Die Birmingham-Akten: Nymphenreigen - Sonja Amatis - E-Book

Die Birmingham-Akten: Nymphenreigen E-Book

Sonja Amatis

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Beschreibung

Mit knapper Not ist Tami dem Reich der Sirenen entkommen und heimgekehrt. Er und Jardeen tragen schwer an der Last dessen, was ihnen widerfahren ist. Doch das Leben geht weiter und sie übernehmen die Ermittlungen eines neuen Mordfalls. Einer, der sich als höchst bizarr entpuppt, denn das Opfer hatte ein seltsames Hobby: Es hat Nymphen in seinem Keller gesammelt. Dies ist Teil 3 der Reihe. Der Titel des 1. Teils lautet: Die Birmingham-Akten: Golemjammer. Teil 2: Die Birminghamakten: Sirenengesang Ca. 56.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 285 Seiten. Weniger lesen

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Mit knapper Not ist Tami dem Reich der Sirenen entkommen und heimgekehrt. Er und Jardeen tragen schwer an der Last dessen, was ihnen widerfahren ist. Doch das Leben geht weiter und sie übernehmen die Ermittlungen eines neuen Mordfalls. Einer, der sich als höchst bizarr entpuppt, denn das Opfer hatte ein seltsames Hobby: Es hat Nymphen in seinem Keller gesammelt.

 

Dies ist Teil 3 der Reihe.

Der Titel des 1. Teils lautet:

Die Birmingham-Akten: Golemjammer.

Teil 2: Die Birminghamakten: Sirenengesang

 

Ca. 56.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 285 Seiten.

 

 

 

 

 

von

Sonja Amatis

 

 

 

Inhalt

 

Kapitel 1: Albtraumnächte und Hexenträume

Kapitel 2: Golemvertrauen

Kapitel 3: Untersuchungsallerlei

Kapitel 4: Allein unter Trollen

Kapitel 5: Nymphensammler

Kapitel 6: Halsbänder und andere Unartigkeiten

Kapitel7: Verhöre und Begegnungen

Kapitel 8: Hexen-Séancen

Kapitel 9: Golem-Krise

Kapitel 10: Stürmische Wahrheiten

Kapitel 11: Rätsels Lösung und andere Freuden des Lebens

Epilog: Hexe im Quadrat

 

 

Index

 

Albtraumnächte und Hexenträume

 

„Nanana … nana … na nana … nananana …“

Jardeen blickte unwillkürlich auf, als er den unartikulierten Gesang wahrnahm. Tami stand vor dem Vorratsschrank und sang leise vor sich hin. Die Melodie klang nach Oper. Irgendeiner der Klassiker, die sein Gefährte bevorzugte, seit er sich der Musik geöffnet hatte. Es brachte ihn zum Lächeln, Tami auf diese Weise erleben zu dürfen. Selbstvergessen, entspannt, friedlich in sich selbst versunken. Einige Tage waren vergangen, seit die Sirenen ihn aus ihrem Reich hatten entkommen lassen. Schwierige Tage hatten sie seitdem verbracht, und höllische Nächte. Es ging ihnen beiden schlecht. Nicht körperlich – sie hatten weder Schmerzen noch Fieber, ihre Körper funktionierten bestens. Leider funktionierte sonst gar nichts.

Umso kostbarer war dieser kleine Moment, in dem Tami einen Funken der Hoffnung versprühte, auch wenn das Summen ruckartig abbrach.

„Ich glaube, die Magie erwacht langsam wieder, Mr. Ellian“, sagte Willarth, der in diesem Moment den Wohnraum betrat. „Ihr Gesang hat noch nicht die alte Kraft, aber es hat mich berührt.“ Er strahlte vor Freude, während Tami wie erstarrt dastand, mit den beiden Packungen in der Hand, die sein und Jardeens Abendessen enthielten. Auch Jardeen krümmte sich innerlich und erhob sich eilig, um zu ihm zu laufen und ihn in seine Arme zu ziehen. Tami hatte sich magisch verausgabt. All seine Kraft war in den Wunsch geflossen, dass irgendetwas geschehen möge, um die Sirenenkönigin aufzuhalten. Um zu verhindern, dass tausende unschuldiger Meeresbewohner sterben mussten. Es war sein Wunsch, seine Magie gewesen, die Königin Feara getötet hatte. Damit kam er nicht zurecht, es bescherte ihm nach wie vor lähmende Albträume. Da half es wenig sich einzureden, wie viele Leben er mit seiner Tat gerettet hatte. Was zählte war das eine, das er vernichtet hatte. Recht brutal zudem, mit einer magischen Entladung aus einem tritonischen Dreizack.

In Filmen und Büchern wurde es gerne so dargestellt, als müssten Polizeiermittler jede Woche mindestens einen Schurken umbringen, um die Menschheit zu bewahren. Vielleicht war das in alten Zeiten tatsächlich der Fall gewesen, zumindest in afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Riesenmetropolen, in denen organisierte Bandenkriminalität für Terror auf den Straßen gesorgt hatte – vorausgesetzt, dass die Geschichtsschreibung hier nicht Mythos mit Realität vermischt hatte. In ihrer heutigen Welt, in der es keinen Grund für Gier gab und keine ausgehungerten, perspektivenlosen Jugendlichen marodierend durch die Straßen zogen, kam es weltweit vielleicht alle zehn Jahre einmal vor, dass ein Polizist ein Leben nahm. Für Tami war es das absolute Grauen, was da geschehen war …

Die Sirenen hatten ihr Bestes versucht, um ihm zu helfen und seinen Kopf mit Heilgesängen gefüllt. Aus Gründen, die sich nicht erschlossen, trug dieser anhaltende Sirenengesang dazu bei, dass Tami sich noch viel elender fühlte und nachts kaum zur Ruhe fand.

Sein eigener Gesang hatte aufgrund der Überanstrengung an magischer Wirkung verloren. Das war kein permanenter Schaden, so viel war von Beginn an klar gewesen. In einigen Tagen sollte er sich vollständig erholt haben. Jardeen wusste, dass sein Gefährte sich darüber eher gefreut hätte – er hasste es, dieses magische Erbe, nach dem er nie gefragt hatte. Eigentlich wusste Willarth das alles sehr genau. Leider hatte er Verständnisprobleme bei diesem Thema und vergaß es ständig. Für ihn war die Sirenenmacht ein Grund zu Stolz und Freude.

Tami atmete zitternd an Jardeens Schulter ein und aus. Und wieder ein. Er klammerte sich an Jardeen fest, bis es schmerzte. Willarth plapperte derweil weiter, er tanzte selbstvergessen auf dem Esstisch umher, auf dem er eigentlich nichts verloren hatte – ein Detail, das er ebenfalls gerne vergaß.

„Ich habe gerade ein absolut wundervolles Lied gegessen. Das fängt so an: Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken. Der wird im Mondschein, ungestört von Furcht, die Nacht entdecken. Ist das nicht hübsch? Es stammt von Carlo Karges. Zumindest das Lied, es ist ein bisschen umstritten, ob er es tatsächlich selbstinspiriert geschrieben hat und …“ Er stockte, als Tami einen Laut von sich gab, der wie ein gequältes, trockenes Schluchzen klang.

„Oh nein!“ Willarth schlug sich beide Hände vor das Gesicht. „Ich dummer Golem! Es tut mir sehr, sehr leid, Master Ellian, warum habe ich nicht nachgedacht? Ich wollte keinen Kummer verursachen, verzeiht mir bitte.“

Jardeen streckte ihm stumm eine Hand entgegen. Willarth nahm Anlauf und sprang vom Tisch, im blinden Vertrauen, dass sein Master ihn auffangen würde. Es gelang, einen Moment später drückte Jardeen den kleinen Kerl an sich, ohne Tami loszulassen, obwohl da auch noch Essensverpackungen im Spiel waren und es dadurch etwas kompliziert wurde. Tami fing sich allmählich.

„Willarth“, stieß er bebend hervor. „Ich habe leider keine Ahnung, wie lachende Schmetterlinge klingen könnten. Ist auch sehr lange her, dass ich Wolken gekostet habe. An ungestörte Nächte im Mondenschein erinnere ich mich hingegen wehmütig. Also lassen wir das.“

„Wir essen erst einmal, oder?“ Jardeen gab ihn frei und nahm ihm das Essen ab. Reis mit buntem Gemüse hatte Tami ausgesucht. Nicht sein Favorit, doch es würde seinen Zweck erfüllen und ihre Bäuche füllen.

Ein völlig zerknirschter Golem leistete ihnen beim Essen Gesellschaft. Unablässig strich er um sie herum, kletterte ruhelos an Jardeens Beinen hoch, sprang wieder hinab, um sich gegen Tami zu drücken und begann von vorne. Bis Jardeen es leid war und ihn vom Boden pflückte, um ihn seufzend zu umarmen. Willarth anzuknurren verbot sich von selbst, der Golem würde sofort in Tränen zerfließen und sich noch stärker bemühen, sich ihrer Gunst zu versichern. Also hielt er ihn einfach fest.

„Es ist alles gut“, murmelte er besänftigend.

„Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion“, erwiderte Willarth schniefend. „Das sagt Voltaire.“

„Und was sagst du?“, fragte Jardeen lächelnd.

„Keiner von uns ist in Ordnung und wir wissen es. Wir brauchen darum mehr Illusionen, damit wir wieder Hoffnung schöpfen können.“

Nun lächelte auch Tami. Es war eine Wohltat, Willarth um sich zu haben.

„Illusionen lässt mich an Holo-Fernsehen denken“, sagte Jardeen. „Heute ist doch das nächste Gathering, oder?“

Wie auf Stichwort erklangen Hörner draußen in der ganzen Stadt, laut genug, um den Lärm gegen die vielfach gedämmten Wände und die geschlossenen Fenster dringen zu lassen. Das allmonatliche Fußballspiel stand an. Trolle gegen Oger, die in diese halbwegs friedlichen Spielen ihren äonenalten Krieg ausgelagert hatten.

„Bist du sicher, dass du das Spiel schauen willst?“, fragte Tami verblüfft. Aus gutem Grund – das letzte Gathering war zur traumatischen Katastrophe für Jardeen geworden und beim nachfolgenden Training wären sie alle drei beinahe von Ogern niedergemacht worden.

„Wir sitzen sicher, warm und trocken im Wohnzimmer, was soll da schiefgehen?“, entgegnete Jardeen und zuckte mit den Schultern. Er schaltete den Projektor ein und suchte, bis er die Live-Übertragung für das Spiel fand. Schon rannten riesige Gestalten durch den Fernsehbereich. Lebensechte Abbildungen von Trollen und Ogern, die brüllten, stampften, sich auf die entblößten Oberkörper trommelten und auch sonst nach Kräften bemüht waren, ihre rohe Gewaltbereitschaft zu demonstrieren. Die Birminghamer Trollmannschaft empfing heute die Ogermannschaft aus Glasgow in Nova Scotia. Quasi ein großbritannisches Heimspiel. Danach würden die Birminghamer Oger gegen ein Trollteam aus Nova Germania antreten. Das interessierte Jardeen allerdings nicht. Er wollte Brobro zujubeln, jenem noch recht jungen Troll, der ihnen mittlerweile ein Freund geworden war, sofern man bei einem Troll von solchen Dingen reden konnte.

„Da ist er!“, rief Willarth und deutete aufgeregt auf einen der Giganten, der sich mit hochgereckten Fäusten um die eigene Achse drehte und vom Publikum frenetisch anbrüllen ließ. Durchweg waren es Trolle und Oger, die sich auf den Rängen befanden; das Stadion wurde ansonsten nur von Flügelkobolden und Mini-Basilisken betreten. Für Menschen war es viel zu gefährlich. Jeder normalsterbliche Birminghamer würde heute ausschließlich dann das Haus verlassen, wenn es sich auf keinen Fall vermeiden ließ. Jardeen räumte den Tisch ab, dann ließen sie sich zu dritt im Fernsehbereich nieder, bereit sich mitreißen und vollständig von der Illusion überrollen zu lassen, mitten im Spiel zu stehen und mit eigenen Augen mitzuerleben, wie metergroße Giganten aufeinanderprallten, rannten, schwitzten, sich prügelten und absolut alles gaben, um einen Felsbrocken ins Ziel zu befördern.

„Brobro im Ballbesitz. Tantalus verfolgt ihn gnadenlos, und die Verteidiger der Glasgower Recken, Rupert und Dampfhammer, schlagen sich im beeindruckenden Tempo durch die Birminghamer Linien. Agonie und Todesschrei – unschwer als Zwillinge zu erkennen, auseinanderhalten kann sie den Gerüchten nach nicht mal die Frau Mama – liefern sich einen Zähne zerschmetternden Faustkampf mit Lieblingswurz. Ah! Da greift Schiedsrichter Zitterfinger ein, unser aller Schiedsrichter der Herzen, der unvergleichliche Fahrstuhltroll des Birminghamer Polizeigebäudes. Brobro schießt und Toooor! Punkt für Birmingham!“

Der Stadionsprecher-Flügelkobold redete und kommentierte in leidenschaftliche Ekstase. Jardeen hingegen freute sich, dass sein Trollkumpel weiterhin Triumphe feiern durfte, auch wenn es gerade nicht darum ging, verloren gegangene Menschlein vom Spielfeld zu retten. Seltsamerweise fühlte er sich nicht im Mindesten getriggert. Eigentlich hatte er zumindest Unbehagen erwartet, nachdem er im erheblichen Maß Todesangst durchmachen musste, und das gleich zwei Mal. Anscheinend war die Illusion nicht echt genug, um das zu bewirken, obwohl sie wirklich verdammt nah dran war. Darum hielt er sich mit Tami an der Hand, der dicht neben ihm saß, ließ Willarth auf seinen Schultern hocken und genoss die angenehme, völlig stressbefreite Aufregung des Spielverlaufs.

 

 

Tami war verblüfft, wie angenehm es sein konnte, Trollfußball zu schauen. Dabei hatte auch fest geglaubt, nach dem Vorfall in der durchsichtigen Beobachtungskugel, in der Jardeen, Willarth und er gesessen und von Ogern über das Spielfeld geworfen worden waren, diesen Sport nie wieder ertragen zu können. Als das Spiel vorbei war – ein haushoher Sieg für die Birmingham-Trolle, an dem Brobro auch heute den Hauptanteil geliefert hatte – gingen Jardeen und er ins Bad.

In den vergangenen Tagen hatten sie sich hier einen Freiraum geschaffen, den Willarth problemlos akzeptierte. Sie brauchten den Sex, um für ein paar Minuten Vergessen finden zu können. Da der Golem ansonsten Tag und Nacht um sie herumschwirrte, war es ausschließlich an diesem Ort möglich. Der Kleine war nicht glücklich, dass sie ihn aussperrten, er verstand die therapeutische Notwendigkeit von Küssen und Sex nicht. Doch er akzeptierte es, dass sie da anderer Meinung waren, und das war gut so.

Zitternd vor Begierde warf Tami seine Kleidung von sich und zog Jardeen in seine Arme, sobald auch der die stoffliche Befreiung geschafft hatte. Sich an diesen vollkommen unglaublichen Körper schmiegen zu dürfen, Wärme, Nähe und Menschlichkeit spüren zu können, in leidenschaftliche Küsse zu versinken, das war im Augenblick alles, was ihn bei Verstand hielt. Allmählich ließ auch die Angst nach, er könnte Jardeen auf irgendeine Weise missbrauchen, indem er ihn quasi nach Belieben benutzte. Das nymphische Erbe war stark in diesem Mann, er fand seine Erfüllung darin, für andere da zu sein. Einer echten Nymphe wäre es egal, ob es dieser oder jene Mann wäre, den sie mit ihrem vollkommenen Körper beglückte. Jardeen war in diesem Punkt anders veranlagt: Er musste seinen Partner zumindest mögen und blieb ihm unabdingbar treu, solange sie zusammen waren. Tami konnte so oft er wollte nach ihm greifen, Jardeen war immer für ihn bereit und glücklich, für ihn da sein zu können. Nymphenmagie war seltsam … Und heilsam.

„Ich freu mich schon den ganzen Tag auf dich“, flüsterte Tami an seinen Lippen, in den kurzen Momenten, wo sie den wilden Kuss unterbrachen. Er ließ seine Hände über Jardeens Haut gleiten, die betörend duftete. Nach Mann, nach Wärme … Dafür wurde er mit einem strahlenden Lächeln belohnt, bei dem er fast die Beherrschung verloren hätte und über ihn hergefallen wäre, als gäbe es kein Morgen. Doch das wollte er gar nicht. Das rhythmische Rein-Raus war zwar durchaus spannend und der befriedigendste Teil der Gesamtübung, viel schöner allerdings war die Vorfreude. Der sinnliche Genuss, der allumfassend war. Vollkommen unverständlich, wie viel Pech Jardeen in seinem bisherigen Leben mit der Liebe gehabt hatte. Wer verließ einen solchen Mann freiwillig? Andere hatten ihn versucht einzusperren und ausschließlich für sich zu behalten, wodurch er hatte fliehen müssen. Es musste wohl der Murphy-Fluch dahinterstecken, der wollte, dass Jardeen für Tami frei blieb. Keine andere Erklärung ergab einen Sinn. Was für ein wundervoller Fluch …

Sie verwöhnten einander mit Händen, Lippen, Zungen. Solch eine Freude war es, Zeit zu haben, für eine endlose halbe Stunde nichts und niemanden fürchten zu müssen, Angst und Vergangenheit loszulassen. Als sich Tami schließlich tief zwischen diesen göttlich geformten Backen versenkte, stand er kurz davor, vor lauter Glück zu schreien. Jardeen stöhnte heiser, mit den Armen auf der Badewanne aufgestützt. Er kam zuerst und riss Tami mit sich. Himmel! Es war wie ein Rausch, in seiner Vollkommenheit beinahe unerträglich. Mit Tränen in den Augen beugte sich Tami über seinen Gefährten, presste sich gegen ihn, so eng es nur ging, hauchte ihm Küsse auf den verschwitzten Rücken und gestammelten Unsinn ins Ohr. Keine Liebesschwüre, sondern pure Dankbarkeit. Bis der Höhenflug endgültig vorbei war und sie sich voneinander lösen mussten.

Danach reinigten sie schnell die Badewanne von den Spuren ihrer Leidenschaft und füllten sie mit warmem Wasser, um das Unvermeidliche noch ein bisschen hinauszuzögern. Arm in Arm aneinandergekuschelt entspannten sie sich. Die Nacht erwartete sie mit all ihrem Schrecken. Bestmöglich gestärkt, wie sie nun waren, bestand zumindest die Hoffnung, dass sie den Morgen erreichen würden.

 

 

Tami sang das spezielle Lied, das seine Mutter ihn gelehrt hatte. Im Moment brauchte er das Gefühl, ihr nah zu sein und das war die einzige Möglichkeit. Seine schwankende, tränenschwimmende Stimme konnte den Schlachtenlärm nicht übertönen. Er hörte sich kaum selbst, außer wenn er sich die Ohren zuhielt. Tränenblind und gefangen im Horror, wie er war, bemerkte er erst nach einer Weile, dass er Gesellschaft hatte: Ein Dutzend oder mehr Wimmler umgaben ihn. Warum diese Kreaturen auf ihn reagierten, sobald er dieses Lied anstimmte, hatte er noch nie verstanden. Anscheinend war es seine Art von Magie.

„Warum weint es?“, zirpten sie ihm ins Ohr. „Warum ist es traurig und singt so schön?“

„Weil diese Kreaturen sich gegenseitig abschlachten. Die Königin will es, also tun sie es.“

„Warum will die Königin etwas Böses für ihr Volk? Warum? Ja, warum?“, zirpten die Wimmler. Sie huschten um Tami herum, kleine maulwurfartige Geschöpfe, von denen wenig genug bekannt war. Sie besaßen die Fähigkeit, alles zu durchdringen, was Masse besaß, ohne es zu zerstören. Auch durch einen menschlichen Körper könnten sie gleiten, es würde keinen Schaden anrichten. Manchmal konnte man sie mit Nahrung dazu locken, Gegenstände aus großen Tiefen zu bergen. Meistens hatten sie keine Lust dazu und nichts und niemand, auch kein zorniger Drache, konnte sie dazu zwingen – weder mit Gewalt noch mit Magie. Abgesehen davon waren sie hilf- und wehrlos, es bereitete keinerlei Mühe, sie zu töten.

Tami versuchte zu erklären, worum es bei diesem Kampf ging. Warum man ihn zum Auslöser bestimmt hatte.

„Ich will nicht hier sein, aber wo soll ich hin? Ich will, dass das gegenseitige Morden aufhört. Dafür müsste ich wohl die Königin umbringen.“

„Dann tue es“, zirpten die Wimmler. „Ein Leben nehmen. Tausende bewahren.“

Er schreckte aus dem Schlaf hoch, bebend, in Schweiß gebadet. Tami war in Eulengestalt eingeschlafen, hatte genau wie Jardeen das hexische Wandleramulett genutzt. Sein Gefährte lag dicht neben ihm, nicht mehr länger als Irish Setter, sondern als Mann. Genau wie er selbst, er hatte sich im Traum unwillentlich zurückverwandelt. Im Augenblick schien Jardeen ruhig zu sein, doch auch ihn würden die Albträume bald zu quälen beginnen. Die Nächte waren unerträglich. Tami hasste diese Erinnerung an die große Schlacht zwischen Getreuen der Sirenenkönigin und den Rebellen …

Erschöpft sank er zurück in das klamme Kissen. Es nutzte wenig aufzustehen, in der Hoffnung, durch Wachbleiben den Träumen zu entfliehen. Sie fanden ihn, sobald er die Augen schloss und Schlaf war leider unabdingbar. Also schmiegte er sich an Jardeen, lauschte dem leisen Murmeln, das Willarth im Traum von sich gab, und lag still. Die Erschöpfung steckte sowieso in sämtlichen Knochen und brachte schmerzende Qualen mit sich. Mit ganzer Kraft versuchte er, sich auf schöne Dinge zu konzentrieren. Auf Erlebnisse mit Jardeen, mit Willarth, mit Douglas, Nikina, seiner Pflegefamilie, seiner leiblichen Mutter. Auf den Sirenengesang, der ihn doch eigentlich heilen sollte. Es gelang nicht. Stattdessen spürte er, wie ihn der nächste Albtraum anpirschte, während er zurück in ruhelosen Schlaf sank.

„Ich wünsche mir, dass geschehen wird, was geschehen kann, um Königin Feara sowie dieses Morden aufzuhalten.“

Das war schlecht. Zu wenig. Falsch! Wahrscheinlich gab es zwei Trillionen Löcher in diesem Wunsch, durch die die Magie hindurchrieseln und all seine Hoffnungen zunichte machen würde! Was wäre, wenn er gerade das Todesurteil für jeden der Kämpfer dort unten gesprochen hatte?

„O Gott!“ Die Perlen zerfielen zu Staub, der davonschwebte und sich auflöste. Er konnte den Wunsch nicht mehr rückgängig machen. Es gab keine Möglichkeit, ihn aufzuhalten!

„Neinneinneinneinnein!“ Aufheulend schlug er die Hände vor das Gesicht. Er wollte nicht sehen, welche Katastrophe er gerade heraufbeschworen hatte.

„Sing!“, zirpten die Wimmler und huschten verspielt um ihn herum. „Sing für uns!“

Wieder ruckte Tami hoch. Es fühlte sich nicht so an, als hätte er die Augen für länger als eine Minute geschlossen gehalten. Ein Blick auf seine Dschinn-Armbanduhr, die im Dunkeln schwach leuchtete, zeigte erbarmungslos, dass es immerhin zehn Minuten gewesen waren. Viertel nach eins am Morgen war es jetzt. Die Nacht nahm kein Ende …

„Du kannst ihn nicht so lieben, wie er es verdient, und das weißt du“, sagte Feara. „An deiner Seite bliebe er ein Gefangener. Dazu verdammt, dir beizustehen, weil es nun einmal seine Natur ist. Du kannst ihm nicht geben, was er braucht.“

„Vielleicht kann ich es lernen“, flüsterte Tami. „Menschen können sich manchmal ändern.“

„Du bist kein Mensch. In dir steckt das Erbe der Sirenen. Wir binden uns nicht. Eine Sirene, gleichgültig ob männlich oder weiblich, wählt sich einen Partner, genießt das Vergnügen, sorgt für Nachwuchs und zieht weiter. Ähnliches gilt für Nymphen, die Verwandtschaft ist groß. Baumnymphen mögen etwas anhänglicher sein und durchaus für einige Jahre irgendwo verweilen. Jardeen hat leider zu viel Menschlichkeit geerbt. Er ist der Mann für „Sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende“. Du nicht, Tami. Sieh es ein und gib ihn frei, damit du selbst frei sein darfst.“

„Hören Sie nicht auf die Königin, Mr. Ellian“, flüsterte Willarth. „Sirenen lügen! Sie betrügen mit Worten, die wahrhaftig erscheinen. Lassen Sie sich nicht von ihr auf diese Weise benutzen! Wer weiß, was ihr wahres Ziel ist!“

„Willst du lieber weitermachen wie bisher? Mit Nächten voller Angst und Albträumen? Mit Tagen voller unerfüllter Sehnsucht? Was kann dir Jardeen an Heilung bieten? Und was kannst du ihm anbieten? Niemand benötigt dich dort oben. Todesfälle untersuchen ist eine wichtige Arbeit, für die es immer genügend Personal gibt. Jardeen kann dich ersetzen und damit das Überleben seines Golems sichern. Deine Pflegeeltern haben dich längst durch eine Tochter ersetzt und sie visieren gerade die Adoption von Zwillingen an. Vierjährige Jungen, die Mutter ist drogensüchtig. Sie werden dich vermissen, aber nicht daran zugrundegehen. Also lass los, Tami. Zu Jardeens Wohl. Für dein eigenes Heil. Ich werde dich deine Albträume vergessen lassen. Du wirst eine neue Familie finden. Befriedigung deiner Bedürfnisse, wann immer du es wünschst. Arbeit, die dich erfüllen wird. Wachstum. Wissen. Reine Schönheit und Frieden. Das Meer steckt in dir, Tami. Ergib dich seinem Ruf.“

Diesmal war es ein lauter Klageruf von Jardeen, der Tami weckte. Gerade noch rechtzeitig. Er wollte sich nicht daran erinnern, wie er freiwillig den Mann weggeschickt hatte, den er zum Überleben ebenso dringend brauchte wie Luft zum Atmen. Er rüttelte Jardeen, bis dieser japsend zu sich kam. Konnte die Nacht denn nicht schneller vorbeigehen?

„Oh, das könnte sie, Tami. Aber dafür ist Magie vonnöten, über die lediglich Dschinne und Drachen verfügen, und die sollten wir nach Möglichkeit in Ruhe lassen, meinst du nicht?“

Jardeen und er saßen mit einem Ruck senkrecht im Bett. Sie kannten die heisere, hohe Stimme der Person, die gerade vollkommen gelassen zu ihnen gesprochen hatte.

„Isolda!“, riefen sie zugleich, unterbrochen von Willarth glückseligem Quietschen, der sich wie üblich seiner Schöpferin ohne zu zögern in die Arme warf. Isolda! Was wollte die Hexe zu dieser Stunde von ihnen? Es hatte wohl nichts Gutes zu bedeuten …

 

 

„Schon mal das Wichtigste vorneweg: Ich bin nicht gekommen, um euch ins nächste Abenteuer zu jagen“, sagte Isolda, die wie eine unglaublich hässliche Nebelkrähe am Fußende des Bettes hockte und geistesabwesend Willarth‘ Rücken tätschelte.

Jardeen war sich nicht sicher, ob er ihr glauben wollte. Dennoch war diese Ansage beruhigend genug, damit sich sein rasender Herzschlag verlangsamen konnte. Schlimm genug, dass er von Albträumen durch die Nacht gehetzt wurde, eine Hexe im Schlafzimmer war nie ein gutes Zeichen!

„Ich bin hier, um euch beiden zu helfen. Der Grund, lieber Tami, warum dir der Sirenengesang nicht wirklich Heilung bieten kann, liegt in den Schutzamuletten. Diese hübschen Aquamarine, die ich magisch in euch eingebrannt habe. Sie haben das Schlimmste verhindert, als ihr durch das Reich der Sirenen gewandert seid – o ja, das haben sie. Ohne diesen Schutz wäre es euch noch wesentlich übler ergangen. Nun braucht ihr sie nicht mehr. Im Gegenteil, bei dir, Tami, richten sie heftigen Schaden an, weil der Sirenengesang wie ein Irrläufer durch deinen Kopf rumpelt. Sie zu entfernen macht ein bisschen Mühe, weil ich euch schlimmstenfalls beschädigen könnte. Will ja so auch keiner … Darum komme ich erst jetzt, vorher hatte ich keine Zeit für magische Operationen.“

„Und das ist wirklich notwendig?“, fragte Jardeen unglücklich. „Bei uns beiden?“

„Definitiv. Du erhältst dank des Amuletts auch keine Hilfe mehr, indem Tami für dich singt. Was er nach diesem kleinen Eingriff wieder sehr viel stärker tun sollte. Für dich und für sich selbst.“

„Wie schlimm wird es werden?“ Tami seufzte schicksalsergeben.

„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. – Das hat der Herr Lichtenberg gesagt“, murmelte Willarth.

„Und was für ein kluger Mann das war. Ihr zwei habt schon Schlimmeres durchgestanden. Und jetzt macht mal Platz, Kinder, und hört auf zu jammern. Ich will euch Amulette rausrupfen, keine Männergrippe anhexen.“ Isolda setzte Willarth ab und drängte sich zwischen sie. Ihr klapperdürrer Greisinnenkörper in der schwarzen Robe fand ausreichend Platz, weder Tami noch Jardeen drohten aus dem Bett zu stürzen. Ohne weitere Erklärungen oder Verzögerungen presste sie jedem von ihnen eine Hand auf die Brust und stieß seltsame Worte in einer kehligen Sprache aus. Es brannte. Grausam. Jardeen wand sich stöhnend, doch ein Entkommen war nicht möglich. Auch Tami wurde beständig lauter. Schneidender, greller Schmerz. Es wurde schlimmer. Dann unerträglich. Jardeen begann zu brüllen, bis ihm fast die Sinne schwanden. Wühlte die Hexe etwa mit den Händen in ihren Körpern herum? Es fühlte sich beinahe danach an …

Als es endlich vorbei war, blieb Jardeen vollkommen erschöpft liegen, unfähig auch nur die Augen zu öffnen. Seine Wangen waren nass geweint, er brauchte eine halbe Ewigkeit, bevor er wieder ruhig atmen konnte und das Blut nicht mehr gewalttätig durch seine Adern pulsierte. Himmel, das war fürchterlich gewesen …

„Seht ihr? Von einer Kirche verschüttet zu werden war viel schlimmer“, erklang Isoldas Stimme wie aus weiter Ferne. „Ein Glück, dass die Wände dick genug sind, sonst hätten eure Nachbarn vermutlich längst die Polizei gerufen.“

„Ihr seid unverletzt, Herr“, flüsterte derweil Willarth und streichelte ihm beruhigend über den Kopf.

„Verhätschle ihn nicht. Das sind erwachsene Kerle, keine Kleinkinder. Ich träume ja sehnsüchtig davon, dass sie sich irgendwann mal dementsprechend benehmen, die sogenannten Herren der Schöpfung. Aber das werde ich wohl nicht mehr erleben.“ Isolda stieg vom Bett herunter. Jardeen blinzelte und sah das blaue Funkeln der Edelsteine, die bis gerade eben noch in seiner und Tamis Brust gelegen hatten. Kein Blut klebte an ihnen, womit er eigentlich fest gerechnet hätte. Sobald es möglich war, rückte er in die Mitte der Matratze und kam damit Tami entgegen, der ebenfalls zu ihm strebte. Sie klammerten sich aneinander, stumm, lautlos. Es gab keinen Grund für weitere Tränen, die Schmerzen waren abgeklungen. Geblieben war ein Gefühl von Schock. Isoldas Übergriff schien tatsächlich eine Art Operation ohne Narkose gewesen zu sein.

„Sing, Tami“, befahl die Hexe. „Deine Magie hat sich ausreichend erholt. Du wie auch Jardeen, ihr werdet davon profitieren. Ein ruhiger, traumloser Schlaf ist nun wieder möglich. Vor allem, wenn du den Perlenstab deiner Mutter dabei in der Hand hältst.“ Sie zauberte den Gegenstand hervor, der bis gerade eben noch im Wohnzimmer gelegen hatte. Der geheimnisvolle, perlenbesetzte Stab, den Tami von seiner Tante erhalten hatte, der Schwester seiner Mutter. „Frag nicht, was es damit genau auf sich hat. Du wirst es irgendwann erfahren, aber nicht heute. Es genügt vorerst, dass der Stab deine schwache Magie bündelt und somit verstärkt.“

Ohne Abschiedsgruß drückte sie Tami den Stab in die bebende Hand und verschwand dann.

„Hoffentlich dauert es noch sehr lange, bis sie das nächste Mal Zeit für uns hat“, flüsterte Tami. Ein kurzer Befehl genügte, dass die Lichtelfen es erneut dunkel im Zimmer werden ließen. Noch immer klammerten sie sich eng aneinander, mit Willarth, der sich zwischen sie gedrängt hatte. Tami begann zu singen. Sehr leise, ein Lied, das Jardeen nicht kannte. Es tat wohl. Sein überanstrengter Körper kam zur Ruhe und sank dem Schlaf entgegen. Es wäre schön, wenn die Träume sich für heute Nacht fernhalten würden … Wenigstens bis zum Morgengrauen.

 

Golemvertrauen

 

Brobro hatte erstaunlich unlädiert ausgesehen, als er sie bei Tamis Haus eingesammelt hatte. Er war schon ein ganz besonderer Troll, schneller als die meisten seiner Artgenossen und deutlich intelligenter. Was nicht viel zu sagen hatte – trotz platt geschlagener Nase und riesiger schwarzer Hämatome überall war er schlicht nicht auf die Idee gekommen, seinen Dienst als Polizeitransporttroll für einen Tag auszusetzen, um die Verletzungen zu kurieren. Solch komplizierte Konzepte wie Krankheitsausfall besaßen keinen Platz in der Trollkultur. Ihre Komplimente und Glückwünsche zum gelungenen Spiel hatte er mit höchst zufriedenem Grunzen entgegengenommen.

Nun waren sie also zurück auf der Birminghamer Polizeistation. Der Entschluss, sich heute wieder bei der Arbeit zu melden, war spontan gefallen, als Jardeen und er nach rund vier traumlosen Stunden Schlaf aufgewacht waren und sich einigermaßen erholt gefühlt hatten. Ob es eine gute Idee gewesen war, würde sich noch zeigen müssen. Daphne, ihre Chefin, war bislang die Einzige, die sich um diese frühe Stunde auf dem Revier herumtrieb. Die anderen würden zweifellos jeden Moment erscheinen.

Daphne hatte sie aus diesem Grund sofort in ihr Büro geholt, denn sie wollte in Ruhe mit ihnen sprechen, ohne dass die anderen sich aus Wiedersehensfreude einmischten. Sie musterte Tami lange und gründlich, bevor sie sich Jardeen zuwandte. Der gehörte seit Neuestem auch offiziell zum Team, hatte allerdings noch keine Chance gehabt, seit seinem Wechsel vom Springer zum normalen Mordermittler zu arbeiten.

„Ich habe keine Worte, um zu beschreiben, wie kaputt ihr zwei ausseht“, sagte Daphne leise. „Ihr seid sichtbar durch die Hölle gegangen. Besonders du, Tami.“

Er senkte beschämt den Kopf. Natürlich wusste er, was für eine erbärmliche Erscheinung er gegenwärtig bot. Sein Badezimmerspiegel log ihn nicht an und er war nicht blind. Im Gegensatz zu ihm wirkte Jardeen selbst nach nächtelangem Schlafentzug und Tagen voller quälender Sorgen anbetungswürdig. Das lag in seiner nymphischen Natur und sagte nichts darüber aus, wie gut oder schlecht es in seinem Inneren aussah. Daphne wusste das. Wie die anderen Kollegen auch war sie nach Tamis Rückkehr aus den Tiefen des Ozeans bei ihnen zu Besuch gewesen. Halb in offizieller Mission als Vorgesetzte, die sich ein Bild vom Zustand ihrer Mitarbeiter machen wollte, halb als Freundin, die vor echter Sorge fast verging – und absolut froh und dankbar war, sie mehr oder weniger heil in die Arme schließen zu dürfen.

„Ich hab jetzt ein Problem“, fuhr sie fort. „Eigentlich müsste ich euch zwei erst einmal auf psychische und physische Eignung für euren Job untersuchen lassen, bevor ihr hier mehr tun dürft, als Bleistifte anzuspitzen.“

Willarth regte sich, als wollte er mit einer Frage herausplatzen, hielt sich dann aber zurück. Vermutlich wusste er nicht, was Bleistifte waren. Wirklich genau war sich auch Tami da nicht im Klaren drüber, außer dass man mit diesen Dingern vor mehreren Jahrhunderten geschrieben und gezeichnet hatte, während man heute fast ausschließlich mit Laser-Gravurtechnik-Stiften arbeitete. Ob sie damals tatsächlich aus Blei bestanden hatten, war ihm hingegen nicht klar. Das war völlig irrelevant, denn der Sinnspruch als solches war mehr als deutlich in seiner Bedeutung. Genau wie endlos viele andere Sinnsprüche, deren Ursprung teils noch weiter im Nebel der Zeit verborgen lag.

„Wir sind unterbesetzt bis an den Rand des Zusammenbruchs“, sagte Daphne grimmig. „Nikina wird noch lange im Krankenhaus liegen mit ihren schweren Brandwunden von dieser Bombe. John darf den Schreibtisch frühestens übernächste Woche verlassen, was immer noch früh ist für einen Mann, der aus einem Trolltransportkorb gefallen ist. Und dann ihr beide … Wir haben siebenundzwanzig hochakute Fälle, dazu knapp sechzig, die noch mindestens lauwarm sind und bearbeitet werden sollten. Paul fehlt uns entsetzlich … Dazu kommt Les, den ich mit Engelszungen überreden musste, sich nicht versetzen zu lassen. Er hat Scheiße gebaut, als er dich angegriffen hat, Jardeen. Trotzdem gehört er zu meinen Spitzenleuten und ich kann nicht auf ihn verzichten.“

„Das sollst du auch gar nicht“, erwiderte Jardeen. „Es ist nicht seine Schuld, wie er auf mich reagiert hat, das habe ich mehrfach betont.“

Ein Punkt, mit dem Tami nach wie vor nicht klar kam. Les hatte Jardeen sexuell attackiert. Nymphische Ausstrahlung hin oder her, ein Mordermittler musste sich beherrschen können. Doch es war müßig, mit Jardeen darüber zu diskutieren, was auch Daphne wusste.

„Lassen wir das Thema“, sagte sie dementsprechend. „Wie gesagt, eigentlich muss ich euch auf Herz und Nieren prüfen lassen. Stattdessen will ich versuchen, mir magische Unterstützung in dieser Frage zu holen. Das geht schneller, wenn mir das Glück hold ist.“ Sie griff zu ihrer Botenfeeflasche. Bevor sie eine der Kleinen herausklopfen konnte, krachte es plötzlich, übelriechender Rauch wallte auf, der sie alle zum Husten brachte und die Sicht vernebelte – eine Hexe war im Büro erschienen und hatte sich dazu entschlossen, ihren Auftritt mit Feuerwerk zu begleiten. Das war nicht notwendig, wurde aber anscheinend dem Ruf gerecht, den Hexen in der Öffentlichkeit genossen und pflegten.

„So schnell sieht man sich wieder, ihr Hübschen“, erklang Isoldas Stimme, noch bevor sich der Rauch verzogen hatte. Willarth begrüßte sie juchzend, als wären es fünf Jahre der Trennung gewesen statt der wenigen Stunden.

„Ah ja, mein kleiner Willarth …“ Sie seufzte und setzte etwas auf, das einem mütterlichen Lächeln so nah kam, wie es einer Hexe eben möglich war, während sie ihm zärtlich den Kopf tätschelte.

„Du brauchst dich nicht zu bemühen“, fuhr sie an Daphne gewandt fort. „Da diese beiden prächtigen Kerle von magischen Kreaturen beschädigt wurden, fallen sie in meinen Beritt und ja, eine magische Konsultation bringt dich in diesem Fall eher ans Ziel als jegliches Bemühen der menschlichen Heilerzunft. Die würden dir nämlich raten: Ab in die Psychiatrie mit ihnen, und den Schlüssel weit, weit wegwerfen. Wäre schade drum. Nun denn. Heute Nacht habe ich dafür gesorgt, dass die Schlaflosigkeit endlich eingedämmt wird. Rein körperlich sind sie in guter Verfassung, liebe Daphne. Besser als die meisten normalsterblichen Menschen es jemals sein werden, immerhin haben sie ein magisches Erbe vorzuweisen.“

„Wenn sie psychisch zu stark angegriffen sind …?“, begann Daphne, doch Isolda unterbrach sie rigoros.

„Die menschliche Psyche ist ein faszinierendes Forschungsthema, mit dem wir Hexen uns seit Jahrtausenden amüsieren. Und dennoch könnt ihr Sterblichen uns jederzeit noch überraschen. Zumindest gelegentlich. Na ja … ganz selten. Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Menschentypen. Diejenigen, die unter zu viel Druck zusammenbrechen und nie wieder aufstehen beziehungsweise Selbstmord begehen oder Amok laufen; und die anderen, die fallen, kurz liegen bleiben und sich danach jede Mal von Neuem aufrappeln. Diese zwei Jungs gehören in die letztere Kategorie.“ Sie tätschelte ihnen gönnerhaft die Arme. Tami seufzte innerlich. Er hasste es, wie eine kaputte Vase behandelt zu werden – zu blöd, um Mitspracherecht zu haben und offenkundig zu nutzlos, um Respekt zu verdienen. Hallo? Sie standen mit im Raum, waren bei vollem Bewusstsein, ihre Ohren funktionierten bestens und irgendwie schien es um ihre berufliche Zukunft zu gehen, wenn er sich nicht irrte oder irgendetwas fehlinterpretiert hatte. Das ging sie durchaus etwas an! Die Art, wie Jardeen die Kiefer verkrampfte, zeigte, dass auch er unzufrieden war. Dennoch schwiegen sie. Es war sinnlos, mit Isolda zu diskutieren.

„Jeder Mensch kann endgültig zerbrechen und steht nie mehr auf, wenn ihm zu viel Leid widerfährt“, sagte Daphne bedächtig, die offenbar noch nicht von der Sinnlosigkeit einer Diskussion überzeugt war.

„Es gibt tausende und abertausende Gegenbeispiele“, widersprach Isolda.

---ENDE DER LESEPROBE---