sirenenkönigin, den er zu verantworten hatte, die Ängste und Sorgen um Jardeen, das hilflose Erleben, als er mitverfolgen musste, wie sein Liebster unter den Drogen litt und er ihm nicht helfen konnte, der Verlust seiner Wandlergestalt, das Hineinfinden in sein neues Ich, dann explodierte das Haus, in dem er viele Jahre lang gelebt hatte, die anstrengenden Mordermittlungen, die Angst, dass der Dämonenwolf und das Feuer zurückkehren könnten …

Jardeen und er waren ein kaputter Haufen. Viel zu traumatisiert und zerstört, als das man ihnen die Verantwortung für Ermittlungsarbeiten geben dürfte. Leider erledigte sich die Arbeit nicht von allein und zu Hause hocken und sich gegenseitig bedauern half auch kein Stück weiter. In den letzten drei Monaten war es beinahe beängstigend ruhig geblieben. Keine merkwürdigen Ereignisse, keine absurden Unfälle. Die Mordrate war beinahe auf null gesunken und selbst die Anzahl von Todesfällen unter verdächtigen Umständen war niedrig wie nie zuvor seit der Großen Flut. Somit blieben die Feld-Wald-und-Wiesen-Untersuchungen von Leuten, die nach Unfällen, Herzversagen oder durch Suizid irgendwo tot aufgefunden wurden, und die gab es wie immer reichlich. Sie belasteten die Psyche durchaus auch, aber nicht in dem Maß, wie es bei Mordfällen geschah. Diese drei Monate waren unglaublich erholsam gewesen und schneller vorbeigehuscht, als man sich umschauen konnte.

Sebastians Tod hatte sie alle kalt erwischt. Die Sorge war groß, dass dies der Auftakt für die nächste Murphy-Attacke darstellte. Außerdem hatten sie keineswegs vergessen, dass die Flügelkobolde und eine Unzahl anderer geflügelter mystischer Kreaturen darauf hofften, dass Evyngea, die Stammmutter der Feen, zur Tagundnachtgleiche wieder auferstehen würde. Das Datum rückte näher … Und niemand glaubte, dass Murphy friedlich eingeschlafen sein könnte und sie fortan in Frieden lassen würde.

„Wir sollten dann mal so langsam los“, murmelte Jardeen mit niedergedrückter Stimme. Sie verstauten ihre leeren Kaffeetassen im Geschirrspüler. Das Gerät anstellen und drei Minuten warten müssen, bis es fertig war, gab ihnen eine Ausrede, noch ein wenig länger herumzutrödeln. Sie wollten nicht auf diese Beerdigung, und das hatte nichts mit Daphne oder der Trauer um Sebastian zu tun. Das Gefühl, dass irgendetwas geschehen würde, dass Leichen auftauchen, verrückte Dinge passieren könnten, war erdrückend. Sie wollten nicht, dass es weiterging. Sie konnten und wollten sich Murphy nicht stellen.

Leider fragte niemand danach, was sie wollten.

Darum ließ Tami Yigo in seine Hemdtasche schlüpfen, wo sich der kleine Feenmann wie gewohnt zusammenkringelte, und Jardeen setzte sich Willarth auf die Schulter, dem aus irgendeinem Grund Hamlet von Shakespeare in den Sinn kam, was er sofort laut aussprechen musste:

„Zweifle, ob die Sterne aus Feuer bestehen,

zweifle, ob die Sonne sich dreht,

zweifle, ob Wahrheiten in Lügen vergehen,

doch zweifle nie, ob in mir Liebe noch lebt.

Mr. Jardeen … Ich zweifle an vielen Dingen. Zweifellos ist es wichtig, dass wir uns jetzt beeilen sollten. Mrs. Morrissey braucht uns dringend. Denn gleichgültig wie sehr sie ihren Mann liebte, sie wird sich neu verlieben müssen und das wird vielleicht schon sehr bald geschehen. Sie braucht unsere Hilfe, auch wenn es angenehmer wäre, daheim zu bleiben und sich vor dem Leid und Schmerz zu drücken.“

„Zweifellos hast du recht.“ Jardeen lächelte traurig, wofür Tami ihn spontan noch einmal küsste, um es nicht sehen zu müssen. Sie durften nicht mehr länger herumtrödeln, da hatte Willarth definitiv recht. Verglichen mit Daphnes Schicksal hatten sie schlichtweg keinen Grund zu jammern. Ihnen ging es gut!

Verdammt. Ihnen ging es gut.

 

 

„Asche zu Asche, Staub zu …“

Der Priester stockte verdutzt, als eine Botenfee auftauchte und vor Juliette schwebte, um ihr etwas ins Ohr zu wispern. Es war keineswegs üblich, religiöse Bestattungen vorzunehmen und heutzutage mit großen Schwierigkeiten verbunden, noch irgendwo einen Priester zu finden, der fähig und willig war, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Sämtliche Religionen waren mit der Großen Flut hinweggeschwemmt worden, als sich die Mystischen offenbart hatten und die Menschen glaubten eher an Naturgeister, Karma, Schicksal und Tarotkarten, als an die klassischen Götter.

Sebastian war allerdings streng anglikanisch erzogen worden und seine Eltern hatten auf eine priesterliche Segnung mitsamt Gottesdienst bestanden. Auch so etwas gab es noch und die religiös Gläubigen hielten sich gerne an den überlieferten Traditionen fest, die ihnen Halt im Leben gaben, eine Art Ankerpunkt.

Es waren nette Leute, Daphnes Schwiegereltern, beide noch recht jung. Man sah ihnen nicht an, dass sie auf die fünfzig zumarschierten, sie könnten auch Mittdreißiger sein. Sie umklammerten sich an den Händen und standen still beieinander. Zwei freundliche Menschen, zutiefst schockiert, dass ihnen der Sohn derart brutal und sinnlos entrissen worden war. Daphne hielten sie eng bei sich, sie hatten ihre Schwiegertochter wie ein eigenes Kind ins Herz geschlossen. Zwei jüngere Schwestern standen etwas abseits, beide in Schwarz gekleidet, die Augen rot verweint. Hinter ihnen hielten sich etwa fünfzig Leute auf, die alle etwas mit dem Theater zu tun hatten und unbedingt zur Beerdigung erscheinen mussten.

Die Birminghamer Mordkommission bildete ein eigenes Trüppchen. Alle waren da. Susan und John standen Arm in Arm. Douglas und Juliette versuchten möglichst nah bei Daphne zu stehen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, was bei ihren auffälligen körperlichen Merkmalen leider ein Ding der Unmöglichkeit war. Nikina verschwand hinter Douglas‘ massiger Gestalt. Celestral, Akim und Filo hielten die Köpfe gesenkt, als wollten sie mit dem Hintergrund verschmelzen.

Der Priester räusperte sich. Er war alt, stand tief gebeugt und hatte den Gottesdienst mit dünner Greisenstimme heruntergeleiert. Mehr als einmal hatte es lange Pausen gegeben, weil er das Konzept verloren hatte. Aber jetzt war es fast geschafft, der Sarg ruhte in der Erde, sämtliche Grabreden waren gehalten, die roten Rosen geworfen. Nur noch der letzte Segen fehlte, danach durften sie diesen heiligen Ort verlassen.

„In nomine patris et filii et spiritus sancti, Amen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Gei…“

Zwei weitere Botenfeen erschienen mit zartem „plopp“ und tuschelten mit Juliette. Mit finsterer Miene entfernte sie sich von der Trauergemeinschaft. Yigo, der auf Tamis Schulter saß, flüsterte erst ihm etwas zu, dann flatterte er zu Jardeen und wisperte auch ihm ins Ohr: „Ein schwerer Unfall auf der Hauptverkehrskreuzung im Südviertel. Sieben Oger sind mit einem Pulk von Transporttrollen zusammengekracht. Es gab Schwerverletzte und mehrere Tote.“

Sie tauschten grimmige Blicke. Solche Dinge geschahen sonst nie. Wirklich und wahrhaftig nie. Oger waren unglaublich dämlich und es gab nichts, was sie nicht zerstören konnten. Dennoch stießen sie im Straßenverkehr niemals mit Transporttrollen zusammen. Dazu waren die Riesen zu vorsichtig. Zudem achteten Oger die Friedensverträge und egal wie blöd sie waren, wie schwer es sein mochte, neue Informationen in ihre Steinschädel zu prügeln: Sie wussten, dass Menschen starben, wenn sie mit Trollen zusammenstießen. Starben Menschen, bekamen die Oger Ärger und kein Essen und komplexere Gründe brauchten sie nicht, um alles zu vermeiden, dass so etwas geschah. Mehr Beweise waren unnötig: Murphy war zurück.

Juliette tauchte wieder auf.

„Ich muss los und versuche das ganze Chaos vor Ort zu regeln“, wisperte sie Douglas zu. „Schick mir die Kleinen und Celestral nach, sobald es machbar ist. Der Rest bleibt hier bei Daphne.“ Ihr Blick streifte Tami und Jardeen. Auch sie wirkte angespannt und grimmig. Es war klar: Egal wie furchtbar es war, was sie gleich erwarten würde, das war erst der Anfang. Bislang hatte Murphy eigentlich bloß mit ihnen gespielt. Gelegentlich zeigte er, was es bedeutete, absolut alles schiefgehen zu lassen, was schiefgehen konnte. Der Drache, der das Polizeirevier verwüstet hatte, das gesprengte Wasserschutztor mit anschließender Überschwemmung von halb Birmingham, das explodierte Wasserwerk, bei dem Jardeen eine Zeugin unter den Händen weggestorben war … Murphy war noch lange nicht an seine Grenzen gegangen und auch jetzt war eine tödliche Massenkarambolage für ihn sicher kaum mehr als ein kurzer Schnaufer.

Daphne bewegte sich unruhig und gab dem Priester ein Signal, dass er weitermachen möge. Der alte Mann bekreuzigte sich mehrmals, vermutlich um sich zu erinnern, wo er sich befand und warum all die schwarz gekleideten Menschen um ihn herumstanden. Er begann einen erneuten Schwall lateinischer Sätze auszustoßen, die Willarth andächtig zum Summen brachten. Der Kleine mochte Latein wahnsinnig gerne, weil es eine solch gut durchkonstruierte und logische Sprache war. Im Gegensatz zu Französisch, das in erster Linie aus grammatikalischen Ausnahmen und Sonderfällen bestand und bei dem die Aussprache nichts, aber auch rein gar nichts mit der Schreibweise zu tun hatte. So etwas machte Willarth eher unglücklich.

„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, Am…“

Diesmal zuckten sie alle und starrten wie auf ein geheimes Kommando zum Himmel. Dort oben zog etwas seine Bahn. Zuerst dachte Jardeen vollkommen selbstverständlich an einen Drachenflieger. Die jüngeren Drachen zeigten sich gerne übermütig und spien ohne jeden Grund Feuer, wodurch sich langgezogene Rauchschwaden ergaben, die als Linien am Himmel sichtbar wurden. Dies sah ähnlich aus und doch anders.

„Ist das ein Meteor?“, fragte eine Frau. „Eine Sternschnuppe am helllichten Tag?“

Das wäre extrem ungewöhnlich. Damit solch ein Ereignis überhaupt tagsüber sichtbar werden konnte, müsste es schon ein sehr großer Gesteinsbrocken sein, der in der Erdumlaufbahn verdampfte. Die Mystischen sorgten eigentlich dafür, dass solche Gefahren für die Menschheit fern im All blieben.

Wobei … Die Überwachung des Himmels gehörte zu den vielen, vielen Aufgaben, die man den Flügelkobolden überantwortet hatte. Eben weil sie es konnten, weil sie ein wahnsinnig zahlreiches Völkchen waren und bis vor Kurzem Überbeschäftigung zu den größten Problemen der Gesellschaft gezählt hatte. Seit die Kobolde durchgedreht waren und ganze Heerscharen von ihnen die Arbeit niedergelegt hatten, schwankte die Zivilisation. Zu viele Aufgaben, die nicht mehr oder nur noch unzureichend erledigt wurden. Wenn die Beobachtung von Kometen und Meteoren dazugehören sollte, brauchte es tatsächlich kaum mehr als ein kleiner Schubs des Murphy-Fluchs, um …

„O mein Gott!“, flüsterte Willarth und krallte seine überlangen Finger schmerzhaft in Jardeens Schulter. „Da kommt was auf Birmingham zu!“ Er besaß schärfere Augen als Menschen. Jardeen starrte in den blauen, von wenigen Wolken durchzogenen Himmel. Sein Bauch krampfte sich vor Anspannung zusammen. Murphy konnte keinen großen Gesteinsbrocken herabwerfen, oder? Wenn die totale Vernichtung der Erde sein Ziel wäre, hätte er nicht umständlich herumhampeln müssen. Ein Asteroid von mehreren Kilometern Durchmesser würde die Menschheit auslöschen. Das würden die Mächtigen unter den mystischen Kreaturen natürlich nicht zulassen. Drachen konnten solche Brocken aufhalten, genau wie Dschinns und Hexen.

Aber wenn es ein kleiner Brocken sein sollte? Wenige Meter im Durchmesser, vielleicht gerade noch groß genug, um die Erde überhaupt zu erreichen, statt bereits weit oben in der Atmosphäre vollständig zu verglühen?

Ein Schatten kam in Sicht. Ein glühender Felsbrocken, der auf die Stadt herabfiel. Schreie brandeten auf. Der alte Priester sank auf die Knie, riss die Arme gen Himmel und flehte laut betend um den Beistand des Heilands und Erlösers. Jardeen konnte die Augen nicht von diesem Anblick fortreißen, der so vollkommen irreal erschien. Wie war es möglich, dass niemand es verhinderte? Wie konnte es sein, dass hier tatsächlich ein Meteorit auf Birmingham herabfiel, ein brennendes Stück Gestein?

„Er ist so groß wie ein Drache!“, hauchte Willarth. Seine Fingernägel bohrten sich in Jardeens Schulter, was schmerzte. Es kümmerte ihn nicht. Sie brauchten Hilfe! Irgendjemand musste diesen Brocken aufhalten, der andernfalls für Tod und Verwüstung sorgen würde! Ein drachengroßer Meteorit … Von Birmingham würde nichts übrigbleiben! Ihm schwindelte, er musste sich an Tami festklammern. Vollkommen hilflos und entsetzt starrten sie auf dieses Ungetüm, das aus archaischer Zeit zu stammen schien, wie die Rache Gottes über sie kam und …

„ACHTUNG!“, brüllte Yigo plötzlich und zerrte an Tamis Haaren. „ES SIND ZWEI! ES SIND ZWEI!“

Sie fuhren herum, starrten wie betäubt in die Richtung, in die Yigo wies. Ein zweiter Meteorit fiel vom Himmel, viel kleiner als der andere, doch ebenso glühend, Rauchspuren hinter sich herziehend und vernichtungsdrohend – und er kam exakt auf sie zu. Er würde sie treffen!

Im gleichen Moment begann die Erde zu beben. Es war Brobro, der brüllend über den Friedhof rannte, in Höchstgeschwindigkeit, als wäre dies ein Gathering und es gelte, einen Torschuss der Ogermannschaft zu verhindern. Er raste auf den Brocken zu, der schon viel zu nah war, um noch vor ihm fliehen zu können. Vielleicht eineinhalb Meter im Durchmesser. Genug, um wie eine Bombe aus alten Zeiten einzuschlagen … Schreiend warfen sich alle zu Boden, einige rannten kopflos geradeaus, versuchten zu fliehen, in Sicherheit zu gelangen. Jardeen starrte unfähig zur Flucht auf Brobro, der sich in die Luft katapultierte. Er erwischte den Meteorit, packte unerschrocken zu, nutzte die immensen Fliehkräfte optimal aus, gab all seine Trollkräfte – und schleuderte den brennenden Stein aus der Bahn. Brobro prallte ungebremst zu Boden, was ein heftiges Beben verursachte und Jardeen von den Beinen holte, denn dreieinhalb Meter Muskelmasse besaßen entsprechendes Gewicht. Sekunden später schlug auch der Meteorit ein, nun etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Dennoch bebte die Erde ein zweites Mal und Geröllsplitter, glühende Kiesel, Schutt und Asche gingen auf sie nieder. Ohne Brobro wären sie jetzt alle tot, da gab es keinen Zweifel.

„GRUUUU!“, brüllte Brobro dröhnend und setzte sich wieder auf. Er blickte auf seine schaufelradgroßen Hände, die dampften und von Brandblasen überzogen waren, schüttelte leicht den Kopf und wiederholte, diesmal leiser: „Gruuuu!“

Willarth, der Jardeen keinen Atemzug lang losgelassen hatte, piepste: „Er sagt, das war heftig, Mr. Jardeen.“

Wie betäubt tastete Jardeen nach Tami, dem es gut zu gehen schien. Nikina lag in Douglas‘ Armen, der sich schützend über sie und Daphne geworfen hatte. Celestral, Akim, Filo – sie saßen unverletzt nebeneinander. Susan kniete über John, der am Boden lag, und drückte ihm ihre vormals weiße Bluse gegen die Stirn. Der Stoff färbte sich rot, aber nicht in bedenklicher Geschwindigkeit. Zudem diskutierte sie mit ihm, John war gut bei Stimme. Auch der Rest der Trauergemeinschaft hatte lediglich leichte Verletzungen davongetragen, wie es schien.

An diesem Punkt der Beobachtung war Jardeen angekommen, als es ein drittes Mal krachte und bebte, mit so viel mehr Macht als zuvor, und sie erneut alle umfielen. Der Lärm war unvorstellbar. Sie schrien wie von Sinnen. Der große Meteorit! Er war eingeschlagen, vielleicht fünfzehn Kilometer entfernt im Stadtzentrum. Heiße Aschewolken stiegen auf. Trümmerteilchen, Funken, Staub begannen auf sie herabzuregnen.

Mit offenem Mund starrte Jardeen auf das brennende Inferno, das sich in der Innenstadt erhob. Auf die riesige Wolke, die zum Himmel aufstieg.

Seine Ohren klingelten. Ihm war schlecht. Minutenlang kauerte er bewegungsunfähig auf den Knien und sah zu, wie Birmingham brannte.

Es war Daphne, die ihn schließlich auf die Füße holte, gemeinsam mit dem Priester.

„Vater“, sagte sie und klopfte ihm energisch die Asche vom schwarzen Gewand. „Vielen lieben Dank für die ergreifende Messe. Ich weiß die Seele meines Mannes nun in Gottes Händen. Bitte schauen Sie doch nach meinen Schwiegereltern, die brauchen in dieser schweren Stunde Zuspruch.“ Sie zerrte Jardeen und Tami mit sich. „Geht!“, befahl sie. „Juliette wird alles koordinieren. Nehmt jeden mit, der aufrecht stehen kann. Auch John, der hat nichts. Ich behalte Douglas bei mir. Und Nikina, die kann mit ihren schweren Narben, die sie immer noch einschränken, beim Graben nach Verschütteten sowieso nicht helfen. Ich brauche Douglas als Beschützer.“ Sie presste eine Hand auf ihren Bauch und etwas war mit ihrem Gesicht. Ein Ausdruck, den Jardeen noch nie bei ihr gesehen hatte. Er begriff.

„Ist mit deinem Kind alles in Ordnung?“, stieß er rau hervor. Er hatte nicht gewusst, dass sie schwanger war, doch diese Geste konnte nichts anderes bedeuten.

„Isolda sagte, dass Walkürenkinder niemals verlorengehen!“, entgegnete sie ebenso rau. „Sofern ich selbst überlebe, wird meiner Tochter nichts geschehen.“

Sie nickten einander stumm zu. Daphne packte sich Nikina und Douglas und zerrte sie mit sich. Douglas konnte die beiden gut beschützen, oder vielmehr, die drei. Daphne durfte nichts geschehen. Die letzte Walküre der Welt musste durchkommen!

Gemeinsam mit Tami scheuchte er alle Mann zusammen. Sie mussten ins Zentrum. Überlebende unter den Trümmern suchen. Noch immer konnte er nicht fassen, was gerade geschehen war. Wie konnte ihnen der Himmel im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf fallen? Wieso hatten die Hexen es nicht verhindert? Wieso kamen sie nicht, um das Feuer zu löschen?

„Wird es mit deinen Händen gehen?“, fragte Tami besorgt, als sie bei Brobro ankamen.

„Nguuu ruk!“, knurrte Brobro und zuckte mit den Schultern.

„Er sagt, er merkt fast nichts. War ein bisschen heiß, nicht weiter schlimm“, übersetzte Willarth. Ein hoch auf die unverwüstliche Natur der Trolle!

 

 

Die ganze Innenstadt brannte.

Jardeen nutzte seine Kennnummer als Springerermittler der OMPK gnadenlos aus, um die Mystischen zu sortieren. Einen Befehl nach dem anderen gab er an die Botenfeen heraus:

„Es werden Atemschutzmasken für alle Helfer benötigt. Sucht euch beliebig viele Schwestern und Brüder und bringt alles, was zu holen ist. Mein Name ist Jardeen Chamal, Kennnummer JC8792012. Im Namen der OPMK: Schutzmasken für alle Helfer!“

Ein Blick auf die rauchenden Trümmer. „Eine Holde zu mir! Holt sämtliche Oger und Trolle, die in einer Stunde Umkreis zu finden sind. Sie sind hiermit zum Arbeitsdienst abkommandiert! Mein Name ist Jardeen Chamal, Kennnummer JC8792012. Im Namen der OPMK: Sämtliche Oger und Trolle zum Arbeitsdienst!“

Juliette tauchte auf. „Es ist viel glimpflicher abgegangen, als es hätte sein können“, sagte sie. „Alle Lichtelfen des Rathauses hatten sich im letzten Moment zusammengeschlossen und den Meteorit abgebremst, so gut es ihnen möglich war. Dadurch war der Einschlag nicht wesentlich schlimmer als ein abgestürzter Drache. Wäre das Ding ungebremst aufgeschlagen, wäre Birmingham jetzt dem Erdboden gleich.“

„Preiset die Vorsehung!“, knurrte Tami, während Jardeen bereits die nächste Botenfee scheuchte:

„Alle Flügelkobolde, die noch freiwillig im Dienst sind, wir brauchen Löschtrupps! Mein Name ist Jardeen Chamal, Kennnummer JC8792012. Im Namen der OPMK: Alle Flügelkobolde zum Löschen!“

Weil seine eigenen Botenfeen mittlerweile ausnahmslos unterwegs waren, schnappte sich Jardeen Willarth‘ Botenfeenflasche und machte mit denen weiter: „Kelpies zum Sondereinsatz! Jedes Kelpie, das sich freiwillig dazu bewegen lässt, wir brauchen Unterstützung bei Löscharbeiten! Mein Name ist Jardeen Chamal, Kennnummer JC8792012. Im Namen der OPMK: Kelpies zum Sondereinsatz!“

Juliette sorgte dafür, dass sich sämtliche Hilfstruppen mit Jardeen koordinierten. Er besaß als Ermittler der OPMK die notwendige Befehlsmacht über die Mystischen, was im Augenblick das Beste war, was in dieser Situation geschehen konnte. Zumal sich die OPMK trotz vielfacher Anfragen nicht bewegen ließ, zu ihnen zu stoßen.

Es war unfassbar, welche Zerstörungskräfte hier freigesetzt worden waren. Wenn das die abgemilderten Auswirkungen sein sollten, dann war Tami mehr als froh, dass er nicht die volle Wucht miterleben musste. Hunderte Verletzte lagen in den Straßen, taumelten schwer traumatisiert umher, kauerten still weinend oder lauthals schreiend vor Trümmerbergen. Eine Frau saß da, starrte stumpf in den Himmel. Ihr linker Arm war fort, knapp über dem Ellenbogen abgerissen. Das schien sie genauso wenig zu spüren wie das Blut, das ihr aus einer Platzwunde über das Gesicht strömte. Ein alter Mann lief im Kreis, murmelte unverständliche Worte. In regelmäßigen Abständen wies er zum Himmel, stolperte dann weiter. Runde um Runde um Runde. Ein etwa fünfzehnjähriger Junge schrie anhaltend um Hilfe. Er hielt ein winziges Mädchen an sich gedrückt, das weiße Kleid rot durchnässt. Es rührte sich nicht. Sie alle brauchten Hilfe, und das sofort. Es waren zu viele. Unmöglich zu entscheiden, wem man beistand und wer warten musste.

Rauch und Asche waren allgegenwärtig. Die Atemschutzmasken halfen, dass man überhaupt noch Luft holen konnte. Das hier war nicht einmal mit dem Bombenanschlag auf die Kanalspiele vergleichbar, obwohl es da ebenfalls Zerstörung und zahlreiche Verletzte gegeben hatte. Das hier war …

… Armageddon. Ihm fiel kein besseres Wort ein, um dieses Gefühl zu beschreiben. Die Welt ging unter, der Murphy-Fluch würde sie einfach wegwischen und es gab nichts, was sie dagegen tun konnten. Sie waren hilflos ausgeliefert!

Transportsänften standen dicht an dicht, um die Verletzten in die Kliniken zu bringen. Oger arbeiteten Schulter an Schulter mit Trollen, bewegten Schuttberge, um darunter eingeschlossene Menschen zu retten. Kelpies in Zentaurengestalt schleppten riesige Fässer heran, um die Feuer zu löschen. Flügelkobolde organisierten die Löscharbeiten aus der Luft, halfen den Sanitätern, brachten Verbandsmaterial, Infusionen und Schmerzmittel herbei.

Juliette nutzte ihre unglaublichen Kräfte, um ähnlich wie die Trolle und Oger Steine umherzuwuchten. Wer die passende Wandlergestalt und ein Amulett besaß, bediente sich seiner Fähigkeiten, um Verschüttete zu suchen. Das war es, was Jardeen mittlerweile tat, er wuselte in Irish Setter-Gestalt durch die Trümmer und wies den Helfern den Weg.

Tami fühlte sich wertlos. Überflüssig. Fehl am Platz. Als Singschwan besaß er weder passende Sinne noch Kräfte, um in einer Katastrophe irgendjemandem beizustehen. Was sollte er tun? Er wühlte mal hier mit bloßen Händen im Gestein, griff mal dort zu, um eine blutüberströmte bewusstlose Frau zu halten, bis ein Graubarttroll vorbeikam und sie zu den Transportsänften bringen konnte. Der Frau mit dem abgerissenen Arm legte er eine Schlinge um, damit sie aufhörte zu bluten, und drückte Verbandszeug auf die Platzwunde. Dem schreienden Jungen nahm er das tote Kind ab, strich ihm kurz über die Wange. Zeit für echten Trost blieb nicht. Der alte Mann, der seine Runden lief, war plötzlich verschwunden. Hunderte andere Menschen waren gerade wichtiger, darum schaute sich Tami kein zweites Mal zu ihm um. Unerträglich, dieses Gefühl, von mehreren Blitzen gleichzeitig getroffen worden zu sein, wie elektrisiert, dazu getrieben, sich zwischen Kampf und Flucht entscheiden zu wollen und beides nicht tun zu können. Weil es keinen Feind gab, gegen den er kämpfen konnte. Weil fliehen keine Option war.

„Niemand rührt sich!“, brüllte Juliette plötzlich. „Trolle, weicht zurück!“ Sie wies auf den Schuttberg, vor dem sie stand. „Darunter sind mindestens fünf Verletzte eingeschlossen. Das Ganze ist zu fragil. Wenn wir daran arbeiten, wird es einstürzen und die Leute zerquetschen. Tami, hol mir Jardeen her, wir brauchen Flügelkobolde! Die können die Eingeschlossenen rauszaubern.“

Tami wollte sich gehorsam verwandeln, um in Schwanengestalt nach seinem Liebsten zu suchen. Da kam ihm ein anderer Gedanke, den er sofort umsetzte, ohne lange darüber nachzudenken. Flügelkobolde gab es zu wenige, die wurden anderweitig gebraucht. Es gab da womöglich eine Alternative, und für die konnte nur er sorgen.

Tami kniete am Boden nieder, legte beide Hände flach auf das zerrissene Gestein, das noch immer warm war von den Kräften, die darauf gewirkt hatten. Dann begann er zu singen, die textlose Melodie, die seine Mutter ihn gelehrt hatte. Niemand versuchte ihn zu hindern, niemand fragte, was er da vorhatte. Es war schwierig, das Leid und Sterben, die Schreie und Schmerzen, Rauch und Asche und Hitze, das Brüllen der Oger und Trolle, das Hufgetrappel der Kelpies, das Surren der Flügelkobolde und vor allem die eigene Angst und Unzulänglichkeit auszublenden. Zum Glück half der Gesang, auch das zu heilen. Er fühlte sich stärker, ruhiger, zuversichtlicher, sobald er seine Stimme erheben konnte. Wie stets trug er den Perlenstab seiner Mutter auf der nackten Haut, mit Schmuckdraht an einer Kette befestigt. Zuverlässig bündelte er das bisschen Magie, das Tami besaß, warm und leicht pulsierend half ihm der Stab, sein Vorhaben zu erfüllen: Wimmler tauchten um ihn herum auf. Ein Dutzend oder mehr dieser harmlosen magischen Kreaturen, die sonst so scheu waren und sich nicht in die Nähe von Menschen wagten. Sie konnten schad- und rückstandslos alles durchbohren, was Masse besaß und reagierten stets freudig auf Tamis Gesang.

„Es singt! Es singt wieder!“, flüsterten sie und huschten um Tami herum. „Warum singt es? Warum ruft es uns?“

„Bitte“, sagte Tami und unterbrach unwillig die Melodie. „Dort im Gestein sind Menschen eingeschlossen und wir können die Trolle nicht heranlassen, um sie herauszuholen. Könnt ihr sie nicht für mich retten?“ Er beobachtete sie mit angehaltenem Atem. Niemand konnte Wimmler zwingen, irgendetwas zu tun, nicht einmal Drachen oder Hexen wären dazu in der Lage. Tami hatte sie jedoch schon einige Male bewegen können, ihm gefällig zu sein, als Lohn für seine Musik.

„Die armen Dinger“, zirpte einer der Wimmler. „So viel Blut. So viel Schmerz. So viel Angst. Überall Sie-Menschen und Er-Menschen voller Blut und Angst. Zu viele Trolle und Oger, die zertrampeln den Boden, machen kaputt. Zerstören mit viel zu großen Füßen. Lass uns helfen. Menschen gehören nicht unter die Erde, verschüttet von Stein auf Bein.“

Die Wimmler glitten davon. Als sie zurückkehrten, brachte jeder von ihnen einen Verletzten mit. Sie drückten die Menschen durch das Gestein, was absurd und sehr verstörend aussah, jedoch ohne weiteren Schaden ablief. Juliette hob einen nach den anderen von den Trümmerbergen und reichte sie vorsichtig an die Trolle weiter. Bei einem der Männer, blutüberströmt und wimmernd vor Schmerzen, stutzte sie. Dann rief sie laut: „Ist eine Botenfee in Hörweite?“

Sofort erschien eine der Holden und salutierte, allerdings nicht zackig und selbstbewusst wie sonst, sondern ernst und niedergedrückt.

„Meldung an Jardeen: Lass jeden wissen, den es irgendwie interessiert, dass der Bürgermeister gefunden wurde. Er ist verletzt, aber er lebt.“

Sie tätschelte ihrem sehr weitläufigen Nachfahren sanft die Wange. „Nigel, schön ruhig. Du bist gerettet und alles wird gut.“ Er reagierte kaum, hatte vermutlich kein Wort gehört. Wenn er im Zentrum der Explosion gestanden hatte, waren seine Trommelfelle garantiert hin. Seltsamerweise fühlte es sich beruhigend an, zu wissen, dass der Bürgermeister überlebt hatte. Dabei konnte Tami den Kerl gar nicht leiden und gewählt hatte er ihn auch nicht.

Er konnte die Wimmler überzeugen, bei ihnen zu bleiben. Mit anhaltendem Gesang folgte er den Weisungen von Botenfeen, Jardeen, Susan und diversen anderen, und lockte die Wimmler, weitere Überlebende zu retten, die in fragilen Bereichen lagen. Es war erstaunlich, wie viele Menschen in Hohlräumen überlebt hatten … Und niederschmetternd, wie viele gestorben waren. Immer wieder meldeten die Wimmler, dass sie Tote gesehen und zurückgelassen hatten. Im Moment zählten ausschließlich die Verletzten, die Leichen wollte man bergen, wenn der Rest erledigt war. Die Toten hatten Zeit, sie konnten warten. Es tat gut, mit anpacken und helfen zu können.

„Sing lauter!“, riefen die Wimmler. Eine Aufforderung, der Tami umgehend nachkam. Seine Stimme schallte weit, erhob sich über das Chaos hinweg. Kein Jahr war es her, dass er niemals und unter gar keinen Umständen singen wollte. Nicht einmal wenn er allein unter der Dusche stand. Singen war abstoßend, ein Unding, eine unvorstellbare Quälerei gewesen. Er wäre eher gestorben, als vor anderen Menschen zu singen. Heute hingegen …

Egal wohin er kam, wurden die Leute ruhiger. Seine Stimme besänftigte die Ängste, lenkte von Schmerzen ab, half gegen den immensen Schock, unter denen sämtliche Opfer standen. Am auffälligsten reagierten die Kelpies, die schneller liefen, sobald sie ihn hörten, sich eifriger bemühten, die wassergefüllten Fässer umherzuwuchten. Gut war, dass er sich selbst auf diese Weise etwas vormachen konnte. Wenn er sich singen hörte, fühlte es sich an, als wäre alles gar nicht so schlimm wie gedacht. Hier hatte das Rathaus gestanden. Einige Stunden war es erst her. Tausende Menschen hatten gearbeitet, gelebt, waren auf dem Weg zu Freunden, Sport, Terminen oder ihrem Zuhause gewesen. Warum musste da einfach ein Meteorit vom Himmel fallen? Es war unfassbar …

 

 

Jardeen schnaufte durch. Die Nacht war gekommen und gegangen, mittlerweile stand die Sonne wieder am Himmel. Alle Feuer waren gelöscht. Alle Verletzten versorgt. Alle Verschütteten geborgen.

Viele Hilfskräfte torkelten mittlerweile vor Überanstrengung und Erschöpfung. Die Flügelkobolde schleppten längst Wasser, Tee und Sandwiches herbei, statt Feuer zu löschen. Die Oger und Trolle wurden dabei bevorzugt versorgt, wofür jeder Verständnis hatte – absolut niemand wollte, dass einer der Riesen vor Hunger oder Wut durchdrehte und randalierte.

Jardeen hatte zwischendurch John in die Klinik schicken müssen. Der hatte sich mehrfach übergeben, hatte offenkundig eine hoffentlich bloß leichte Gehirnerschütterung erlitten, als ihn ein Bruchstück des Meteoriten erwischte. Sobald feststand, dass keine Überlebenden mehr gerettet werden konnten, hatte Susan sich abgemeldet und war zu ihm geeilt. Celestral, Akim und Filo hatte er fortgeschickt, um die vernachlässigte Massenkarambolage im Südviertel zu untersuchen. Dieses Ereignis verblasste zwar neben der großen Katastrophe, dennoch waren dort Menschen gestorben und verletzt worden. Die anderen waren noch hier, also Tami, Willarth, Juliette. Das wollte er jetzt ändern, denn sie wurden nicht benötigt, um die Reste aufzuräumen. Juliette zumindest nicht, die anderweitig besser einzusetzen war. Von Tami und Willarth wollte er sich auf keinen Fall trennen, das war in Murphy-Zeiten stets lebensgefährlich.

Als selbsternannter Koordinator via OPMK-Ermittler lag es an ihm, die Helfer zu verabschieden, frische Oger als Räumtrupps zu akquirieren, Leichen bergen, identifizieren und abtransportieren zu lassen. Für die Massen an Toten würden vermutlich Lagerhallen zweckentfremdet werden müssen. Tausende hatten den Tod gefunden …

Auf dem Weg durch die Trümmerberge bedankte er sich bei den letzten Kelpies, die geblieben waren, um mitanzupacken.

„Ihr wart wundervoll, ganz wundervoll“, murmelte er und versuchte, möglichst dankbar auszusehen. „Ihr könnt leider nichts mehr ausrichten. Ohne euch wäre es uns deutlich schlechter ergangen. Vielen Dank für euren unermüdlichen Einsatz.“

„Jardeen.“ Yigo ploppte vor seiner Nase auf und flatterte aufgeregt umher. „Ich habe etwas Seltsames gefunden. Dort drüben in den Trümmern liegt eine Leiche.“

„Und was ist daran ungewöhnlich?“ Jardeen versuchte sich zusammenzureißen. Am liebsten wollte er schreien und um sich schlagen; stattdessen musste er ruhig und professionell bleiben und geduldig zuhören.

„Diese Leiche ist schon alt. Also ich meine … Sie ist schon länger tot, nicht erst seit gestern. Ich glaube, der Tote wurde in eine Kellerwand eingemauert.“

„Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!“ Jardeen raufte sich die staubigen Haare. „Sag mir nicht, dass Murphy bloß deshalb mit Meteoren herumgeworfen hat, um uns auf einen Mordfall zu stoßen!“ Er hob die Hand und winkte eine Flügelkobolddame zu sich heran, die gerade in seine Richtung blickte. Willig flog sie zu ihm.

„Yow, Chef?“, fragte sie respektlos, aber freundlich.

„Wärst du so gut, Yigo hier zu folgen? Es muss eine Leiche geborgen werden, die Priorität hat, da deutlich älter als die anderen.“

„Klingt, als würde es eklig werden … Na, mach schon, du Flatterich!“ Sie tippte Yigo behutsam an und verschwand mit ihm. Jardeen verständigte derweil Tami und Juliette über die neueste Entwicklung und sammelte Willarth ein, der teilnahmslos auf einem Trümmerstück saß, das unschwer als Teil der Rathausuhr zu erkennen war.

„In Wüstenei und zerstörter Straße blicke ich auf. Sehe Blut, auf Staub getropft. So viel Leben, so viel Licht verloren, für immer verloren. Dann schaue ich hoch in den Himmel und sehe die Sterne, mit breitem Pinsel in den Himmel gemalt. Und ich weiß, kein Licht ist für immer verloren. Kein Leben umsonst gelebt.“ Willarth‘ Stimme war kaum mehr als ein zartes Wispern, als er diese Worte sprach. Er sagte nicht, woher dieses Zitat stammte. Jardeen vermutete, dass Willarth es selbst formuliert hatte; es wäre nicht das erste Mal, dass der Kleine lieber eigene Worte fand, als die Weisheit der Alten zu zitieren. Er drückte ihn behutsam an sich, bevor er ihn auf einen anderen Stein absetzte. Yigo kam aus dem Nichts herbei und leistete Willarth Gesellschaft, indem er sich eng an ihn schmiegte. Auch für Botenfeen waren die letzten Stunden grausam gewesen.

„Ich schau mal, ob ich irgendjemanden von der Spurensicherung oder Pathologie herbeiholen kann“, sagte Juliette. „Versprechen kann ich da nichts, aber ein vertuschter Mord hat selbst in diesem Chaos Priorität. Zumindest die Identifizierung muss sitzen. Tatortsicherung spielt ja diesmal überhaupt keine Rolle.“

Yigo winkte, und einen Moment später tauchte die Koboldin wieder auf, mit einer stark verwesten Leiche im Schlepptau. Man konnte erahnen, dass es ein Mann gewesen sein musste, was eher an den Überresten der Kleidung lag. Ansonsten blickte man auf graues Fleisch und Knochen, was definitiv eklig war. Wie gut, wenn man zu erschöpft war, um sich darüber noch aufregen zu können. Der Gebäudeeinsturz hatte zu weiteren starken Beschädigungen der Leiche geführt. Ob man da noch eine Todesursache würde feststellen können? Na ja, in Murphy-Zeiten gab es nichts, was undenkbar wäre.

Juliette erschien, sie hatte tatsächlich einen Techniker der Spurensicherung gefunden, der graugesichtig und überanstrengt eine Gewebeprobe nahm.

„Dauert vermutlich einen Moment länger, bei dem degenerierten Zustand“, knurrte er – und stutzte, als das Gerät in seiner Handfläche zu piepen begann.

„Da muss ein Fehler vorliegen. Ist wohl was verunreinigt worden. Mr. Ellian weiß es sonst doch auch besser, als Leichen ohne Handschuhe anzufassen. Na ja, na gut. Ist gerade stressig und furchtbar.“

Jardeen rutschte das Herz in den Bauch. Alles in ihm begann zu pulsieren. Was immer das zu bedeuten hatte, es war kein Zufall. Er glaubte ja fest an Zufälle, das ganze Leben war ein gigantischer Zufall! Doch wenn Murphy loslegte, dann galten andere Gesetze. Zumal Tami der Leiche nicht einmal nah gekommen war, er also keine DNA übertragen haben konnte. Erst jetzt kam sein Liebster zu ihnen, ebenso grau vor Erschöpfung, verdreckt und mit blutunterlaufenen Augen wie jeder andere auch. Juliette ergriff ihn an der Schulter und zog ihn zur Seite.

„Mach dich auf etwas gefasst“, sagte sie leise. „Irgendwas stimmt mit dieser Leiche nicht, und es scheint mit dir zu tun zu haben.“

„Ich will nach Hause“, murmelte Tami und setzte sich neben Willarth und Yigo auf dem Felsbrocken nieder.

„Wie nötig ist’s, in der jetzigen Zeit ein angenehmes Zuhause zu haben. So geschrieben von Goethe während seiner Reisen nach Italien“, murmelte Willarth. „Dem ist allerdings nie der Himmel auf den Kopf gefallen.“

„Uns ist er auf den Kopf gefallen. Ein Zuhause haben wir dennoch“, sagte Yigo und tätschelte ihm tröstend den Arm. Das stimmte. Weder das Polizeirevier noch ihr neues Haus waren von den Zerstörungen betroffen, soweit Jardeen wusste.

„Ich hab nachgesehen. Die Fensterscheiben waren kaputt gegangen. Ich habe dann Putzwichtel aufgetrieben, die das repariert haben. Jetzt ist alles wieder gut. Für uns jedenfalls.“

Das Gerät piepste ein weiteres Mal.

„Dieses Ergebnis ist eindeutig“, sagte der Techniker langsam. „Der Tote trug den Namen Norman Philipp Albert Ellian. Eingetragen als leiblicher Vater von Tamias Ellian. Es tut mir sehr leid.“

 

Schildmaiden und holde Nymphen

 

Noch neun Tage …

 

Tami erinnerte sich nicht daran, wie genau er zu Hause angekommen war. Hier waren Jardeen und er bloß kurz in die Wanne gestiegen, um sauber zu werden. Dafür mussten sie das Wasser zweimal ablassen, denn der Dreck und Staub saßen in jeder Ritze und Pore. Auch Yigo und Willarth badeten, sie waren genauso schmutzig. Schweigend halfen sie sich gegenseitig beim Schrubben. Danach stiegen sie in frische Kleidung, aßen im Laufen, ohne etwas zu schmecken, tranken Kaffee, weil sie wussten, dass es sie wachhalten würde. Für Schlaf war keine Zeit. Und schon ging es zurück in Brobros Transportbox und ab zum Revier.

Juliette und Daphne waren da. Douglas lag in einer Ecke und schlief. Alle anderen waren nach Hause geschickt worden, um sich auszuruhen. Von John wussten sie, dass er die Klinik verlassen hatte und zu Hause im Bett lag, um seine Gehirnerschütterung auszukurieren, zumindest für einen Tag. Susan war bei ihm, die beiden lebten mittlerweile zusammen und bildeten damit das seltsamste Paar, das man sich vorstellen konnte. Aus irgendeinem Grund funktionierte es perfekt.

„Keine Rast für Mischlinge und Walküren“, sagte Juliette und nickte ihnen ernst zu. „Wie geht es dir, Tami? Kommst du klar?“

„Ich habe diesen Mann nie gekannt“, entgegnete Tami langsam. „Von meiner Tante Kayla weiß ich, dass meine Mutter sich noch vor meiner Geburt von ihm abgesetzt hat, um ihn, vor allem aber mich vor den Sirenen zu beschützen, die mich eigentlich töten wollten, um der Prophezeiung zu entgehen.“

Die Hoffnung liegt im Mischlingsblut, genau wie der Untergang. Einer wird kommen, um das Schicksal zu entscheiden. Geboren von einer Mischlingstochter aus königlicher Linie, gezeugt von einem Menschenmann.

Drei Orakelnymphen hatten unabhängig voneinander diese Prophezeiung geleistet, da der Niedergang des Sirenenvolkes nach einem langen, verlustreichen Krieg gegen die Wasserdrachen absehbar gewesen war. Königin Feara hatte schließlich festgelegt, wie man diese Worte interpretieren sollte: Eine Tochter aus ihrer eigenen Linie, die bereits selbst als Mischling geboren war, würde mit einem menschlichen Mann einen Sohn zur Welt bringen. Dieser Sohn würde darüber entscheiden, ob das sterbende Volk der Sirenen langsam und über viele Jahrhunderte hinweg verblich, oder mit einem Schlag in einem großen Bürgerkrieg ausgelöscht werden sollte.

Tamis Mutter Silara war aus der Verbindung einer reinrassigen Sirene mit einem Tritonen entstanden. Dem Gesetz nach hätte sie sich ausschließlich mit Sirenen oder Meeresleuten zusammentun dürfen. Stattdessen hatte sie sich in einen Menschen verliebt und war bei ihm geblieben. Mit aller Macht hatte sie versucht, eine Schwangerschaft zu verhindern und war gescheitert – das Schicksal war stärker gewesen. Drei Jahre lang hatte sie sich an Land versteckt, wo die Macht der Sirenenkönigin geringer war, hatte Tami in den Armen gehalten und gesungen, um ihn zu schützen. Als sie ihn nicht mehr länger festhalten konnte – ein Kind musste frei laufen, um wachsen zu können – war sie willig in den Tod gegangen, um ihn mit der dadurch frei werdenden Magie mit einem Schutzfluch zu belegen, der ihn bis zu seinem zwölften Lebensjahr vor den Sirenen verborgen hatte.

Diesen Teil seiner Familiengeschichte kannte er mittlerweile gut. Sein leiblicher Vater hatte überhaupt keine Rolle gespielt. Es war nicht so, dass Tami keinen Gedanken an ihn verschwendet hätte. Sein Name war bekannt gewesen, er hatte in den Adoptionsunterlagen gestanden und seine Adoptiveltern hatten ihm auch bereitwillig Auskunft erteilt, als er in der Pubertät die üblichen Fragen gestellt hatte. Als Jugendlicher wollte Tami wie jeder andere auch natürlich wissen, woher er kam, wo seine Wurzeln lagen. Sein Vater hatte damals keine Einwände gegen die Adoption erhoben, auf jegliches Besuchsrecht verzichtet und als Tami ihm eine Botenfee schickte, strikt erklärt, dass er jeden Kontakt verweigerte und kein zweites Mal belästigt werden wollte.

Dementsprechend blank war sein Empfinden gerade. Sein Erzeuger war anscheinend ermordet und in eine Wand eingemauert worden. Es tat ihm leid für diesen Menschen. Persönlich betraf es ihn nicht. In ähnliche Worte, bloß knapper, kleidete er seine Erklärung, mit der er Jardeen, Juliette und Daphne zufrieden zu stellen versuchte.

„Aus Erfahrung kann ich dir sagen: Es wird dich noch erwischen“, sagte Juliette und klopfte ihm sanft auf den Rücken. „Du wirst vielleicht nicht in schwere Trauer verfallen, aber es wird dich berühren. Dein Vater ist tot. Jener Mann, der fünfzig Prozent deiner Gene gestiftet hat. Das Wissen macht etwas mit einem. Deine Wurzeln wurden gekappt, du bist von Erzeugerseite her Vollwaise. Absolut egal, wie großartig deine Adoptiveltern waren und sind, wie glücklich du bei ihnen aufwachsen konntest, sie haben dich nicht in die Welt gebracht. Nimm dir Zeit, es zu verinnerlichen.“

„Würde ich“, brummte Tami. „Hängt von Murphy und seinen Plänen ab, wie viel Zeit mir zugestanden wird.“

„Wahre Worte.“ Daphne seufzte und zückte ihr Notepad, um darauf mit deutlich mehr Nachdruck als notwendig herumzuhämmern. „Eigentlich dürfte ich Tami überhaupt nicht an diesen Fall heranlassen, schließlich ist es sein Erzeuger. Aber ich geh mal davon aus, dass es keine allzu tragischen emotionalen Hemmnisse deswegen geben wird und ich wage nicht mal daran zu denken, euch beide davon fernzuhalten. Immerhin hat der Murphy-Fluch extra mit Riesensteinen geworfen, um die Leiche ans Licht zu bringen und Sebastians Beerdigung zu stören. Wer weiß, was geschieht, wenn wir uns der Sache jetzt verweigern würden?“

„Wie geht es der Schwiegerfamilie?“, fragte Jardeen vorsichtig.

„Alle sind mit kleineren Verletzungen davongekommen, Brobro sei Dank. Schwiegermama hat einen heftigen Nervenzusammenbruch erlitten, ein größerer Teil der Trauergemeinde hat sich anschließend noch stundenlang heulend in den Armen gelegen. Es war sehr anstrengend, das auszuhalten. Kannst du dir vorstellen, dass ich euch zwischendurch zumindest minutenweise beneidet habe? Immerhin hatte ich Gelegenheit, sämtliche mir bekannten Hexen mit Botenfeen zu terrorisieren. Antworten habe ich keine erhalten und Isolda war zwischenzeitlich magisch nicht auffindbar. Na ja. Weil man sich ja sonst nichts gönnt, habe ich mit der Presse kommuniziert. Der Bürgermeister liegt im künstlichen Koma, sein Stellvertreter ist tot, der Polizeichef ebenfalls. Sämtliche Mitglieder des Stadtrates sind entweder tot oder zu schwer verletzt, um irgendwelche Entscheidungen tragen zu können. Im Moment bin ich tatsächlich die ranghöchste Persönlichkeit der öffentlichen Ordnung, die Birmingham zu bieten hat. Es gibt zur Stunde 5671 bestätigte Todesfälle. In Anbetracht der Umstände klingt das nach fast nichts. Die Zahl wird natürlich noch steigen, da viele Verletzte in kritischem Zustand sind. Die Krankenhäuser sind bis zum Anschlag voll, die Leute sind bis zu hundert Meilen im Umkreis verteilt worden, damit jeder ein eigenes Bett bekommt. Dafür musste ich Freigaben erteilen und jetzt hab ich den Salat. Wenn man einmal hier gebrüllt hat, ist es schon zu spät.“

„Du willst uns damit also sagen, dass du die Verantwortung für das öffentliche Leben übernehmen musst und darum keine Zeit für die Mordkommission hast?“, fragte Jardeen und legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Daphne fuhr zusammen, als hätte er sie geschlagen. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich von neutraler Konzentration zu völliger Verblüffung, hin zu Entsetzen.

„Jardeen …“, flüsterte sie heiser und wich vor ihm zurück. Auch er wurde bleich und griff haltsuchend nach Tami. „Wie ist das möglich …?“ Daphne standen Tränen in den Augen, sie musste sich setzen. „Ich habe Sebastian gerade erst beerdigt, und diesen Mann habe ich so sehr geliebt, dass es mich in Stücke gerissen hat. Wieso …“

„Es ist Magie“, sagte eine Stimme, mit der niemand von ihnen gerechnet hatte – Isolda!

Willarth schrie auf und stürzte sich heulend in die Arme seiner Schöpferin. Isolda sah erschreckend und fremdartig aus. Beinahe schön, man erkannte sie eigentlich nur an ihrer Stimme. Ihr Haar war schwarz, lang und glänzend, statt wie gewohnt in weißen Zottelsträhnen um das warzige, spitze Hexengesicht zu hängen. Ihre Nase war viel kürzer als sonst, die Haut glatter, keine Warze weit und breit sichtbar. Sie hatte sich nicht im Griff, das war gewiss.