Die blutige Windrose - Janina Nikoleiski - E-Book

Die blutige Windrose E-Book

Janina Nikoleiski

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Beschreibung

Eine unbekannte magische Welt, mit Wesen, wie man sie sonst nur aus Märchen kennt. Genau solch eine Welt entdecken Ben und Cassandra, während der Renovierung eines frisch geerbten Hauses. Schnell zeigt sich, dass auf die Beiden eine große Aufgabe wartet. In diesem Abenteuer findet Ben nicht nur seine große Liebe, er muss auch noch um sie kämpfen. Wird ihm das mit seinen neuen Gefährten gelingen?

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Copyright: © Janina Nikoleiski

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Für Yavuz, den besten Freund, den man sich nur wünschen kann

Kapitel 1

Schon vor dem Öffnen der Augen hörte ich bereits die schweren Regentropfen an meiner Fensterscheibe. Plötzlich hatte ich es gar nicht mehr so eilig aufzuwachen. Vielleicht noch einmal umdrehen? 

Nein, erst mal einen Kaffee. Dann sieht die Welt vielleicht nicht mehr so trüb aus. Ich entschied mich also, aufzustehen. 

Beim ersten vorsichtigen Blick, vorbei an den dunklen Vorhängen, aus dem Fenster sah ich, dass es mehr als eine Tasse sein müsse. Typisches Hamburger Schietwetter. Würde es heute überhaupt richtig hell werden? 

Nach ein paar Griffen in den mehr als unordentlichen Kleiderschrank, und einer dampfend heißen Dusche war auch der Kaffee fertig. Schwarz, kräftig und eine Menge davon, genau, wie ich es mochte. Dazu einen Blick in die Zeitung. Nichts Interessantes für heute. 

Normalerweise las ich sie in der Bahn, auf dem Weg zur Arbeit. Die nächsten drei Wochen jedoch, hatte ich Urlaub. Nicht um wegzufliegen, was bei dem Wetter die bessere Wahl gewesen wäre, sondern um meine beste Freundin Cassandra bei der Renovierung ihres neuen Hauses zu unterstützen. 

Sie hatte es unerwartet geerbt, als ihre Großtante Meredith Klix gestorben war. Leider war es sehr alt und es musste viel gemacht werden. Also musste ich meinen Mann stehen und ihr helfen. Und ich tat es gern. Dem langweiligen Büroalltag zu entfliehen war, so oder so, nicht schlecht. 

Als ich ankam, bekam ich wie immer ein mulmiges Gefühl, als ich das alte Haus sah. Irgendetwas stimmte hier einfach nicht. 

Cassandra liebte dieses Haus von Anfang an, und wollte es unter keinen Umständen verkaufen. Wie sehr ich sie auch immer damit aufzog, es sähe aus wie ein kleines gruseliges Hexenhäuschen, sie blieb bei ihren Plänen. 

Das Haus war ein kleines Fachwerk und die Vorderseite fast vollständig mit tief grünem Efeu bewachsen. Der Schornstein war aus unterschiedlich großen Steinen und braunem Lehm gebaut worden und sah nicht sehr vertrauenerweckend aus. Die Sprossenfenster und die Haustür waren aus Holz und in demselben dunklen Braun wie die Balken gestrichen worden. Im Vorgarten wucherten unzählige Pflänzchen, von denen ich die meisten nicht benennen konnte. Wenn sie erst mal blühten, würde es hier bestimmt hübsch aussehen. 

Drinnen war es bedrückend und dunkel. Cassandra war davon überzeugt, dass es alles heller und freundlicher wirken würde, wenn wir nur erst alles gestrichen und geputzt hätten. Also stand noch viel Arbeit an. 

Oben, im ersten Stock, befanden sich ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer, sowie auch ein Bad. Dort waren wir mit den Arbeiten an den vergangenen Wochenenden schon gut vorangekommen. Es musste nur noch der Dielenboden im Schlafzimmer und im Flur ausgebessert und geschliffen werden. Das Badezimmer war bereits von uns neu gefliest worden. 

Die alte Badewanne hatte uns vor eine Herausforderung gestellt. Es war eine freistehende große weiße Wanne mit goldfarbenen Füßen und Cassandra wollte sie unbedingt behalten. Auch das ist uns nach viel Arbeit gelungen. 

Die hölzerne Treppe und das Erdgeschoss hatten wir uns für diese Woche vorgenommen. 

Hätte ich Cassandra nicht schon seit dem Sandkasten gekannt, hätte ich sie für verrückt gehalten. Nur wer sie wirklich kannte, stellte dieses Vorhaben nicht in Frage. Sie war in ihrem Element und nichts konnte sie aufhalten. 

Als ich das Haus betrat, hörte ich sie schon summend hin und her rennen. Wie immer trug sie ein abgetragenes Bandshirt, heute Linkin Park, und verblichene,  rissige Cargoshorts. 

Sie war attraktiv, und wären wir nicht die besten Freunde von Kindesbeinen an gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich glücklich geschätzt, wenn sie meine feste Freundin gewesen wäre. 

Ihre langen haselnussbraunen Haare hatte sie mit einem Pinsel hochgesteckt und nur ein paar lose Locken hingen ihr in den Nacken. Einen zweiten Pinsel hatte sie zwischen die Lippen geklemmt und mit einem dritten Pinsel strich sie gerade eine Farbprobe an die Wand, an der schon viele andere zu sehen waren. Scheinbar konnte sie sich wieder nicht so richtig entscheiden, und würde mich gleich zu Rate ziehen. 

Mich. Einen Mann. Bei Farben. 

Mir graute es schon davor. 

Als sie mich entdeckte, legte sie Farben und Pinsel zur Seite und begrüßte mich wie immer, mit einem Kuss auf die Wange und einer herzlichen Umarmung. Sie schien aufgeregt zu sein, denn ihre lindgrünen Augen waren geweitet und hektische rote Flecken zierten die Wangen. 

„Ben, wie schön, dass du endlich da bist“, grinste sie mich an. „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen! Du weißt doch noch, am Freitag sahen wir, dass in der roten Ziegelsteinwand ein paar Steine beschädigt sind und die Fugen verschlossen werden müssen, stimmt´s?“ Da das eine der Arbeiten war, die ich möglichst lange herauszögern wollte, wusste ich sofort was sie meinte und nickte nur, damit sie gleich fortfahren konnte. Denn so wie sie mich anschaute, wäre sie sonst bald geplatzt. 

„Naja“, begann sie, „als ich versucht habe, etwas Mörtel aus den Fugen zu bekommen, damit ich die passende Mörtelfarbe besorgen kann, kamen mir die Steine gleich mit entgegen! Aber schau mal!“ Sie ergriff meine Hand und zog mich zu der Wand, in der jetzt ein kleines Loch klaffte. „Hier hinter der Wand scheint ein Hohlraum zu sein. Würdest du mir helfen, die Mauer noch ein bisschen mehr zu öffnen, um zu sehen, wie groß er ist? Ich meine, es wäre die perfekte Stelle für einen Kamin, findest du nicht auch? Es würde uns zwar ein bisschen im Zeitplan zurückwerfen, aber ich bin mir sicher, dass es sich lohnen würde.“ Sie sprach schon wieder ohne Punkt und Komma, und wie gesagt, nichts konnte sie aufhalten, wenn sie so war. Was blieb mir also anderes übrig als sie zu unterstützen? So stimmte ich zu. 

„Die Idee ist gut, aber da kommt einiges auf uns zu.“ Ich strich mir mit der Hand durch die Haare, wie ich es immer tat, wenn ich in Gedanken war. 

Cassandra wollte mir immer mit der Schere an meine blonden, etwa kinnlangen Haare, aber ich ließ sie nicht. Mir gefielen sie so recht gut. 

„Na, dann mal ran an die Arbeit!“, rief sie begeistert. 

Als wir uns mit ein paar Werkzeugen und Handschuhen ausgestattet hatten, machten wir uns daran, die Wand einzureißen. Ich war froh, dass wir im Wohnzimmer noch keine weiteren Arbeiten erledigt hatten, denn es staubte gewaltig und wir mussten uns Staubmasken aufsetzen, um nicht so sehr husten zu müssen. 

Einmal schlug Cassandra sich mit dem schweren Hammer auf den Daumen und fluchte laut vor sich hin. Als sie sich wieder beruhigt hatte, ging sie in die Küche, in der bereits eine kleine Padkaffeemaschine angeschlossen worden war. Wir waren beide verrückt nach Kaffee. 

Sie kam mit zwei dampfenden Tassen zurück, und der Daumen war schon fast wieder vergessen. 

“Unter dem Dach, wo der Efeu noch nicht hinreicht, scheinen sich Schwalben eingenistet zu haben. Wenn wir leise sind, hört man sie leise zwitschern. Horch mal!“ Sie deutete mir leise zu sein und neigte den Kopf ein wenig. Wie wir beide so still dasaßen und lauschten, konnte ich sie tatsächlich hören. Ganz leise. 

„Mal sehen, was wir noch für weitere Bewohner in deinem Hexenhäuschen finden“, versuchte ich sie wieder aufzuziehen. „Vielleicht einen Raben oder einen Waschbären auf dem Dachboden. Fehlt nur noch, dass wir die Treppe für die Luke geliefert bekommen“, zog ich sie auf. 

Meine kleinen Neckereien überging sie einfach und antwortete: „Die Treppe soll erst nächste Woche geliefert werden. Solange werden wir das Obergeschoss erst mal in Ruhe lassen.“ Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse und setzte fort: „Aber mal was anderes! Wie war dein Wochenende? Warst du gestern nicht mit dieser kleinen Rothaarigen verabredet? Ihr wolltet doch frühstücken gehen, oder? Erzähl doch mal, wie war es? Wirst du sie wieder treffen?“ Immer diese Neugierde. 

Es war für sie durchaus normal zuerst viele Fragen zu stellen, um sich dann alles im Detail erzählen zu lassen. Und sie ließ auch nie von einem Thema ab, bis sie nicht vollends das Gefühl hatte, alle wichtigen Informationen aus einem herausgekitzelt zu haben. 

„Lass uns doch in den Garten setzen, da kann ich dir alles vom Wochenende berichten. Im Pavillon sollten wir trocken sitzen können“, erklärte ich, um aus dem staubigen Raum zu kommen. 

Nachdem wir durch den jetzt schwachen Regen gehuscht waren und den trockenen Pavillon erreicht hatten, machten wir es uns auf den beiden Bänken, einander gegenüber sitzend, bequem. Es war Anfang Juni und trotz des nassen Wetters nicht kalt. Cassandra hatte sich dennoch eine alte fusselige Wolldecke mitgenommen. 

„Also“, hakte sie nach, „jetzt erzähl. Wie war es?“ 

Sie würde ja doch keine Ruhe geben, also begann ich schnell zu erzählen: „Also das mit Lisa war nichts. Sie ist ein nettes Mädchen, aber mehr auch nicht. Sehr auf ihr Studium fixiert. Da wäre kein Platz für einen Mann wie mich. Sie würde es aber trotz allem gern probieren, nur bin ich da nicht der Richtige. Eigentlich hat sie ihr Herz auch schon an jemand anderen verloren, wie sie mir beichtete. Aber das hat jetzt noch keine Chance. Es soll einer ihrer Professoren sein.“ Cassandra zog eine ihrer geschwungenen Brauen hoch. 

„Sie weiß wohl noch nicht so richtig, was sie will? Du wirst sie aber  nicht wieder treffen, oder?“ Schnell schüttelte ich den Kopf. 

„Nein, das wird nicht passieren. Wir täten uns beide keinen Gefallen damit. Also gehe ich dir weiterhin auf den Geist“ Sie setzte sich zu meiner Rechten und knuffte mir auf die Schulter. 

„Der Tag, an dem mir mein bester Freund auf den Geist geht, der muss erst mal kommen. Momentan bin ich dir viel zu dankbar, dass du mir bei meinem kleinen Projekt Hexenhäuschen hilfst. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen und pleite. Sag mal“, ein weiterer tiefer Schluck Kaffee, „wie wäre es, wenn wir heute die Mauer einfach Mauer sein lassen und die Baumärkte und Baustoffhändler abklappern? Ich brauche eh noch viel Material und habe bereits eine Liste. Der Regen scheint sich gleich zu verziehen und es wäre viel zu schade, den Tag im Staub zu verschenken.“ 

Sie hatte Recht. Ein Blick hinauf zum Himmel verriet mir, dass die Wolken sich verzogen und nichts als blauen Himmel und Sonne zurückließen. 

„Aber nur, wenn wir vorher bei Alexandros zu Mittag essen. Wir hatten schon lange kein griechisches Essen mehr.“ Ich wusste, sie konnte das nicht abschlagen. 

„Also gut, los geht´s!“, stimmte sie zu und sprang auf. 

„Ich bin pappsatt! Noch ein Reiskorn und ich platze!“ Sie stieß die Luft aus, und streichelte sich über ihren Bauch, der trotz der Massen die sie verputzt hat immer noch flach war. 

„Respekt, du hast wirklich die ganze Portion aufgegessen“, sagte ich sehr erstaunt. „Damit hätte ich nicht gerechnet. Wovon hast du dich am Wochenende ernährt? Lass mich raten, Burger und Pizza?“ Verlegen grinste sie mich an. 

„Ben, wenn du nicht kochst oder wir essen gehen, weißt du genau, was ich in mich rein stopfe. Wenn das Haus erst mal fertig ist, muss ich bei dir in die Lehre gehen. Eigentlich schon peinlich, dass du als Mann besser kochen kannst als ich.“ Wir mussten lachen. 

Kochen war wirklich nicht ihre Stärke. Sie hatte mal für eine Verabredung kochen wollten und mich dann völlig verzweifelt angerufen. Als ich endlich bei ihr gewesen war, stand Rauch in der ganzen Wohnung und man roch schon im Treppenhaus, dass etwas ziemlich angebrannt war. Und so war es dann auch gewesen, Gemüse in einem Topf völlig verkocht und angebrannt, eine Soße hatte die Konsistenz von Pudding und das Schweinefleisch in der Pfanne war zäh wie Schuhsohle geworden. Kartoffeln schwammen geschält in einem Topf mit Wasser, den sie allem Anschein nach vergessen hatte, auf den Herd zu stellen. 

Nachdem ich ihre Vorräte geplündert hatte, konnte ich dann noch ein annehmbares Abendessen zaubern. Keine Minute zu spät, denn ihr aufgeregtes Date kam mir unten im Hausflur schon mit einem riesigen Blumenstrauß entgegen. Gerade noch rechtzeitig geschafft. 

Aber genau diese Art liebte ich an Cassandra. Sie stürzte sich immer voll ins Getümmel und oft endete es in einem riesigen Chaos, das nicht selten ich auszubaden hatte. Es wurde niemals langweilig mit ihr. 

Früher als Kind hat sie oft viel Ärger von ihren Eltern bekommen, weil sie immer Tiere mit nach Hause brachte, von denen sie gedacht hatte, sie wären verletzt oder verwaist. 

Vor Einbruch eines Winters, wir waren gerade 10 Jahre alt gewesen, hatte sie fünf kleine Igelbabys gefunden und sie in ihrem Zimmer aufziehen wollen. Da ihre Eltern ihr vermutlich bis in alle Ewigkeit Hausarrest gegeben hätten, hatte ich sie mit dem Karton in dem die Kleinen saßen, mit zu meinen Eltern genommen. Nach einem Besuch beim Tierarzt und einer kleinen Einweisung, hatten wir die Igelchen mit meiner Mutter aufgepäppelt und auf unserem kleinen Balkon überwintern lassen. Im Frühling hatten wir tatsächlich alle Igel freilassen können. Ich erinnerte mich noch dran, dass wir in der Schule in Bio ein Referat darüber hatten halten dürfen. 

Meine Eltern hatten immer eine entspannte Einstellung, was solche Dinge anging. Cassandra hatte es mit ihren dagegen nicht immer sehr leicht. 

Irgendwann mussten sie es aufgeben, Cassandra in Ballettstunden oder in den Klavierunterricht stecken zu wollen. 

Als Cassandra bei einem Fest ihrer Eltern hatte vorspielen sollen, hatte sie ihre Lackschuhe und weißen Spitzensöckchen ausgezogen und mit den Zehen Alle meine Entchen gespielt. Meine Eltern, die damals eingeladen gewesen waren, applaudierten begeistert, als hätten sie noch nie etwas Schöneres gehört. Andere waren nicht so entzückt gewesen, und somit war es mit Cassandras geplanter Musikkarriere schnell vorbei gewesen. 

Ma und Pa waren nicht so erpicht auf irgendwelche Unterrichtsstunden, abgesehen von der Schule versteht sich. Meine Kindheit bestand aus den Abenteuern mit Cassandra, Skateboarden und Computerspielen. Letztere aber auch nur dann, wenn mieses Wetter und Cassandra´s Stubenarrest aufeinander fielen. Also nicht sehr häufig. 

Nachdem wir noch eine kleine Unterhaltung mit dem freundlichen Wirt, und unseren Ouzo aufs Haus getrunken hatten, bezahlten wir. Nun konnte der Großeinkauf losgehen. 

Ein Glück, dass wir von einem gemeinsamen Freund einen Transporter geliehen bekommen hatten, denn wir kauften Holzlatten und Arbeitsplatten für die Küche, die gerade im Angebot waren. 

Natürlich mussten wir in jeder Farbenabteilung Halt machen wo sie noch mehr Farbtöne und Kombinationen sah, welche ihr die Entscheidung natürlich nicht leichter machten. 

Cassandra war sehr schnell ab zu lenken. Deswegen dauerte das Einkaufen auch immer länger, als es der Normalfall gewesen wäre. Ob wir nun eine Liste hatten oder nicht. 

Oft ging ich schon voraus, um die Liste ab zu arbeiten, während sie sich mit Verkäufern über Farbnuancen und Tapeten unterhalten konnte. 

Als ich im letzten Baumarkt alle Sachen zusammen hatte und sie von den Farben erlösen wollte, entdeckte ich in einem Regal eine Lampe, die ihr mit Sicherheit gefallen würde. Eine Ähnliche hatten wir mal auf einem Trödelmarkt entdeckt und sie hatte noch etwa drei Monate später von ihr geschwärmt. 

Mit dieser bestimmte Lampe, es war eine dieser großen, gebogenen Stehlampen, unter denen man einen Lesesessel Stellen konnte, konnte ich ihr sicherlich eine große Freude machen. Der Schirm war weiß und sah aus, als wäre er mit Pergament bespannt. Das würde gut ins Haus passen. 

Schnell auf dem Rollwagen verstaut, hörte ich hinter mir schon eine Stimme und leise Schritte. 

„Hier steckst du! Schau dir mal dieses tolle Limonengrün an, was hältst du davon?“ Sie stockte, als sie das Ausstellungsstück der Lampe entdeckte. Am Glitzern in ihren Augen, wusste ich, dass ich das richtige Gespür gehabt hatte. „Oh Ben! Sieh dir diese Lampe an! Fast wie die auf dem Trödel!“ 

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen und erwiderte: „Ja, und ich dachte, ich könnte dich damit überraschen. Aber nun siehst du ja, dass ich schon eine auf dem Wagen habe. Wie kommt´s eigen...“ Weiter kam ich nicht, weil sie mich so schnell und heftig umarmte, dass wir eine andere Lampe fast umwarfen. 

„Ist das dein Ernst? Du bist der Beste! Jemanden wie dich braucht jede Frau.“ Eigentlich dachte ich, so reden Frauen nur über Accessoires wie Handtaschen, aber Cassandra war so aus dem Häuschen, dass ich es ihr kaum verübeln konnte. 

„Ach Kleine“ Ich wusste, dass sie es hasste so genannt zu werden. Genauso wie ihre Mutter sie immer Cassie nannte, als sie noch lebte. Aber ich war immerhin einen Kopf größer als sie. Endlich ließ sie mich los. 

„Also, wollen wir zur Kasse?“, fragte sie, als hätte sie das >Kleine< nicht gehört. 

„Na los, aber die Lampe zahle ich, betrachte es als verfrühtes Einweihungsgeschenk.“ 

„Ich sage ja, du bist einfach der Beste.“ Dieses Grinsen würde sie heute sicherlich nicht mehr los lassen. 

Nachdem wir die Sachen ins Haus gebracht hatten und beschlossen, es wäre für heute genug an Arbeit gewesen, lud ich sie zu mir ein. Cassandra erzählte mir, dass in ihrer WG heute eine kleine Party steigen würde. Da wir am nächsten Morgen aber früh wieder anfangen wollten, um die Mauer und den Hohlraum dahinter weiter zu untersuchen, wollten wir früh schlafen gehen und blieben über Nacht bei mir. 

Am Abend gab es frisches Popcorn und einen Horrorfilm, den wir noch nicht kannten. Einen sehr alten Schinken, von dem wir uns viel Kunstblut und Geschrei versprachen. Wir liebten solche Filme schon, seit wir das erste Mal alt genug gewesen waren, um uns einen im Kino an zu sehen. Liebesschnulzen waren zum Glück nicht Cassandra´s Lieblingsgenre, und so blieb es mir erspart. Auch eine tolle Seite an ihr. 

Der Film enttäuschte uns nicht, allerdings waren wir beide nach dem Marathon durch die Baumärkte so müde, dass wir ziemlich schnell und unbequem auf der Couch einschliefen. Keiner hatte den Wecker gestellt. 

Kapitel 2

Bei dem Duft von frischem Kaffee und einem saftigen Schokomuffin konnte Cassandra nicht länger schlafen. Eine Aspirin legte ich gleich neben ihren Becher, da sie sehr unbequem auf der Lehne des Sofas gelegen hatte, und sicherlich Schmerzen haben würde. Nicht unbedingt die beste Voraussetzung für unser heutiges Vorhaben, der Mauer zu Leibe zu rücken. 

Dankbar nahm sie die Tablette und wir frühstückten ausgiebig. 

„Daran könnte ich mich glatt gewöhnen“ schmatze sie, während auch die letzten braunen Krümel in ihrem Mund verschwanden. 

„Das glaube ich dir gern. Wie sehen deine Pläne für heute aus? Wenn sich herausstellt, dass wir tatsächlich einen Kamin einbauen könnten, sollten wir uns einen Fachmann kommen lassen, denn das mit dem Abzug ist immer so eine Sache, und von den Brandschutzbestimmungen habe ich auch keine Ahnung. Gerade bei dem alten Häuschen sollten wir darauf achten. Aber ich glaube, dass ich schon weiß, an wen wir uns da wenden können. Muss mir nur noch mal die Nummer von meinem Pa holen.“ 

Bei dem Gedanken Arbeiten im Haus in fremde Hände geben zu müssen, verzog sie den Mund. Ihr gefiel es gar nicht, denn Cassandra wollte gern alles selbst machen. Bisher war es uns auch ganz gut gelungen. Selbst die Elektroleitungen konnte ich neu legen. Aber bei solch wichtigen Dingen wie dem Kamin wäre es einfach nicht klug gewesen, keinen Fachmann hinzuzuziehen. Das wusste sie auch. 

„Es wäre von Vorteil, wenn du jemanden kennst. Vielleicht können wir die Arbeiten gemeinsam erledigen und ich kann so etwas einsparen.“ 

„Das bekommen wir schon hin, mach dir keine Sorgen.“

Natürlich musste sie ein bisschen auf das Geld achten. Als freie Journalistin verdiente sie nicht die Welt und das Geld, das ihre Eltern ihr hinterließen, war sicher angelegt worden. 

Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie waren auf dem Weg zu Freunden der Familie, als ein betrunkener LKW Fahrer mit einem 40 Tonner sie auf der stark befahrenen Autobahn abdrängte. Er war wahrscheinlich in einen Sekundenschlaf gefallen, da er seine Pausen laut Protokoll nicht eingehalten hatte. Cassandras Eltern waren nach Angabe der Notärzte sofort tot. 

Nach dem Tod begann eine schlimme Zeit, in der sie fast nur bei mir in der Wohnung gelebt hat, weil sie die Unruhe in der WG nicht aushalten konnte. 

Ihr damaliger Freund fühlte sich zurückgesetzt, weil Cassandra lieber bei mir sein wollte, um durch die schwere Zeit zu kommen. Er hatte kein Verständnis und beendete die Beziehung nur eine Woche nach dem Unfall. Es dauerte lange, bis sie sich wieder gefangen hatte. Das war auch einer der Gründe, warum wir wie Geschwister waren. Wir waren immer für einander da. 

Im Haus hatte sich der Staub gelegt und wir konnten kleine Spuren von Pfoten darin erkennen. 

„Oh nein“, stöhnte sie. „Nicht auch noch Ratten. Wir sollten Fallen aufstellen, damit ich sie hier raus bekomme. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich frage mich allerdings, wie die ins Haus gelangen, ich habe doch gar keinen Keller.“ 

„Die finden immer einen Weg. Aber auch damit werden wir fertig. Und sonst holen wir dir zwei Katzen aus dem Tierheim, die sich dem Problem bestimmt annehmen. Wäre doch schön, oder?“, schlug ich ihr vor. 

„Ja, das wäre eine Überlegung wert. Aber es dürften keine verwöhnten Hauskatzen sein, eher Katzen vom Bauernhof, die jagen wenigstens noch.“ Nachdenklich tippte sie sich mit dem Zeigefinger an die Nase. 

„Also, ran ans Werkzeug und die Masken auf!“ Jetzt drehte sie wieder auf. Heute hatten wir einiges vor. 

Je größer wir das Loch in der Wand machten, desto schwerer ließen sich die roten Steine lösen. Zwischenzeitlich baute ich noch aus Kanthölzern eine kleine Stütze, damit uns nicht die Mauer auf den Kopf fiel, falls sie instabil würde. 

Endlich hatten wir ein Loch, das groß genug war, damit ich hinter die Mauer kriechen konnte. 

Erstaunt stellten wir fest, dass tatsächlich genug Platz war, damit wir beide uns dahinter aufrecht bewegen konnten. Nachdem wir Taschenlampen und einen Strahler geholt hatten, sahen wir wie groß der Hohlraum war. Man konnte locker stehen und es wirkte wie ein kleines Zimmer. 

„Wow“, staunte Cassandra. „Wer hätte gedacht, dass sich hier so viel Platz versteckt? Das sind ja locker zwei Meter, die dem Wohnzimmer fehlen! Aus welchem Grund würde man ein Zimmer so verkleinern?“ 

„Vielleicht ist die Außenwand hier sehr marode und man hat die Mauer nachträglich gezogen. Aber es ist keine Dämmung benutzt worden, und die Wand sieht trocken aus“, versuchte ich eine plausible Lösung zu finden. 

„Für einen Kamin wäre dieser Raum wirklich zu schade. Siehst du, sogar der Holzfußboden geht unter der Mauer weiter. Wirklich merkwürdig.“ Ich leuchtete in Cassandras Richtung, um zu sehen, was sie machte. Sie sah nachdenklich aus. „Weißt du was, Ben?“ Sie ließ mir, wie so oft, keine Zeit zum Antworten. „Wir sollten die Wand komplett entfernen. Die Steine lagern wir erst mal im Garten, vielleicht können wir sie ja noch mal gebrauchen. Aber es wäre zu schade, diesen Raum zu verschenken. Was meinst du?“ Irgendwie hatte ich fast befürchtet, dass sie das sagen würde. Aber wie konnte ich dagegen was einwenden, wo sie doch Recht hatte? 

„Hast du irgendwo eine Schubkarre? Die Steine in den Garten zu schleppen, würde keinen Spaß machen.“ Das reichte ihr als Bestätigung. Sofort strahlten ihre grünen Augen. So sah ich sie am liebsten. 

„Irgendwo treiben wir bestimmt eine auf. Haben deine Eltern nicht noch eine? Ruf doch gleich mal an.“ „Ja, ich ruf Ma gleich mal an, sie wird sich freuen.“ 

Und wie sie sich freute. 

Dank des Transporters, ersparten wir uns fast eine Stunde Bahnfahrt quer durch die Hamburger Innenstadt, die um diese Uhrzeit ziemlich überfüllt sein würde. 

Als wir am Haus meiner Eltern ankamen, war meine Mutter gerade in ihrem üppigen Kräutergarten. Sie trug ihre stark befleckte Küchenschürze. Das konnte nur bedeuten, dass in der Küche schon etwas Leckeres auf dem Herd stand. Wie zur Bestätigung duftete es schon köstlich aus dem geöffneten Küchenfenster, als wir daran vorbeigingen, um Ma im Garten zu begrüßen. 

„Evelyn! Schön dich zu sehen! Wie geht es dir?“ Cassandra war quasi von meinen Eltern adoptiert worden. Gerade in der Zeit nach dem Unfall, als Cassandra bei mir wohnte, war meine Mutter zu einer sehr wichtigen Person in ihrem Leben geworden. 

„Ihr kommt genau zur richtigen Zeit. Das Essen ist gleich fertig. Ihr müsst ja ganz hungrig sein, von der vielen Arbeit. Kommt her, lasst euch drücken!“, sagte Ma, als sie aus ihrem Beet gekrochen kam. Sie trug noch an einer Hand einen Gartenhandschuh. Auf ihrer Schürze stand >Beste Mama der Welt<. Ich erinnerte mich, ihr diese mal zum Muttertag geschenkt zu haben. Ma trug in der Küche immer Schürzen. Eine Angewohnheit, die ich übernommen hatte, als ich auszog. 

Viele Küsschen und Umarmungen wurden verteilt. 

„Jetzt aber schnell in die Küche! Pa wird auch gleich kommen. Würdet ihr mir helfen, den Tisch zu decken?“ 

„Ja, Ma“, erklangen Cassandra und ich im Chor. Es war inzwischen ganz normal, dass Cassandra meine Eltern hin und wieder mit Ma und Pa ansprach. Sie gehörte für alle zur Familie. 

Der große Esstisch war gerade gedenkt, als mein Vater eintrat. Er trug noch seinen schweren braunen Mantel, obwohl draußen schon so angenehme Temperaturen herrschten. 

„Evelyn mein Schatz! Das duftet schon wieder wunderbar! Kinder, ihr seid ja auch hier.“ Er kam direkt auf uns zu, als er uns sah. „Na, wie läuft die Arbeit im Haus? Kommt ihr gut voran?“, fragte er gleich neugierig, während er uns begrüßte. 

„Wir erzählen es gleich, wenn Ma aus der Küche kommt. Sie wird es auch interessieren, was wir heute gefunden haben.“ erklärte ich, während wir in die Küche gingen, um zu sehen, ob wir Ma helfen konnten. Die drückte uns allerdings bereits voll beladene und dampfende Schüsseln in die Hände und wir nahmen alle am Tisch Platz. 

Es gab geschmorte Rinderbrust, die meiner Ma immer so zart gelang, das man kein Messer brauchte, um sie zu zerteilen. Dazu wurden Petersilienkartoffeln gereicht und gebackener Blumenkohl mit zerlassener Butter. 

Eine Zeit lang hörte man nur das bedächtige Klirren von Besteck auf Porzellan. 

„Kinder, nehmt euch nach, es ist noch genug da“, ermunterte Ma uns, noch mehr zu essen. 

Sie machte sich immer Sorgen, dass wir nicht genug aßen. Dabei hatte sie mich gelehrt zu kochen und wusste, dass Cassandra häufig bei mir war, um sich nicht nur in der WG mit Fastfood zu ernähren. 

„Danke für die Einladung zum Essen, Evelyn. Es ist wie immer hervorragend. Und genau das Richtige, bei der Arbeit die heute noch auf uns zu kommt“, leitete Cassandra die Unterhaltung über das Haus ein, als sie schon die zweite Portion auf dem Teller hatte. 

„Oh ja“, fügte ich hinzu, als sie mich ansah und sich ein großes Stück Fleisch in den Mund steckte. Sie schien zu hoffen, dass ich weiter erzählen würde.

Schnell war alles über unsere Fortschritte und den Raum hinter der Mauer erzählt. Meine Eltern waren begeistert von unseren Plänen und hatten noch ein paar nützliche Vorschläge. 

„Wir haben im Werkzeugschuppen bestimmt noch so ein Gerät, damit ihr die Feuchtigkeit in der Außenmauer messen könnt. Vielleicht müsst ihr wieder eine Wand davor setzen, aber nicht so weit im Raum.“ Pa hatte immer gute Einfälle. „Und um die Schubkarre müsst ihr euch auch keine Gedanken machen.“ fügte er noch hinzu. 

„Ja und Fallen für die Nager haben wir sicherlich auch noch“, fiel meiner Mutter ein. „Wobei die Idee mit den Katzen auch sehr gut ist. Da hast du gleich langfristig eine Lösung.“ Sie dachte immer praktisch. 

„Das wäre uns wirklich eine große Hilfe. Aber vorher helfe ich Evelyn mit dem Geschirr. Keine Widerrede!“ sagte Cassandra sehr bestimmend und stand auf. Sie wusste, dass meine Mutter sich eigentlich nicht gern helfen ließ. Aber so hatte Ma gar keine andere Wahl, als sich helfen zu lassen. 

„Danke Kind, aber lege dir bitte eine Schürze an.“

Pa und ich gingen schon mal in den Geräteschuppen. Da etwas zu finden würde wahrscheinlich ziemlich lange dauern. Hier hatte sich in vielen Jahren einiges angesammelt und darüber einen Überblick zu behalten, war nicht einfach. Mein Vater und ich fanden jedoch neben dem Messgerät noch ein paar nützliche Halogenstrahler und zwei Kabeltrommeln.

Nachdem die Küche wieder aufgeräumt und im Schuppen alles zusammen gesucht war, fuhren wir wieder zum Haus zurück. Wir wollten es heute noch schaffen die ganze Mauer ein zu reißen.

Natürlich kamen wir nicht ohne die eingepackten Reste vom Essen und viele Küsse meiner Mutter fort. Sie verabschiedet sich immer, als würden wir uns für Monate nicht mehr sehen, nicht als würden wir nur am anderen Ende von Hamburg leben.

Als wir ins Wohnzimmer kamen sahen wir, dass meine provisorische Stütze nicht lange gehalten hatte. Mehr als die halbe Mauer war eingestürzt und hatte eine gewaltige graue Staubwolke aufgewirbelt. 

„Wie gut, dass sie wenigstens gehalten hat, als wir noch drunter saßen“, fing Cassandra an zu lachen, was jedoch in einem Hustenanfall endete.

„Also, die Mauer hat uns einen großen Teil der Arbeit abgenommen, wie es scheint. Schade, dass sie nicht auch schon allein den Weg in den Garten gefunden hat“, bedauerte ich, jedoch nur halb gespielt. 

„Ich hole uns schon mal die Schubkarre, such du doch bitte die Handschuhe heraus. Jetzt wird erst mal der Schutthaufen raus geschafft“, beschloss ich. Vorher würden wir keine anderen Arbeiten beginnen können, weil alles voller Steine und Schutt war.

Nachdem etwa die Hälfte der Steine nach draußen gebracht war, hockte sich Cassandra in den Rasen. Sie war über und über mit Staub bedeckt. Ihre langen Wimpern waren ganz grau, ebenso die dunklen Haare. Im Gesicht hatte sie Spuren, wo sie sich immer eine widerspenstige Strähne wegzuwischen versuchte. Unter all dem Grau stachen ihre lindgrünen Augen besonders gut hervor. Solch grüne Augen hatte ich bei noch keiner anderen Person gesehen. Auch nach der langen Zeit unserer Freundschaft, faszinierten sie mich immer noch. Einfach grün, ohne braune oder graue Einschlüsse. Im Gegensatz dazu kamen mir meine dunkel braunen Augen geradezu unscheinbar und langweilig vor.

Eine Weile sagten wir beide nichts und genossen die Ruhe in der Sonne. Es war sehr angenehm, dass man auch solch stille Momente mit Cassandra haben konnte. Sie war nicht darauf bedacht, immer eine Unterhaltung führen zu müssen, wie man es manchmal von Frauen kannte. 

Scheinbar hatte sie dann aber doch genug von der Stille, denn plötzlich schien ihr etwas einzufallen. 

„Jetzt wird es doch nichts mit meinem Kamin. Schade eigentlich“, bedauerte sie. 

„Na warte erst mal ab. Vielleicht müssen wir ja wieder eine Mauer aufbauen, dann mauern wir gleich einen ein. Und wenn nicht, schauen wir uns nach einem freistehenden Kamin um. Die sind sicherlich nicht so schwer einzubauen“, versuchte ich sie aufzuheitern. Es schien zu funktionieren, denn sie lächelte wieder und schien sich es sich schon vorstellen zu können. Sie nickte. 

„Machen wir uns lieber weiter an die Arbeit. Wir sollten wenigstens so viele Steine hinaus schaffen, dass wir auch den Rest der Mauer entfernen können.“ Jetzt mit neuen Ideen, war sie wieder voller Tatendrang.

Die restlichen Mauerstücke und Steine waren weg, der grobe Staub im Staubsauger verschwunden und der Raum das erste Mal in voller Größe komplett zu sehen. 

„Wow, das macht ganz schön was aus, oder? Wenn die Wände nun noch hell gestrichen werden, ist es ein toller großer Raum. Was sagst du dazu?“, wollte Cassandra wissen. 

„Ich bin beeindruckt. Ohne die roten Steine sieht es hier ganz anders aus. Viel Freundlicher. Aber mir ist etwas aufgefallen, als ich dort hinten gesaugt habe. Ich zeige es dir. Wird noch ein bisschen Arbeit bedeuten“, deutete ich an und ging zu der Stelle, an der ich ihr etwas zeigen wollte. „Hier ist das Parkett lose und wenn man drauf klopft, klingt es hohl. Als wenn nichts darunter ist.“ 

„Du meinst, es ist schon wieder ein Hohlraum? Vielleicht hab ich ja doch noch einen Keller“, witzelte sie. „Bevor wir aber jetzt noch ein Loch in den Boden machen und auf weitere Dinge stoßen, machen wir für heute Feierabend. Was hältst du davon, wenn wir heute mit der WG einen trinken? Die Jungs beschweren sich schon, dass sie mich in der letzten Zeit gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und da ich ja bald komplett ausziehen werde, wollen sie noch ein bisschen Zeit mit mir verbringen. Du bist natürlich herzlich eingeladen.“

Ja, die WG war immer ein bisschen speziell. Das Cassandra es überhaupt so lange in dem wilden Chaos ausgehalten hatte, begründete ich mit der Tatsache, dass sie zeitweise mehr bei mir war, als bei sich zu Hause.

In Maßen waren die Jungs aber schon auszuhalten und deswegen entschied ich mich, heute Abend mit in die WG zu fahren. Es würde bestimmt lustig und unterhaltsam werden. Also fuhren wir schnell zu mir, nachdem wir noch ein paar Fallen für die Ratten aufgestellt hatten.

Während ich mich duschte und den Dreck des Tages in den Abfluss hinunter fließen ließ, machte Cassandra unten in der Küche noch ein wenig vom Mittagessen warm. 

Als ich sauber und frisch aus dem Bad kam, stand auf dem Esstisch schon alles bereit und wir aßen, während irgendetwas nebenbei im Fernseher lief. 

Nachdem auch die Reste aufgegessen waren, stellten wir schnell alles in die Geschirrspülmaschine. Das war ein bisschen Luxus, den ich mir in meiner Junggesellenbude leistete, da ich eh sehr selten allein aß, und einfach zu faul für den Abwasch war.

Inzwischen war es schon etwa 20 Uhr und wir machten uns mit einer Kiste Bier auf den Weg in die Wohngemeinschaft. Da würden sich die Jungs sicher freuen.

Wie erwartet, freuten sich die Bewohner riesig uns zu sehen. Wir waren etwa alle im gleichen Alter, wobei man das aber nicht immer glauben wollte. Es war ein wilder kleiner Haufen chaotischer Studenten.

Da war Christian, der vor zwei Wochen 24 geworden war. Ein eher unscheinbarer Typ, mit aschblondem Haar und grauen Augen. Er war sehr still, und wenn man Computerprobleme hatte, war er der Mann dafür. Es gab immer einen Weg und er fand ihn. Für sein IT-Studium war er aus Dresden nach Hamburg gezogen und wurde oft wegen seines Dialekts aufgezogen, was er aber sehr entspannt sah.

Dann gab es da Niklas, der Kleinste und Quirlige der Bande. Er war 23 Jahre alt und immer für einen Lacher gut. Es fiel ihm immer schwer still zu sitzen, aber er war eine Seele von Mensch. Wenn jemand bedrückt war, ließ er so lange nicht locker, bis derjenige wenigstens grinste. Sein Interesse an Männern war in der Wohngemeinschaft kein Problem.

Zuletzt gab es da Dominik. Ein echt sympathischer Kerl von Mitte 25, der anfänglich jedoch Probleme mit mir hatte. Insgeheim hatte er sich ein wenig in Cassandra verguckt und nahm es mir übel, dass ich so viel Zeit mit ihr verbrachte. Sobald er jedoch merkte, dass mein Interesse an ihr rein brüderlicher Natur war, freundeten wir uns sogar an. Zwischenzeitlich hat er schon einige Körbe von seiner Mitbewohnerin bekommen. Leider war er mit seinen etwa 1,60 Metern für die 1,73 große Cassandra zu klein. Aber er versuchte es immer wieder. Zwischen uns ist es zu normal geworden, uns „Großer“ und „Kleiner“ zu nennen. Ich überragte ihn schließlich mit fast 30 cm.

Während Cassandra sich duschte, saß ich mit den Jungs zusammen. Sie fragten mich über das Haus aus. Sie waren sehr erstaunt über das, was ich zu erzählen hatte und boten ihre Hilfe an. Auch wenn ihnen der Gedanke missfiel, dass Cassandra bald ausziehen würde und sie sich einen neuen Mitbewohner suchen mussten, waren sie doch entschlossen, uns zu unterstützen. 

Wir verabredeten, dass ich sie anrufen würde, sobald wir Hilfe benötigen würden.

Cassandra ließ sich im Badezimmer reichlich Zeit und wir beschlossen ein bisschen an der Spielkonsole zu spielen. Die Jungs hatten ein neues Spiel, das sie mir unbedingt zeigen wollten. 

Da sie schon viele Stunden an dem Spiel verbracht hatten, verlor ich natürlich kläglich. Das wurde von der WG gefeiert, denn solche Gelegenheiten boten sich nicht oft. 

Zu unserer Schande wurden wir meistens von unserer Freundin geschlagen. Sie hatte ein einzigartiges Talent für das Spielen an der Konsole. Obwohl sie immer betonte, keinen Spaß daran zu haben. Nur glaubten wir ihr das nicht so recht. Sie bekam immer diesen eigenartigen Ausdruck in den Augen, wenn sie wieder ein paar Spiele gewonnen hatte.

Wir beendeten unser Spiel, als wir hörten, wie oben das Badezimmer geöffnet wurde und die Musik verstummte.

Die Maisonette Wohnung hatte den Vorteil, dass auf beiden Etagen ein Bad war und Cassandra sich die obere Etage gesichert hatte. Dort gab es nämlich nur ein Zimmer, mit einem kleinen Balkon, und sie hatte auch das Bad für sich allein. Darüber musste sie sich bald keine Gedanken mehr machen, denn dann hatte sie das ganze Haus für sich.

Der Abend wurde sehr lustig. Die Jungs waren aufgedreht und es schien, als gaben sie eine Abschlussfeier für ihre Mitbewohnerin. Es war eindeutig, dass sie sie nicht gehen lassen wollten. Vor allem Dominik, der nicht von ihrer Seite wich und immer drauf achtete, dass sie noch genügend Bier hatte. 

Kapitel 3

Wie vermutet, stimmte etwas mit dem Fußboden, der hinter der Mauer aufgetaucht war, nicht. Während Cassandra frische Brötchen und Erfrischungsgetränke besorgte, fing ich an, das Parkett auf zu nehmen. Das war nicht weiter schwer, da alles lose auf dem Untergrund lag. 

 Darunter kam weiteres Holz zum Vorschein, aber ein helleres. Es schien eine Platte zu sein. Ich klopfte auf der Platte herum und bemerkte, dass darunter ein weiterer Hohlraum sein musste.

 Ich hörte das Auto vorfahren, stand auf und klopfte mir den grauen Staub aus der Arbeitshose, um die Getränke aus dem Wagen zu holen, damit Cassandra nicht die schweren Kisten schleppen musste.

 Dieses Haus war mir ein Rätsel. Ein ziemlich unheimliches noch dazu.

 Die Brötchen waren back frisch und noch herrlich warm, so dass wir uns entschieden, erst zu frühstücken.

 Gestärkt und neugierig, was wir heute noch entdecken würden, machten wir uns gemeinsam wieder an die Arbeit. „Was denkst du, was uns hier noch erwartet? Ich meine, wir konnten den Dachboden noch nicht betreten. Wer weiß, was Tante Meredith nach oben geschafft hat, bevor sie starb. Und dann noch, was Onkel Fred alles in Kisten einfach auf den Boden gestellt hatte, weil er nicht wusste, wohin damit, als er die Möbel ausräumte. Leider habe ich gar keine Erinnerungen an dieses Haus, oder an meine Tante. Meine Eltern sprachen auch nie über sie. Als ich erfuhr, dass ich ihre Erbin bin, fiel ich aus allen Wolken“, sie schauderte bei dem Gedanken daran. 

 „Ja, aber dennoch wolltest du dieses Haus unter allen Umständen behalten und renovieren. Und bisher hatten wir doch eine Menge Spaß, oder nicht? Wenn ich dich an die Wasserschlacht beim Putzen der Badewanne erinnern darf“, versuchte ich sie von ihren schlechten Gedanken abzulenken. Es schien zu funktionieren, denn plötzlich ergriff sie ein langes, schmales Stück des losen Fußbodens, das hinter ihr gelegen hatte, und hielt es mir entgegen, wie ein Schwert im Kampf. 

 „Lust auf eine Revanche?“ Es funkelte schelmisch in ihren Augen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

 Es war ein ausgeglichener Kampf, bis wir in den Garten kamen und ich rückwärts über kleines Gebüsch fiel. Ohne den Triumph des Sieges aus zu kosten, ließ sie sich neben mir ins Gras fallen und bekam einen für sie so typischen Lachanfall.

 „Dein Gesicht war so irre witzig, als du gefallen bist!“, japste sie.

 „Ha ha, sehr lustig.“ Ich tat, als würde ich schmollen, aber das verlieh ihrem Lachen nur noch mehr Schwung.

 So lagen wir noch einen Augenblick nebeneinander auf dem Rasen und ließen uns ein bisschen von der Sonne bescheinen. Die Luft war wunderbar warm und erfüllt von dem Duft der Vielzahl bunter Blumen, die in unförmigen Beeten in dem großen Garten gediehen. Der Himmel war strahlend blau und nur ein paar kleine Wölkchen waren zu sehen.

 Das war doch für meinen Urlaub genau das richtige Wetter. Cassandras Atem beruhigte sich und wir hätten noch eine Ewigkeit so weiter daliegen können.

 „Wir sollten weiter machen, ich will wissen, was unter diesem Boden steckt!“ Mit diesen Worten weckte ich auch ihre Neugier aufs Neue, und wir machten uns wieder ans Holz.

Es war noch viel mehr Parkett lose, als vorerst vermutet, aber nach etwa 3 Quadratmetern merkte ich, wie sich ein Teil der Platte bewegte, wenn ich mich drauf kniete.

 Nachdem ich eine Taschenlampe geholt hatte, entdeckte ich eine Fuge, die ich mit den Fingern nach zu zeichnen begann. Als ich wieder am Ausgangspunkt ankam und der Staub grob beseitigt war, nahm ich die Umrisse eines geschlossenen Halbkreises wahr. In der Hälfte des Halbkreises war eine kleine Kerbe in den Rand geritzt worden. Wenn man dort etwas hinein stemmte, würde man die Platte vielleicht heben können, denn ich sah keine Spuren einer Befestigung.

 „Was ist das?“, fragte Cassandra, die den Halbkreis nachdenklich betrachtete. 

„Lass uns versuchen die Platte anzuheben und herausfinden, was sich darunter versteckt“, entgegnete ich, während ich nach etwas suchte, um eine Hebelwirkung erzielen zu können. 

 „Hier, die Brechstange! Das sollte funktionieren, oder?“, fragte sie und hielt mir das Eisen hin.

 „Ja, könnte klappen. Geh mal bitte einen Schritt zur Seite.“, bat ich, setzte die Brechstange bei der Kerbe an und hebelte. „Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht öffnen könnten.“

 Mit einem Knarzen schwang die Platte auf und wirbelte eine graue Staubwolke auf, als sie auf der anderen Seite dumpf im Staub aufschlug. Ein muffiger Geruch machte sich breit, und wir hatten es eilig, die Fenster und Türen weit zu öffnen, um frische Luft ein zu lassen.

 „Was zu Hölle ist das? Das riecht so, als wäre es ewig nicht geöffnet worden“, stieß Cassandra angewidert hervor und hielt sich die Nase zu. 

„So war das höchst wahrscheinlich auch gedacht. Wer sonst baut einen Fußboden und eine weitere Mauer so ein, damit dieses Loch unentdeckt bleibt? Ich befürchte, hier wurde absichtlich etwas versteckt“ vermutete ich.

 „Was sich wohl darunter verbirgt? Ich bin mir nicht sicher, ob ich  es wirklich wissen will. Irgendwie ist das ziemlich unheimlich“, murmelte die Frau, die sich sonst immer als Erste ins Abenteuer stürzte.

 „Lass es uns herausfinden! Aber vorher stellen wir die Strahler und Kabeltrommeln bereit. Es scheint tief hinunter zu gehen, und irgendetwas sagt mir, dass es da unten keinen elektrischen Strom geben wird“, mutmaßte ich nach einem Blick mit der Taschenlampe in das Loch.

 „Und die Leiter sollten wir nicht vergessen.“

 Die ausziehbare Aluleiter, die wir für Arbeiten an der Regenrinne am Dach im Garten deponiert hatten, ließ sich auf eine Höhe von etwa 4,60 Metern ausziehen. Langsam ließen wir die Leiter in das Loch hinab gleiten, bis wir einen Widerstand spürten. Die Leiter rastete in die Sicherung ein und war nun stabil genug, um uns zu tragen. Sie ragte kaum noch 20 cm aus dem Loch hervor, was darauf schließen ließ, dass es ziemlich tief hinab ging.

 Wir beschlossen, dass ich mit der Taschenlampe zuerst ein Stück hinabsteigen würde, um zu sehen, was uns erwartete und dann die Kabeltrommeln und Strahler entgegen zu nehmen. Cassandra sollte dann nachkommen, wenn ich unten ein bisschen Licht geschaffen hatte.

 Mir lief es eiskalt den Rücken runter, bei dem Gedanken, was wir dort unten entdecken würden.

Nachdem Cassandra noch ihren Willen durchgesetzt hatte, mich mit einem Kletterseil auszustatten, das wir an dem steinernen Teil des Treppengeländers befestigten, wagte ich den ersten vorsichtigen Blick in die Dunkelheit. Sprosse für Sprosse stieg ich langsam hinab, um nicht den Halt zu verlieren. Offengestanden war ich aber auch nicht sonderlich scharf darauf, zu schnell ins Ungewisse zu springen.

 Ein letzter Blick zu Cassandra, die ziemlich hilflos im Staub am Rand des Lochs kniete, und nichts mit sich anzufangen wusste, und ich war mit der nächsten Sprosse komplett von Dunkelheit umgeben.

 Mit der angeschalteten Taschenlampe in der einen Hand und mit der anderen fest die Leiter umklammert, beschloss ich mich ein erstes Mal umzusehen. Nur gab es nicht sehr viel zu sehen. Die Dunkelheit schien wie ein samtiger Schleier und so dicht, dass ich nur ein paar Meter weit leuchten konnte. Winzige Staubpartikel schimmerten und tanzten im Strahl der LED´s meiner Lampe.

 Die Decke wurde ganz in der Nähe von einer Säule gestützt. Eine weitere Sprosse in die Tiefe und ich bemerkte, dass die Decke gebogen war, wie in den gewölbeartigen Weinkellern, die ich mit meinen Eltern immer besuchte.

 So sehr ich mich auch bemühte und die Augen zusammenkniff, konnte ich keine Wand entdecken, die mir ein Ende des Raumes zeigen würde. Es war wirklich stockfinster und furchtbar staubig.

 Ich beschloss, jetzt bis auf den Boden hinabzusteigen, da ich auf diesen Zwischenhöhen nicht viel mehr sehen konnte, als von oben.

 Wieder festen Boden unter den Füßen zu haben war ein gutes Gefühl, wenn da nur die Dunkelheit nicht gewesen wäre.

 Ohne mich zunächst mit dem schwachen Strahl meiner Taschenlampe umzusehen, stieg ich die Leiter wieder ein Stück hinauf und bat Cassandra mir eine Kabeltrommel zu geben. Als ich diese sicher am Boden aufgestellt hatte, bekam ich von oben auch schon den ersten Halogenstrahler gereicht. Den wollte ich als erstes anschließen, um mehr Licht für die nächsten Schritte zu haben.

 Das neue Licht war so hell, dass ich die Augen im ersten Augenblick zusammen kneifen und sie langsam an die Helligkeit gewöhnen musste. Was ich dann sah, ließ mir den Atem stocken.

Es einen Kellerraum zu nennen, war schlichtweg untertrieben. Es glich eher einer Halle, mit mehreren Säulen und die Größe war trotz des Lichts noch nicht richtig ein zu schätzen. Wir brauchten noch mehr Licht und Cassandra musste schnell herunter kommen und das alles bestaunen.

 Dank eine weiteren Kabeltrommel und fünf Strahlern war der Raum nun gut ausgeleuchtet und ich ließ sie herunter kommen.

 Der Anblick der sich uns bot war einfach nur beeindruckend. Niemals hätten wir etwas derartig Großes unter dem Haus erwartet. Keiner traute sich auch nur einen Ton zu sagen. So waren nur unsere Schritte zu hören, die scheinbar ins Endlose hallten, während wir uns umsahen.

 Die Säulen, sechs Stück an der Zahl, waren eckig und aus roten Ziegelsteinen in einem Abstand von etwa 4 Metern gemauert worden.

 Die Decke schätzten wir auf eine Höhe von etwa 4,40 Metern, da die Leiter gerade gereicht hatte. Die Konstruktion erinnerte, jetzt komplett gesehen, ein bisschen an die einer Kirche. Weiß gestrichen und mit fast schwarzen Holzbalken durchzogen, war sie beeindruckend und schön anzusehen.

 Die Wände waren edel mit dunklem Holz vertäfelt worden. In unregelmäßigen Abständen waren große Gemälde angelehnt, die wahrscheinlich mal aufgehängt gewesen waren. Was sich auf den Gemälden abgebildet war, konnten wir nicht erkennen, da sie alle mit riesigen Tüchern aus weißen Leinen, so schien es mir, abgedeckt waren. Irgendwer hatte sie gegen den Staub der Zeit schützen wollen. Und allem Anschein nach war eine Menge Zeit vergangen, denn wo man auch hinblickte, lagen dicke Schichten von Staub. Unsere Turnschuhe hinterließen eine Spur auf dem Fußboden, dessen Farbe gar nicht richtig zu erkennen war.

 In einer Ecke des Raumes waren offensichtlich Möbelstücke, ebenfalls unter Tüchern verborgen, zusammengestellt worden. Als wir eine der Decken herunter zogen und Cassandra durch den aufgewirbelten Staub einen Niesanfall bescherten, beförderten wir eine gewaltige, fast schokoladenbraune Ledercouch ans Licht. Mit angelaufenen Messingnieten und einer sehr hohen Rückenlehne nicht mehr ganz zeitgemäß, aber sicherlich sehr gemütlich.

 Etwas, ebenfalls sorgfältig Abgedecktes, erweckte meine Neugier. Es war sehr groß und langgezogen. Gemeinsam schafften wir es, eines der Tücher zu entfernen. Es stellte sich als eine messingfarbene Wendeltreppe heraus, die sicherlich anstelle einer Leiter für den Auf- und Abstieg benutzt worden war.

 Noch ein Indiz dafür, dass dieser Raum verborgen bleiben sollte. Wer würde sich sonst die Mühe machen, extra die Treppe ab zu bauen? Ansonsten gab es nur eine Menge Platz und Staub soweit das Auge reichte.

 Ein Blick in Cassandras Gesicht reichte um mir zu bestätigen, dass sie keine Ahnung hatte, was sie davon halten sollte. Wir hatten keine vernünftige Erklärung, warum sich dieser Raum unter dem kleinen Haus befand und warum man ihn so sehr versucht hatte, ihn zu verstecken.

„Wer baut so etwas bitte unter der Erde und macht dann den einzigen Zugang einfach dicht? Wieso sollte dieser Raum versteckt bleiben? Das macht doch keinen Sinn!“ Cassandra stocherte wahllos in ihren gebratenen Nudeln mit Ente herum, die wir uns am Abend vom Chinesen zu mir nach Hause liefern ließen. 

„Vielleicht sollten wir mal im Internet recherchieren, was es damit auf sich haben könnte. Der Raum ist vielleicht schon vor dem Haus gebaut worden. Auch wenn es schon sehr alt ist, glaube ich, dass der Raum noch viel älter ist. Wenn wir herausbekommen, was vorher auf dem Grundstück stand, werden wir vielleicht ein bisschen schlauer“, schlug ich vor. „Was hast du nun damit vor? Ich meine, mal ganz abgesehen davon, was wir darüber herausfinden.“ 

 „Für einen Partykeller ist es vielleicht ein bisschen protzig“, kicherte sie. „Ehrlich, ich habe nicht die geringste Ahnung. Der Grundriss hat wahrscheinlich mehr Quadratmeter als mein ganzes Haus gesamt. Denkst du, wir bekommen die Treppe wieder aufgestellt? Vielleicht sollten wir uns auch die Gemälde anschauen. Es könnte Hinweise verbergen, was dort vor langer Zeit stattgefunden hat. Und wie sollen wir um Gotteswillen den Staub da raus bekommen?“ Sie ließ die Gabel auf dem Teller fallen und stütze den Kopf auf die Fäuste. Wir waren beide völlig Ahnungslos. Wer hätte auch mit so einem Fund gerechnet?

 Für den Abend ließen wir es gut sein. Zwar stellten wir noch ein paar Grübeleien an, aber da es ein langer Tag gewesen war, entschlossen wir bald ins Bett zu gehen. Morgen würden wir vielleicht schon schlauer sein.

Nach dem üblichen Frühstück in meiner Wohnung, machten wir uns auf den Weg zurück ins Haus um die Geschichte des gefundenen „Kellers“ zu erfahren. Beide waren wir ziemlich aufgeregt, denn keiner wusste, was uns heute erwartete. 

 Zuallererst waren wir uns einig, dass wir den Raum weiter untersuchen wollten. Wir brauchten schließlich Informationen, was es mit dem versteckten Raum auf sich hatte.

 Nachdem unten wieder das Licht angeschaltet war, stiegen wir hinunter, und machten uns an das erste Gemälde, das uns am nächsten stand.

 Es musste an die zwei Meter hoch sein und etwa 2,50 Meter lang. Als wir das Tuch abnahmen, zeigte sich uns ein sagenhafter Ausblick auf Weinberge. Es war so überraschend detailreich und real gezeichnet, dass wir die Leinwand berühren mussten, um uns zu versichern, dass es kein Druck von einem Foto war. Es war kein Name oder eine Widmung zu entdecken, der von der Identität des Schöpfers verriet.

 Auch die anderen Gemälde zeigten Landschaften. Immer unterschiedliche und immer auf ihre Art und Weise beeindruckend. Es wurden Berge gezeigt und auch das Meer mit windgezeichneten Klippen einer Küste, eine Allee mit Bäumen, die bereits herbstliche Brauntöne trugen und eine winterliche Landschaft.

 Es schien, als hätte jemand versucht, diesem unterirdischen Raum Fenster zu verleihen. Keines der wundervollen Bilder ließ auf seine Herkunft schließen.

 Ein Bild gefiel Cassandra besonders. Es zeigte einen Sonnenaufgang. Wie bei einem echten Sonnenaufgang flammten verschiedene Rot-, Gelb- und Goldtöne auf. Hätten wir es nicht besser gewusst, nämlich dass wir uns gut vier Meter unter der Erde befanden, hätte man ihn für echt halten können. Dieses war das größte und zugleich beeindruckendste aller Gemälde.  Wie alle anderen auch, hatte es einen fein verzierten, goldenen Rahmen.

An den Wänden fanden wir sehr große Ösen und Haken, die sicherlich der Aufhängung der mächtigen Gemälde dienten. Verwirrend waren andere Halterungen in regelmäßigen Abständen in der Wand verankert. Nach genauerer Betrachtung kamen Cassandra und ich überein, dass es sich um Halterungen für Fackeln handeln musste. Hier gab es keine Lampen und keinen elektrischen Strom. Also war das sehr naheliegend.

 Nachdem alle sechs Gemälde abgedeckt waren, machten wir uns an die Treppe. Wie sich herausstellte, war sie in drei Teile aufgeteilt worden, so dass man sie leichter bewegen konnte. Im Boden unter dem Übergang ins Haus waren Löcher, in die die Bolzen für die Treppe geschlagen werden mussten. Wir machten es uns zur Tagesaufgabe, die Treppe fertig zu stellen.

 Wie sich herausstellte, keine allzu leichte Aufgabe, aber wir wollten uns keine Hilfe bei den Jungs aus der WG holen. Bisher schien niemand außer uns von diesem Versteck zu wissen und so sollte es auch vorerst bleiben, bis wir mehr Informationen darüber hatten.

 Das erste Element der Treppe war das größte und schwerste. Dank der runden Form und stabilen Konstruktion, konnten wir es einfach quer durch den Raum rollen. Die schweren Bolzen und Schrauben waren mit unter den Tüchern verborgen gewesen.

 Das Aufstellen gestaltete sich etwas schwierig, aber mit einem Seilzug konnten wir die Treppe schließlich aufrichten. Nachdem die acht Bolzen in den dafür vorgesehenen Löchern verankert waren, war die Konstruktion bereits stabil genug, damit wir bis zur höchsten Stufe in etwa 2 Metern steigen konnten.

 Das war auch nötig, um das zweite und dritte Element, die deutlich leichter zu tragen waren, hinauf zu schaffen und mit sehr großen Schrauben zu verbinden. An der Decke wurde die Treppe ebenfalls noch befestigt und nun war sie gesichert. Kein wackeliger Aufstieg auf der Leiter mehr, das war ja immerhin schon mal etwas.

 Als die gesamte Treppe aufgebaut war, konnte man sehen, dass im Geländer ein verschlungenes Muster wie Efeuranken verarbeitet war. Es war kein Übergang zwischen den einzelnen Elementen mehr zu sehen.

 Sehr verspielt waren an manchen Stellen kleine Schmetterlinge eingebettet, auf deren Flügel bunte Edelsteine zu sehen waren, die im Licht funkelten. Fast schien es, als würden die Schmetterlinge die Flügel bewegen.

 Cassandra riss mich aus den Gedanken. Sie kniete mit einem Fetzen Leinen, den sie aus den Tüchern gerissen und ausgeschüttelt hatte und einer Flasche Mineralwasser so ziemlich in der Mitte des Raumes, soweit ich es erkennen konnte. 

 „Sieh mal, hier ist etwas in den Boden eingelassen worden. Weißt du was das ist?“, fragte sie ganz aufgeregt. 

 „Soweit ich das jetzt ohne den Staub sehen kann, sieht es aus wie eine Windrose. Schau hier“, ich zeigte auf eine der Spitzen, die sie schon gereinigt hatte. „da ist ein großes rotes W. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn wir alles gereinigt haben, finden wir drei weitere Spitzen mit den Buchstaben N, S und O. Diese Windrose ist wunderschön. Sieh mal, hier sind sogar Kreise aus Gold mit eingebettet worden.“

 Jetzt, wo der Boden stellenweise vom Staub befreit war, sah man erst dessen richtige Farbe. Der eigentliche Boden war aus schwarzen Granitplatten, die auf Hochglanz poliert worden waren. Die Windrose wurde farblich durch grauen und weißen Granit abgehoben. Die Buchstaben prangten in einem satten Rot an den Spitzen. Alles war so passgenau gearbeitet worden, dass es schien, als wäre es nicht aus einzelnen Teilen, sondern aus einer Fläche gefertigt worden. Da hatte jemand sein Handwerk beherrscht.