Die Brücke aus Glas - Zsóka Schwab - E-Book

Die Brücke aus Glas E-Book

Zsoka Schwab

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Beschreibung

Schöner Mist! Da trifft Medizinstudent Gabo einmal ein interessantes und hübsches, wenn auch etwas furchteinflößendes Mädchen – und was macht er? Kotzt ihr auf die Schuhe. Kein Wunder, dass Jana ihn nicht ausstehen kann. Auch Thorsten, sein bester Kumpel, ist ihm keine Hilfe: Der Trottel schreibt Janas Freund übers Internet, um ihn auszuhorchen. Dabei schickt er ihm Gabos E-Mail-Adresse, hängt ein Bild von dessen Schwester an und gibt sich als liederliche "Gabi_hotchicken" aus. Das Chaos ist perfekt, als Gabo eine Antwort in seinem Postfach findet. Denn auch die neue Internetbekanntschaft ist nicht die Person, die sie vorgibt, zu sein …

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Seitenzahl: 442

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Zsóka Schwab

_________________

~ Die Brücke aus Glas ~

Gabos Geheimnis

Roman

Impressum

Texte:

© 2019 Copyright by Zsóka Schwab

Zweite, überarbeitete Ausgabe

Die erste Ausgabe erschien unter dem Titel „Die Brücke aus Glas“ bei Edition Ecrilis (E-Book 2013, ISBN: 978-3-944554-10-5, Taschenbuch 2016, ISBN: 978-3944554709)

Covergestaltung:

Sabina S. Schneider

Verwendetes Bildmaterial: Silhouette junger Mann (Künstler: Thomas Young /unsplash.com), Silhouette junge Frau (Künstler: Azamat Zhanisov /unsplash.com), Brücke:Designed by Clker-Free-Vector-Images/pixabay.com Hintergrund: Designed by freeillustrated/pixabay.com

Verlag:

Zsóka Schwab, [email protected]

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Für Pakete bitte gesondert via Kontakt oder E-Mail anfragen

Eins

~1 ~

Alles begann damit, dass ich mich auf Jana Bergmanns Füße erbrach.

Das war natürlich nicht geplant. Jana Bergmann war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort: Am 31. Oktober 2007 gegen Mitternacht in der Kastanienallee 35 vor der Türschwelle der Stockhausens.

Manchmal führt uns eine Kette aus vielen winzigen Zufällen an einen Punkt, der unser Leben verändert. Und diese hier ereignete sich folgendermaßen:

Mein bester Freund, Thorsten Stockhausen, war – wie eine seiner Verflossenen zu sagen pflegte – eine gestandene Saufnase. Mehr noch: Wann immer jemand in den Raum warf, dass irgendwer doch mal wieder eine Party schmeißen müsste, war Thorsten der Erste, der „Hier!“ schrie. (Ein zwanghaftes Verhalten, dessen psychologische Ursachen nie abgeklärt wurden, obwohl wir mal überlegt hatten, eine Promotionsarbeit daraus zu machen.)

Nun hatte Thorsten dieses Halloween also zufällig sturmfreie Bude, weil seine Eltern geschäftlich verreist waren. Und als sein bester Freund war ich der Erste, den er überredete, mit ihm einen draufzumachen.

„Du kennst doch die alte Weisheit, Gabe: Prüfungen kann man wiederholen, Partys nicht.“

Tatsächlich stand uns zwei Tage darauf ein Unitestat in Arbeitsmedizin bevor. Aber wie ein weiteres Glied der kosmischen Zufallskette es wollte, verspürte ausgerechnet an diesem Tag keiner von uns das Bedürfnis, die verschiedenen Arten der Krankenversicherung durchzubüffeln.

Also kam es, wie es kommen musste: Gegen Mitternacht hatte ich grob geschätzt vier Becher Bier, eine Miniflasche Wodka und eine Tüte gammelige Kartoffelchips intus, die in meinem Magen einen Ringkampf ausfochten, welcher seinen epischen Höhepunkt ausgerechnet bei Jana Bergmanns Ankunft erreichte. Leider begann der Showdown auch noch just in dem Moment, als ich mit Thorstens Cousine Melanie wild knutschend neben der Eingangstür lehnte.

Ich habe bis heute keine Ahnung, wie wir dorthin gekommen waren, denn angefangen hatten wir – da bin ich mir ziemlich sicher – im Wohnzimmer neben der dröhnenden Stereoanlage.

Ich weiß noch, dass mich Melanies knallblau getönten Haare an die Frisuren der Troll Dolls erinnerten, mit denen meine Schwester als kleines Kind gespielt hatte. Ihr blaugrünes Elfen-Make-up war grotesk verschmiert, was wohl hauptsächlich auf meine Kappe ging. Doch der Teil des Abends, in dem das eine Rolle spielte, war schon lange vorüber. Genau wie die Bedeutsamkeit der Frage, was eigentlich aus meiner brillanten Totenkopf-Schminke geworden war. Dieses Stadium so früh zu erreichen, war keine Selbstverständlichkeit, daher war ich mit dem Verlauf der Party soweit hochzufrieden, bis – ja eben bis …

„Was’n los?“

Melanies erstauntes Gelalle, als ich mich von ihr löste klang, als spräche sie durch einen dicken Stofflappen. Für einen kurzen Moment alkoholgetränkten Stumpfsinns begriff ich selbst nicht, was mit mir nicht stimmte. Doch als mir der kalte Schweiß ausbrach, gingen endlich die Alarmglocken an.

„Shit … sorry!“

Hastig raffte ich meine schwarze Sensenmann-Kutte, stürzte zur nächstbesten Tür, riss sie auf und spie mir jenseits der Schwelle die Eingeweide aus.

Als ich mich endlich in der Lage fühlte, die Augen zu öffnen, schimmerte mir mein ehemaliger Mageninhalt in der plötzlichen Dunkelheit wie helle Lackfarbe entgegen – Farbe, die jemand auf einem Paar schwarzer Stiefel verkleckert hatte.

Ach, du Sch...!

Böses ahnend hob ich den Blick himmelwärts und entdeckte eine behandschuhte Faust vor meinem Gesicht.

„Reizend“, erklang eine frostige junge Frauenstimme. Die dazugehörige Person senkte den Arm. „Ich wollte gerade anklopfen.“

Wie der Meister der Einfalt glotzte ich zu ihr hinauf, ehe ich auf die Idee kam, mir über den Mund zu wischen und aufzustehen.

„Schuldigung … wegen der Schuhe …“

Durch die brennende Magensäure klang meine Stimme ganz kratzig, was ich allerdings noch eher ertragen hätte als den säuerlichen Gestank nach Erbrochenem, der mich beinahe umhaute.

Der Frau entging er bestimmt auch nicht, dennoch sagte sie kein Wort, während sie aus ernsten, bebrillten Augen zu mir empor sah.

Die drei grinsenden Kürbislampen, welche Thorsten und ich am Nachmittag auf den Stufen der Eingangstreppe verteilt hatten, tauchten ihre Gestalt in rötliches Flackerlicht – gerade hell genug, um erkennen zu lassen, dass sie einen wahrscheinlich dunkelbraunen und sicherlich für Sibirien geschneiderten Kordmantel trug. Gut zwei Drittel ihres Kopfes steckten in einer dunklen Wollmütze, unter welcher sich eine Flut aus schwarzen, welligen Haaren ergoss. Der Rest war hinter einem grobgestrickten Schal verborgen, der sich um ihren Hals schlang wie eine Anakonda. Seltsam, dachte ich, wir haben doch mindestens fünf Grad über Null …

„Alles in Ordnung, Gab … oh!“

Melanie hatte sich offenbar soweit gefangen, um mir zu folgen. Und als hätten die anderen nur auf sie gewartet, tummelte sich hinter mir das Partyvolk nun derart, dass ich beinahe gegen die Frau hinter der Schwelle geschubst wurde.

Selbst die Musik im Haus war verstummt, sehr zu meinem Unbehagen. Leute, das ist eine Studentenfete. Es ist ja wohl keine sehenswerte Pionierleistung, auf einer Studentenfete zu kotzen.

„Was gibts’n da zu sehen?“

Eine von Kopf bis Fuß rotbemalte, muskulöse Gestalt mit nacktem Oberkörper kletterte über den Buckel eines auf der Schwelle hockenden, schaulustigen Kobolds.

„’N Abend“, grüßte der Hellboy für Arme, alias mein Kumpel Thorsten, als er an meiner Seite ankam. In einer Kompetenz ausstrahlenden Geste rückte er seinen verrutschten Haarreif mit den abgesägten Styroporteufelshörnern zurecht.

„Können wir irgendwie helfen?“

Die Frau schien sich inzwischen von der Überraschung über den „warmen“ Empfang erholt zu haben.

„Thorsten? Das bist doch du, oder?“

In den Augen meines Kumpels flackerte Verwirrung.

„Äh, kennen wir uns?“

Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn herablassend an.

„Hätte ich mir ja denken können …“

Da Thorsten offensichtlich immer noch kein Licht aufging, nahm sie vorsichtig ihre schwarz umfasste Brille ab und zog den Schal soweit hinunter, dass eine kleine, gerade Nase zum Vorschein kam.

„Der Schnellste warst du ja noch nie“, spottete sie. „Und bei deinen Freunden warst du auch nie besonders wählerisch.“

Sie streifte mich mit einem eisigen Blick, ehe sie die Augen erneut hinter ihrer Brille verbarg. Mich beschlich die Vermutung, dass die Linsen womöglich aus schusssicherem Panzerglas bestanden – entworfen vom Geheimdienst zum Schutz der Allgemeinheit … Trotzdem, so leicht ließ sich ein Gabriel Wiegand nicht einschüchtern!

„Na, hören Sie mal!“, empörte ich mich mit noch etwas schwerer Zunge. „Es war keine Absicht, und ich hab mich entschulligt!“

Thorsten legte eine Hand auf meine Schulter, als wären wir alte Kriegskameraden.

„Du brauchst sie nicht zu siezen, Gabe, sie ist wesentlich jünger als wir. Hast du überhaupt schon die Schule fertig, kleine Ja…?“

„Wer mich siezt und wer nicht, hast du nicht zu entscheiden!“, fuhr ihm unser Gegenüber harsch über den Mund. „Ich bin inzwischen auch volljährig!“

„Ich bin inzwischen auch volljährig!“, äffte Thorsten sie mit Mickey-Maus-Stimme nach.

„Ganz toll für dich. Und was willst du? Monster haben wir hier drin schon genug.“

Um uns herum wurde es still – so still, dass man das leise Rascheln des Windes in den trockenen Kronen der Kastanien hören konnte, nach denen die Straße benannt worden war. Thorsten hatte eine große Klappe, das war allgemein bekannt. Doch niemand, nicht einmal ich, hatte ihn jemals so mit jemandem reden hören – erst recht nicht mit einer Frau.

„Du weißt, was ich will“, zischte das Mädchen düster. „Das Gleiche, was ich bisher immer wollte, wenn ich um diese Zeit an deine Tür klopfte.“

Ein verhaltenes, anzügliches „Uuuh“ wehte durch unsere kleine Runde, doch Thorstens Miene blieb ernst – eine Beobachtung, die mich noch viel mehr stutzen ließ als sein fieser Spruch.

„Mann, seit fünf Jahren bist du nicht mehr hier aufgekreuzt, und jetzt fängst du schon wieder damit an?“, stöhnte er. „Wir tun doch nichts! Wir feiern nur ein bisschen!“

„Falls du es vergessen hast, das hier ist keine Strandvilla auf Mallorca. Du lebst in einem Reihenhaus, und da grenzt eines nun einmal an das andere. Ist es denn zu viel verlangt, dass ihr die Musik wenigstens ein bisschen leiser stellt? Du weißt doch, dass meine Großmutter krank ist.“

Diesen Worten folgte ein enttäuschtes „Aaah“ des Begreifens. Es ging also nur um den Lärm! Wie langweilig … In den hinteren Reihen wandten sich die Ersten ab.

„Ach, das bisschen Kopfweh …“

Thorsten kratzte sich hilflos hinter den Hörnern. „So schlimm kann es gar nicht sein, wenn ihr Zustand sich nach fünf Jahren nicht geändert hat …“

„Als ob du das beurteilen könntest!“, versetzte das Mädchen giftig, und schaffte es dadurch auch noch, seine Autorität als Medizinstudent zu untergraben.

„Wie wär’s denn, wenn du ihr mal Oropax kaufst?“, fauchte Thorsten.

„Wie wär’s denn, wenn ich mal die Polizei rufe?“, hielt sie dagegen.

Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte man zusehen, wie Thorstens Gesicht unter der roten Schminke um ein paar Nuancen dunkler wurde.

„Mach doch, was du willst!“

Er wirbelte herum und bahnte sich wie ein grollendes Gewitter den Weg zurück ins Haus.

Ein Hagel feindseliger Blicke traf das Mädchen, als die Gesellschaft sich anschickte, dem Hausherrn zu folgen. „Spaßbremse …“, murmelten einige.

„Spießerin!“

Das Mädchen reckte unter dem Schal kämpferisch das Kinn, sagte jedoch nichts mehr.

Ich ertappte mich dabei, dass sie mir ein wenig leid tat. So viele große Studenten gegen ein einziges Mädel, das vielleicht noch zur Schule ging … Ich konnte nichts dafür, kleine Mädchen erweichten immer mein Herz – vielleicht weil sie mich an meine Schwester Zoé erinnerten. Zoé war zwar nur zwei Jahre jünger als ich, aber sie löste in mir immer das Bedürfnis aus, sie zu beschützen. Das war schon während unserer Kindheit so gewesen und in den vergangenen Jahren sogar noch ein bisschen schlimmer geworden.

Und jetzt stand hier dieses Mädchen, das zugegebenermaßen etwas resoluter auftrat als meine kleine Schwester. Aber man konnte ihr ja kaum verdenken, dass sie sich um ihre kranke Oma sorgte. Und nicht zu vergessen: Ich hatte ihr auf die Stiefel gekotzt. Das mochte eventuell nicht unwesentlich zu ihrer schlechten Laune beigetragen haben.

„Ähm …“, begann ich ein wenig ungeschickt, als wir schließlich alleine auf dem Treppenabsatz standen.

„Wenn du kurz wartest, hole ich Wasser und einen Lappen, dann können wir … kann ich den Dreck da wegmachen.“

Das Mädchen blinzelte, als erwachte es aus einem Traum. Es fokussierte mich.

Doch auf ein dankbares Lächeln wartete ich vergebens.

Stattdessen kehrte sie mir den Rücken zu und ging fort. Einfach so, ohne einen Mucks.

Als hätte sie bloß einen gemütlichen Abendspaziergang hinter sich, schlenderte sie den kurzen gepflasterten Weg durch den Stockhausen’schen Vorgarten zum Gartentor, bog auf dem Bürgersteig links ein und legte im Nachbarsgarten den entgegengesetzten Weg bis zur Haustür zurück.

Ich blieb allein zwischen den Kürbissen und starrte ihr wie ein Trottel hinterher. Erst das leise Zuschnappen der Tür ließ mich zusammenzucken.

Was war denn das?

Mochte ja sein, dass Frauen empfindlich waren, wenn es um ihre Schuhe ging. Aber dass sie mich nicht einmal mehr eines Wortes würdigte … Dabei war ich doch wirklich höflich gewesen.

Während meine Verärgerung von Sekunde zu Sekunde wuchs, merkte ich plötzlich, dass mir trotz der Sensenmann-Kutte um die Beine fröstelte.

Am Ende verkühle ich mich noch wegen der …

Mit bibbernden Zähnen und einem Haufen unfreundlicher Gedanken kehrte ich in das Haus zurück.

~2 ~

Nach diesem Zwischenfall war die Party vorüber – zwar nicht offiziell, aber ihr Lebenslicht war unwiederbringlich ausgeblasen. Wären wir freundlich gebeten worden, die Musik leiser zu stellen, hätten wir es getan, und niemand hätte eine große Sache daraus gemacht. Schließlich waren wir erwachsene Menschen, mit denen sich vernünftig reden ließ. Niemand wollte, dass eine alte Omi wegen uns ihre Migräne bekam.

Aber von einer rotznasigen Schülerin bedroht zu werden und klein beigeben zu müssen, war etwas ganz anderes.

Natürlich regten wir uns über sie auf, vor allem am Anfang. Und nachdem Thorsten uns ihren Namen verraten hatte, geisterte er wie ein Unwort durch die Girlanden-geschmückten Hallen des Stockhausen’schen Anwesens: Jana. Maria. Bergmann. Mörderin der guten Laune.

Besonders unangenehm für mich war die Einsicht, dass alles anders gekommen wäre, wenn ich die Tür nicht geöffnet hätte. Die Klingel der Stockhausens war nämlich einige Tage zuvor kaputtgegangen, und bei dem Lärm im Haus hätte niemand Janas Klopfen gehört.

Sie wäre gezwungen gewesen, aufzugeben, oder wirklich die Polizei zu rufen – was immer noch wesentlich besser gewesen wäre. Eine Feier, bei der die Polizei antreten musste, erhielt sofort den Ruf, besonders ausgelassen, wild und somit gelungen gewesen zu sein.

Eine Feier, die von einer Jana. Maria. Bergmann. verdorben wurde, erhielt diesen Ruf sicherlich nicht.

Dabei trug die Stimmung des Hausherrn nicht wenig dazu bei, dass sich die Gäste in den darauffolgenden Stunden allmählich zu anderen Partys verdünnisierten.

Thorsten war stinksauer.

Als wir gegen halb zwei das Haus für uns alleine hatten, hockte er mit verschränkten Armen auf der schutzbezogenen Wohnzimmercouch und schmollte vor sich hin. Seine finstere Miene verlieh ihm in Verbindung mit seinem Kostüm ein wirklich unterirdisches Aussehen, erst recht im fahlen Schummerlicht der Totenkopflichterkette, die wir mit Tesafilm an der Decke befestigt hatten.

Für einen Moment überlegte ich, ob ich ein Foto von ihm machen sollte, um ihn aufzuheitern, ließ es aber doch lieber bleiben.

Mit einem Seufzen schlurfte ich zur Stereoanlage, von der inzwischen nur noch Musik in der Lautstärke von Kaufhausgedudel ausging, und schaltete sie aus.

Beinahe bereute ich es, denn mit einem Mal wurde es unheimlich still – so als hätte ich, passend zu meiner Verkleidung, unserer armen, präfinalen Feier endgültig den Todesstoß versetzt. Andererseits war es jetzt auch wieder egal.

Mit der Bedächtigkeit eines Priesters während einer Trauerandacht ordnete ich meine schwarze Kutte und ließ mich neben Thorsten auf der Couch nieder. Ich überlegte gerade, wo eigentlich meine Papp-Sense abgeblieben war, da durchbrach plötzlich ein tiefes Brummen die Stille.

„Wieso jetzt?“

Thorsten versuchte, die Fäuste zu ballen, aber seine gepolsterten, roten Hellboy-Handschuhe ließen nicht zu, dass er sie ganz schloss.

„Fünf Jahre lang hatte ich meine Ruhe! Wieso taucht sie gerade jetzt wieder auf? Und warum, zum Kuckuck, hat sie sich nicht geändert?“

Ich machte eine kurze Hochrechnung. Angenommen, Jana hatte die Schule gerade abgeschlossen. Dann war sie also vor fünf Jahren …

„Du meinst, sie war schon mit dreizehn so?“

Thorsten lachte spöttisch auf.

„Schlimmer! Damals hat ihr Großvater noch gelebt, und sie ist jeden zweiten Abend hier aufgekreuzt, um uns zu terrorisieren. Kannst du dir das vorstellen?“

Da ich Thorsten erst seit dem Studium – und somit seit vier Jahren – kannte, konnte ich das nicht. Im Gegensatz zu ihm war ich nach dem Zivildienst von zu Hause ausgezogen, und Zoé, die mir zwei Jahre später folgte, war die einzige Verwandte, die ich in der Nähe hatte. Aus diesem Grund bildete ich mir ein, reifetechnisch ein kleines bisschen weiter zu sein als Thorsten. Aber Partys an jedem zweiten Tag? Das kam mir sogar für seine Verhältnisse ziemlich übertrieben vor – vor allem, da er ja nicht alleine hier lebte. Ich hütete mich jedoch, ihm das ausgerechnet jetzt unter die Nase zu reiben.

„Und was ist dann passiert?“, fragte ich stattdessen.

Mein Kumpel zuckte die Achseln.

„Sie bekam irgendein Hochbegabten-Stipendium und wechselte auf ein Internat irgendwo in der bayerischen Pampa.“

„Meinst du, sie hat die Schule beendet und kommt nun zum Studieren wieder her?“

Thorstens Augen wuchsen auf die Größe von Untertassen.

„Ich hoffe doch, nicht! Sie ist bestimmt nur zu Besuch hier! So eine Hochbegabten-Tussi wird sich doch wohl eine berühmtere Uni suchen als unsere, oder?“

Das „oder“ klang derart flehend, dass ich mir ein Grinsen verkneifen musste.

„Was ist denn mit ihren Eltern?“, fragte ich weiter.

„Ich weiß es nicht genau, glaub, die sind nach Kanada emigriert. Sie arbeiten für irgendein Physikforschungsinstitut. Ich habe sie jedenfalls noch nie gesehen.“

„Aha. Und du bist dir sicher, dass du nicht insgeheim auf Jana stehst?“

Thorsten bedachte mich mit einem Blick, kalt genug, um die Hölle einzufrieren.

„Nein, du Hirni, ich stehe nicht insgeheim auf sie! Ich unterhalte mich bloß beim Müllraustragen öfters mit meiner alten Nachbarin, wie es sich gehört. Deshalb weiß ich einige Dinge über die Familie.“

Ich entschuldigte mich eilig für diesen schweren Fauxpas.

„Und wenn sie hier bleibt, was tust du dann?“

Thorsten schüttelte es vor Entsetzen über diese Aussicht.

„Was soll ich schon tun? Ich kann sie ja schlecht aus dem Haus ihrer Großmutter werfen. Und für die alte Bergmann ist es bestimmt auch schön, ihre Enkelin wieder bei sich zu haben … sie lamentiert zwar nicht herum, wie andere Omas in dem Alter, aber sehr glücklich wirkt sie nicht.“

Als er meinen verwunderten Blick bemerkte, geriet er ins Stammeln. „Das sagt zumindest meine Mutter …“

„Wenn Jana sich solche Sorgen um sie macht, weshalb hat sie sie dann zwischendurch nicht besucht? Fünf Jahre sind eine lange Zeit.“

„Besucht hat sie sie schon, aber nur einmal im Jahr an Weihnachten.“

Ach so … Die Stockhausens waren begeisterte Skifahrer und verbrachten die Zeit um Weihnachten und Silvester traditionell in Österreich.

„Ansonsten schrieben sie sich monatlich Briefe und telefonierten. Meine Mutter sagt, das sind die einzigen Lichtblicke im Leben der alten Frau.“

„Hm …“

Plötzlich kam mir eine Idee.

„Hey, ich weiß, wie wir rauskriegen, ob sie hier bleibt! Wir schauen einfach bei Facebook!“

Thorstens Miene erhellte sich.

„Warte hier!“

Mit einem Satz sprang er auf und flitzte aus dem Wohnzimmer. Zwei Minuten später kehrte er mit einem kleinen Notebook wieder, das er auch gern in die Vorlesung mitnahm.

„Dann wollen wir mal!“

Gespannt steckten wir die Köpfe zusammen, während mein Kumpel den Internetexplorer hochfuhr. Kurz darauf loggte er sich in sein Facebook-Konto ein und überließ es dann mir, Janas Namen in die Suchspalte zu tippen.

„Warte mal!“, rief er, während ich noch am Werke war. „Wir sind doch gar nicht mit ihr befreundet. So können wir ihre Seite überhaupt nicht einsehen!“

Seine Sorge erwies sich als unbegründet, denn die Suchmaschine teilte uns mit, dass es für unsere Anfrage keine Ergebnisse gab. Jana benutzte entweder irgendeinen Spitznamen, den wir im Leben nicht erraten würden, oder sie war gar nicht bei Facebook registriert.

„Das war wohl nichts“, maulte Thorsten.

Enttäuscht begafften wir den blau schimmernden Bildschirm, bis Thorsten die brillante Idee kam, es mit Google zu versuchen.

Hier wurden wir tatsächlich fündig, und zwar nicht zu knapp! Selbst meinem Kumpel entschlüpfte ein beeindrucktes „Wow, nicht schlecht …“, als uns über zwanzig Links entgegensprangen, in denen es aus irgendeinem Grund um Jana ging.

Offensichtlich war sie im Internat gut gefördert worden, vor allem auf musischem Gebiet: Neben einigen Zeitungsartikeln, in denen es um ihre schulischen Erfolge in Mathematik oder Spanisch ging, überwogen bei weitem diejenigen, die ihre musikalischen Aktivitäten dokumentierten.

Das kleine Biest war tatsächlich zweimalige Gewinnerin des ersten Preises beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ in der Kategorie Klavier solo. Ein Artikel vom vorherigen Jahr enthielt auch ein Bild von ihr – das erste, das mir Jana Bergmann zumindest in ihrer halben Pracht zeigte:

Eine kurvige, gut proportionierte Siebzehnjährige mit seidig schimmernden, schwarzen Haaren, die wasserfallartig ihren geraden Rücken herabflossen, um sich dort mit dem Schwarz ihrer Bluse zu vermischen. Sie hatte eine unheimlich aufrechte Haltung, wie sie hinter dem glänzenden Konzertflügel saß. Der Fotograf hatte sie aus einem eher hohen Winkel getroffen, sodass man ihren Oberkörper und einen Teil ihres Faltenrocks erkennen konnte.

Am Auffälligsten war aber ihr Gesicht: ein ovaler, blasser Fleck, der in der dunklen Umgebung leuchtete wie eine weiße Seerose auf einem nachtschwarzen Teich. Ihre Nase war gerade und zierlich, mit einem winzigen Höcker direkt unterhalb der Wurzel, ihre Lippen eher schmal, mit beinahe aristokratischem Schwung. Sie hatte sie leicht geöffnet, was ihrem Gesicht etwas sehr Verletzliches verlieh. Ihre Lider waren gesenkt, so als ob sie schliefe – ein starker Kontrast zu der strammen Körperhaltung.

„Hm, hat sich doch ganz gut gemacht, die Kleine.“ Grinsend stieß ich Thorsten meinen Ellenbogen in die Rippen. Er brummte etwas Unverständliches und klickte auf das nächste Bild – wo uns eine weitere Überraschung erwartete.

„Oho, schau einer an. Hättest du das gedacht?“

Das Bemerkenswerte an dieser Aufnahme war, dass Jana uns hier nicht allein entgegenblickte. Sie hatte auch noch einen feschen, strohblonden Strahlemann an ihrer Seite, der den Arm um ihre Schulter legte und sie eng an sich zog. Wie die sprichwörtlichen Turteltauben trugen beide den gleichen hellgrauen Wollpullover mit einem winzigen, schwarzen Emblem, das wie ein Kranz aussah – vermutlich ihre Internatsuniform. Unter dem Bild prangte in geneigten, schnörkeligen Lettern:

„Bastian Maurer und Jana Bergmann – auf der Bühne und privat ein Paar.“

Thorsten prustete. „Bastijana, wie süß! Besser als Brangelina.“

Ich dagegen war skeptisch:

„Ob das noch aktuell ist? Sie lächelt zwar, aber schau, wie sie das Gesicht zur Seite dreht.“

Thorsten winkte ab. „Ach, das macht sie nur, weil sie es nicht leiden kann, wenn man sie fotografiert. Das war schon früher so. Und guck, das Bild wurde erst vor drei Wochen hochgeladen.“

Thorsten war nicht mehr zu bremsen. Aufgeregt fuhr er sich durch die roten Stachelhaare – das Einzige an ihm, was wir nicht hatten einfärben müssen – und schleuderte den störenden Hellboy-Haarreif zusammen mit den Handschuhen quer durch das Zimmer.

„Wir werden schon noch sehen, ob du mir entkommst, kleines Miststück …“

Mit fliegenden Fingern rief er erneut die Facebook-Seite auf, suchte nach einem Bastian Maurer und … „Bingo!“

Obwohl wir ganz sicher in keiner Weise mit diesem Wunderknaben befreundet waren, schien er nicht viel vor uns verbergen zu wollen. Mit breitem Zahnpasta-Lächeln gab er bereitwillig preis, dass er zwanzig Jahre alt war, sein Abitur auf dem Privatinternat Schloss Eberfelsheim absolviert hatte und sich nun darauf vorbereitete, professioneller Geigenbauer und Violinist zu werden.

Neben seinem Profilbild präsentierte er uns stolz eine Reihe ausführlich kommentierter YouTube-Links sowie eine lange Fotogalerie, in welcher Jana ausgesprochen oft auftauchte – immer mit dem leicht abgewandten Gesicht, ansonsten aber wohl recht friedlich gestimmt.

„Der Typ wohnt in Freiburg. Dann stehen die Chancen doch gut, dass sie ihm dorthin folgt!“

Thorsten rieb sich die Hände, während ich den Blick mit bereits einschlafendem Interesse über die Seite schweifen ließ. Irgendwie kam es mir jetzt blöd vor, was wir hier machten. Partytöterin hin oder her, ich hatte inzwischen das Gefühl, mehr über Jana Bergmann und ihren Typen zu wissen als über manchen meiner engeren Freunde. Und das war definitiv mehr, als ich wissen wollte. Mit einem herzhaften Gähnen streckte ich meine müden Glieder und erhob mich.

„So, Kumpel, ich pack’s dann mal langsam.“

Thorsten hämmerte schon wieder auf die Tasten ein und hörte mir nicht zu. Auch gut. Ich musste sowieso noch meinen Mantel suchen. Und meine Sense natürlich.

Als ich wenige Minuten später in das Wohnzimmer zurückkehrte, hockte Thorsten immer noch auf der Couch und kicherte vor sich hin wie ein leibhafter Beelzebub.

„Guck mal, Gabe! Das ist so geil, geil, geil!“

Erschöpft schüttelte ich den Kopf.

„Thorsten, echt, ich will heim.“

Doch dann ließ ich mich trotzdem noch mal neben ihn plumpsen – und war ganz schnell wieder hellwach.

„Was ist das?“ Ich deutete auf den Bildschirm.

„Ein Chat.“

„Ja, das sehe ich. Wer ist Basti87?“

Thorsten kicherte abermals. „Rate mal.“

„Sag bloß, der ist online.“

„Ist er nicht. Aber er wird sein blaues Wunder erleben, wenn er das nächste Mal online geht. Tja, selber schuld, wenn man alles über sich herumposaunt. Selbst seinen Stammchatroom …“

Mir schwante nichts Gutes.

„Thorsten … wer ist Gabi_hotchicken?“

Mein bester Freund zog den Kopf ein wie ein schuldbewusster Hund den Schwanz.

„Na ja, ich dachte, wenn ich ihm als Frau schreibe, kommt man mir weniger auf die Schliche. Außerdem ist es viel witziger. Und weil ich von Thorsten keine weibliche Form kenne, dachte ich … jetzt guck nicht so, Mann! Ist doch voll egal!“

Da hatte er eigentlich recht – dachte ich zumindest, bis ich las, welche Nachricht Gabi_hotchicken Basti87 hinterlassen hatte:

Hi, Süßer!

Ich habe gerade deine YouTube-Videos gesehen und bin voll angeturnt! Wohnst du eigentlich mit deiner Freundin zusammen? Falls nicht, könnten wir ja mal was unternehmen. Du könntest mir zum Beispiel das Geigespielen beibringen. Ich stehe auf Streichinstrumente, besonders auf die schönen, langen Bögen. ;-)

Was ich biete: Goldbraunes, gewelltes Haar, bernsteinfarbene Augen und einen sportlichen Body. Außerdem studiere ich Medizin.

Bei Interesse melde dich einfach: [email protected].

Knutschaa!

„Na, bin ich ein Genie oder was?“ Der Übeltäter grinste wie ein Schnitzel. „So finden wir mit Sicherheit heraus, ob Jana nach Freiburg zieht.“

Nach ein paar Sekunden der Paralyse hatte ich meinen Sprachapparat wieder soweit im Griff, dass ich mich halbwegs artikuliert an meinen ehemals besten Freund wenden konnte:

„Sag mal, spinnst du, irgendeinem wildfremden Typen meine E-Mail-Adresse zu geben? Samt Personenbeschreibung? Und mit so einem … tuntigen Text!“

Thorsten schaute bedröppelt drein.

„Bist du aber empfindlich. Es ist doch nur eine Adresse von zweien. Und auch noch die, die du kaum benutzt. Du kannst sie jederzeit löschen, falls es brenzlig wird.“

„Ich will sie aber nicht löschen, verdammt! Und überhaupt, du glaubst doch nicht im Ernst, dass Maurer dir … mir darauf antworten wird?“

„Wieso denn nicht? Ich würde darauf antworten.“

Das glaubte ich sofort. Es war doch nicht zu fassen!

„Niemand, der halbwegs bei Trost ist, würde auf eine Nachricht antworten, die klingt, als stamme sie von einer Transe auf dem Strich!“, tobte ich.

Thorsten sah alles andere als glücklich aus, doch diese Nacht hatte ich kein Mitleid mehr für ihn übrig – was ihm offensichtlich nicht bewusst war, denn er schob noch hinterher:

„Dann war es also auch blöd von mir, ein Foto von Zoé anzuhängen?“

~3 ~

Am nächsten Tag erwachte ich mit hämmernden Kopfschmerzen.

Ein greller Sonnenstrahl drang durch die weißen Spitzenvorhänge meines einzigen Fensters bis zu dem Bett an der Wand, wo er den Knotenberg aus schwarzer Kutte und Deckenbezug malerisch in Szene setzte.

Die schwarzweiße Schminke hatte sich als Rache für die schlechte Behandlung auf meinem ganzen Kopfkissen verteilt. Na toll …

Ich brauchte einige Minuten auf der Bettkante, um halbwegs zu mir zu kommen. Dann schleppte ich mich samt Bade- und Rasierzeug in die Wohnheimdusche, um mich vom personifizierten Tod wieder in einen Menschen zurück zu verwandeln.

Unter der Brause tauchten die Bilder der vergangenen Nacht Stück für Stück wieder aus dem Dunst meiner betäubten Gehirnwindungen auf.

„Idiot!“, schimpfte ich so laut, dass es von den Kacheln widerhallte. Gemeint war immer noch Thorsten Stockhausen. Wenn er sich bei mir Freiheiten herausnahm, meinetwegen – aber bei Zoé hörte der Spaß auf!

Wäre es wenigstens ein grob gepixeltes Bild gewesen, auf dem sie nicht zu erkennen war. Aber nein, der Trottel hatte diesem Maurer unbedingt eines von denen schicken müssen, die im Sommer am Baggersee entstanden waren, und auf denen Zoé einen Bikini trug.

„Vollidiot!“

Rasch drehte ich das Wasser ab und erledigte Abtrocknen, Anziehen, Zähneputzen und Rasieren im Turbogang. Mit einem Mal hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Schwester zu sehen, und zwar sofort.

Auf dem Weg zu meinem Schal in der Zimmerecke kam ich an meinem Computer vorbei. Der schwarze Bildschirm auf dem Schreibtisch starrte mir entgegen wie ein blinder Zyklop. Vielleicht sollte ich noch schnell meine E-Mails checken? Immerhin erwartete ich noch eine Nachricht von einer Kommilitonin, die mir eine PDF-Datei für das Arbeitsmedizintestat schicken wollte.

Kurz entschlossen setzte ich mich in meinen Chefsessel, fegte mit dem Arm einen Stapel knitteriger Vorlesungsmitschriebe und drei leere Coladosen zur Seite und schaltete unter der Tischplatte den Computer an.

Zuerst überprüfte ich meine Hauptadresse. Die PDF-Datei war noch nicht angekommen, dafür eine Einladung der Fachschaft, an der traditionellen, uniweiten Weihnachtsbenefizveranstaltung mitzuwirken.

Dieses Jahr sollte das Geld in ein neues Spielzimmer investiert werden, welches man den Kindern, die Weihnachten in der Uniklinik verbringen mussten, einrichten wollte.

Eigentlich eine ganz nette Idee.

Ich loggte mich aus und wollte den Internetbrowser schon herunterfahren, da fiel mir meine andere E-Mail-Adresse ein. Mein Blick zuckte zur Uhrenanzeige in der rechten unteren Spalte: Viertel nach elf. Gut möglich, dass Bastian Maurer Thorstens hirnlose Nachricht schon gelesen hatte.

Mit einem etwas flauen Gefühl in der Magengrube gab ich mein Passwort ein und klickte auf „Login“.

Sie haben eine neue E-Mail.

Ich atmete scharf ein. Halb verärgert, halb neugierig öffnete ich den Posteingang – und musste über mich lächeln. Es war nur Werbung. Was sonst. Ohne noch einen weiteren Gedanken an diesen Blödsinn zu verschwenden, zog ich mir meine Sneakers an und schlüpfte in meine warme, orangeschwarze Sportjacke. Dann machte ich mich auf den Weg zum Waldrand, um Zoé zu suchen.

Wie immer brauchte ich eine Weile, um meine Schwester in der Wildnis aufzuspüren. Dank ihrer schulterlangen hellbraunen Locken und dem sandfarbenen Trenchcoat verschmolz sie perfekt mit der herbstlichen Farbenpalette der Bäume und Gräser, was keineswegs ein Zufall war.

Zoé studierte Kunst mit Schwerpunkt Malerei, daneben war sie jedoch auch eine begeisterte Fotografin. Ihre Lieblingsmotive waren Naturlandschaften und die Tiere des Waldes und der Felder. Besonders Rehe hatten es ihr angetan, von denen es in den zahlreichen Wäldern, welche die Ortschaft umgaben, nur so wimmelte. Selbst in der Nähe des Flusses, der die Stadt entzwei teilte, waren die Tiere vereinzelt gesichtet worden. Dennoch war es nicht einfach, sie vor die Linse zu bekommen – besonders, wenn man sich weigerte, von einer Super-Paxette aus dem Jahre 1954 zugunsten einer modernen Digitalkamera Abschied zu nehmen.

Auch heute baumelte das antike Ungetüm von Zoés schmalem Handgelenk, als sie mir fröhlich winkend aus einem unkrautüberwucherten Waldpfad entgegenkam. Wir erreichten einander auf der hügeligen, sonnengewärmten Wiesenfläche, die an den Wald grenzte.

„Gabo! Das ist ja eine Überraschung! Wolltest du nicht ausschlafen?“

Ihre lachenden, goldgesprenkelten Augen zwinkerten mich schelmisch an. Mir wurde sofort warm ums Herz.

„Und wer hält dich dann davon ab, alleine durch die Wälder zu streunen?“

Ich nahm sie kurz in die Arme und küsste ihren Scheitel. Dazu musste ich mich ein wenig hinabbeugen, denn Zoé war fast zwei Köpfe kleiner als ich.

„Du solltest wirklich besser auf dich Acht geben. Papa tötet mich, wenn dir etwas passiert.“

Sie verdrehte die Augen.

„Mir tut schon keiner was. Erzähl doch lieber von der Party. Wie war’s?“

Doch so leicht ließ ich mich nicht ablenken.

„Ich meine es ernst, Kartoffelnase, du weißt doch, es geht nicht nur um böse Menschen … es ist einfach nicht gut, wenn du so viel alleine bist.“

Ein kaum merklicher Schatten legte sich über Zoés Blick. Es gab Themen, die sie lieber mied, und ich hatte gelernt, das zu respektieren. Nur manchmal, wenn ich fühlte, dass es nötig war, erinnerte ich sie sanft daran.

„Es ist sehr lieb, dass du dir Sorgen machst, Gabo. Aber du musst aufhören, dich für mich verantwortlich zu fühlen. Ich bin schon groß … na ja, zumindest im Geiste.“

Sie lächelte freundlich, doch ihr Blick war fest.

„Und jetzt erzähl mir von der Party!“

Da es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren, tat ich ihr den Gefallen. Doch als ich Thorstens dämliche Foto-Aktion ansprach, lachte sie zu meinem Missfallen laut heraus.

„Armer Stocki. Ist er noch am Leben?“

„Ich erinnere mich nur noch dunkel daran, was ich mit ihm gemacht habe …“, brummte ich. „Es könnte schon sein, dass die Sense irgendwie mit im Spiel war.“

Zoé gab mir einen kleinen Schubs.

„Ach komm, ist doch egal. Bei einem dünnen Zwerg wie mir schaut eh keiner zweimal hin.“

Ich spürte ein unangenehmes Zwicken im Magen. „Meine Schwester ist kein dünner Zwerg!“, deklarierte ich gereizt.

„Nein, deine Schwester ist natürlich das wundervollste Wesen der Welt.“ Sie sagte es ganz sachlich, doch in ihren Augen blitzte der Schalk. Ich machte den Mund auf, klappte ihn jedoch wieder zu. Ihr zu sagen, dass sie genau das für mich war, wäre mir übertrieben rührselig vorgekommen.

„Und das alles nur, weil diese Jana es gewagt hat, Thorstens heilige Party zu stören.“ Zoés Schultern erbebten abermals vor Lachen. „Sie muss ganz schön mutig sein, sich alleine einem ganzen Haus voller Hexen und Ungeheuer zu stellen. Und dann erhält sie auch noch so einen reizenden Willkommensgruß von dir.“

Mir schoss die Hitze ins Gesicht. Bei Tageslicht betrachtet war die ganze Angelegenheit noch peinlicher als vergangene Nacht.

„Zum hundertsten Mal: Es war keine Absicht!“

„Das wäre ja noch schöner.“

Nachdenklich legte sie den Zeigefinger an ihr zierliches Kinn.

„Ich glaube, ich würde sie gerne mal kennen lernen. Wenn sie wirklich so talentiert ist, wie du sagst, könnten wir vielleicht irgendwann zusammen etwas auf die Beine stellen – vorausgesetzt natürlich, sie bleibt dauerhaft hier.“

Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn mir die Idee nicht gerade gefiel. Weshalb, wusste ich selbst nicht.

„Was ist eigentlich mit Mellie?“, fragte Zoé unvermittelt. „Seid ihr jetzt zusammen?“

Stimmt, Melanie war ja auch noch da. Ich überlegte kurz. „Keine Ahnung.“

Zoés große Bernsteinaugen wurden noch einen Tick größer.

„Du musst doch wissen, ob du mit jemandem zusammen bist oder nicht!“

Wieder zuckte ich mit den Schultern.

„Sie hat vor ein paar Stunden angerufen, aber da schlief ich noch, und das Handy war aus.“

Wahrscheinlich hatte sie sich erkundigen wollen, ob ich die Nacht heil überstanden hatte.

„Du solltest sie bald zurückrufen“, riet Zoé. „Jemanden, der einen mag, im Ungewissen zu lassen, ist grausam und unfair.“

„Und du solltest dich lieber mal um dein eigenes Liebesleben kümmern, statt immer nur um meines.“

Ich zerzauste ihr liebevoll das Haar.

„Keine Sorge, ich werde sie schon noch anrufen.“

Tatsächlich hatte ich das vor, denn ich hatte Melanie gern, auch wenn ich noch nicht wusste, in welche Richtung es mit uns ging. Und jetzt hatte ich keine Lust, darüber nachzudenken.

Glücklicherweise zwang mich Zoé nicht dazu. In der Zwischenzeit waren wir am Flussufer angekommen, und sie lief ein Stück vor, um eine Trauerweide abzulichten, die ihre gelbgesprenkelten Äste malerisch in das ruhig dahinfließende Wasser tauchte.

„Ich glaube, von der Brücke ist die Aussicht noch besser“, rief ich ihr zu. „Von dort hast du auch die anderen Bäume am Ufer im Bild.“

Zoé ließ die Kamera sinken und betrachtete das Panorama mit fachmännisch prüfendem Blick.

Anschließend spazierte sie auf die alte Betonbrücke, die sich in einem weiten Bogen über den Fluss streckte wie eine wasserscheue Katze. Erst als sie fast auf der anderen Seite angekommen war, blieb sie stehen.

„Du hast recht, das hat was – Gabo, du hättest wirklich Fotograf werden sollen! Du hast ein viel besseres Auge dafür als ich.“

Sie zeigte mir das typische begeisterte Zoé-Strahlen, das ihr ganzes Gesicht zum Leuchten brachte. Dann gehörte sie wieder ganz ihrer Kamera.

„Wahnsinn, was für Farben!“

Bis sie alle nötigen Rädchen für Schärfe und Belichtungszeit eingestellt hatte, hatte ich sie längst eingeholt.

„Ich glaube, zu Weihnachten kaufe ich dir eine Digitalkamera …“, warf ich wie nebenbei in den Raum, während ich mich neben ihr gegen die Reling lehnte. Zoé blickte unverwandt durch den Sucher.

„Untersteh dich.“

Ich musste lachen. Das war immer so an diesem Punkt unserer traditionellen, vorweihnachtlichen Kamera-Diskussion.

„Wie hältst du das nur aus? Sechsunddreißig Bilder auf einem Film, und für jedes brauchst du eine viertel Stunde!“

„Du erinnerst dich doch, was Opa gesagt hat.“

Von ihm stammte übrigens das unschätzbare Erbstück.

„Zeit und Liebe sind das Wertvollste, was wir haben. Deshalb braucht alles, was von Wert sein soll, möglichst viel davon.“

Und sie drückte den Auslöser.

~4 ~

Hunderte winzige gelbe Blätter besprenkelten die marmorne Grabplatte, als wäre sie nicht erst einen Windstoß zuvor mit einem Handbesen freigefegt worden.

„Es bringt nichts, Oma. Wir sollten wiederkommen, wenn alle Blätter von den Bäumen gefallen sind.“

Obwohl Jana es war, die das sagte, war auch sie es, die sich hinabbeugte, um wenigstens den butterfarbenen Chrysanthemenkranz aus dem dünnen Laubteppich zu befreien.

Es war früh am Nachmittag, und die Herbstsonne stand hoch über ihren Köpfen. Eigentlich ein wunderschöner Tag, selbst hier auf dem Stadtfriedhof. Jana hätte diesen Besuch bei ihrem Großvater auf eine melancholische Weise genossen, wäre ihre Erkältung, die sie aus Ottawa mitgebracht hatte, über Nacht nicht schlimmer geworden. Alles nur, weil sie gezwungen gewesen war, mitten in der Nacht in die Kälte hinaus zu stampfen und diesen Kindskopf Thorsten Stockhausen daran zu erinnern, dass es Wichtigeres auf der Welt gab als sein Vergnügen.

Dass der sich in fünf Jahren aber auch kein bisschen hatte ändern können!

Von ihm als Miesepeter hingestellt zu werden, hatte Jana nie viel Freude gemacht und würde es auch nie. Aber so wie die Dinge standen, würden sich ihre Klingen wohl noch öfter kreuzen. Jana seufzte. Dann musste sie plötzlich niesen.

Blöder Thorsten!

Grummelnd zog sie den Schal enger um ihren Hals und setzte sich neben ihre Großmutter auf die leicht windschiefe Bank. Oma Anabelle hatte ihre Augen geschlossen und betete stumm mit einem Rosenkranz zwischen ihren knotigen Fingern. Nicht einmal ihre faltigen, trockenen Lippen bewegten sich.

Versonnen betrachtete Jana ihre erstaunlich vollen, weißen Naturlocken und ihre zierliche Gestalt, an der das cremefarbene Sonntagskostüm geradezu schlotterte.

Sie sieht aus, wie ein Grabesengel, dachte sie und erschrak über diese Assoziation. Sie rief ihr nämlich ins Gedächtnis, dass Oma womöglich auch nicht mehr lange da sein würde.

Obwohl ihre Großmutter sich nie beklagte, merkte Jana als scharfe Beobachterin, dass ihre Kopfschmerzen immer öfter auftraten und länger andauerten. Manchmal waren sie so schlimm, dass sie gezwungen war, sich hinzulegen, bis sie wieder erträglich wurden. Zum Arzt gehen wollte sie aber partout nicht – und da die Bergmann’sche Familiensturheit weder sie noch Jana übersprungen hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich deswegen stritten.

Jana jedenfalls war fest entschlossen, ihre Oma bis an ihr Lebensende nicht mehr allein zu lassen und irgendwie dafür zu sorgen, dass sie sich ärztlich behandeln ließ – zum einen, weil es ihr wehtat, zuzusehen, wie sie sich quälte. Zum anderen aber hatte Jana Angst … eine schreckliche, geradezu würgende Angst.

Oma war alles, was ihr an Familie geblieben war. Wenn ihr etwas passierte, was sollte sie dann tun? Du hast deine Eltern, rief sie sich streng ins Gedächtnis. Sie leben weit weg, aber sie sind da, und du liebst sie doch. Du hast sie gerade erst besucht.

Doch wenn Jana an diese drei Monate zurückdachte, fand sie keine Erinnerung an ein Zuhause. Sicher, ihre Eltern hatten sich ein schönes Leben in Ottawa aufgebaut. Sie hatten eines dieser schmucken viktorianischen Häuser gekauft, wie man sie aus kanadischen und amerikanischen Filmen kennt: mit schmalen, hohen Fenstern, weiß lackierter Holzvertäfelung und einer großen überdachten Veranda, auf welcher nicht einmal der obligatorische Schaukelstuhl fehlte. Das alles hatten sie Jana stolz präsentiert und immer wieder betont, dass es einmal ihr gehören würde – dass sie bei allem, was sie taten, auch an ihre Zukunft dachten.

„Wir hätten dich so gerne mitgenommen, damals vor zehn Jahren“, hatte vor allem ihre Mutter ständig wiederholt, „aber du wolltest absolut nicht nach Kanada. Erinnerst du dich? Du hast dich auf Omas und Opas Dachboden verbarrikadiert und bist erst runtergekommen, als wir dir versprochen hatten, dass du bleiben kannst. Wie lange warst du noch mal da oben?“

„Zwei Tage“, hatte Jana sich erinnert.

„Richtig, zwei volle Tage! Wir sind fast an dir verzweifelt! Warum warst du damals eigentlich so stur?“

Das war schnell erklärt:

„Ich wollte Oma und Opa nicht alleine lassen.“ Schließlich hatte ich schon damals mehr Zeit mit ihnen verbracht gehabt als mit euch, hatte sie noch dazu gedacht, es aber nicht ausgesprochen. Wem hätte das jetzt noch genützt?

Jana hatte nie daran gezweifelt, dass ihre Eltern sich durchgesetzt und sie notfalls auch gegen ihren Willen nach Kanada mitgenommen hätten, wenn ihnen so viel daran gelegen hätte. Wie hätte ein neunjähriges Mädchen sich schon gegen sie wehren sollen?

Nein, sie hatten Oma und Opa die Vormundschaft für sie übertragen, weil sie schließlich eingesehen hatten, dass sie bei ihren Großeltern besser aufgehoben war. Das war praktisch seit ihrer Geburt so gewesen, weshalb hätte sich also in einem fremden Land etwas daran ändern sollen?

So hatte jeder bekommen, was er wollte: Ihre Eltern konnten sich ohne schlechtes Gewissen mit ihren Forschungsprojekten austoben und Jana durfte bei den Menschen bleiben, die ihr am nächsten standen – wobei Letzteres leider nicht lange währte.

Als Jana dreizehn Jahre alt war, starb ihr Großvater an einem Herzinfarkt, und sie blieb mit Oma alleine zurück.

Das war der Beginn der schwersten Zeit ihres Lebens: Nicht nur, dass der Tod ihres stets gutgelaunten, zwinkernden Großvaters einen riesigen Krater in ihrem Leben hinterließ, es stellte sich auch noch heraus, dass ihre Großeltern ein Hochbegabtenstipendium für sie beantragt hatten – an einem renommierten Schlossinternat, das sechshundert Kilometer von ihrem Zuhause entfernt war. Nicht einmal eine richtige Zuganbindung gab es, denn Züge fahren nur ungern auf hohe Berge, besonders auf solche, wo es nichts gibt außer Wald und eben einem einzigen, einsamen Schloss.

All dies teilte Oma Jana zwei Wochen nach der Beerdigung mit und bestand darauf, dass sie die geforderten Aufnahmeprüfungen absolvierte.

Jana hatte es daraufhin erneut mit dem Dachboden versucht. Doch selbst wenn sie ihrer Großmutter noch gewachsen gewesen wäre, dem Testament ihres Großvaters war sie es nicht. Als hätte er seinen Tod vorausgeahnt, hatte er es kurz zuvor noch erneuern lassen. Und aus dem neuen Testament ging eindeutig sein Wunsch hervor, dass seine Enkeltochter Jana Maria Bergmann auf Schloss Eberfelsheim ihren Abschluss machte. Das konnte man nicht reinen Gewissens ignorieren. Also überwand sich Jana dazu, die Prüfungen abzulegen, in der Hoffnung, dass man ihr ihren Widerwillen ansehen und sie schon allein deshalb ablehnen würde. Zu ihrem Unglück wurde sie jedoch genommen.

Nie in ihrem Leben, weder davor noch danach, hatte Jana so viel geweint, wie an dem Abend auf dem verstaubten Dachboden, als sie das enthusiastische Willkommensschreiben des Internats in ihren Händen hielt.

All dies lag lange zurück. Jana hatte die Schule erfolgreich beendet und war nun frei, ihr Leben selbst weiter zu gestalten. Und was immer Oma vorbringen würde, sie würde sich nicht überreden lassen, auf eine andere Universität zu wechseln. Niemals!

„Jana, Liebes“

Jana schrak auf. „Was denn?“

Omas wässrige, blassblaue Augen musterten sie mit liebevoller Belustigung.

„Lass den armen Schal doch leben.“

Verdutzt blickte Jana auf ihre Hände, die tatsächlich Opas alten Strickschal umklammerten, als wollten sie ihn erwürgen. Sie spürte, wie sie errötete, und senkte den Blick auf ihre Stiefel – was ihr prompt in Erinnerung rief, dass sie das Erbrochene von dem gestrigen Typ auch mit der Schrubberbürste nicht ganz wegbekommen hatte. Ein blasser Fleck prangte immer noch auf dem rechten Stiefel wie ein düsteres Mahnmal an Jana: Betrete niemals mit empfindlichem Schuhwerk den Dunstkreis von Thorsten Stockhausen!

„Hast du dein Gebet gesprochen?“, wollte Oma wissen. „Ich würde nämlich gerne langsam gehen, wenn es dir nichts ausmacht. Mein knochiger, alter Hintern ist schon ganz durchgefroren.“

„Äh … nein, ich bin noch nicht fertig.“

„Dann aber schnell.“

Während Jana mit gefalteten Händen ein Vaterunser für Opa sprach, mühte sich ihre Großmutter damit ab, trotz der windigen Wetterverhältnisse ein Opferlicht für ihren verstorbenen Mann anzuzünden, wie sie es jedes Jahr an Allerheiligen tat.

Anschließend hakte sie sich bei Jana unter, und die beiden wandten sich der Hauptstraße des Friedhofs zu. Nur noch einmal schauten sie zurück.

„Bis bald, Otto“, sagte Oma, und Jana fragte sich, ob nur sie die Zweideutigkeit dieser Worte spürte.

~ 5 ~

Wieder zu Hause angekommen, zog sich Jana mit ihrem Notebook auf den Dachboden zurück. Sie hatte etwas vor, bei dem sie absolute Ruhe brauchte.

Während Windows hochgefahren wurde, schlenderte sie zur Dachgaube, der einzigen Lichtquelle in dem praktisch leeren, von nackten Stützbalken durchzogenen Raum.

Sie ließ sich auf dem kleinen Hocker nieder, den ihr Großvater vor über zehn Jahren für sie gezimmert hatte, und schaute durch das große Fenster auf den Garten hinaus. Die kleine Eiche ist wirklich schön gewachsen in den vergangenen Jahren, dachte sie ein wenig wehmütig. Dann beugte sie sich vor, bis ihr Gesicht beinahe die Glasscheibe berührte, und spähte in den Nachbargarten.

Nach einigen Sekunden entdeckte sie Thorsten, der wie ein zu groß geratenes Kind auf Ostereisuche mit einem weißen Müllsack in der Hand kreuz und quer über den Rasen schlurfte. Nur gelegentlich blieb er stehen, um etwas vom Boden aufzulesen. Er musste ziemlich frieren, denn er trug einen dicken Mantel mit Pelzkragen. Davon abgesehen sah er auch äußerst unzufrieden aus.

Jana musste grinsen. Manche Dinge änderten sich eben doch nie, und dazu gehörte auch Thorsten Stockhausens „Ich habe einen Kater und muss trotzdem aufräumen“-Gesicht. Auch wenn sie zugeben musste, dass der Rest von ihm sich nicht unbedingt zu seinem Nachteil entwickelt hatte.

Wie viele Mädchen mich wohl um diesen Logenplatz beneiden würden?, fragte sie sich gutgelaunt. Wenn ich wollte, könnte ich stundenlang hier sitzen und seine große, männliche Gestalt bewundern – viel früher wird er bei dem Schneckentempo ja sowieso nicht fertig.

„Go, Thorsten!“, feuerte Jana ihn halblaut an. Dann wandte sie sich mit einem leisen Kichern vom Fenster ab und somit der dunklen Hälfte des Dachbodens zu. Mit gespenstisch leuchtendem Bildschirm wartete dort auf dem staubigen Holzlattenboden das Notebook auf sie. Jana seufzte tief.

Na schön. Bringen wir es hinter uns.

Sie streckte den Rücken durch, ballte die Fäuste und schnappte sich das Notebook. Im Schneidersitz hockte sie sich auf eine halbwegs saubere Stelle am Boden – anderswo funktionierte das WLAN hier oben nicht – und öffnete den Internetbrowser.

Wahrscheinlich wäre es am besten, ich mache mir eine Liste …,grübelte sie. Bei all den Communitys, die Basti zu ihren Mitgliedern zählten, verlor man leicht den Überblick. Ein weltoffener Mensch zu sein, hatte eben auch seine Nachteile – zumindest, wenn man die seltsame Eigenart hatte, Pärchenfotos nicht zu löschen, nachdem man mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte.

Dabei war es jetzt bereits drei Monate her, dass Basti sich von ihr getrennt hatte – als zweite und eindeutig weniger schöne Überraschung an ihrem Abiball, nachdem er extra wegen ihr aus Freiburg zum Internat gereist war. (Basti war ja zwei Jahre älter als Jana und damals bereits Student.)

Er hatte wirklich gut ausgesehen in seinem schwarzen Anzug mit der weinroten Krawatte – zumindest bis zu dem Moment, als er Jana in eine stille Ecke neben eine Topfpalme zog und diese abscheuliche Trauermiene aufsetzte. Rückwirkend betrachtet tat er es vielleicht, um ihr den Abschied zu erleichtern, denn dieser Dackelblick mit der leicht vorgeschobenen Unterlippe hatte sie in den zweieinhalb Jahren ihrer Beziehung mehr als einmal bis zur Weißglut gereizt.

„Ich habe über mein Leben nachgedacht und herausgefunden, dass ich mal eine Auszeit brauche“, offenbarte er Jana mit viel Pathos.

„Du meinst … eine Auszeit von mir?“, entschlüpfte es ihr verblüfft. Basti hob abwehrend die Hände.

„Nein, nein! Das heißt … ich weiß nicht, ob das mit uns noch funktioniert. Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme nicht richtig an dich heran.“

„Aha?“

Jana wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Irgendwie ahnte sie, dass er nicht auf ihr Sexualleben anspielte, auch wenn er es theoretisch hätte tun können. Als Basti noch auf dem Internat war, fühlte sich Jana noch nicht bereit für diesen besonderen Schritt, und als sie dann eine Fernbeziehung führten, war die praktische Umsetzung etwas schwierig geworden. Allerdings war dies nicht ihr einziges Problem gewesen …

„Wahrscheinlich liegt es an mir“, griff Basti, sichtlich in Not, jetzt auf Allgemeinplätze zurück. „Lass mir einfach ein bisschen Zeit, alles zu überdenken.“

„Wenn du meinst.“ Jana kam sich schrecklich unbeholfen vor, als sie merkte, wie kalt und gleichgültig ihre Stimme klang. Warum war sie nur so? Wieso konnte sie nicht einfach ehrlich sein?

Wenn überhaupt möglich, wurde Bastis Miene noch niedergeschlagener.

„Ich fahre in einer Woche mit einem Freund nach Alaska. Wir ziehen uns dort für eine Weile aus der Zivilisation zurück und leben in einer Fischerhütte. Ich weiß nicht, ob und wie lange ich es dort aushalte, aber Ulli hat es schon mal gemacht, und er sagt, es wirkt sehr reinigend auf Seele und Geist.“

Jana schossen Hunderte Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an die vielen gemeinsamen Stunden im Musikzimmer zu Beginn ihrer Bekanntschaft im Internat, an die Wettbewerbe und Vorspiele, die sie Seite an Seite überstanden hatten, an die Harmonie, die zwischen ihnen herrschte, wenn sie musizierten … und sie wusste genau: Sie wollte Basti nicht verlieren! Sie wollte, dass er ihr sagte, was sein Problem war, damit sie gemeinsam etwas daran ändern konnten. Doch alles, was sie in diesem entscheidenden Moment herausbekam, war: „Aha?“

Immerhin riss sie sich noch genug zusammen, um hinzuzufügen: „Und für wie lange bleibt ihr in dieser … Hütte?“

„Geplant ist vorerst ein halbes Jahr, vielleicht auch länger. Je nachdem, wie es uns bekommt.“

„Oh … dann mal viel Glück.“

„Danke.“

Das war das Kapitel Basti. Seitdem hatte Jana nur noch einmal von ihm gehört, nämlich als er ihr zwei Monate zuvor eine E-Mail schickte, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Jana, die mittlerweile von der Trauer- in die Wutphase übergegangen war, hatte ihm geantwortet, dass es ihr sehr gut gehe, und ihn gebeten, ihre Pärchenfotos aus dem Internet zu löschen.

Eine Woche darauf schrieb Basti zurück, dass er für solche Albernheiten keine Zeit habe, es gebe nur ein Internetcafé in der Gegend und das sei dreißig Kilometer von ihrer Hütte entfernt. Wenn Jana die Bilder unbedingt gelöscht haben wolle, solle sie es selbst tun. Ihr Notebook habe ja alle seine Passwörter gespeichert.

Jana war daraufhin so wütend geworden, dass sie ihm weder geantwortet noch sonst irgendetwas in der Sache unternommen hatte.

Nun war sie aber aus Kanada zurück, und sie spürte, dass sie für einen Neuanfang eine klare Trennlinie zur Vergangenheit brauchte. In Filmen verbrannten Frauen oft alte Briefe, Fotos oder Kleidungsstücke ihrer Verflossenen. Das, was sie nun vorhatte, würde fast das Gleiche sein, nur eben weniger … brandgefährlich.

Sie beschloss, mit Facebook zu beginnen.

Ein wenig unwohl war ihr schon dabei, derart in Bastis Privatsphäre einzudringen. Andererseits hatte sie ja seine ausdrückliche Erlaubnis. Und als sie dann sah, was ihr lieber Exfreund ohne ihr Wissen und ihre Erlaubnis angestellt hatte, verflogen auch die letzten Skrupel:

Anstatt ihre gemeinsamen Bilder zu löschen, wie sie ihn gebeten hatte, hatte dieser Schwindler tatsächlich drei Wochen zuvor noch neue hochgeladen. Was dachte er sich dabei?

Vor sich hin knurrend markierte Jana alle Fotos, auf denen sie sich wiederfand, und drücke genüsslich auf den Löschbutton. „Ha!“

Von Facebook arbeitete sie sich weiter über Studivz zu Twitter und zu diversen Blogs und Chatrooms. Sie löschte Dutzende Profilbilder, Avatare, Albumfotos und anschließend auch die entsprechenden Passwörter von ihrem Computer. Dabei achtete sie streng darauf, nichts anzurühren, was sie nicht direkt betraf. Als sie beim letzten Chatroom ankam, den Basti ihres Wissens nutzte, sprang ihr jedoch etwas Seltsames entgegen. Kein gemeinsamer Avatar mehr, nein, dafür aber folgende Nachricht:

Gabi_hotchicken schrieb am 01.11.2007 um 1:56 Uhr:

Hi, Süßer! Ich habe gerade deine YouTube-Videos gesehen und bin voll angeturnt! Wohnst du eigentlich mit deiner Freundin zusammen? Falls nicht, könnten wir ja mal … weiterlesen

Jana blinzelte. Was war das? Wer war Gabi_hotchicken? Eine Kommilitonin von Basti? Und er und sie könnten ja mal was …?

Als sie merkte, dass sogar ein Foto angehängt war, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer.

Mach dich nicht lächerlich, das ist nur irgendein Fan … Basti würde keine Frau ansehen, die sich selbst Gabi_hotchicken nennt … oder doch? Kommt wahrscheinlich darauf an, wie sie aussieht … Männer sind eben doch Männer … aber selbst, wenn, was interessiert es mich? Er hat sich von mir getrennt, und ich bin gerade dabei, unsere gemeinsamen Fotos zu löschen! Seine Frauengeschichten gehen mich nichts mehr an … andererseits schreibt sie „deine Freundin“, damit kann ja wohl nur ich gemeint sein, also hat es doch mit mir zu tun … oder hat er inzwischen eine Neue, von der ich nichts weiß? Ist er vielleicht gar nicht mit einem Ulrich in Alaska, sondern mit einer … Ulrike? Am Ende ist er gar nicht in Alaska, sondern lebt mit dieser Ulrike in Freiburg. Dann hätte er mir aber einen ganz schönen Bären aufgebunden. Einen fetten Alaska-Grizzlybären!

Aber nein, Jana, deine Fantasie geht mit dir durch. Hier gibt es nichts für dich zu tun, also sei brav und logge dich aus … du sollst dich jetzt ausloggen! Nein, nicht auf „weiterlesen“ klicken! Nicht auf „weiterlesen“ klicken!

Ehe Jana sich versah, hatte ihr Zeigefinger sich schon verselbstständigt und die frevelhafte Tat ausgeführt. Keine zwei Sekunden später war sie bereits dabei, ganz gegen ihren Willen, dafür aber umso fieberhafter, zu lesen, was Gabi_hotchicken ihrem Exfreund mitzuteilen hatte:

Hi, Süßer! Ich habe gerade deine YouTube-Videos gesehen und bin voll angeturnt! Wohnst du eigentlich mit deiner Freundin zusammen? Falls nicht, könnten wir ja mal was unternehmen. Du könntest mir zum Beispiel das Geigespielen beibringen. Ich stehe auf Streichinstrumente, besonders auf die schönen, langen Bögen. ;-)

(An dieser Stelle stand Jana für einige Sekunden auf dem Schlauch, ehe ihr ein angewidertes „Wäh!“ entfuhr.)

Was ich biete: Goldbraunes, gewelltes Haar, bernsteinfarbene Augen und einen sportlichen Body. Außerdem studiere ich Medizin. Bei Interesse melde dich einfach: [email protected].

Knutschaa!

Das Bild, das Jana auch noch herunterlud – wenn sie schon kriminell wurde, dann richtig! – zeigte eine zierliche junge Frau in grünem Bikini, die auf einem flachen Stein saß und lächelnd die schlanken Beine ins Wasser baumeln ließ. Zu ihrer Verärgerung spürte Jana einen Stich der Eifersucht. Diese Gabi war wirklich sehr hübsch – und was noch wesentlich schlimmer war: In ihren aufgeweckten Augen leuchtete eine Intelligenz, der ihre plumpe Nachricht nicht annähernd gerecht wurde.

Nein, dachte Jana sofort, hier stimmt etwas nicht … Nur, was?