Die blaue Spur – Maurice Wallion ermittelt - Julius Regis - E-Book

Die blaue Spur – Maurice Wallion ermittelt E-Book

Julius Regis

3,8

Beschreibung

Eine Familientragödie in einer noblen Villengegend vor den Toren Stockholms: Der Wissenschaftler Dr. Artur Hesselman wirkt schon seit Monaten reizbar und nervös. Keiner darf sein Arbeitszimmer betreten – nicht einmal seine Tochter Pauline. Dafür gehen regelmäßig Unbekannte bei ihm ein und aus. Als Pauline eine rätselhafte blaue Zickzacklinie an der Gartentür findet, macht sie sich große Sorgen. Zu Recht, denn noch in derselben Nacht fallen drei Schüsse, und Dr. Hesselman wird tot in seinem Zimmer aufgefunden. Der Detektivreporter Maurice Wallion verspricht Pauline, den Mord an ihrem Vater aufzuklären. Schon bald wird er mit kniffligen Fragen konfrontiert: Was hat es mit dem Postpaket aus Hamburg auf sich, das der Ermordete einige Wochen zuvor erhalten hat? Was verschweigt der alte Diener John Andersson? Wer ist die Frau mit Akzent, die Wallion am Telefon rät, den Fall nicht weiter zu verfolgen? Was bedeutet die blaue Spur – und wohin führt sie? In Schweden galt Maurice Wallion in den 1910er und 1920er Jahren als einheimische Antwort auf Sherlock Holmes: Allerdings ist er robuster als sein Londoner Vorbild – und weniger exzentrisch. Heute könnte man ihn genauso gut als eine Art »Urvater« von Stieg Larssons Protagonisten Mikael Blomkvist bezeichnen: Wallion ist nämlich kein herkömmlicher Privatdetektiv, er ist Journalist. Sein Ruf eilt ihm voraus: Der »Detektivreporter« und »Problemjäger« vom Dagens Kurir. In Zukunft werden bei www.krimischaetze.de regelmäßig weitere Titel erscheinen - überarbeitet, in neuer Rechtschreibung und mit erklärenden Fußnoten versehen. krimischaetze.de Null Papier Verlag

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Julius Regis

Die blaue Spur – Maurice Wallion ermittelt

Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren

Julius Regis

Die blaue Spur – Maurice Wallion ermittelt

Ein Schwedenkrimi aus den 1920er Jahren

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Buchverl. Axia, Leipzig, 1928 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-30-6

null-papier.de/angebote

Inhaltsverzeichnis

Über *kri­mis­chaet­ze.de*

Über den Au­tor

Über den Ro­man­hel­den Mau­ri­ce Wal­li­on

Über die­ses Buch

Han­deln­de Per­so­nen

Ers­tes Ka­pi­tel.

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Drit­tes Ka­pi­tel.

15.

16.

17.

18.

19.

Vier­tes Ka­pi­tel.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

26.

27.

28.

29.

30.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

31.

32.

33.

34.

35.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel.

36.

37.

38.

39.

40.

kri­mis­chaet­ze.de

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kri­mis­chaet­ze.de

Der Drachen­teich

Fräu­lein Ban­dit

Die blaue Spur – Mau­ri­ce Wal­li­on er­mit­telt

Das ver­schwun­de­ne Haus

Der Tod im Ka­si­no

Der Mann vom Meer

Auf der Flucht

Die wei­ße Nel­ke

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Über krimischaetze.de

Kri­mi­nal­ro­ma­ne sind heut­zu­ta­ge er­folg­reich wie nie. Kri­mi-Klas­si­ker? Da den­ken die meis­ten so­fort an Aga­tha Chris­tie (1890-1976) oder Ed­gar Wal­lace (1875-1932). Tat­säch­lich ge­hör­ten die bri­ti­schen Au­to­ren zu den ers­ten, die in den »wil­den« 1920er Jah­ren ins Deut­sche über­setzt wur­den. Kri­mi-Fans ken­nen oft auch den Schwei­zer Fried­rich Glau­ser (1896-1938), den Na­mens­ge­ber des Glau­ser-Prei­ses – eine der wich­tigs­ten Aus­zeich­nun­gen für deutsch­spra­chi­ge Kri­mi-Au­to­ren. Wie viel­fäl­tig die Kri­mi-Sze­ne in der Wei­ma­rer Re­pu­blik war, ist in der brei­ten Öf­fent­lich­keit je­doch voll­kom­men in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten. Für kri­mis­chaet­ze.de ha­ben sich Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger des Null Pa­pier-Ver­la­ges, und Se­bas­ti­an Brück, Au­tor und Jour­na­list, zu­sam­men­ge­tan, um alte Kri­mi-Best­sel­ler neu zu ent­de­cken und als E-Book ver­füg­bar zu ma­chen – über­ar­bei­tet, in neu­er Recht­schrei­bung und mit er­klä­ren­den Fuß­no­ten ver­se­hen.

Das kri­mis­chaet­ze.de-Pro­gramm star­tet zu­nächst mit sechs Ti­teln – so­wohl Über­set­zun­gen aus dem Eng­li­schen (S.S. Van Dine) und Schwe­di­schen (Ju­li­us Re­gis), als auch deutsch­spra­chi­ge Ori­gi­na­le: In je zwei Fäl­len er­mit­teln Phi­lo Van­ce, der »ame­ri­ka­ni­sche Sher­lock Hol­mes«, und Mau­ri­ce Wal­li­on, der »De­tek­tivre­por­ter« und »Ur­va­ter« von Stieg Lars­sons »Mil­le­ni­um«-Pro­tago­nist Mi­kael Blom­qvist. Eben­falls ver­tre­ten sind die ver­ges­se­nen Wer­ke zwei­er jü­di­scher Au­to­ren: Die in Bu­da­pest, Pa­ris und San Se­bas­tián spie­len­de Kri­mi­ko­mö­die »Fräu­lein Ban­dit« des Ös­ter­rei­chers Jo­seph Del­mont so­wie der hu­mor­vol­le Kri­mi­nal­ro­man »Das ver­schwun­de­ne Haus – oder: Der Ma­ha­ra­dscha von Bre­cken­dorf« des Frank­fur­ters Karl Ett­lin­ger.

In Zu­kunft wer­den bei www.krimischaetze.de re­gel­mä­ßig wei­te­re Ti­tel er­schei­nen.

Über den Autor

Ju­li­us Re­gis Pet­ters­son schuf die ers­te schwe­di­sche Kri­mi­se­rie, in der ein Jour­na­list die Haup­trol­le über­nimmt. Sei­ne Mau­ri­ce-Wal­li­on-Ro­ma­ne wa­ren ein großer Er­folg – so­wohl in sei­ner Hei­mat, als auch dar­über hin­aus (Über­set­zun­gen un­ter an­de­rem ins Eng­li­sche und Deut­sche).

Re­gis wur­de 1889 in Stock­holm als Sohn ei­ner Kauf­manns­fa­mi­lie ge­bo­ren und mach­te 1909 im Stadt­teil Sö­der­malm sei­nen Schul­ab­schluss. Da­nach stu­dier­te er an der Stock­holms Högs­ko­la Li­te­ra­tur­ge­schich­te und ar­bei­te­te als Schluss­re­dak­teur in ei­nem Ver­lag. Ne­ben­bei be­gann er zu schrei­ben: Meist kur­ze Aben­teu­er­ge­schich­ten – stark be­ein­flusst von dem in Schwe­den sehr po­pu­lä­rem Ju­les Ver­ne –, die in ver­schie­de­nen Li­te­ra­tur­zeit­schrif­ten er­schie­nen. Von den ers­ten Er­fol­gen an­ge­spornt, kün­dig­te er sei­ne Stel­le und star­te­te eine er­folg­rei­che Dop­pel­kar­rie­re als Film­kri­ti­ker und von Ar­thur Co­nan Doy­le und Gas­ton Leroux in­spi­rier­ter Kri­mi­nal­schrift­stel­ler. Au­ßer­dem war er als Über­set­zer tä­tig und ver­ant­wor­te­te un­ter an­de­ren ei­ni­ge schwe­di­sche Aus­ga­ben der Wer­ke von Ro­bert Louis Ste­ven­son. Re­gis war nicht ver­hei­ra­tet und hat­te kei­ne Kin­der. Er starb 1925, mit nur 35 Jah­ren und auf dem Hö­he­punkt sei­ner Kar­rie­re, an ei­ner chro­ni­schen Herz­muskel­ent­zün­dung.

Über den Romanhelden Maurice Wallion

In Schwe­den galt Mau­ri­ce Wal­li­on in den 1910er und 1920er Jah­ren als ein­hei­mi­sche Ant­wort auf Sher­lock Hol­mes: Al­ler­dings ist er ro­bus­ter als sein Lon­do­ner Vor­bild – und we­ni­ger ex­zen­trisch. Heu­te könn­te man ihn ge­nau­so gut als eine Art »Ur­va­ter« von Stieg Lars­sons Pro­tago­nis­ten Mi­kael Blomkvist be­zeich­nen: Wal­li­on ist näm­lich kein her­kömm­li­cher Pri­vat­de­tek­tiv, er ist Jour­na­list. Sein Ruf eilt ihm vor­aus: Der »De­tek­tivre­por­ter« und »Pro­blem­jä­ger« vom Da­gens Kur­ir.

Mau­ri­ce Wal­li­on wohnt am Val­hal­la­vä­gen im no­blen Stock­hol­mer Be­zirk Ös­ter­malm Mit sei­ner brei­ten Stirn und dem vor­sprin­gen­den Kinn ist er zwar nicht be­son­ders gut­aus­se­hend, wohl aber eine ener­gi­sche und cha­ris­ma­ti­sche Per­sön­lich­keit, die Men­schen für sich ein­nimmt. Er hat eine tie­fe Stim­me, graue Au­gen und ein scharf­ge­schnit­te­nes, stets glat­tra­sier­tes Ge­sicht. Wal­li­on ist ele­gant ge­klei­det, raucht viel und glaubt nicht an Zu­fäl­le: Er sieht in je­dem Er­eig­nis das Glied ei­ner Ket­te, »und wenn man die­se Ket­te ver­folgt, fin­det man al­le­mal die Er­klä­rung.« Wal­li­on kann sehr char­mant sein – wenn er je­doch in ge­fähr­li­che Si­tua­tio­nen ge­rät, in de­nen ihm sei­nen in­tel­lek­tu­el­len Fä­hig­kei­ten nicht mehr wei­ter hel­fen, zö­gert er kei­ne Se­kun­de, sei­ne Fäus­te ein­zu­set­zen.

Über dieses Buch

Eine Fa­mi­li­en­tra­gö­die in ei­ner no­blen Vil­len­ge­gend vor den To­ren Stock­holms: Der Wis­sen­schaft­ler Dr. Ar­tur Hes­sel­man wirkt schon seit Mo­na­ten reiz­bar und ner­vös. Kei­ner darf sein Ar­beits­zim­mer be­tre­ten – nicht ein­mal sei­ne Toch­ter Pau­li­ne. Da­für ge­hen re­gel­mä­ßig Un­be­kann­te bei ihm ein und aus. Als Pau­li­ne eine rät­sel­haf­te blaue Zick­zack­li­nie an der Gar­ten­tür fin­det, macht sie sich große Sor­gen. Zu Recht, denn noch in der­sel­ben Nacht fal­len drei Schüs­se, und Dr. Hes­sel­man wird tot in sei­nem Zim­mer auf­ge­fun­den. Der De­tek­tivre­por­ter Mau­ri­ce Wal­li­on ver­spricht Pau­li­ne, den Mord an ih­rem Va­ter auf­zu­klä­ren. Schon bald wird er mit kniff­li­gen Fra­gen kon­fron­tiert: Was hat es mit dem Post­pa­ket aus Ham­burg auf sich, das der Er­mor­de­te ei­ni­ge Wo­chen zu­vor er­hal­ten hat? Was ver­schweigt der alte Die­ner John An­ders­son? Wer ist die Frau mit Ak­zent, die Wal­li­on am Te­le­fon rät, den Fall nicht wei­ter zu ver­fol­gen? Was be­deu­tet die blaue Spur – und wo­hin führt sie?

Handelnde Personen

Mau­ri­ce Wal­li­on: Jour­na­list mit de­tek­ti­vi­schen Fä­hig­kei­ten

Dr. Ar­tur Hes­sel­man: Ge­lehr­ter mit merk­wür­di­gen Ge­wohn­hei­ten

Pau­li­ne Hes­sel­man: Sei­ne Toch­ter

Ste­no Bey­ler: Ihr Cou­sin. Jour­na­list beim Da­gens Kur­ir und Freund von Mau­ri­ce Wal­li­on

John An­ders­son: Der alte Haus­die­ner der Fa­mi­lie Hes­sel­man

Ag­nes Brandt: Zim­mer­mäd­chen der Hes­sel­mans

An­na Niels­son: Kö­chin der Hes­sel­mans

Bre­din: Arzt und Nach­bar der Hes­sel­mans

He­den­borg: Po­li­zei­kom­missar, Lei­ter der Er­mitt­lun­gen

Fer­lin: Ober­kon­sta­bler bei der Kri­mi­nal­po­li­zei

Storm-Nis­sen: Be­kann­ter nor­we­gi­scher Be­rufs­ein­bre­cher

Than­der: Ge­bo­re­ner Schwei­zer, Kon­sul von Co­sta­zue­la

Max Gal­len­berg: Pri­vat­de­tek­tiv, spe­zia­li­siert auf Erbstrei­tig­kei­ten und Ehe­schei­dun­gen

Mal­te Beck­man: Re­dak­teur beim Da­gens Kur­ir

Ni­kel­son: Aus­tra­lisch-schwe­di­scher Aus­s­tei­ger, lebt auf ei­ner ein­sa­men In­sel in den Schä­ren.

Erstes Kapitel.

Was sich am Abend des 25. Mai er­eig­ne­te.

1.

»Eine blaue Zick­zack­li­nie an der Gar­ten­tür?«

»Ja, auf der wei­ßen Far­be.«

Ste­no Bey­ler blick­te das jun­ge Mäd­chen ver­wun­dert an. Sie lach­te nicht und ihr Ant­litz leuch­te­te weiß un­ter dem Kirsch­baum.

»Eine blaue Zick­zack­li­nie?«, wie­der­hol­te er.

Da­bei beug­te er sich vor und sah, dass Pau­li­nes Au­gen vol­ler Angst und Un­ru­he wa­ren. Ihm war, als ob die­se Un­ru­he auf selt­sa­me Wei­se mit der re­gen­schwe­ren, grau­en Däm­me­rung über­ein­stimm­te, die sich lang­sam auf Gar­ten und Vil­la her­ab­senk­te.

»Was meinst du, Pau­li­ne?«, frag­te er has­tig.

Eine der wei­ßen Blü­ten fiel auf ihr blon­des Haar. Sie er­schau­er­te und zog ihr Spit­zen­tuch fes­ter um sich.

»Ich mei­ne, dass ich aus Papa nicht mehr klug wer­de«, sag­te sie lei­se. »Wa­rum war er heu­te Mor­gen so er­regt? Schau mal, von hier aus kannst du die Tür se­hen, die von Pa­pas Ar­beits­zim­mer in den Gar­ten führt. Als ich heu­te Mor­gen her­aus­kam, ent­deck­te ich eine di­cke, zick­zack­för­mi­ge Li­nie dar­an, die wie von ei­nem spie­len­den Kind mit Blau­stift ge­zeich­net war. Ich rief nach Papa, und da ge­riet er ganz au­ßer sich. Nie­mand weiß, wer die­se Nacht im Gar­ten ge­we­sen ist, aber wer im­mer es ge­we­sen sein mag, er hat wei­ter nichts ge­tan, als die­se Li­nie zu zeich­nen und dann sei­nes We­ges zu ge­hen.«

»Ein Dum­mer-Jun­gen-Streich!«, warf Ste­no Bey­ler ein.

»Und doch …«, sag­te das jun­ge Mäd­chen und blick­te ihm in die Au­gen … »und doch war Papa so auf­ge­regt, dass er ohne ein Wort zu sa­gen in sein Zim­mer zu­rück­ge­kehrt ist!«

Cou­sin und Cou­si­ne be­trach­te­ten ein­an­der wort­los.

»Lie­be Pau­li­ne«, be­gann Ste­no nach ei­ner Wei­le, »ich muss ge­ste­hen, dass die Ner­vo­si­tät dei­nes Va­ters mir nicht nur heu­te auf­ge­fal­len ist. Manch­mal kommt er mir ge­ra­de­zu ver­wan­delt vor. Seit wann ist er ei­gent­lich so … so ner­vös?«

Pau­li­nes Lip­pen zit­ter­ten. »Papa ist so merk­wür­dig ge­wor­den«, flüs­ter­te sie. »Reiz­bar und men­schen­scheu – du weißt ja, dass er mir seit Mo­na­ten nicht mehr er­laubt, sei­nen Flü­gel des Hau­ses zu be­tre­ten. Und auch nie­mand an­de­rem. Er sagt, es stö­re ihn bei der Ar­beit…«

Sie hielt plötz­lich mit­ten im Satz inne, und bei­de dreh­ten sich um. Dok­tor Hes­sel­mans große, breit­schult­ri­ge Ge­stalt kam ih­nen lang­sam auf dem Kies­weg ent­ge­gen. Er ging et­was ge­beugt, mit den Hän­den auf dem Rücken, und die Au­gen hin­ter der Bril­le blick­ten ab­we­send und müde.

Ste­no, der von klein auf re­spekt­voll zu dem schweig­sa­men Wis­sen­schaft­ler auf­ge­schaut hat­te, fass­te ihn scharf ins Auge, und da­bei be­merk­te er plötz­lich, wie alt und krank sein On­kel trotz sei­ner noch nicht fünf­zig Jah­re aus­sah.

»Papa!«, sag­te Pau­li­ne in scheu­em Ton.

Der Dok­tor blieb ste­hen und blick­te auf. »Ach so, ihr seid da!«, brumm­te er gut­mü­tig. »Macht, dass Ihr rein kommt.«

Pau­li­ne schmieg­te sich an ihn. »Musst du heu­te Abend ar­bei­ten?«, frag­te sie lei­se.

Ihr Va­ter strich ner­vös mit der Hand über sei­nen Bart. »Ar­bei­ten? Ar­bei­ten?«, mur­mel­te er mit ei­nem zer­streu­ten Blick durch die Bril­le. »Ja, ich wer­de ar­bei­ten … na­tür­lich …«

»Du soll­test dir ein we­nig Ruhe gön­nen, On­kel!«, warf Ste­no Bey­ler in über­trie­ben mun­te­rem Ton ein.

Dok­tor Hes­sel­man ant­wor­te­te nicht. Er blieb einen Au­gen­blick schwei­gend ste­hen und setz­te dann sei­nen Weg fort, als ob er sie schon völ­lig ver­ges­sen hät­te. Die bei­den jun­gen Leu­te blick­ten ihm stumm nach, bis er durch die Gar­ten­tür in sei­nem Ar­beits­zim­mer ver­schwand.

Dann er­griff Ste­no die Hand sei­ner Cou­si­ne und zog sie durch sei­nen Arm.

»Die Früh­lings­luft ist kalt«, sag­te er. »Komm her­ein.«

Sie kehr­ten durch die großen Gla­stü­ren zwi­schen den vor­sprin­gen­den Flü­geln der Vil­la in den Spei­se­saal zu­rück.

»Weißt du, mit wel­cher Art von Ar­beit dein Va­ter sich au­gen­blick­lich be­schäf­tigt?«, frag­te Ste­no nach­denk­lich.

Pau­li­ne schüt­tel­te den Kopf. »Er spricht nicht dar­über, und ich wage ihn nicht zu fra­gen. Und der alte John weiß es auch nicht.«

»John An­ders­son sagt nicht mehr, als er will«, be­merk­te Ste­no nach ei­ner Wei­le.

»Ja, er ist sehr ver­schwie­gen«, räum­te Pau­li­ne ein. »Er ist üb­ri­gens der ein­zi­ge, der bei Papa aus- und ein­ge­hen darf. Ach, ich wünsch­te mir, er wür­de sei­ne Ar­beit bald ab­schlie­ßen! Manch­mal ist im La­bo­ra­to­ri­um die gan­ze Nacht hin­durch Licht. Stell dir vor, Ste­no, ich habe selbst ge­se­hen, dass frem­de Men­schen abends durch den Gar­ten bei ihm ein­ge­las­sen wur­den, und ich darf nicht hin­ein!«

Ihre blau­en Au­gen füll­ten sich mit Trä­nen.

»Be­ru­hi­ge dich, Pau­li­ne, sei­ne Ner­ven sind über­reizt, weil er zu an­ge­strengt ar­bei­tet.«

Sie trock­ne­te sich die Au­gen und fuhr fort: »Hast du nicht auch das Ge­fühl, als ob et­was Un­be­kann­tes, Un­heim­li­ches im Hau­se wäre, et­was Schreck­li­ches, das uns um­gibt, ohne dass wir es se­hen kön­nen? Aber nie­mand, nie­mand sagt mir et­was! Papa schließt sich die gan­zen Tage über ein, und ich bin im­mer al­lein.«

Sie stand auf und trat ans Fens­ter. »Im Ar­beits­zim­mer ist Licht«, sag­te sie. »Da wird er wie­der die Nacht hin­durch ar­bei­ten.«

Ste­no er­hob sich und zün­de­te eine Zi­ga­ret­te an.

»Bei Nacht­ar­beit fällt mir ein, dass ich heu­te Abend nicht mehr in die Re­dak­ti­on muss«, be­merk­te er. »Ich kann also über Nacht hier­blei­ben, wenn es zu dei­ner Be­ru­hi­gung bei­tra­gen wür­de.«

»Oh, tu das, Ste­no!«, bat sie. »Du kannst ja wie im­mer oben im Sa­lon auf dem Sofa schla­fen.«

Der Jour­na­list sah auf die Uhr. »Es ist gleich acht«, sag­te er. »Ich wer­de mei­ne Haus­wir­tin an­ru­fen und ihr sa­gen, dass ich hier über­nach­te.«

»Ich dan­ke dir«, sag­te sie lei­se und ging nach oben, um die er­for­der­li­chen An­ord­nun­gen zu tref­fen. Ste­no blick­te ihr ge­dan­ken­voll nach und be­gab sich dann in die Hal­le, um zu te­le­fo­nie­ren.

Gera­de als er wie­der auf­häng­te, öff­ne­te sich die Biblio­theks­tür, und Dok­tor Hes­sel­man kam her­aus. In der Hal­le war es be­reits so gut wie ganz dun­kel.

»Ist John hier?«, frag­te der Dok­tor er­regt.

»Nein, ich bin’s«, er­wi­der­te Ste­no. »Ich blei­be die Nacht hier, wenn du nichts da­ge­gen hast, On­kel.«

Der Dok­tor blieb eine Wei­le ste­hen, ohne zu ant­wor­ten. »Die­se Nacht?«, brumm­te er. »Nun, für Pau­li­ne ist es viel­leicht das Bes­te.«

Ste­no fuhr zu­sam­men. Am bes­ten für Pau­li­ne? Wa­rum das? Im sel­ben Au­gen­blick kam der alte Die­ner die Trep­pe her­un­ter.

»Soll ich ab­schlie­ßen?«, frag­te er.

»Ja«, be­fahl der Dok­tor, »schließ’ zu und über­prü­fe noch ein­mal alle Fens­ter und Tü­ren. Und dann komm zu mir.«

Die Biblio­theks­tür schloss sich wie­der. Ste­no Bey­ler stand schwei­gend da­bei und sah zu, wie der Die­ner erst die großen Hau­stü­ren nach vorn hin­aus und dann die Gla­stü­ren im Spei­se­saal sehr sorg­fäl­tig ver­schloss. Dann ver­schwand der Die­ner im Biblio­theks­zim­mer, und Ste­no hör­te, wie er auch die­se Tür hin­ter sich zu­schloss.

2.

Das jun­ge Mäd­chen war kaum ein­ge­schla­fen, als es auch schon zu träu­men be­gann.

Mit halb of­fe­nem Mund und auf der Brust ge­fal­te­ten Hän­den lag sie re­gungs­los im Bett. Ihr Kopf war un­na­tür­lich stark zu­rück­ge­bo­gen, und die blau­en Äder­chen an den Schlä­fen schwol­len an.

Ein­mal sag­te sie ohne zu er­wa­chen mit lau­ter, kla­rer Stim­me: »Papa!«

Als die Uhr in der Hal­le un­ten mit grel­len und hart­nä­cki­gen Tö­nen elf schlug, öff­ne­te sie plötz­lich die Au­gen, ohne ihre Lage zu än­dern, sank aber bald wie­der ins Land der Träu­me zu­rück …

Dann weck­ten sie zwei dump­fe, har­te Lau­te kom­plett auf. Sie fuhr in die Höhe und lausch­te. Was war das, was sie ge­hört hat­te? Et­was, was sie nicht ge­träumt hat­te? Zit­ternd hielt sie den Atem an.

Beim drit­ten dump­fen Wi­der­hall sprang sie aus dem Bett und mach­te Licht. Sie rann­te zum Fens­ter, zog den Vor­hang auf und blick­te zum Ar­beits­zim­mer ih­res Va­ters hin­über. Jetzt war es da un­ten dun­kel, aber eine Fens­ter­schei­be stand of­fen, und die Gar­di­ne be­weg­te sich lei­se. Im gan­zen Haus herrsch­te tie­fe Stil­le.

Au­ßer sich, klopf­te sie an die Wand und schrie: »Ste­no! Ste­no!«

Kei­ne Ant­wort. Jetzt sah sie, dass die Gar­ten­pfor­te an­ge­lehnt stand, und im Nu wur­de ihr klar, was für ein Laut es ge­we­sen war, der sie ge­weckt hat­te.

Es wa­ren drei Re­vol­ver­schüs­se ge­we­sen.

Im nächs­ten Au­gen­blick war sie an­ge­klei­det und drau­ßen auf dem Flur. Mit ge­ball­ten Hän­den schlug sie ge­gen die Sa­lon­tür.

»Ste­no, wach’ auf!«, schrie sie atem­los. »Wach’ auf, ich hab’ Angst, dass et­was Fürch­ter­li­ches ge­sche­hen ist.«

Drin­nen fiel ein Stuhl um, und ihr Cou­sin kam und öff­ne­te. Er war in Hemds­är­meln. »Was ist denn?«, mur­mel­te er ver­schla­fen.

»Oh, Ste­no, schluchz­te das jun­ge Mäd­chen, ich glau­be, je­mand hat Papa er­schos­sen!«

»Gott im Him­mel!«, rief Ste­no Bey­ler und blick­te sie plötz­lich hell­wach an.

Er lief an ihr vor­über und stürz­te die Trep­pe hin­un­ter, um dort ohne Zö­gern hef­tig an die Biblio­theks­tür zu häm­mern.

»On­kel!«, rief er laut. »On­kel, bist du wach?«

Er be­kam kei­ne Ant­wort. Als er sich um­sah, stand Pau­li­ne dicht hin­ter ihm.

»Geh’ weg!«, sag­te er. »Es geht nicht mit rech­ten Din­gen zu. Ich will die Tür auf­bre­chen …« Er stemm­te den lin­ken Fuß ge­gen einen Türflü­gel und pack­te den Tür­griff mit bei­den Hän­den. Im nächs­ten Au­gen­blick war es ge­sche­hen. Ein lan­ger Sp­lit­ter brach aus dem Holz­werk her­aus, und die Tür gab kra­chend nach. Sie stürz­ten ins Zim­mer hin­ein, und der Jour­na­list mach­te Licht. Ein star­ker Pul­ver­ge­ruch schlug ih­nen ent­ge­gen. Das Zim­mer war leer, aber aus dem La­bo­ra­to­ri­um kam je­mand mit lau­ten, schwe­ren Schrit­ten die Wen­del­trep­pe her­ab. Es war der alte Die­ner, und sein Ge­sicht war grau vor Er­re­gung.

Ohne auf die bei­den jun­gen Leu­te zu ach­ten, ging er zau­dernd auf die Tür zum Ar­beits­zim­mer zu, leg­te den Kopf da­ge­gen und sag­te lei­se: »Hier ist John!« Er lausch­te, da aber kei­ne Ant­wort kam, sprang er wie ein Wolf ge­gen die Tür, schüt­tel­te sie mit al­ler Ge­walt und schrie: »Lasst mich ’rein, zur Höl­le! Lasst mich ’rein!«

»Wir müs­sen die Tür auf­bre­chen«, rief Ste­no.

»Ja, Herr Bey­ler«, er­wi­der­te der Die­ner. »Ich habe nur Angst, dass es schon zu spät ist.«

Ste­no ant­wor­te­te nicht. Er warf sich mit sei­nem gan­zen Ge­wicht ge­gen die Tür, die krach­te, aber stand­hielt.

»Bei­de zu­gleich!«, keuch­te der Jour­na­list.

Mi­nu­ten­lang be­ar­bei­te­ten sie die Tür wie die Ber­ser­ker – aber ver­geb­lich.

»Durchs Fens­ter!«, rief der Die­ner plötz­lich mit flam­men­den Au­gen. »Durchs Fens­ter!«

Ste­no woll­te mit, aber der Die­ner hielt ihn zu­rück. »Sie dür­fen sie nicht al­lein las­sen«, sag­te er lei­ser und deu­te­te auf die schre­ckens­bleich, aber re­gungs­los da­ste­hen­de Pau­li­ne. »Sie brauch Sie.«

Er stürm­te hin­aus, und Ste­no kehr­te zu der ver­schlos­se­nen Tür zu­rück und leg­te das Ohr ans Schlüs­sel­loch, um zu hor­chen. War je­mand drin­nen? Er hät­te dar­auf schwö­ren kön­nen, dass er hin­ter der Tür Schrit­te hör­te, aber nur für einen Au­gen­blick – gleich dar­auf war al­les still.

»Wenn je­mand da ist, so öff­nen Sie!«, rief er aus und klopf­te von neu­em.

Doch drin­nen blieb es to­ten­still. Jetzt hör­te er ein krat­zen­des Geräusch: Das muss­te der Die­ner sein, der durchs Fens­ter klet­ter­te. Ein ge­dämpf­ter Laut der Über­ra­schung folg­te, und dann war wie­der nichts zu hö­ren.

»Öff­nen sie, John!«, schrie der Jour­na­list und häm­mer­te ge­gen die Tür. »Öff­nen sie! Was ist ge­sche­hen?«

Eine Hand tas­te­te am Schloss her­um. Der Schlüs­sel ras­sel­te. Nach ei­ner Mi­nu­te atem­lo­ser Span­nung ging die Tür auf, und sie sa­hen die ver­zwei­fel­te Ges­te, mit der John ih­nen die Hän­de ent­ge­gen­streck­te.

Die De­cken­leuch­te warf hel­les Licht übers Zim­mer. Vor dem Schreib­tisch lag Ar­tur Hes­sel­man mit aus­ge­streck­ten Ar­men tot am Bo­den. Ne­ben ihm ein Re­vol­ver.

3.

Die Gar­di­nen be­weg­ten sich im­mer noch sach­te im Luft­zug, auf dem Fuß­bo­den la­gen zwei oder drei Pa­pie­re. Es war ganz still und schweig­sam im Zim­mer, aber nichts konn­te schweig­sa­mer, un­heim­lich stil­ler und re­gungs­lo­ser sein als die lang aus­ge­streck­te tote Ge­stalt, die auf der brau­nen Kork­mat­te lag.

Ste­no Bey­ler rich­te­te sich auf.

»Pau­li­ne«, sag­te er lei­se, in­dem er das jun­ge Mäd­chen em­por­hob, »sei ein tap­fe­res Mäd­chen! Dein Va­ter hat nicht ge­lit­ten. Er ist tot um­ge­fal­len, so­bald die Ku­gel ihn traf.«

Sie lag still und starr in sei­nen Ar­men, und er blick­te über ihr Haupt hin­weg zu dem al­ten Die­ner hin­über, der mit schlaff her­ab­hän­gen­den Ar­men da­stand.

»Ru­fen sie das Zim­mer­mäd­chen«, be­fahl er ihm.

Mit schlep­pen­den Schrit­ten ging der Alte durch die Biblio­thek hin­aus, ohne sich um­zu­se­hen. Jetzt stan­den die bei­den al­lein vor dem To­ten, des­sen Ant­litz mit of­fe­nen, selt­sam stil­len und rät­sel­haf­ten Au­gen zu ih­nen em­por­ge­wandt lag.

Das jun­ge Mäd­chen mach­te sich los und ging ihm vor­an aus der Tür. Er sah sie auf einen Stuhl sin­ken und das Ge­sicht in den Hän­den ver­ber­gen. Dann be­gab er sich ans Te­le­fon, um die Po­li­zei an­zu­ru­fen.

Als er John mit dem zit­tern­den Zim­mer­mäd­chen her­un­ter­kom­men hör­te, wand­te er sich ih­nen zu und sag­te: »Die Po­li­zei wird bald hier sein. Bis da­hin darf im Ar­beits­zim­mer nichts an­ge­rührt wer­den. Sie müs­sen da Wa­che hal­ten, John. Ag­nes, ste­hen sie dem Fräu­lein bei.«

»Ich brau­che kei­nen Bei­stand«, sag­te Pau­li­ne mit lei­ser Stim­me.

Er dreh­te sich um: Sie stand bleich, aber ru­hig hin­ter ihm. »Ein Arzt muss je­den­falls kom­men«, fuhr sie fort. »Ich wer­de Dok­tor Bre­din an­klin­geln. Er war ein gu­ter Freund von Papa und wohnt ne­ben­an.«

»Tu das!«, sag­te Ste­no – ganz über­rascht von ih­rem Mut.

Wäh­rend Pau­li­ne te­le­fo­nier­te, kehr­ten Ste­no und John ins Ar­beits­zim­mer zu­rück. Ste­no un­ter­such­te die Gar­ten­tür und stell­te fest, dass sie ver­schlos­sen, aber nicht ver­rie­gelt war. Sie hat­te ein Pa­tent­schloss. Er blick­te sich im Zim­mer um. Plötz­lich trat er auf die Biblio­theks­tür zu. »Se­hen Sie her!«, rief er. »Hier in Manns­hö­he steckt eine Ku­gel im Tür­pfos­ten. Die an­de­re«, sei­ne Stim­me schwank­te, »die an­de­re drang dem Dok­tor durchs lin­ke Auge ins Ge­hirn. Aber die drit­te Ku­gel? Das Fräu­lein sagt, es sei­en drei Schüs­se ge­we­sen. Ha­ben Sie sie ge­hört, John?«

»Ja, Herr Bey­ler«, er­wi­der­te John mit un­deut­li­cher Stim­me. »Ich hör­te sie oben in mei­nem Zim­mer und lief her­un­ter.«

»Und die Tür war ver­schlos­sen«, mur­mel­te der Jour­na­list. »Was ha­ben sie ge­se­hen, als sie durchs Fens­ter her­ein­ge­stie­gen sind?«

John sah ihm ge­ra­de in die Au­gen. »Nichts wei­ter als dies«, lau­te­te sei­ne Ant­wort.

Im sel­ben Au­gen­blick klopf­te es laut an der Tür. Ste­no Bey­ler öff­ne­te.

Ein Po­li­zist in Uni­form kam her­ein, mach­te je­doch an­ge­sichts des To­ten halt. Ste­no be­rich­te­te mit knap­pen Wor­ten.

Der Be­am­te sa­lu­tier­te und sag­te: »Ich bin her­ge­schickt wor­den, um da­für zu sor­gen, dass al­les un­be­rührt bleibt, bis der Herr Kom­missar kommt. Er ist schon un­ter­wegs.«

Gleich dar­auf er­schi­en Dok­tor Bre­din, der ganz au­ßer sich war. »Was ist denn nur ge­sche­hen?«, flüs­ter­te er Ste­no auf dem Wege nach dem Ar­beits­zim­mer zu. »Das ist un­fass­bar!«

Ste­no deu­te­te auf den re­gungs­los aus­ge­streck­ten Kör­per.

»Herr­gott!«, mur­mel­te der alte Grau­bart er­schüt­tert. »Mein lie­ber, al­ter Freund!« Er war so auf­ge­regt, dass er kaum die Un­ter­su­chung vor­zu­neh­men ver­moch­te. Sie nahm nicht viel Zeit in An­spruch.

»Für mich bleibt nichts zu tun«, sag­te er dumpf, als er sich wie­der er­hob. »Ar­tur ist um­ge­fal­len, wie er stand, und auf der Stel­le tot ge­we­sen.«

Sie kehr­ten in die Biblio­thek zu­rück. Pau­li­ne kam ih­nen mit ge­gen die Brust ge­drück­ten Hän­den ent­ge­gen, und als sie den al­ten Dok­tor an­sah, fla­cker­te eine wahn­wit­zi­ge Hoff­nung in ih­ren Au­gen auf.

Aber er schüt­tel­te sach­te den Kopf. Sie blieb re­gungs­los ste­hen. »Ste­no!«, ent­fuhr es ihr. »Ste­no, du musst mir hel­fen!«

Er hielt ihre Hand in der sei­nen, ohne gleich zu ant­wor­ten. Plötz­lich fiel ihm et­was ein. »Ich weiß je­mand, der uns hel­fen könn­te«, sag­te er.

»Wen meinst du?«

»Ich mei­ne Mau­ri­ce Wal­li­on!«

»Den De­tek­tivre­por­ter?«, rief Dok­tor Bre­din aus.

»O ja, ja, der kann uns ge­wiss hel­fen«, flüs­ter­te Pau­li­ne mit fie­ber­haf­tem Ei­fer. »Te­le­fo­nie­re doch gleich mit ihm!«

Nach we­ni­gen Mi­nu­ten kehr­te der Jour­na­list zu­rück. »Er kommt«, war al­les, was er sag­te.

Mau­ri­ce Wal­li­on! Der Name übte eine un­be­schreib­lich be­ru­hi­gen­de Wir­kung auf bei­de aus. Der Stern des »Da­gens Kur­ir«, der De­tek­tivre­por­ter von eu­ro­päi­schem Ruf – Mau­ri­ce Wal­li­on wür­de kom­men!

»Wo bleibt denn der Kom­missar?«, wand­te Ste­no sich un­ge­dul­dig an den Po­li­zis­ten.

»Ich glau­be, er kommt ge­ra­de«, er­wi­der­te die­ser.

Ein Auto fuhr an der Stra­ßen­front vor. Man hör­te Schrit­te, und eine ge­bie­te­ri­sche Bass­s­tim­me er­tön­te in der Hal­le. Gleich dar­auf er­schi­en in der Tür zum Ar­beits­zim­mer ein hoch­ge­wach­se­ner, mus­ku­lö­ser Mann mit strup­pi­gem, grau­me­lier­tem Schnurr­bart. Sei­ne klei­nen schar­fen Au­gen nah­men mit ei­nem ra­schen Blick alle Ein­zel­hei­ten des Zim­mers in sich auf und blie­ben an den An­we­sen­den hän­gen.

»Ich bin der Po­li­zei­kom­missar He­den­borg«, sag­te er, »und muss Sie vor al­len Din­gen bit­ten, mir ihre Na­men zu nen­nen, mei­ne Her­ren.«

Das ge­sch­ah. Nun ging der Kom­missar ans Werk und leg­te die Sach­la­ge mit we­ni­gen, kur­z­en Fra­gen klar. Dok­tor Bred­ins Aus­sa­gen in­ter­es­sier­ten ihn ganz be­son­ders. Wäh­rend er zu­hör­te und dann und wann leb­haft nick­te, fuh­ren sei­ne Bli­cke fort­wäh­rend im Zim­mer her­um.

»Selbst­mord ist also aus­ge­schlos­sen«, be­merk­te er, wäh­rend er den Re­vol­ver auf­hob. »Drei Schüs­se ab­ge­feu­ert. Aus die­sem Smith & Wes­son Ka­li­ber 38 ist ei­ner von ih­nen ab­ge­ge­ben wor­den. Die üb­ri­gen sind auch schar­fe Pa­tro­nen. Hier am Schreib­tisch ist das Schub­fach halb auf­ge­zo­gen: Da wird die Waf­fe ver­mut­lich ge­le­gen ha­ben. Der Tote hat auf den Mör­der ge­schos­sen, be­vor er selbst nie­der­ge­schos­sen wur­de. Hat ein Dieb­stahl statt­ge­fun­den?«

Bey­ler schüt­tel­te den Kopf. Der Kom­missar sah sich wie­der um. Plötz­lich ent­deck­te er das Schuss­loch im Tür­pfos­ten und nahm es ge­nau in Au­gen­schein.

»Vom Fens­ter aus ab­ge­feu­ert, auf je­mand, der von der Biblio­thek aus her­ein­kam«, mur­mel­te er. »Ist das der Schuss, den der Tote ab­gab? Dann ist der Mör­der durch die­se Tür ge­kom­men, Herr Bey­ler.«

»Das ist un­mög­lich«, ent­geg­ne­te Ste­no Bey­ler be­stimmt. »Der Mör­der ist ganz zwei­fel­los durch das Fens­ter her­ein­ge­kom­men.«

Der Kom­missar lehn­te sich aus dem Fens­ter, ver­ließ das Zim­mer dann durch die Glas­tür und ging in den Gar­ten hin­aus. Es dau­er­te je­doch nicht lan­ge, bis er zu­rück­kehr­te.

»Hat ei­ner von Ih­nen die Gar­ten­pfor­te ge­öff­net?«, frag­te er leb­haft, fuhr aber ohne eine Ant­wort ab­zu­war­ten fort: »Die Fra­ge kommt üb­ri­gens erst spä­ter an die Rei­he. Jetzt wün­sche ich, dass alle Per­so­nen, die um Punkt elf Uhr in der Vil­la an­we­send wa­ren, sich hier ver­sam­meln und zu mei­ner Ver­fü­gung hal­ten.«

Er nahm eine sorg­fäl­ti­ge Un­ter­su­chung der Lei­che vor, und als er sich wie­der er­hob, nahm er den Po­li­zis­ten bei­sei­te und stell­te mit lei­ser Stim­me ein paar has­ti­ge Fra­gen.

Zwei Män­ner in Re­gen­män­teln mit di­cken Stö­cken in den Hän­den tra­ten ein.

»Ei­ner an der Gar­ten­pfor­te, und der an­de­re am Haup­tein­gang«, kom­man­dier­te der Kom­missar.

Die bei­den Be­am­ten ver­schwan­den im Dun­keln.

»Zün­den Sie alle Lich­ter im Hau­se an und öff­nen Sie die Gar­di­nen, da­mit wir ein we­nig Licht in den Gar­ten be­kom­men«, lau­te­te der nächs­te Be­fehl.

Nach we­ni­gen Mi­nu­ten strahl­te das gan­ze Haus in ge­spens­tisch-fest­li­cher Be­leuch­tung, wie zu Ehren der stil­len Ge­stalt un­ten im Ar­beits­zim­mer. Im Spei­se­saal wa­ren die Kö­chin, das Zim­mer­mäd­chen, der Die­ner, Bey­ler und Pau­li­ne ver­sam­melt. Dok­tor Bre­din war nach Hau­se ge­gan­gen.

So­bald die bei­den Be­am­ten eine gründ­li­che Durch­su­chung des Ar­beits­zim­mers und sei­ner Um­ge­bung vor­ge­nom­men hat­ten, er­schie­nen sie im Spei­se­saal. Der Kom­missar setz­te sich oben an den Tisch und zog ein No­tiz­buch her­vor.

»Ich wer­de ei­ni­ge Fra­gen stel­len«, be­gann er.

4.

Da er­tön­te wie­der eine Hupe. Der Kom­missar blick­te auf. »Was ist denn das?«, frag­te er ver­drieß­lich.

Ste­no und Pau­li­ne wech­sel­ten einen Blick und gin­gen dann has­tig auf die Die­le hin­aus.

»Das ist er!«, flüs­ter­te Ste­no.

Pau­li­ne öff­ne­te die Haus­tür. Der wach­ha­ben­de Be­am­te re­de­te mit ei­ner ho­hen Ge­stalt, die eben­falls mit ei­nem Re­gen­man­tel um­hüllt war.

»Ich kom­me vom ›Da­gens Kur­ir‹«, hör­te sie eine un­ge­wöhn­lich tie­fe und be­herrsch­te Stim­me sa­gen.

»Tre­ten Sie ein, Herr Wal­li­on!«, sag­te Pau­li­ne mit ei­nem Seuf­zer der Er­leich­te­rung.

Der Frem­de lüf­te­te den Filz­hut, und sei­ne ru­hi­gen grau­en Au­gen hef­te­ten sich mit durch­drin­gen­dem, aber freund­li­chem Blick auf das jun­ge Mäd­chen.

»Gu­ten Abend, Fräu­lein Hes­sel­man«, sag­te er, wäh­rend er ih­rer Auf­for­de­rung folg­te. »Hal­lo Bey­ler! Ich fas­se dies als dei­nen Auf­trag auf.«

»Na­tür­lich!«, er­wi­der­te Ste­no und schüt­tel­te dem Kol­le­gen sehr herz­lich die Hand.

Pau­li­ne be­trach­te­te Mau­ri­ce Wal­li­on ver­stoh­len, wäh­rend er den Man­tel ab­leg­te. Sein scharf­ge­schnit­te­nes, glat­tra­sier­tes Ge­sicht mit der brei­ten Stirn und dem vor­sprin­gen­den Kinn mach­te trotz al­ler Un­schön­heit einen ener­gi­schen, Wil­lens­stär­ken Ein­druck. Er und Bey­ler wech­sel­ten ei­ni­ge has­ti­ge, lei­se Fra­gen. Dann rich­te­ten sich die fes­ten, grau­en Au­gen wie­der auf Pau­li­ne.

»Fräu­lein Hes­sel­man«, sag­te er, und sei­ne tie­fe Stim­me ging so zu Her­zen, »ich kann Ih­nen vor­läu­fig nichts wei­ter sa­gen, als dass ich al­les tun wer­de, um Ih­nen zu hel­fen.«

Jetzt ließ sich von der Spei­se­saal­tür die über­rasch­te Stim­me des Kom­missars ver­neh­men: »Was sehe ich? Wie kom­men Sie denn hier­her, Herr Wal­li­on? Be­deu­tet das wie­der ein Zu­sam­men­ar­bei­ten von Pres­se und Po­li­zei?«

»Sie ha­ben es er­ra­ten«, er­wi­der­te Wal­li­on mit ei­nem flüch­ti­gen Lä­cheln. »Es ist ja nicht das ers­te Mal, nicht wahr?«

»Erin­nern Sie mich nicht an das un­se­li­ge Brow­nin­grät­sel«, ver­setz­te der Be­am­te mit schein­ba­rem Ver­druss. »Na, dann kom­men Sie nur ’rein! Ich bin im Be­griff, ein vor­be­rei­ten­des Ver­hör der Dienst­bo­ten vor­zu­neh­men.«

Sie gin­gen alle zu­sam­men zum Spei­se­saal.

»Hast du eine Zi­ga­ret­te, Bey­ler?«, frag­te Wal­li­on, in­dem er Platz nahm. »Eine mit Gold­mund­stück? Dan­ke!« Er lehn­te sich in sei­ner ge­wohn­ten, still ab­war­ten­den Art im Stuh­le zu­rück und hef­te­te sei­nen Blick auf den Be­am­ten.

»Um elf Uhr abends be­fan­den sich sechs be­kann­te Per­so­nen in die­sem Ge­bäu­de«, be­gann der Kom­missar. »Die Kö­chin Anna Niels­son, das Zim­mer­mäd­chen Ag­nes Brandt und der Haus­die­ner John An­ders­son schlie­fen je­der in sei­ner Dach­kam­mer, Fräu­lein Hes­sel­man schlief eben­falls, und auch Herr Bey­ler war auf ei­nem Stuhl im Sa­lon sit­zend ein­ge­schlum­mert. Nur Dok­tor Hes­sel­man ar­bei­te­te in sei­nem Schreib­zim­mer. Etwa zehn Mi­nu­ten nach elf knall­ten laut Fräu­lein Hes­sel­mans Aus­sa­ge aus dem Zim­mer des Dok­tors drei Schüs­se, durch die auch John An­ders­son aus dem Schlaf ge­weckt wur­de. Was ta­ten Sie, als sie die Schüs­se hör­ten, An­ders­son?«

»Ich sprang aus dem Bett, warf mich in die Klei­der und stürz­te die Wen­del­trep­pe hin­un­ter. Die Tür …«

»Halt! Was dach­ten Sie, wäh­rend sie das ta­ten?«

»Ich dach­te, dass ein Un­glück ge­sche­hen wäre.«

»Ein Un­glück? Nicht viel­mehr ein Ver­bre­chen?«

»Nein.«

»Sie hiel­ten die drei Lau­te also nicht mit Be­stimmt­heit für Re­vol­ver­schüs­se?«

»Nein.«

»Wa­ren Sie der Mei­nung, dass die Töne aus dem Ar­beits­zim­mer ka­men?«

»Ja.«

»Nun möch­te ich wis­sen, was Sie sa­hen, als Sie durch das Fens­ter des Ar­beits­zim­mers her­ein­klet­ter­ten?«

»Nichts wei­ter als den tot am Bo­den lie­gen­den Herrn Dok­tor.«

»Aber das Fens­ter stand of­fen und das Licht brann­te, wie Sie schon sag­ten?«

»Ja.«

»Wa­ren die Fens­ter­ha­ken ein­ge­setzt?«

»Nein.«

»Wel­chen Weg schlu­gen Sie ein, um ans Fens­ter zu ge­lan­gen?«

»Ich lief durch die Hal­le und die Glas­tür im Spei­se­saal.«

»Be­merk­ten sie im Gar­ten oder drau­ßen vor dem Fens­ter et­was Un­ge­wöhn­li­ches?«

»Nein.«

Der Kom­missar un­ter­brach das Ver­hör, um sei­ne No­ti­zen durch­zu­le­sen.

»Darf ich eine Fra­ge an An­ders­son rich­ten, Herr Kom­missar?«, frag­te Wal­li­on ru­hig.

»Ge­wiss!«, er­wi­der­te der Be­am­te mit ei­nem An­flug von Neu­gier.

»An­ders­son«, fuhr der Jour­na­list fort, »Sie sa­gen, Sie hät­ten an­ge­nom­men, dass ein Un­glück ge­sche­hen sei, und sei­en da­her aus dem Bett ge­sprun­gen und in die Klei­der ge­fah­ren?«

»Ja.«

»Wie kam es denn, dass Sie sich den­noch Zeit lie­ßen, einen Kra­gen um­zu­le­gen und Ihre Kra­wat­te so sorg­fäl­tig zu bin­den?«, frag­te Mau­ri­ce Wal­li­on lang­sam.

Der Die­ner ver­zog kei­ne Mie­ne. »Das fand ich nor­mal«, sag­te er.

Der Kom­missar hat­te Wal­li­on rasch und bei­stim­mend zu­ge­nickt. »Blei­ben Sie bei Ih­rer Aus­sa­ge, An­ders­son?«, frag­te er nach ei­ner Pau­se in erns­tem Ton.

»Ja­wohl, Herr Kom­missar!«

»Gut. Sie ist zu Pro­to­koll ge­nom­men. Ihr Zim­mer wird noch in Au­gen­schein ge­nom­men wer­den.«

Der Die­ner mach­te eine ge­mes­se­ne Ver­beu­gung.

»Fräu­lein Hes­sel­man«, fuhr der Kom­missar freund­lich fort, »Sie sind ge­wiss, dass Sie drei Schüs­se hör­ten?«

»Ja«, sag­te Pau­li­ne.

»Was ta­ten Sie zu­erst?«

Das jun­ge Mäd­chen be­rich­te­te.

»Sie wuss­ten gleich, dass es Re­vol­ver­schüs­se wa­ren?«

»Ja, ich habe selbst schon oft mit ei­nem Re­vol­ver auf eine Schei­be ge­schos­sen.«

»Ah!«, mach­te der Kom­missar und blick­te auf. »Be­sit­zen Sie einen ei­ge­nen Re­vol­ver?«

»Nein, ich habe mit dem Re­vol­ver mei­nes Va­ters ge­schos­sen«, er­wi­der­te Pau­li­ne.

»Ist es die­ser?«

Der Kom­missar leg­te den ge­fun­de­nen Re­vol­ver vor sie hin.

»Nein«, sag­te das jun­ge Mäd­chen has­tig. »Nein, das ist er nicht. Mein Va­ter hat­te einen Brow­ning.«

Der Kom­missar mach­te ein ver­blüff­tes Ge­sicht. »Was sa­gen Sie dazu, Herr Wal­li­on?«, frag­te er nach ei­ner Wei­le.

Der Jour­na­list zuck­te stumm die Ach­seln.

Nun wur­den die bei­den weib­li­chen Dienst­bo­ten ei­nem kur­z­en Ver­hör un­ter­zog, doch ih­nen war nichts wei­ter als »ja« oder »nein« zu ent­lo­cken.