Die blinde Zeugin - Barbara Branch - E-Book

Die blinde Zeugin E-Book

Barbara Branch

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! »Nein!«, schrie Vivian gellend. »Hier hört Sie doch niemand«, lachte der Mann, und es klang so schaurig, dass Vivian beide Hände an die Ohren presste. Sie fühlte, dass jeder Widerstand sinnlos geworden war. »Was haben Sie mit Karen gemacht?«, fragte sie tonlos. »Karen? Sie ist mir weggelaufen. Ich weiß nicht, wo sie steckt.« »Aber sie weiß alles.« »Nein, sie weiß nichts. Einen anderen Zeugen als Sie gibt es nicht.« Er packte sie ganz fest am Arm und zog sie zu sich herüber. Vivian spürte ein Tuch um ihren Hals und dachte, er wolle sie erdrosseln. Sie wehrte sich nicht. Sie war vor Angst wie gelähmt – und gegen einen starken Mann würde sie ja ohnehin nicht ankommen ... »Eine schöne Aussicht«, stellte Edward Gardner fest und sah über die steil abfallenden Klippen hinab auf das blaue, jetzt nur leicht bewegte Meer. »Aber ich verstehe nicht, dass du hier bauen willst.

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Gaslicht – 58 –

Die blinde Zeugin

Unveröffentlichter Roman

Barbara Branch

»Nein!«, schrie Vivian gellend. »Hier hört Sie doch niemand«, lachte der Mann, und es klang so schaurig, dass Vivian beide Hände an die Ohren presste. Sie fühlte, dass jeder Widerstand sinnlos geworden war. »Was haben Sie mit Karen gemacht?«, fragte sie tonlos. »Karen? Sie ist mir weggelaufen. Ich weiß nicht, wo sie steckt.« »Aber sie weiß alles.« »Nein, sie weiß nichts. Einen anderen Zeugen als Sie gibt es nicht.« Er packte sie ganz fest am Arm und zog sie zu sich herüber. Vivian spürte ein Tuch um ihren Hals und dachte, er wolle sie erdrosseln. Sie wehrte sich nicht. Sie war vor Angst wie gelähmt – und gegen einen starken Mann würde sie ja ohnehin nicht ankommen ...

»Eine schöne Aussicht«, stellte Edward Gardner fest und sah über die steil abfallenden Klippen hinab auf das blaue, jetzt nur leicht bewegte Meer. »Aber ich verstehe nicht, dass du hier bauen willst. Das liegt doch viel zu weit ab. Diese Häuser würde niemand kaufen.«

»Eigentlich wollte ich ja mit dir auch nur noch einmal in aller Ruhe sprechen«, erwiderte Paul Jennings. »Kannst du nicht alles vergessen und die Anzeige zurückziehen?«

»Nein, und das weißt du ganz genau«, erwiderte der Freund hart.

»Ja …, dann …«

Paul trat wie zufällig neben den Kollegen und ehemaligen Partner. Plötzlich gab er ihm einen Stoß. Edward Gardner stürzte mit einem gurgelnden Schrei in die Tiefe.

Zufrieden drehte sich Paul Jennings um. Da sah er etwa fünfzig Meter weiter oben auf einer Wiese ein junges Mädchen sitzen!

Ein eisiger Schock durchzuckte ihn! Das Mädchen musste alles gesehen haben! Die Fremde schaute genau zu ihm herüber …

Vor Angst war Paul Jennings wie gelähmt. Es dauerte eine Weile, ehe er sich hinter einen Felsblock kauerte.

Aber natürlich war es dafür viel zu spät! Die Fremde hatte ihn beobachtet. Sie musste bemerkt haben, dass Edward nicht zufällig gestolpert und gefallen war.

Was nun? Was sollte er tun?

Er hatte geglaubt, einen perfekten Mord geplant zu haben. Seit einer halben Stunde war ihnen kein Mensch in dieser Einsamkeit begegnet.

Wie kam das Mädchen hierher?

Aber für solche Überlegungen hatte er keine Zeit mehr! Er musste handeln und zwar schnell. Es tat ihm leid, auch eine unschuldige Fremde töten zu müssen. Aber es ging nicht anders. Sie musste wie Edward sterben.

Vielleicht war es sogar vorteilhaft, wenn man später zwei Leichen fand. Ein heimliches Stelldichein würde Edwards Aufenthalt an dieser einsamen Küste auch besser erklären …

Paul Jennings richtete sich auf und ging auf die Fremde zu, die noch immer völlig reglos dasaß und zu ihm heruntersah, als sei er auch nur ein Stück der grandiosen Landschaft.

Er wusste noch nicht, was er ihr sagen würde, oder was er tun sollte. Sie sah sehr jung und zart aus. Im schlimmsten Falle würde er Gewalt anwenden müssen …

In diesem Augenblick hörte er die Männerstimme!

Er konnte niemanden sehen und verstand nicht, was man rief. Aber das junge Mädchen drehte sich um und antwortete etwas. Genau konnte er es auch nicht verstehen, aber es klang für ihn so ähnlich wie: »Charles? Ja, ich komme gleich!«

Während sich Paul Jennings hinter einen Ginsterstrauch duckte, stand die Fremde oben auf dem Hügel auf. Nach ein paar Sekunden verschwand sie aus seinem Blickfeld.

Er hockte zitternd hinter dem Ginsterbusch und fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben.

Fetzen eines Gesprächs drangen an sein Ohr. Aber er verstand kein Wort. Er hörte nur verschwommen die Stimmen durch den heftigen Wind.

Jeden Moment erwartete er, die Fremde und der unbekannte Mann könnten zurückkommen, und er hatte entsetzliche Angst. Mit einem jungen Mädchen wäre er fertig geworden. Aber zwei Menschen, und dazu offenbar noch ein Mann …, das war zu viel!

Während er schweißgebadet in der dürftigen Deckung des Ginsters hockte, gingen ihm die schrecklichsten Gedanken durch den Kopf. Man würde ihn des Mordes beschuldigen!

Dann hörte er irgendwo den Motor eines Wagens aufheulen – und danach nichts mehr!

Erst nach einer halben Stunde, die ihm vorgekommen war wie eine Ewigkeit, stand er mit weichen Knien auf und entfernte sich in die andere Richtung.

Er musste weg! Möglichst schnell! Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es hier von Polizisten wimmelte!

Die einzige Erklärung für ihn war, dass das Mädchen und der Mann sich nicht allein mit ihm einlassen und Verstärkung holen wollten.

Paul Jennings war froh, dass er wenigstens seinen Wagen so hinter einem Felsenvorsprung geparkt hatte, dass ihn wohl niemand gesehen hatte!

Aber er war sich der Tatsache bewusst, dass das Mädchen ihn beobachtet hatte. Und er verfluchte sich selbst, dass er ausgerechnet heute das leuchtend blaue Hemd angezogen hatte. Sein dunkles Haar und der kleine Backenbart waren wohl auch so, dass sie sich schnell einprägten!

Er war ein Idiot – und kein perfekter Verbrecher, wie er gestern noch stolz geglaubt hatte!

Aber gestern war er wenigstens nur ein Betrüger gewesen – heute war er auch noch ein Mörder.

Während er, immer noch halb geduckt, um nicht gesehen zu werden, zu seinem Wagen schlich, gingen ihm die schrecklichsten Gedanken durch den Kopf. Und sie kreisten fast alle um dieses junge, zierliche Mädchen mit dem blonden langen Haar.

Erst als er schon ein paar Kilometer von den Klippen entfernt war, atmete Paul Jennings auf und fühlte sich einigermaßen in Sicherheit.

Den furchtbaren Augenblick, als ihm ein Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Sirene entgegengekommen war, hatte er auch am Abend noch nicht vergessen, als er sich wieder in der Sicherheit seiner Londoner Wohnung befand.

Erst als er nach einer halben Flasche Whisky endlich zu Bett gehen wollte, dachte er wieder an die Plä­ne …

Bei seiner überstürzten Flucht hatte er die gefälschten Grundstückspläne vergessen! Und sie trugen die volle Anschrift seiner Firma!

Er musste noch einmal nach Linfolk zurück!

*

In der Villa Virginia, die einsam zwischen den Klippen und dem einzigen Wäldchen stand, das es hier weit und breit gab, saß man beim Abendessen.

Sir Ernest Stanford hielt darauf, dass sich die Familie wenigstens einmal am Tag am Tisch versammelte.

Das war auch ganz im Sinne seiner alten Tante, die seit dem Tod von Lady Stanford den Haushalt leitete. Seinen beiden Töchtern Vivian und Karen kam es nicht so wichtig vor. Und der Nachkömmling Patrick mit seinen zehn Jahren empfand diese Mahlzeiten sowieso als lästig.

»Würdest du mir bitte den Salat reichen?«, bat Vivian mit ihrer melodischen Stimme. Dabei hielt sie die Hände unsicher etwas vorgestreckt.

Vivian war von Geburt an blind, aber ein unbefangener Beobachter der Tischszene hätte es wahrscheinlich kaum bemerkt. Sie hantierte genauso geschickt wie die anderen mit Messer und Gabel und legte sich auch selbst vor.

»Soll ich dir das Fleisch schneiden?«, fragte Tante Anne. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnen können, dass die Großnichte diese freundliche Fürsorge eher als Belastung empfand, sie meinte es gut und konnte manchmal nicht verstehen, dass die anderen Vivian nicht mehr beschützen wollten.

»Nein!«, antwortete denn auch Karen hastig, die nicht gemeint gewesen war. Aber sie hatte den Schatten auf dem Gesicht der Schwester gesehen. »So zäh ist ja nun das Fleisch bestimmt nicht, dass wir das große Tranchiermesser benutzen müssen.«

»Ich dachte ja auch …«, begann die alte Dame.

»Lass doch die Vivian in Ruhe!«, sagte Patrick. »Die schneidet doch besser als du mit deinen zittrigen Händen.«

»Patrick!«, tadelte ihn der Vater scharf.

»Na, wenn’s doch wahr ist!«, maulte der Junge. »Vivian will ja gar nicht, dass man ihr hilft. Heute ist sie sogar allein spazieren gegangen.«

»Aber das solltest du nun wirklich nicht tun«, meinte auch Sir Ernest mit leichtem Vorwurf. »Ich hätte dich begleitet. Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«

»Weil ich dich nicht stören wollte, Vater. Ich weiß doch, wenn du bei deiner Arbeit sitzt, denkst du doch nur noch an deine alten Griechen und weißt nicht einmal, dass du in Cornwall lebst.«

Der alte Herr lächelte. Aber Lady Anne fragte erschrocken: »Du warst doch nicht etwa wieder oben an den Klippen?«

»Ganz vorn natürlich nicht«, sagte Vivian verträumt. »Aber bei den Zwillingsfelsen. Man hört da das Meer so schön rauschen.«

»Das ist viel zu weit für dich!«, rief die Tante.

»Ich kenne hier doch Weg und Steg, Tante Anne. Aber ich bin gar nicht allein gewesen. Charles musste nach Hilms. Er hat mich bis zur Kreuzung mitgenommen und später wieder abgeholt.«

»Trotzdem …, denk nur, wenn du einmal stolperst, da kommt den ganzen Tag kein Mensch vorbei.«

»Eigentlich nicht«, gab Vivian zu. »Aber heute muss jemand dagewesen sein. Ich habe Männerstimmen gehört.«

»Dort oben?«

»Mehr vorn an den Klippen. Spaziergänger wahrscheinlich. In Linfolk sollen ja schon Sommergäste sein.«

»Ja, es sind schon viele Fremde da«, bestätigte Karen, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Und ich bin froh darüber. Wer kauft schon von den Einheimischen in meiner kleinen Boutique? Aber heute bin ich sogar das rote Sommerkleid losgeworden, das mir schon vom letzten, nein, wohl vorletzten Jahr her, im Wege herumhing.«

»Hast du denn das nötig, Verkäuferin zu spielen?«, fragte Lady Anne mit leichtem Tadel.

Im Gegensatz zu Vivian war Karen kerngesund. Aber sie machte der alten Dame auf andere Art Kummer. Sie hatte sich ein eigenes kleines Geschäft an der Strandpromenade eingerichtet und verkaufte dort neben Modellen vom Kontinent auch eigene Entwürfe. Nach Lady Annes Ansicht war das keine Beschäftigung für ein Mädchen aus den ersten Kreisen.

»Ich hoffe, dass ich Karen genug Taschengeld bewillige«, nahm Sir Ernest das Wort. »Aber ich sehe auch nicht ein, was daran verwerflich sein soll, wenn sie sich ein bisschen Abwechslung verschafft. Und solange Charles nichts dagegen hat, habe ich auch nichts einzuwenden.«

»Es ist absurd, sich in diesem uralten, ungemütlichen Haus hier in der Einsamkeit zu vergraben«, brummelte Lady Anne. »Das habe ich dir schon hundert- oder tausendmal gesagt. Warum wohnen wir nicht in London in unserem schönen und bequemen Haus?«

»Weil es hier viel schöner ist!«, rief Patrick ungestüm. »Meinst du, ich will in der Stadt wohnen? Wo man gar nichts darf und nicht mal richtige Freunde hat und keine Höhlen in den Felsen oder alte Bäume zum Klettern.«

»Es geht weniger um dich, Patrick«, verwies ihn der Vater sanft.

Er war ein stiller, in sich versponnener Wissenschaftler und froh, ruhig leben zu können. Aber er war auch gerecht genug, an seine erwachsenen Töchter zu denken. »Möchtest du lieber in London leben, Vivian? Oder sehnst du dich nach der Großstadt, Karen?«

»Ich bestimmt nicht«, versicherte Vivian hastig. »Da käme ich ja überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Hier kann ich ungestört spazieren gehen und brauche keine Angst vor dem Verkehr zu haben.«

»Und dass ich lieber in der Nähe von Charles bleiben möchte, weißt du doch auch, Vater«, versicherte Karen. »Er ist der einzige, der so gut Tennis spielt, dass er mit mir trainieren kann.«

Sie wurde ein bisschen rot dabei, denn natürlich war das nicht die ganze Wahrheit. Einen perfekten Tennisspieler hätte sie in London bestimmt eher gefunden als in Linfolk. Nur verband sie noch etwas ganz anderes mit Charles Ferguson.

Sie liebte ihn heimlich. Manchmal hoffte sie, dass er das wusste und ihr die gleiche Neigung entgegenbrachte. Aber er war genauso nett zu Vivian wie zu ihr. War alles nur Freundschaft?

»Wie kommst du eigentlich mit dem Entwurf für dein Hörspiel weiter?«, fragte da Patrick seine blinde Schwester. »Weißt du, ich habe da nämlich eine prima Idee. Du könntest doch mal einen Mord passieren lassen! Dann wird’s erst richtig spannend. Und John hat schon ’ne richtige Männerstimme. Der hilft dir bestimmt.«

»Gern, wenn es einmal nötig wird.« Vivian lächelte und wandte ihrem Bruder das Gesicht zu. »Aber so weit bin ich noch nicht. Außerdem soll es kein Krimi werden sondern eine Liebesgeschichte.«

»Liebesgeschichten sind doof«, stellte Patrick ungerührt fest. »Dann mach mal lieber was mit ’nem Hund. Da kann dann Wolfy bellen.«

»Wo ist er überhaupt?«, fragte Lady Anne besorgt.

Sie war immer und um jeden besorgt, mochte es auch nur der Bullterrier sein, der sich selbst recht gut zu wehren verstand.

»In der Küche«, erklärte Patrick. »Er hat so gebettelt, und da habe ich ihm den großen Knochen aus dem Kühlschrank gegeben. Er hat sich gefreut.«

»Das kann ich mir denken.« Karen seufzte. »Ich vermute, dass er jetzt die Hammelkeule frisst, die ich für uns aus Linfolk mitgebracht habe.«

Sie lachten alle.

Und keiner von der fröhlichen Tischrunde ahnte etwas von der drohenden Gefahr, die sich aus Vivians kleinem Ausflug an die Klippen ergeben musste. Irgendwo in London entschied sich in diesen Augenblicken ihr Schicksal.

*

Als Paul Jennings zum zweiten Mal nach Linfolk fuhr, empfand er noch mehr Angst als am Tage zuvor.

Einmal saß er nicht in seinem eigenen Wagen, sondern in einem gemieteten, offenen Jaguar. Er verabscheute Zugluft – und hatte gerade deshalb diesen Wagen gewählt, der ihm im Grunde auf die Nerven ging.

Zweitens hatte er aber auch die ganze Nacht Zeit gehabt, um über das Erlebnis an den Klippen nachzudenken. Und da sah alles noch viel düsterer aus, als er im ersten Moment geglaubt hatte.

Das Mädchen musste ihn gesehen haben – das stand fest. Aber ebensogut war es möglich, dass man auch noch seinen Wagen an der wenig befahrenen Straße bemerkt hatte.

Nun gut, eine unauffällige dunkelgrüne Limousine – das musste noch nicht viel bedeuten …

Aber das Mädchen, dieses blondhaarige Mädchen!

Vielleicht hatte man Edwards Leiche noch nicht gefunden. Und wenn er Glück gehabt hatte, dann hatte die Fremde auch nicht gesehen, wie er den Freund in die tödliche Tiefe gestoßen hatte.

Aber sie würde sich spätestens daran erinnern, wenn man den Toten eines Tages entdeckte. Zwei Männer waren gekommen, aber einer nur war gegangen …

Paul Jennings hatte alles hin und her überlegt und war zu dem Schluss gekommen, dass dieses Mädchen auch sterben musste. Es widerstrebte ihm. Aber waren zwei Morde schlimmer als einer? Und ging es jetzt nicht nur um seine Sicherheit?

Am frühen Morgen hatte er sich bei einem fremden Frisör seinen Bart abrasieren lassen und sich dann in einem Kaufhaus eine hellbraune Perücke gekauft.

Dann hatte er sich diesen verrückten Wagen gemietet. Keiner seiner Freunde würde ihn jemals in einem Sport-Coupé vermuten.

Er fuhr von Linfolk aus die Straße zu den Klippen hinauf, um die Pläne zu suchen. Dabei gab er sich den Anschein, die herrliche Gegend mit der berühmten Aussicht zu genießen. Sorgfältig achtete er darauf, nicht gesehen zu werden. Aber er begegnete niemandem …

Dann untersuchte er mindestens zwei Stunden an den Klippen jeden Winkel nach den Plänen. Zuerst hatte er nur einfach hingehen und sie dort wegnehmen wollen, wo sie seiner Ansicht nach liegen mussten.

Als er sie nicht fand, erfasste ihn Panik. Und schließlich war er überzeugt, dass sie das fremde Mädchen und der Mann oder vielleicht die Polizei gefunden haben mussten.

Aber konnten diese Pläne wirklich viel bedeuten? Sie konnten ja auch von Edward mitgenommen worden sein.

Alles, was ihn noch interessierte, war dieses Mädchen.

Und wenn er bisher noch immer nicht hundertprozentig entschlossen war, das fremde Mädchen zu töten, so sah er jetzt keinen anderen Ausweg mehr.

*

Karen Stanford hatte einen wenig erfolgreichen Tag hinter sich.

Eine ganze Menge Kundinnen waren dagewesen. Aber letzten Endes hatte sie außer ein bisschen Modeschmuck nichts verkauft.

Außerdem begann es jetzt zu nieseln, und es würde wohl niemand mehr kommen. Bei schlechtem Wetter ging kaum jemand über die Strandpromenade, und die Boutique war eines der letzten Geschäfte vor dem Seesteg, der mit seinen stählernen Pfeilern in die See hinausragte.

Als Karen gerade überlegte, ob sie nicht einfach schließen sollte, betrat ein eleganter Herr mit kastanienbraunem Haar das Geschäft.

»Miss Stanford?«, fragte er – statt wie sonst bei den Kunden üblich, seine Wünsche zu äußern.

»Ja, bitte? Kommen Sie etwa vom Finanzamt?«, fragte Karen.

Der Herr lächelte.

»Sehe ich so aus? Dann verzeihen Sie bitte. Ich wollte eine der berühmten gestickten Blusen kaufen, die Ihr Geschäft angeblich führen soll. Aber man sagte mir, ich müsse da zu Miss Stanford gehen, auf keinen Fall in ein anderes Geschäft.«

»Gestickte Blusen?«, wunderte sich Karen. »Was können Sie wohl damit meinen? Ich hatte im letzten Jahr einmal ein paar ungarische Handarbeiten. Denken Sie daran?«

»Ich weiß nicht«, gab der Fremde mit einem offenen Lachen zu. »Von weiblicher Garderobe verstehe ich nichts. Nur meine … Mutter war im vergangenen Sommer hier und bat mich, ihr eine dieser Blusen mitzubringen. Bitte, sagen Sie nicht, dass Sie keine mehr haben. Das würde mir Mama nie verzeihen.«

»Natürlich würde ich Ihnen gern helfen. Ich bin schließlich froh, wenn ich etwas verkaufen kann. Aber im Augenblick kann ich mich nicht recht erinnern. Und die ungarischen Blusen sind ausverkauft.«

»Oje! Haben Sie dann vielleicht etwas Ähnliches? Aber andererseits – es ist ein bisschen schwierig für einen Mann, da eine Entscheidung zu treffen. Könnten Sie mich wohl beraten? Haben Sie ein bisschen Zeit für mich?«