Die Birmingham-Akten - Sonja Amatis - E-Book

Die Birmingham-Akten E-Book

Sonja Amatis

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Beschreibung

Was haben „Die Leiden des jungen Werthers“ und „Winnie Puuh“ gemeinsam? Ihre Geschichten und Persönlichkeiten dienten – unter anderem – der Charakterbildung eines Golems. Eben jenem Golems, der Jardeen bei einer Mordermittlung zur Seite stehen soll. Eine Ermittlung, die über Schuld oder Unschuld von Tami entscheiden muss, der unter verdächtigen Umständen verschwunden ist. Und das ist erst der Anfang seiner Probleme … Anmerkung: Dies ist der 1. Teil einer neuen Reihe. Wie viele Teile diese umfassen wird, steht noch völlig in den Sternen. Mindestens zwei, mehr war auch unter Androhung von Folter nicht aus den Helden rauszuquetschen. Jedes Buch wird (hoffentlich/voraussichtlich) eine in sich geschlossene Krimihandlung haben, während die Hintergrundgeschichte fortlaufend ist. Ca. 78.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Was haben „Die Leiden des jungen Werthers“ und „Winnie Puuh“ gemeinsam?

Ihre Geschichten und Persönlichkeiten dienten – unter anderem – der Charakterbildung eines Golems. Eben jenem Golems, der Jardeen bei einer Mordermittlung zur Seite stehen soll. Eine Ermittlung, die über Schuld oder Unschuld von Tami entscheiden muss, der unter verdächtigen Umständen verschwunden ist. Und das ist erst der Anfang seiner Probleme …

 

Anmerkung: Dies ist der 1. Teil einer neuen Reihe. Wie viele Teile diese umfassen wird, steht noch völlig in den Sternen. Mindestens zwei, mehr war auch unter Androhung von Folter nicht aus den Helden rauszuquetschen. Jedes Buch wird (hoffentlich/voraussichtlich) eine in sich geschlossene Krimihandlung haben, während die Hintergrundgeschichte fortlaufend ist.

 

Ca. 78.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 400 Seiten.

 

www.sandra-gernt.de

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder anderweitige Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von

Sonja Amatis

Panik, Drachen, Hexentanz – willkommen in Birmingham!

 

„Gleich ist es geschafft.“

Die Stewardess berührte Jardeen am Arm und lächelte mitfühlend. Man konnte ihm seine Flugangst von der Nasenspitze ablesen, und zwar von dem Moment an, in dem er einen Flieger betrat. Sie hatte aus eigenem Antrieb während der vergangenen sechs Stunden häufiger bei ihm vorbeigeschaut und ihm alles Mögliche angeboten, was seine Situation erleichtern sollte. Jardeen hatte bis auf Kamillentee jedes einzelne Angebot ausgeschlagen und sich in anstrengenden Trancezuständen gehalten. Dass er die Sitzreihe für sich allein haben durfte und sich auch sonst wenige Passagiere an Bord befanden, wäre eine Erklärung für die besondere Fürsorge. Leider stand zu vermuten, dass die hübsche blonde Dame ihn attraktiv fand. Etwas, was Jardeen häufiger widerfuhr und mit ebenmäßigen Gesichtszügen, auffallend braun-grünen Augen, brünettem Wuschelhaar und einer gewissen jungenhaften Ausstrahlung erklärt wurde. – Von der geneigten Damenwelt, nicht von ihm selbst. Er fand es nervtötend, mit Mitte Dreißig immer noch gelegentlich den Ausweis vorzeigen zu müssen, wenn er sich Bier kaufen wollte. Von seinem anziehenden Äußeren profitierte er ebenfalls nicht unbedingt. Es reichte nicht für eine Modelkarriere – die ihn auch nie für einen Augenblick interessiert hatte – und sowohl Schauspielerei als auch Musik standen nicht zur Debatte. Stattdessen war er zur Polizei gegangen, hatte mehrere Anfragen, ob er zur Sitte wechseln wollte ausgeschlagen und sich zum Detective Inspector bei der Mordermittlung hochgearbeitet.

„Sie waren sehr tapfer“, gurrte die Flugbegleiterin.

„Dank Ihrer professionellen Hilfe kein Problem“, erwiderte Jardeen und überbetonte das Wörtchen professionell.

„Besuchen Sie Ihre Familie? Oder machen Sie bloß Urlaub“, fragte sie weiter, ohne sich abschrecken zu lassen. Ihr Blick hatte bereits intensiv gescannt, ob er einen Ehering trug, was nicht der Fall war. Er überlegte, eine Verlobte zu erfinden, doch es wäre denkbar, dass er ihr auf dem Rückflug erneut begegnete. Aus diesem Grund wollte er auch nichts Unfreundliches sagen, denn seine Flugangst würde sich bis dahin nicht in Luft aufgelöst haben und er wollte gerne weiter bestmögliche und sehr persönliche Betreuung genießen. Also entschied er sich für die Wahrheit, die zwar nicht immer, aber häufig genug zu bevorzugen war.

„Ich muss arbeiten. Schlimme Dinge sind geschehen und ich soll helfen, damit sie aufgeklärt werden. Mir wird da leider keine Zeit bleiben, Land und Leute kennenzulernen.“

„Überhaupt gar keine?“

„Nicht eine Minute.“

„Welch ein Jammer …“, hauchte sie mit schmolligem Kussmund. Jardeen atmete erleichtert auf, als sie endlich abzog. Manche Menschen sahen einfach zu viele Filme und glaubten wohl, sie müssten sich genauso dämlich benehmen wie die klischeehaften Püppchen, die dort auftraten. Wenigstens war sie ihm nicht böse und hielt bis zur Landung von nun an den gewünschten Profiabstand. Als er sein Handgepäck aus dem oberen Fach holte, drängte sie sich etwas zu dicht an ihm vorbei; zumindest betatschte sie ihn nicht unsittlich und verzichtete auf überflüssige Entschuldigungen.

„Willkommen in Nova Britannia, Sir. Ich hoffe, Sie dürfen Ihren Aufenthalt trotz zu viel Arbeit genießen.”

„Vielen Dank“, erwiderte er steif. Leider war es vollkommen unmöglich, die Drachen zu ignorieren, als er den Flieger verließ. Dies war schließlich der größte Flughafen der Welt und es wimmelte nur so von diesen Biestern. Sie fauchten, zischten, grollten, brüllten und stießen Rauchfontänen aus. Feuer spucken durften sie nicht. Es würde die Passagierzylinder gefährden, die die Drachen auf ihren Rücken geschnallt hatten. Die dicken Metallwände waren zwar bis zu einem gewissen Grad hitzeresistent, aber bei Drachenfeuer hatte alles seine natürlichen Grenzen. Selbst die Vorstellungskraft armer kleiner Mordermittler, warum es in hundertneunzig Jahren Drachenfliegerei noch keine ernsten Unfälle gegeben hatte. Jardeen fragte sich nach jedem überlebten Flug aufs Neue, warum er sich den Unfug antun musste. Natürlich war die Antwort einfach: Er konnte sich nicht entziehen, wenn er von seinen Vorgesetzten auf die Reise geschickt wurde. Trotzdem wäre er lieber in den Anden geblieben, wo er seit zwei Jahren in der Hauptstadt von Nova Americana lebte und arbeitete. Dort war es wärmer, es regnete seltener, verheerende Stürme kamen kaum je vor. Im Gegensatz zu Nova Britannia, das zu jeder Jahreszeit fortgeweht zu werden drohte. Die schwüle Luft, die ihn hier draußen empfing, genügte bereits, um schweres Heimweh zu verursachen. In Lima würden ihn auch keine Flügelkobolde in der Haupthalle erwarten, die schlecht gelaunt herumkreischten, während sie das Gepäck der Passagiere herbeischleppten.

„Mr. Chamal?“, quiekte eine Kobolddame und schwirrte wie die weltgrößte Hummel vor seiner Nase umher. Warum sich ihre Fluglinie für rosafarbene Berufskleidung für Flügelkobolde entschieden hatte, würde wohl auf ewig ein Geheimnis bleiben. Immerhin beschäftigte Hartschuppen-Airlines ausschließlich Highlandbreeds, die wunderschön blau-grün gefärbt waren. Flügelkobolde wiederum neigten dazu, ebenso rund wie lang zu sein und wirkten in der schweinchenrosafarbenen Tracht wie fliegende Ferkel.

„Mr. Chamaaal?“, versuchte die Koboldin es erneut.

„Jardeen“, erwiderte er. „Jardeen Chamal ist mein Name. Das erste a lang, das zweite kurz.“

„Fein. Sie werden in der ersten Halle erwartet. Folgen Sie mir bitte.“ Sie flatterte voraus. Jardeen versuchte zu ignorieren, dass ihr Kleidchen etwas kurz geraten war und Tüllröcke bei fliegenden Geschöpfen vielleicht auch nicht die bestmögliche Wahl darstellten. Zumindest bei einer Spezies, die das Tragen von Unterwäsche für menschlichen Schwachsinn hielten. Man bekam zwangsläufig Dinge zu sehen, die man nie so genau hatte wissen wollen …

In der ersten Wartehalle sprang ein junger rothaariger Mann auf, sobald er ihn erblickte. Auf seine sommersprossige Stirn war unsichtbar „übereifriger Schotte, frisch von der Polizeischule und entschlossen, sich bestmöglich zu beweisen“ eintätowiert. Er war in blau gekleidet, in dem halboffiziellen Dienstanzug, den die Stadt ihren Mitarbeitern zur Verfügung stellte, sofern diese keiner Uniformpflicht unterlagen. Als Springer durfte Jardeen seine Freizeitkleidung anbehalten, sofern sie angemessen und dezent war; seine weiße Stoffhose mit dem schwarzen Hemd stellte kein Problem dar.

„Mr. Chamal?“ Er sprach es Kämäll aus. Noch so etwas, was Jardeen an Nova Britannia hasste. Man konnte glatt meinen, dass sein Familienname unglaublich kompliziert wäre.

„Jardeen“, sagte er darum rasch und streckte dem jungen Burschen die Hand entgegen. „Formalitäten behindern die Zusammenarbeit, meinen Sie nicht?“

„Oh. Äh. Ja … Ich bin Donald McPhedran. Don. Oder Mackie. Die meisten nennen mich Mackie.“ Er lächelte scheu.

„Mackie also“, sagte Jardeen. „Bitte, können wir erst kurz zum Hotel? Der Flug war anstrengend und ich würde mich gerne umziehen, bevor es an die Arbeit geht.“

„Natürlich.“ Mackie lachte nervös. Warum, erschloss sich sehr rasch – er steuerte in den Parkstallungen einen der abgerissensten Graubarttrolle an, die Jardeen jemals gesehen hatte. Ein vernarbtes, altes Exemplar, das selbst mit der leeren Tragkabine auf seinem Rücken überfordert wirkte. Da sollten sie sich zu zweit reinquetschen?

„Jaaaaa … Hm. Er ist ziemlich günstig im Unterhalt“, murmelte Mackie. „Isst nicht mehr viel und braucht wenig Platz. Mein Vater hat mir einen jungen Bergtroll versprochen, sollte ich die Prüfung zum Sergeant in weniger als drei Jahren bestehen. Die Unterhaltskosten für ein ganzes Jahr würde er dann ebenfalls übernehmen, indem er den Platzbedarf auf seine eigene Kappe anrechnen lässt.“

„Der Himmel steh mir bei“, flüsterte Jardeen nahezu lautlos. Verpflegung war tatsächlich das Zauberwort, um zu erklären, warum sich seit knapp zweihundert Jahren die Fabelwesen von einst in den Dienst der Menschheit begeben hatten. Die Meeresspiegel waren damals rasant angestiegen, als auch die letzten Gletscher und beide Polkappen vollständig abgeschmolzen waren. Die Menschheit musste nun mit weniger Landfläche auskommen und ihre schönen Küstenstädte aufgeben. Von der Freiheitsstatue der ehemaligen Vereinigten Staaten ragte nur noch die Fackel und ein Stück des Kopfes hervor. Die Tower Bridge von London war mitsamt der restlichen Stadt gänzlich verschwunden und das, was man Nova Britannia nannte, ein ziemlich überschaubares Inselchen geworden. Birmingham hieß die Hauptstadt, eine nicht unbedingt schöne Metropole. Jardeen war hier geboren worden und aufgewachsen. Einer der Gründe, warum seine Vorgesetzten ihn hergeschickt hatten.

Da so viel Land verloren gegangen und das Klima mancherorts vollständig gekippt war – einstige Wüstenregionen könnten Reis anpflanzen, das in schwülwarmer Dauerfeuchtigkeit bestens gedeihen würde – hatten neue Lösungen zur Ernährungsfrage gefunden werden müssen. Die Antwort lautete „Petrischale“. Egal ob Fleisch oder Gemüse, Nahrung wurde in Laboren gezüchtet. Seit über zweihundert Jahren gab es keine Viehzucht oder Landwirtschaft mehr. Genau das hatte die mystischen Kreaturen aus ihren Verstecken gezwungen. Hatten sie bis dahin von gelegentlichem Viehdiebstahl leben und mit ihrer Magie den Landwirten einreden können, dass er schon immer bloß zweihundertsiebzehn statt zweihundertdreißig Schafe besessen hatte, mussten sie sich zu ihrem eigenen Leidwesen offenbaren, um überleben zu können. Eine Einigung war schnell gefunden: Wer seine Arbeitskraft in den Dienst der Menschheit stellte, erhielt dafür Nahrung, so viel er wollte.

Die vollständige Abwesenheit von Hunger auf der Welt hatte eine Unzahl von Folgen nach sich gezogen. Zum einen wurde Krieg heutzutage nur noch um Lebensräume geführt. In erster Linie ging es darum, welches Volk in der alten Zeit eine bestimmte Region bewohnt hatte. Zum anderen war die Menschheit kontinuierlich geschrumpft, auf weniger als ein Drittel des Standes, der auf dem Höhepunkt vor etwa dreihundert Jahren geherrscht hatte. Zum dritten war die Anzahl der mystischen Kreaturen regelrecht explodiert. Aus diesem Grund hatte man Autos und Flugzeuge abschaffen können, was vorteilhaft war, da der größte Teil der Erdölplattformen fortgeschwemmt wurde. Trolle produzierten nicht unbedingt weniger Abgase als Autos. Dennoch hatten sie eine deutlich bessere Ökobilanz. Unfälle gab es ausschließlich dann, wenn Trolle gegeneinanderprallten und meinten, deswegen eine Prügelei beginnen zu müssen. In solchen Fällen half es, sich im Transportkorb so klein wie möglich zusammen zu ducken und zu warten, bis es vorbei war. Die Körbe waren bequem ausgepolstert, bruchfest und verformten sich auch dann nicht, wenn der Troll auf den Rücken fiel oder sein Gegner auf ihm herumsprang. Angeschnallt und mit Schutzhelmen versehen geschah den Insassen in neunundneunzig von hundert Fällen nichts. Todesfälle hatte es seit über achtzig Jahren nicht mehr gegeben.

Bei einem abgewrackten Graubarttroll stieg die Gefahr von Zusammenstößen, weil sie zu schwach und zu langsam waren und den jungen, agilen Flitzern im Weg standen. Jardeen machte sich auf einen unruhigen Transport gefasst. Vielleicht hätte er es wie seine beiden Cousins halten und in die Textilwirtschaft einsteigen sollen. Oder dem Beispiel seiner Tante Justine folgen, dann wäre er jetzt Arzt für mystische Kreaturen. Ein Beruf mit Aussicht und ständig steigendem Bedarf. Als Polizist lebte er eindeutig in unkomfortablen Zeiten. Ändern ließ sich das leider nicht. Nicht dass er es tun würde, selbst wenn er es könnte …

Die Polizeistation von Birmingham lag in der Nähe eines der vielen Kanäle, die die Stadt durchzogen. Es weckte Kindheitserinnerungen, die vertrauten alten Gebäude zu sehen und den ganz speziellen Geruch nach moderndem Gestein und Algen einzuatmen, der trotz regelmäßiger Regengüsse und Frischwasserflutungen im Sommer unangenehm intensiv werden konnte. Jardeen wandte sich darum ab und kauerte sich im Transportkorb nieder, bis der Troll nach lediglich drei Schlägereien am Ziel angekommen war. Der Ärmste schnaufte wie ein asthmakranker Wasserdrache, seine melonengroße Nase blutete und einer seiner wenigen verbliebenen Zähne war gespalten. Dennoch grinste er zufrieden, als Mackie ihm das Knie tätschelte und ihm einen Chip zuwarf. Damit konnte der Troll sich an einer der zahllosen Nahrungsstationen selbst bedienen und sich anschließend im Parkstall der Polizeistation ein Plätzchen suchen. Trolle liefen ihrem Besitzer niemals davon. Falls jemand sie schlecht behandelte oder ihnen die Nahrung verweigerte, setzten sie sich einfach nieder und heulten solange, bis die OPMK anrückte – die Organisation für Problembeseitigung bei mystischen Kreaturen. Bereits frisch aus ihren Steineiern geschlüpften Mini-Trollen brachte man bei, niemals und unter gar keinen Umständen auf Menschen einzuschlagen. Trolle, die sich nicht an die Regeln hielten, wurden von ihrem eigenen Volk niedergemacht und aufgefressen. Das System funktionierte perfekt.

„Meinst du nicht, dass der Ärmste einen Arzt gebrauchen könnte?“, fragte Jardeen vorsichtig.

„Der Parkstall hat einen Arzt vor Ort“, erwiderte Mackie gut gelaunt. „Der kennt meinen Schmalfuß. Polizeitrolle werden ziemlich häufig verletzt, die Straßen in Birmingham sind eigentlich zu eng für das hohe Verkehrsaufkommen. Ist das in Lima anders?“

„Anders trifft es ganz gut. Zum einen benutzen wir vielfach Lufttaxis, weil mehrere Kolonien Greife in der Gegend leben. Zum anderen …“ Er brach in seiner Erzählung über die mystische Fauna von Lima ab, als aus dem Inneren des roten Backsteingebäudes lautes Gebrüll ertöte.

„Oh, nicht weiter beachten“, rief Mackie. „Das ist Zitterfinger. Der Aufzugs-Bergtroll.“

Das Nahrung-Gegen-Leistung-Abkommen hatte einen entscheidenden Nachteil: Mystische Kreaturen hielten sich mit sklavischer Präzision an jeden einzelnen Buchstaben eines einmal geschlossenen Vertrags. In der schriftlichen Übereinkunft von damals, vor über hundertneunzig Jahren, hatte man zwar festgelegt, dass arbeitsunfähige Kreaturen ohne Gegenleistung versorgt werden würden. Doch jedes arbeitsfähige Geschöpf bestand darauf, seinen Dienst erfüllen zu dürfen. Es musste demzufolge für jeden Einzelnen ein Arbeitsplatz geschaffen werden, was gerade bei den extrem nachwuchsfreudigen Trollen zu Problemen führte – und zur Abschaffen von Maschinen. In kleineren Städten teilten sich Trolle oft genug ihren Arbeitsplatz mit fünf bis sechs Artgenossen. Mechanische Aufzüge gab es schon lange nicht mehr. Bergtrolle sorgten anhand von akustischen Signalen dafür, dass die Menschen in die gewünschten Etagen gelangten. Zu diesem Zweck kauerten sie am Boden, mit der Aufzugskabine über ihrem Kopf, und erhoben sich in jene Höhe, die mit dem Wunsch der Fahrgäste übereinstimmte.

„Zitterfinger hat heute Morgen zu viel gefrühstückt. Es ist sein rechter Zeigefinger, der seit seinem Schlüpftag zittert. Warum, weiß keiner. Man kann ihm nicht abgewöhnen, diesen Finger zu benutzen, um seine Rationen zu ziehen. Er bekommt regelmäßig drei oder vier Päckchen und verschlingt die dann auch alle. Das Ergebnis sind Bauchschmerzen, die wiederum in schlechter Laune resultieren. Gebrüll ist also in der Polizeistation ganz normal und kein Grund zur Sorge.“ Mackie grinste fröhlich, wie es seine Art zu sein schien.

„Und wenn man ihm keine Chips gibt, damit er die Rationspäckchen ziehen kann, sondern einfach die Päckchen selbst? Abgezählt, damit er sich nicht zu Tode frisst?“, fragte Jardeen.

„Dann wird er richtig sauer. Er findet es lustig, die Apparate mit seiner Zitterei zu überlisten, sodass er auf einen Chip gleich mehrere Päckchen erhält. Ist auch nicht schlimm. Solange er ausreichend Bewegung bekommt, kann er ruhig viel futtern, meinte der Mystik-Arzt.“

Mackie – ernsthaft, wie konnte man als respektabler junger Mann, der sicherlich den Ehrgeiz besaß, berufliche Karriere zu machen, einen solch bescheuerten Spitznamen zulassen? – Mackie führte ihn ins Innere des sechsstöckigen Gebäudes.

„Soweit ich gehört habe, bist du zwar ordentlich in der Welt herumgekommen, aber in Birmingham hast du noch nicht als Springer gearbeitet, oder?“, fragte er neugierig.

Springer wurden eingesetzt, wenn die lokale Polizei einen Fall nicht übernehmen konnte, weil die eigenen Leute auf irgendeine Weise involviert waren. Oder zumindest der Verdacht bestand, dass dies geschehen sein könnte.

„Ich komme von hier“, erwiderte Jardeen. „Die Ausbildung habe ich in Nova Germania absolviert, danach bin ich als Springer durch die Welt gezogen. War eine aufregende Zeit … Eigentlich wollte ich jetzt in Lima sesshaft werden, aber die Zahl der verfügbaren Springer ist begrenzt und jeder von ihnen hatte bereits einen aktuellen Job, als ihr angefragt habt. Da hat man mich gebeten und ich wollte nicht ablehnen.“ Jardeen seufzte. „Was soll ich sagen? Es gibt nur einen Ort, den man jemals wirklich als Heimat bezeichnen kann, und das ist dort, wo man aufgewachsen ist. Leider ist Heimat für mich kein fröhlicher Begriff.“ Oh ja. Er konnte es kaum erwarten, von hier wieder fliehen zu dürfen, denn Teufel noch eins, böse Erinnerungen hatten einen leichten Schlaf, wie seine Oma stets zu sagen pflegte.

Die Eingangshalle befand sich fest in den winzigen Händen von einer Sippe von Cornwall-Feen. Diese Art Arrangement hatte sich weltweit durchgesetzt und war überall dort zu finden, wo hohe Sicherheit mit freundlichem Kundenumgang verbunden werden musste. Neben Polizeistationen also Zoll, Konsulate, Regierungsgebäude und vieles mehr. Stets gab es eine mystische Kreatur, die entweder einen untrüglichen Spürsinn für verborgene Schätze, Waffen und Geheimnisse oder aber für Lügen besaß. Hier in Birmingham wurde der Job von einer jungen und dementsprechend kleinwüchsigen Sphinx ausgeführt. Ihre Spezies entdeckte zuverlässig jede noch so kleine Schwindelei und konnte sich dabei fürchterlich erregen, was für ahnungslose Bürger sehr erschreckend wirken konnte. Da es zudem tausend mögliche, durchweg unschuldige Gründe für eine Lüge gab, waren die Feen unentbehrlich. Sie verfügten über die Intelligenz, um in kritischen Situationen Entscheidungen zu treffen, benahmen sich ausgesucht höflich gegenüber Besuchern wie auch Mitarbeitern und konnten im Zweifelsfall einen Angreifer effektiv ausschalten. In Familiengruppen besaßen die Feen schwache Magie und waren in der Lage, einen Menschen in weniger als drei Sekunden in Tiefschlaf zu versetzen.

„Mackie“, dröhnte die Sphinx, als sie sich ihr näherten. Sie war ungefähr eineinhalb Meter hoch, in etwa ebenso lang und wirkte mit ihrer grauen Haut und extrem verlangsamten Bewegungen, als wäre sie aus Stein gemeißelt. „Willst du Schaden anrichten?“, fragte sie weiter. Eine sehr entspannte und weitläufig formulierte Frage, wie es üblich war, wenn eine Sphinx ihr Gegenüber bereits über längere Zeit hinweg kannte. Mackies knappes „Nein“ war die ausreichende Bestätigung, er durfte ungehindert an ihr vorbeigehen.

„Guten Tag, Sir“, sagte die Sphinx nun an Jardeen gewandt und musterte ihn mit ihren unheimlichen, geradezu sezierenden Blicken. Diese Geschöpfe konnten Gedanken lesen, manipulieren, Erinnerungen abschöpfen und benötigten kaum mehr als ein geistiges Zucken, um einen Menschen in ein schwachsinnig brabbelndes Häufchen Elend zu verwandeln. Und da war noch keine Rede von ihren körperlichen Fähigkeiten und Kräften. Dankenswerterweise hielten sie sich sehr brav an die Gesetze und arbeiteten willig im Dienst der Menschheit, obwohl sie bloß alle fünftausend Jahre Nahrung benötigten – sie mochten es, einen Job zu haben. Ganz besonders, wenn dieser Job ihnen Macht über Menschen gab.

„Sie sind aus Lima hergekommen, auf dem Rücken eines Drachen. Sie fürchten die Drachen“, grollte die Sphinx leidenschaftslos. Ein Problem mit diesen Kreaturen war, dass sie die intimsten Geheimnisse ihrer Befragungsopfer laut in die Welt hinausposaunten. Im Moment stellte sie sich noch auf Jardeens Persönlichkeit ein und grub deshalb in die Tiefe. Unangenehm, aber das erfolgte lediglich beim ersten Kennenlernen.

„Sie sind Mordermittler. Ein Springer. Einsam. Warum sind Sie einsam, Sir?“

Massenmörder und Attentäter neigten dazu, einsam zu sein. Die Frage war also durchaus berechtigt. Jardeen seufzte.

„Ich … eine langjährige Beziehung ist zerbrochen. Ich trauere ihr nach“, antwortete er zögerlich.

„Das ist wahr. Ich spüre anderweitige negative Schwingungen. Sie betreffen diese Stadt. Erklären Sie das, Jardeen Chamal. Wollen Sie morden? Schaden bringen? Verletzen? Zerstören?“

„Bitte!“, fuhr eine der blauhäutigen, geflügelten Feen sanft dazwischen. Diese Geschöpfe waren kaum mehr als handspannenlang. Manche sahen lieblich wie Märchengestalten aus, andere wie Trolle in Miniaturformat.

Die Sphinx verstummte augenblicklich, wie die Gesetze es vorschrieben. Ein halbes Dutzend Feen umflatterte Jardeen aufmerksam. Ein solches Geschehen war Routine, es war zu erwarten gewesen, dass es nicht ohne kleine Reibereien ablaufen würde – Polizisten, die schon längere Zeit im Dienst standen, trugen genügend seelischen Ballast mit sich. Mackie grinste nach wie vor entspannt.

„Erklären Sie bitte das negative Empfinden, das die Sphinx bei Ihnen wahrgenommen hat, Sir. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit, es ist leider notwendig.“ Die wortführende Fee verneigte sich im Flug elegant vor ihm. Sie sah aus wie eine besonders hässliche Puppe, die jemand aus dem Fenster geworfen hatte und zwei Wochen im Rinnstein liegen musste, bevor ihr jemand Flügel angepappt hatte. Dennoch waren ihre Bewegungen anmutig und ihre Stimme ließ sich nicht anders als bezaubernd nennen. Jardeen nickte ihr zu.

„Ich halte mich ungern in dieser Stadt auf“, entgegnete er. „Ich wurde hier geboren und war damals glücklich, sie verlassen zu dürfen.“

„Das ist wahr“, dröhnte die Sphinx. „Wollen Sie Schaden verursachen?“

„Nein. Ich will einen Mord aufklären helfen, sofern dies möglich ist.“

„Das ist wahr“, wiederholte die Sphinx. „Tragen Sie Waffen bei sich, Sir?“

„Bloß eine.“ Jardeen zog den Kragen seines schwarzen Hemdes herunter und offenbarte den kreisrunden, silbernen Kettenanhänger mit seiner nordischen Symbolik. „Dieses Amulett ist registriert. Ich besitze sowohl die Erlaubnis als auch die Fähigkeit, eine solche Waffe zu benutzen.“

„Das ist wahr.“ Das Leuchten in den Augen der Sphinx erstarb. Ein Signal, dass Jardeen unbehelligt weitergehen durfte.

„Einen angenehmen Tag, die Herren!“, riefen die Feen im Chor und flatterten beiseite.

„Euch auch, ihr Süßen.“ Mackie verteilte Luftküsse, was die Feen kichernd erröten ließ. Als ihm offenbar bewusst wurde, was er gerade tat, errötete er ebenfalls und wandte sich hastig ab.

Wenige Momente später drückte Jardeen auf den Knopf, der ein für das Erdgeschoss spezifisches Signal ertönen ließ. Zitterfinger, der übellaunige Aufzugskobold, musste gerade auf der Leiter gestanden haben, um die obersten Stockwerke zu erreichen, denn man konnte an dem Schaben entlang der Fahrstuhlschachtwände hören, wie er von oben herabkam und sich ächzend und stöhnend zusammenkauerte. Mackie öffnete das Faltgitter, das für den nötigen Schutz vor dem Herausfallen sorgte; gemeinsam stiegen sie ein.

„Bloß nichts sagen“, wisperte er Jardeen ins Ohr, während er den Knopf für den fünften Stock drückte und eine neue melodische Sequenz erklang. „Zitterfinger hasst lautes Geplappere von Leuten, die auf seinem Kopf stehen. Und zu viele Leute auf einmal, die hasst er noch mehr. Übergewichtige sind ein Graus für ihn, da kennt er kein bisschen Toleranz. Oder wenn jemand den Aufzugsknopf drückt, ohne einzusteigen. Da rastet er regelrecht aus.“

Jardeen nickte stumm zum Zeichen, dass er alles verstanden hatte. Er wollte garantiert keinen Bergtroll verärgern. Schließlich war er nicht lebensmüde.

Im fünften Stock begegnete ihm die übliche Geruchs- und Stimmungsmischung aus zu viel Kaffee, unbezahlten Überstunden, Frust, mangelnde Anerkennung und Misstrauen. Neue Kollegen wurden selbst unter besten Umständen erst einmal als Eindringlinge in eine eingeschworene, funktionierende Gruppe wahrgenommen. Springer hingegen …

Jardeen besaß die Macht, sämtliche Leichen aus dem Keller zu holen und jeden Einzelnen von diesen Ermittlern für ein beliebiges Verbrechen anzuklagen – erst einmal gleichgültig, ob sie eines begangen hatten oder nicht. Über Schuld oder Unschuld würde nachher das Gericht entscheiden müssen. Er durfte das Unterste nach oben kehren und niemand hatte die Möglichkeit, ihn an etwas zu hindern, eine Aussage zu verweigern oder seine Ermittlungen zu torpedieren. Was er auch fragte, egal wie weit es scheinbar von der Mordermittlung entfernt war. Jardeen allein entschied über Relevanz und Zusammenhänge. Normale Rangabfolgen galten nichts, er stand im Rahmen dieser Ermittlung selbst über Polizeipräsident, diplomatischer Immunität und Bürgermeister. Außerdem benötigte er keinen gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss oder einen Haftbefehl. Niemand durfte ihm Anweisungen geben – ausgenommen das Sicherheitspersonal von Behörden. Und auch das war nicht berechtigt, ihn an seiner Arbeit zu hindern.

Dementsprechend umfassend, wie seine Macht war, brauchte es selbstverständlich eine unparteiische Kontrollinstanz. Denn nein, er hatte kein Recht, seine Position zu missbrauchen, wie es viel zu leicht möglich wäre, und Bestechung musste ebenfalls ausgeschlossen werden.

Eine Frau löste sich aus dem Pulk von Mordermittlern, der Jardeen wie eine stählerne Wand gegenüberstand. Ihr blondes Haar war streng zurückgekämmt und sehr kurz geschnitten, die hellblauen Augen stechend, jeder Fingerbreit ihres Körpers schien eine auf Ausdauer trainierte, überaus sehnige Waffe zu sein. Sie trug vorschriftsmäßig einen dunkelblauen Hosenanzug, wie es von weiblichen Beamten der Stadt Birmingham erwartet wurde. Das Wappen war klein und dezent an den Rand gestickt.

„Daphne Morrissey!“, sagte sie mit dunkler, rauchiger Stimme und ließ ihm einen knochenzermahlenden Händedruck zuteilwerden. „Ich bin die Leiterin dieser Abteilung. Sehr erfreut, Sie bei uns zu haben, Mr. Chamal.“

„Jardeen. Nennen Sie mich beim Vornamen. Bitte, ich weiß, wie schwierig diese Situation für jeden Beteiligten ist. Lassen Sie mich an dieser Stelle bekunden, wie erschüttert ich von dem Geschehen bin. Mein aufrichtiges Beileid für sie alle für den Verlust eines Freundes und Kollegen.“ Seine Worte führten zu deutlich spürbarer Entspannung. Die unsichtbare Mauer aus Feindseligkeit und Misstrauen bröckelte. „Meiner Erfahrung nach hilft ein informaler Umgang, die Ermittlungen zu beschleunigen“, fuhr er fort. „Jeder darf mich beim Vornamen nennen und umgekehrt werde ich genauso verfahren. Das ändert nichts daran, dass ich die Befehlsgewalt besitze und sie einzusetzen gedenke, wann immer es notwendig ist. Des Weiteren: Üblicherweise werden bei Ermittlungen dieser Art Dinge ausgegraben, die auf irgendeiner Ebene … unschön sind. Sofern es der gewöhnliche Kleinkram ist, also Diebstahl von Luxusrationen, die illegale Bierbrauanlage auf dem Dachboden oder Einnahme von verbotenen Substanzen, interessiert mich das einen Dreck – es sei denn, es steht in Verbindung mit dem Mordfall. Ich werde keine mir anvertrauten Geheimnisse ausplaudern, wenn es nicht absolut zwingend notwendig sein sollte und auch sonst werde ich nichts tun, um irgendjemandem hier das Leben schwer zu machen.“

„Das freut uns sehr, Inspector“, erwiderte Daphne. „Keiner von uns hat Erfahrung mit Springern, lediglich Vorurteile.“ Sie wies einladend zu einer offenstehenden Glastür, auf der ihr Name stand. „Sollen wir die lästigen Notwendigkeiten aus der Welt schaffen? Die zuständige Hexe wartet bereits ungeduldig.“

Jardeen folgte ihr. Hinter ihnen löste sich der Pulk auf, sieben Ermittler kehrten zu ihren Schreibtischen zurück. Sie teilten sich jeweils zu zweit ein Büro, wie es schien.

„Setz dich dorthin, Jardeen.“ Daphne bot ihm einen Stuhl an, der überaus bequem war. Kaffee, Tee und anderweitige Erfrischungen lehnte er hingegen ab. Stattdessen machte er sich mit Isolda bekannt, der Hexe. Sie präsentierte sich als buckliges altes Mütterchen in grauem Kapuzenmantel, mit strähnigem weißen Haar und warzenbesetzter Nase. So sah selbstverständlich keine einzige Hexe dieser Welt aus – die Damen schlüpften aus unbefruchteten Harpyieneiern, die von Waldfeen bei Neumond gestohlen und magisch ausgebrütet wurden. Die Waldfeen wiederum ließen sich nur einmal in hundert Jahren zu einer solchen Tat herab, aus Gründen, die niemals diskutiert wurden. Da eine Waldfee bei entsprechender Nachfrage heftig zu erröten und sofort das Thema zu wechseln pflegte, mussten es eher peinliche Gründe sein, dass sie solche Mühen auf sich nahm.

Hexen alterten sehr langsam und glichen stets wunderschönen menschlichen Frauen. Dass sie seit der allumfassenden Offenbarung der mystischen Kreaturen beschlossen hatten, als alte Vetteln herumzulaufen, war möglicherweise eine zynische Hommage an die Hexen in Kindermärchen. Jardeen war das weitestgehend gleichgültig, ihn interessierte im Moment bloß, ob Isolda ihr Hexenwerk verstand. Der Golem, der leblos vor ihr auf dem Tisch lag, sah jedenfalls gut aus. Eine unterarmlange Lumpenpuppe, sämtliche Nähte waren verschlossen, das verwendete Material schön dick und stabil, man konnte erkennen, dass er großzügig gefüllt worden war.

„Sei gegrüßt, Jardeen“, krächzte die Hexe und grinste ihn zahnlos an. „Man sagte mir, du kennst die Prozedur?“

„Seit zehn Jahren, ich hatte bereits siebenundzwanzig Golems, Gnädigste“, erwiderte er höflich. Wie erhofft brachte die Anrede Isolda zum Lachen.

„Niedlich. Du bist niedlich, Inspector. Da habe ich dem Golem offenkundig die richtige Gestalt gegeben. Solch einen Hübschen hab ich nie zuvor gemacht, jaja.“

„Einen prächtigeren Golem habe ich noch nie gesehen“, warf Daphne ein. „Das Gesicht ist ja richtig detailverliebt. Wie ein Püppchen. Und die Gliedmaßen sind genau proportional zueinander.“

„Beim letzten Hexenkongress habe ich mich überzeugen lassen, dass aufwändige Gestaltung und Ebenmäßigkeit mit überdurchschnittlichem Sprachvermögen des fertigen Golems Hand in Hand geht“, sagte Isolda und reichte Jardeen einen Pergamentbogen an. „Hier ist das Charakterblatt deines neuen Bewachers. Wie du weißt, zählen die inneren Werte alles und jedes einzelne Wort ist entscheidend.“

Der gesetzlich für die Golembelebung vorgeschriebene Text stand bereits dort auf dem Pergament:

„Ich bin Graur Golem. Ich überwache Jardeen Chamal, damit er ausschließlich im Sinne von Menschlichkeit und dem Gesetz der Stadt Birmingham sowie von Nova Britannia handelt und Gutes tut und seine Macht nicht missbraucht. Ich bin freundlich, gehorche dem Gesetz und den Geboten der Golembelebung. Ich verletze niemanden mit böser Absicht. Ich helfe und diene.“

Jardeen runzelte die Stirn – da fehlten einige essentiellen Punkte. Isolda grinste ihn an.

„Irgendwelche Ergänzungen notwendig, Inspector?“, fragte sie höhnisch.

„Auf jeden Fall. Schon allein der Name ist fürchterlich.“ Jardeen strich den entsprechenden Satz zusammen, sodass dort nur noch stand: „Ich bin ein Golem.“ Unter den bereits vorhandenen Text schrieb er: „Meinen Namen wähle ich nach meiner Erweckung selbst.“ Außerdem fügte er hinzu: „Sollte mein Herr das Gesetz brechen, um willentlich Schaden zu verursachen, wird dies meine Schöpferin, die Hexe Isolda, sofort auf magischem Weg erfahren und entsprechend handeln. Mein Dienst und somit mein Leben endet, sobald Jardeen Chamal seine Arbeit für die Polizei von Birmingham abgeschlossen hat.“

Danach unterschrieb er mit Namen und Rang. Dies war der Vertrag zwischen ihm und seinem neuen Golem.

„Sieht gut genug für mich aus“, brummte Isolda, als er ihr das Pergament zurückgab. Sie starrte Daphne forschend an, die ebenfalls zufrieden nickte.

„Fahre fort“, bat diese die Hexe.

Isolda faltete das Pergament so klein wie es möglich war und stopfte es ohne Rücksicht auf Verluste in die schmale Mundöffnung des Golems. Es folgte Gezischel, Knurren, Grollen und Kläffen, als würde ein Hund den Kampf gegen eine Klapperschlange verlieren. So hielten es alle Hexen, angeblich war dies der magische Teil der Prozedur. Jardeen hatte hingegen vor einigen Jahren von einer afrikanischen Hexe erzählt bekommen, dass Magie ein lautloser Akt der Konzentration war und jegliches Zauberspruchgemurmel und die ganzen dramatischen Gesten, Laute, Rauch und Feuerwerk lediglich der Unterhaltung der Zuschauer diente. Menschen wurden misstrauisch, wenn seltsame Dinge ohne vorheriges sichtbares Wirken geschahen.

Natürlich verrieten Hexen normalerweise keine Berufsgeheimnisse. Diese Dame wäre allerdings beinahe von einem wütenden Mob in ihrem windschiefen Häuschen verbrannt worden. Jardeen hatte sie gerettet und als Gegenleistung hatte sie ihm drei Fragen beantwortet, die ihn umtrieben und er ihr niemals gestellt hätte. Über die anderen beiden dachte er höchst ungern nach …

Es knisterte lautstark. Der Geruch nach Knoblauch und Schwefel hing in der Luft. Dann gab es einen Knall, noch mehr stinkender Rauch stieg auf, was Daphne dazu trieb, hustend zum nächsten Fenster zu rennen. Die gute Isolda hatte das Unterhaltungsfeuerwerk wohl etwas großzügig berechnet.

Auf dem Tisch richtete sich derweil der kleine Golem auf. Er hatte sich von einer Lumpenpuppe in eine Gestalt mit borkiger, schwarzblauer Haut, überlangen, sehr dünnen Fingern mit langen Klauen und menschenähnlichem, schmalem Gesicht verwandelt. Anstelle von Haar überzog eine moosartige, weiße Substanz seinen Schädel. Die Augen waren dunkel und von intensiver Ausdrucksstärke. Seltsam intensiv für einen Golem. Auch er hustete. Leise und irgendwie … verschämt.

Moment mal – verschämt? Golems waren für ihre notorisch freche Klappe, ein schier überwältigendes Repertoire an Beleidigungen und ihrer ziemlich anstrengenden, offensiv extrovertierten Persönlichkeit berüchtigt. Mit ihrer unerschrockenen Art glichen sie den akuten Mangel an Größe und Körperkraft aus. Es galt als die sinnvollste Methode, um zu garantieren, dass sie ihre Pflichten erfüllen konnten. Kein stolzer Golem würde jemals verschämt hüsteln! Da musste definitiv etwas schief gegangen sein.

„Oh my, oh my“, sagte der Kleine mit allen Anzeichen großer Verblüffung. „Einen Namen soll ich wählen? Für mich? Eine viel zu große Aufgabe für einen solch kleinen Golem wie mich …“

„Isolda?“ Jardeen starrte die Hexe vorwurfsvoll an. „Womit hast du ihn ausgestopft, verdammt?“

„Och … Ihr wisst schon. Die Gesetzgebung von Birmingham und Nova Britannia sowie die Polizeiverordnung und den anderen Kram, damit er dich aktiv und eigenständig kontrollieren kann. Dazu die Standartwerke bezüglich philosophischer Detailfragen, damit er dich nicht jedes Mal als Staatsverräter meldet, wenn du ein Kind wissentlich ignorierst, das einen Kaugummi geklaut hat. Das übliche Zeugs.“

Jardeen nickte ungeduldig, das war schließlich der mindeste Standard. Für den Zweck der Golembelebung gab es Sonderdrucke, die alle benötigten Texte in winzig klein und auf besonders dünnem Papier enthielten. Seite für Seite wurde zusammengeknüllt und in den Golemkörper gestopft. Um diesen Kreaturen einen passenden Wortschatz und Charakter zu geben, folgte außerdem ein traditionell erprobter Mix aus Heldenepen und zeitgenössischer Literatur. Die seit Jahrzehnten genutzte Mischung sorgte dafür, dass jeder Golem sich gleich benahm, was den Umgang mit ihnen erheblich vereinfachte.

„Isolda, was genau hast du für die Charakterbildung verwendet?“, fragte nun auch Daphne scharf, während der Golem mit dem Ausdruck eines staunenden Kleinkindes über den Tisch trippelte und possierliche Laute des Entzückens ausstieß. Obwohl er golemhaft schmal war und damit einem für gewöhnlich sehr lebhaften Waldgeist glich, bewegte er sich träge.

„Möglicherweise hatte ich die üblichen Texte gerade nicht zur Hand, weil in letzter Zeit ein halbes Dutzend Golems von diversen Behörden angefordert wurden“, sagte Isolda und lächelte lieblich. „Möglicherweise musste ich auf meine Sammlung von Liebesgedichten aus dem neunzehnten Jahrhundert zurückgreifen. Und auf einige berühmte Klassiker wie Die Leiden des jungen Werthers, Biene Maja und Winnie Puuh.“

„Winnie …“ Mit schwacher Stimme murmelte Jardeen vor sich hin, während er seinen Golem anstarrte. Der sollte ihn eigentlich nicht bloß überwachen, sondern ihm mit Rat und Tat hilfreich zur Seite stehen. Stattdessen hatte er jetzt ein zartbesaitetes Seelchen am Hals, das die Welt mit kindlicher Freude und tiefer Romantik betrachtete.

„Wie zur Hölle soll ich mit einem solchen Golem einen Mord untersuchen?“, zischte er empört.

„Ach, nicht aufregen, Liebelein. Er wird seine Sache großartig machen. Natürlich steht es dir frei, ihn zu vernichten und bei einer meiner Schwestern ein neues Modell zu bestellen.“

Der Terminierungszeitpunkt im persönlichen Vertrag zwischen Golem und seinem neuen Besitzer war praktisch das Wichtigste an der ganzen Golembelebungssache. Ohne einen ausformulierten Zeitpunkt oder einem festen Datum lebten diese Kreaturen ewig – es sei denn, sie wurden mit Gewalt zerstört. Es hätte ihm zu denken geben müssen, dass Isolda diese Kleinigkeit mit einem Grinsen vergessen hatte.

„Master, Ihr würdet mir doch nichts antun wollen?“ Der namenlose Golem blickte aus tellergroßen dunklen Augen zu ihm auf, offenkundig verängstigt. „Ja wohl bin ich nur ein Wandrer, ein Waller auf der Erde! Seid Ihr denn mehr?“, deklamierte er dramatisch. Das klang nach den Leiden des jungen Werthers. Was hatte sich der gute alte Goethe bloß bei diesem Werk gedacht? Und warum nur war es zum gefeierten Klassiker geworden?

Der Kleine langte nach Jardeens Hand und umklammerte sie fest mit seinen dürren Klauen. Ein Romantikgolem mit dem Gemüt eines verfressenen, faulen, sehr dümmlichen Miniaturbärens. Wen sonst sollte man bei Mordermittlungen an seiner Seite haben wollen?

„Kannst du deine Aufgabe erfüllen?“, fragte Jardeen so sanft wie möglich.

„Menschen sagen, dass nichts unmöglich ist. Aber ich tue jeden Tag nichts.“ Der Golem strahlte bei diesem offenkundigen Winnie Puuh-Zitat. Als Jardeens Miene sich verdüsterte, wurde er sichtlich traurig. Sogar seine Unterlippe begann leicht zu zittern. „Master, ich werde glücklich sein, denn ich kann Euch dienen! Ich verstehe, dass ich nicht das bin, was Ihr Euch erhofft habt. Die Dinge, die mich unterschiedlich sein lassen, sind die Dinge, die mich ausmachen.“

Noch ein Puuh-Bär-Zitat. Eigentlich eine recht nette Abwechslung von den ständigen Sherlock Holmes-Zitaten, mit denen ihn Golems normalerweise bewarfen.

„Deine Hauptaufgabe besteht darin, mich zu kontrollieren, damit ich mich an Recht und Ordnung halte. Außerdem wirst du mit mir gemeinsam mindestens einen Tatort aufsuchen, an dem ein grausamer Mord geschehen ist. Schaffst du das?“

„Das kann ich. Das kann ich! Oh, wie zufrieden Ihr mit mir sein werdet, Master! Lasst mir nur mein Leben, damit ich Euch dienen kann.“ Weinend warf sich der Winzling Jardeen zu Füßen und umklammerte sein linkes Bein.

„Isolda! Jetzt reicht es wirklich! Wieso hast du ihm die Fähigkeit zum Weinen in den Persönlichkeitsbogen geschrieben? Das ist völlig überflüssig für einen Golem!“, rief Daphne empört. Die Hexe kicherte lediglich, verwandelte sich übergangslos in eine Nebelkrähe und flog davon, ohne sie mit einer Erklärung für dieses Desaster zu beglücken.

Jardeen pflückte den unglücklichen Golem von seinem Bein, hielt ihn tröstend gegen seine Schulter, als wäre er ein echtes Kleinkind, und tätschelte ihm den nackten Rücken. Es musste schließlich irgendwie weitergehen, verdammt! Wer wusste schon, welche Überraschung Isolda sonst noch hinzugefügt hatte. Nach der Belebung war es leider unmöglich, den Charakter eines Golems zu verändern. Man konnte ihn geradezu unbegrenzt mit Wissen füttern, indem man ihn geschriebene Wörter fressen ließ. Doch nichts davon würde das innere Wesen der kleinen, dünnen, vollkommen geschlechtslosen Gestalt verändern.

„Es tut mir wahnsinnig leid, Jardeen. Ich kann gar nicht sagen, wie unangenehm mir das ist. Isolda gehört normalerweise zu den vertrauenswürdigsten und zuverlässigsten Hexen überhaupt, mit denen ich jemals zusammengearbeitet habe. Ich kann mir nicht erklären, was in sie gefahren ist.“ Daphne starrte in einer Mischung aus Verzweiflung und Abscheu auf den Golem. Aus Gründen, die er nicht erklären konnte, störte sich Jardeen daran. Der Kleine konnte nun wirklich nichts dafür, wie er geschaffen worden war. Ihn umzubringen stand völlig außer Frage!

„Ich werde mit dem Kurzen hier zusammenarbeiten. In der Hoffnung, dass es möglich sein wird. Sollte Isoldas Verhalten in irgendeiner Weise mit dem Mord zusammenhängen, werde ich das wohl frühzeitig genug erfahren. Ansonsten vergessen wir das Ganze erst einmal. – Golem, könntest du bitte damit aufhören, mir ins Ohr zu heulen?“

„Ich sag dir, dass ich weinen muss, sonst springt dies Herz, von Qual verzehrt; denn sieh‘, es ward von Gram genährt“, stieß der Golem unter heftigem Schluchzen hervor.

„Von wem stammt das?“, fragte Jardeen.

„Lord Byron.“ Von einem tränendurchweichten Golem hoffnungsvoll angestrahlt zu werden, gehörte zu jener Art von Erfahrung, auf die er durchaus hätte verzichten können.

„Nähre dein Herzchen jetzt bitte mit Hoffnung. Du darfst leben. Ja? Ich behalte dich. Vorausgesetzt, du heulst jetzt nicht gleich vor Freude weiter.“ Er setzte den Golem ab, damit dieser einen fröhlichen Freudentanz veranstalten konnte.

„Mackie wird dich zum Tatort begleiten, würde ich vorschlagen“, sagte Daphne. „Er bleibt dein Verbindungsmann, falls du keine Einwände hast. Da er sonst mit Tami zusammenarbeitet – jener Kollege, der unter verdächtigen Umständen verschwunden ist – erscheint mir das sehr sinnvoll.“

„Absolut einverstanden“, erwiderte Jardeen. „Je schneller wir die Ermittlungen abschließen können, desto besser für alle Beteiligten. Gerade unter diesen besonderen Umständen.“

„Jardeen.“ Sie ergriff seine rechte Hand und drückte sie. Hatte sie bislang sehr wenige persönliche Emotionen durchdringen lassen und war ernst und streng aufgetreten, so hatte sie nun deutlich mit ihren Gefühlen zu kämpfen. Kein Wunder, es waren gleich zwei ihrer Untergebenen in diese Sache verwickelt, und einer davon war tot. „Versprich mir, dass du erst aufhörst zu bohren und nachzuforschen, bis jede Antwort so befriedigend und umfassend wie möglich gefunden ist“, flüsterte sie. „Dieser Fall mag sich glasklar präsentieren, doch ich bin mir sicher, dass die naheliegende Antwort keineswegs automatisch als die Richtige angesehen werden sollte.“

„Ich verspreche, für alles offen zu bleiben. Mich interessiert die Gerechtigkeit mehr als ein schneller Abschluss.“

„Obwohl du es hasst, in Birmingham zu sein?“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Gute Nachrichten reisen schnell, wie üblich“, brummte Jardeen. „Ja, ich hasse diese Stadt. Aus vielen Gründen. Ich war jedoch keineswegs gezwungen, herzukommen. Es hätte sich jemand gefunden, wenn ich mich geweigert hätte. Jetzt bin ich hier und ich werde mein Bestes geben. Nicht mehr und nicht weniger als das.“

„Danke. Ich hoffe, du kannst dem Ruf gerecht werden, der dir vorauseilt. Man sagt, du seist besonders gründlich und detailbesessen. Genau das, was wir brauchen. Falls du irgendetwas benötigst, ich bin immer für dich da.“

So viel Herzensgüte und aufrichtige Sorge … War das Daphnes echte Persönlichkeit, die sie in einem rauen Job wie diesem gut versteckt halten musste? Oder versuchte sie ihn zu manipulieren? Möglicherweise, um ihre eigene Beteiligung an den tragischen Ereignissen zu vertuschen? Und wenn es letzteres war: War sie schuldig im Sinne des Gesetzes? Oder fühlte sie Schuld, weil sie die Vorgesetzte dieser Abteilung war und jegliches Fehlverhalten ihrer Leute auch auf sie zurückfiel? Jardeen schulterte seinen ungewöhnlichen Golem und verließ mit ihm gemeinsam das Büro.

„Das Leben wird ein furchtbar großes, aufregendes Abenteuer!“, rief der Kleine quietschend. Das klang nach etwas, was Peter Pan gesagt haben könnte. Welch ein Glück, dass es für jeden Moment das richtige Zitat in irgendeinem Buch gab …

Leise baumelt die Leiche

 

Dankenswerterweise hatte Mackie diesmal einen Polizeitroll statt seinen eigenen genommen. Das leuchtend grüne Stirnband zeichnete dieses riesige, sehr muskulöse Exemplar als Behördenangestellten aus, was ihnen einen wundersam ruhigen und ereignislosen Lauf durch Birminghams Straßen garantierte. Zwischendurch hatten sie lediglich einen Sanitätstransport vorbeilassen müssen – Kranke und Verletzte wurden auf einer überdachten, von Vorhängen geschützten Sänfte getragen, woran sich jeweils vier starke und sehr schnelle Sumpfwiesentrolle beteiligten. Diese trugen rote Stirnbänder und jeder andere Troll wich ihnen respektvoll aus.

Vor einem Lagerhaus im Süden der Stadt hielten sie an.

„Hier haben wir die Leiche von Chief Inspector Matteri entdeckt“, sagte Mackie, zum ersten Mal ernst und spürbar niedergedrückt. Er instruierte den Troll, sich in der Nähe aufzuhalten. Mit einem Rationschip sorgte er für friedliche Stimmung, dann winkte er Jardeen zum Eingangstor. Es war verriegelt und mit einer magnetischen Polizeiverplombung versehen, die ohne den passenden Schlüssel zu schweren Beschädigungen am Holz führen würden. Mackie öffnete die Verplombung und trat ein, wobei er die automatische Beleuchtung mit einem Sprachbefehl aktivierte.

„Wir haben den Tatort nicht weiter angerührt, Chef, genau wie es Protokoll ist“, sagte er. „Lediglich die Leiche wurde abtransportiert und durch den üblichen Dummy ersetzt.“

Dabei handelte es sich ein perfektes 3-D-Modell aus Kunstharz. Ein Beispiel dafür, dass Menschen sich nicht bei jeder Kleinigkeit des alltäglichen Lebens auf mystische Kreaturen und Magie verließen.

Der Ersatz für den brutal ermordeten Chief Inspector Paul Matteri baumelte an einem Strick von einem der offen liegenden Dachbalken herab. Das forensische Team würde sich erst um Fingerabdrücke und Spurensicherung bemühen, sobald Jardeen die Freigabe erteilt hatte. Bis es soweit war, würde er sich erst einmal selbst einen Überblick verschaffen.

Das war etwas, was an diesem Tatort nicht allzu kompliziert erschien, da die Lagerhalle leer war. Keine Regale, Kisten, Säcke, gar nichts. Nichts als blanker Betonboden und holzverkleidete Wände. Keine Gegenstände lagen herum, um komfortable Hinweise zu liefern. Nicht einmal ein Stuhl oder irgendeine andere Steighilfe gab es, mit der Paul Matteri hätte Selbstmord begehen können. Wobei Jardeen diese Möglichkeit sofort verworfen hatte, denn die Füße des Opfers schwebten fast zwei Meter über dem Boden.

Auf dem Notepad, das Mackie ihm anreichte, konnte er die Details nachlesen, die man bislang kannte:

Matteri war gestern Morgen um 10.15 Uhr vom Revier aufgebrochen, um der Witwe eines Mordopfers persönlich den Abschlussbericht der Untersuchung zu übergeben. Der Fall war problemlos abgeschlossen, der geständige Täter saß in Gewahrsam. Um 10.24 Uhr hatte er das Haus der Witwe betreten, um 10.49 Uhr wieder verlassen. All diese Zeitangaben waren durch magische Türschlösser und Sensoren im Revier nachzuweisen.

Zusammen mit Mackies Partner, Tamias Ellian, genannt Tami, hatte er sich um 11.00 Uhr vor diesem Lagerhaus verabredet. Zu welchem Zweck, wusste niemand, auch Mackie nicht. Es gab keine Notizen, es wurde niemandem gegenüber Rechenschaft abgelegt. Hier musste man sich auf die Aussage der Transporttrolle stützen. Diesen wurde befohlen, sich aus der Umgebung der Halle zurückzuziehen und erst um 12.00 Uhr wieder herzukommen, da sie danach gebraucht würden. Vier Stunden später hatten Verkehrspolizisten die umherirrenden Trolle aufgelesen. Das Lagerhaus wurde betreten, das Mordopfer gefunden. An der Leiche waren Spuren eines schweren Kampfes entdeckt worden. Matteri hatte sich verzweifelt gewehrt, wie man an seinen aufgeplatzten Fingerknöcheln und Blutergüssen ablesen konnte. Der forensische Bericht bestätigte Tod durch Ersticken. Zu vermuten war, dass ihm jemand die Schlinge über den Kopf gezogen und ihn in die Höhe gezerrt hatte. Das freie Ende war um einen Haken verknotet worden, der aus der Wand ragte. Es musste erbärmlich lange gedauert haben, bis er es geschafft hatte; eine grausame, hässliche Art zu sterben. Von Tami war seitdem nichts mehr gehört oder gesehen worden, er wurde momentan mit Hochdruck gesucht. DNA-Spuren hatte man keine von ihm an der Leiche gefunden, was allerdings nichts heißen musste.

„Es ist auszuschließen, dass diese Tat von einem einzelnen Menschen begangen werden konnte“, sagte Jardeen. „Zumindest, wenn sich dein Partner Tami nicht gegen ihn gewandt hat, sondern ein weiteres Opfer ist. Ein einzelner Täter hätte nicht zwei starke, im Nahkampf ausgebildete Männer in Schach halten und überwältigen können, einen von ihnen erhängen und den anderen ungesehen davonschaffen können. Gerade der Punkt mit dem Davonschaffen ist kritisch. Es gibt wenige Trolle, die dumm genug sind, sich auf solche Beseitigungsaktionen von Leichen oder Entführungsopfern einzulassen.“ Ein großer Vorteil gegenüber der alten Zeiten, in der jeder in seinem Auto transportieren konnte, was immer er wollte. Trolle folgten einem strikten Kodex, der regulierte, wen und was und unter welchen Umständen sie tragen durften.

„Wir haben sämtliche Miettrolle der Umgebung befragt, ob sie Tami in der fraglichen Zeit befördert haben“, sagte Mackie. „Sie streiten es ab.“

„Natürlich könnte er sich verkleidet haben. Trolle sind leicht zu täuschen“, antwortete Jardeen und schritt dabei die Halle ab. Ein Tatort, an dem mit so viel Gewalt gemordet wurde, sollte doch irgendwelche Hinweise liefern, verdammt!

„Wem gehört dieses Gebäude?“, fragte er.

„Einer Erbengemeinschaft. Zuvor hatte es ein Mann namens Clive Evans gekauft und hier Polstermaterial gelagert, aus dem Transportboxen für Trolle gebaut wurden. Er ist vor vierzehn Jahren bei einem Unfall gestorben. Die Erben haben die Firma geschlossen und streiten sich seitdem, zu welchem Preis die Immobilien verkauft oder vielleicht auch vermietet werden sollen.“

„Für ein Bauwerk, das vierzehn Jahre leer gestanden und keinen interessiert hat, ist es viel zu sauber“, brummte Jardeen und wischte mit einem handschuhbewehrten Finger über eine Ecke des Bodens. „Kein Staub, kein Dreck, keine Spinnweben im unteren Bereich. An der Decke sieht es anders aus. Kann unser Mörder dermaßen abgebrüht gewesen sein, dass er diese grob geschätzt hundert Quadratmeter sauber geschrubbt hat? Nachdem er einen Mord begangen hat und sein Opfer noch an der Decke baumelte?“ Er trat unter die Kunstharzpuppe und kniete sich dort am Boden nieder. „Nichts“, murmelte er. „Ein Mordopfer, das auf solch grausame Weise stirbt, verliert massiv Körperflüssigkeiten. Schweiß, Blut, Speichel.

---ENDE DER LESEPROBE---