Itthona - Zsóka Schwab - E-Book
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Itthona E-Book

Zsoka Schwab

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Beschreibung

Irgendwo in unserer Welt ist sie verborgen, die Königin aller Waffen. Die Schriften besagen, dass sie hundert Heere auf einmal zerschlagen kann – äußerst praktisch, wenn man einen Krieg gewinnen will. Da in der Parallelwelt Itthona gerade einer ansteht, schickt der dortige Waldstaat Hauptmann Gregor zu uns, damit er die Waffe findet. Doch dann findet die "Waffe" ihn: Entsprungen einer Verbindung zwischen zwei sich liebenden Feinden ist die junge Kadence eine magische Urgewalt – und die glückloseste Krankenschwester unter der Sonne. Denn Kadence hat keinen Dunst, wer sie ist. Statt episch die Welt(en) zu unterwerfen, heuert sie bei dem Zauselgreis Balthasar an – für Gregor kein Grund, auf sie zu verzichten. Doch der Alte im Rollstuhl ist nicht so harmlos, wie er aussieht. Und während Gregor sich mit ihm herumschlägt, streckt auch der Feind des Waldstaates die Hand nach der "Waffe" aus …

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Seitenzahl: 588

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Zsóka Schwab

_________________

 

ITTHONA

oder

Die stille Magie der Schwester Kadence

 

Fantasyroman

 

Impressum

 

Texte: © 2019 Copyright by Zsóka Schwab

Covergestaltung: Sabina S. Schneider; für das Cover wurden Fotos von unsplash.com verwendet (erstellt von Sam Chapman, Etienne Desclides und Karl Saare)

Verlag: Zsóka Schwab, [email protected]

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

Für Pakete bitte gesondert via Kontakt oder E-Mail anfragen

 

Für meine Eltern,

die mir Familie und Freunde sind

 

Und für Felix,

mit dir ist die Welt ein verzauberter Ort

Prolog

 

In einer sternengesprenkelten Nacht erschien der Gesichtslose Hauptmann auf der obersten Stufe der Festung Hohenburg.

Die Ruine unter seinen Stiefeln thronte auf einem waldigen Berg – längst geschlagen, immer noch stolz. Eine Kleinstadt namens Homburg umarmte ihr felsiges Podest wie ein funkelnder schwarzer See.

Der Blick des Hauptmanns glitt in die Ferne: über den Bahnhof, die Brauerei, die Altstadt und die modernere Einkaufsstraße dahinter. Weiter links schlummerten Hunderte winzige Häuser, begrenzt von einem weiteren Hügel, der die Gebäude der Universitätsklinik auf dem Buckel trug. Ein struppiger Wald umzingelte die ganze Szenerie, als wollte er die Stadt verschlingen wie einen Keks.

Der Gesichtslose Hauptmann lächelte grimmig. Seine tiefgrünen Augen glommen auf. Die Irrwege, die er beschritten hatte, die zahllosen Verwandlungen und Kämpfe, die Flucht vor dem Schattengebieter des Feindes … all dies war nicht umsonst gewesen. Denn nun war er am Ziel.

Es war hier.

Und er würde Es an sich reißen, koste es, was es wolle.

 

Lang lebe König Randolf! Lang lebe Silvestria …

 

Eins

1~Balthasar

 

Irgendetwas stimmte nicht.

Balthasar spürte es, als er das Fenster öffnete. Auf den ersten Blick war alles wie gewohnt: Die jungen Linden wiegten sanft ihre Äste, und eine Brise wehte klare Morgenluft in das Wohnzimmer. Sie streichelte Balthasars schlohweißes Haar – doch da war noch etwas anderes: ein feines, unglaublich leises Vibrieren, viel schwächer als der Flügelschlag einer Wespe und dennoch nicht zu ignorieren.

Balthasar überlegte. Vielleicht war es am besten, seine Schachpartie mit Hans Tannemann im Stadtpark abzusagen und sich im Haus zu verbarrikadieren. Hans war Balthasars einziger Freund, wenn er überhaupt so etwas wie Freunde hatte: ein Jungspund von gerade mal fünfundsiebzig Jahren. Dennoch jammerte er, seitdem sie sich vor zwei Jahren im Supermarkt kennengelernt hatten, Balthasar jedes Mal mit seinen zahlreichen Wehwehchen die Ohren voll: Hans war übergewichtig, hatte Schmerzen im Kreuz, Probleme mit dem Blutdruck und war blind wie ein Maulwurf mit Augenbinde – wobei sich Letzteres auf nicht verzehrbare Gegenstände zu beschränken schien.

Apropos, ich muss dringend etwas zum Essen besorgen, fiel Balthasar jetzt ein. Mindestens zehn Köpfe Rotkohl, fünf Packungen Eisentabletten und acht Salamipizzen brauchte er, um sich zwei Wochen lang verkriechen zu können … nicht zu vergessen drei Schachteln Assam-Tee, die einzige Teesorte, die sein empfindlicher, chronisch fehlernährter Magen vertrug.

Mit einem geschickten Manöver wendete Balthasar seinen Rollstuhl und fuhr in den Parkettflur zum Schirmständer, den er als Hutablage zweckentfremdete. Mit dem schwarzen Krempenhut auf dem Kopf schloss er die Tür auf und verließ die Wohnung.

Fünf Minuten später wartete er an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus, der ihn in die Homburger Innenstadt bringen würde.

Der Himmel war bedeckt. Ein leichter Regen nieselte herab und benetzte die weißen Härchen auf Balthasars langer, schmaler Nase. Das störte ihn jedoch viel weniger als dieses Vibrieren, das er unter freiem Himmel noch deutlicher spürte als in der Wohnung. Beunruhigt klappte er den Kragen seines braunen Fleecemantels hoch und zog den Kopf tief zwischen die Schultern. Dann kam er ins Grübeln. Warum war er eigentlich beunruhigt? Was immer da im Anmarsch war, konnte ihm nicht viel tun – sicher, er war alt, behindert und schwächlich.

Doch er war alles andere als gebrechlich … und er hatte zwei Waffen, um sich zu schützen: Seinen überragenden Verstand, der bestens auf Problemlösung trainiert war. Und den Tod.

Niemand wunderte sich, wenn ein lahmer alter Mann plötzlich hopsging. Die Menschen vergruben seinen Körper, vergaßen ihn – und schon war er frei, um weiterzuziehen. Das funktionierte natürlich nur, wenn der lahme alte Mann nicht wirklich tot war. Und nicht wirklich tot war Balthasar schon sehr, sehr lange …

Mittlerweile konnte er sich besser totstellen als jeder Tote; und wenn die Luft rein war, scharrte er sich schneller aus der Erde als Houdini blinzeln konnte. Anschließend musste er nur noch die Identität wechseln, und Simsalabim, war er sämtliche Altlasten los – abgesehen von seinem Vermögen natürlich, das er vorsorglich auf mehreren Konten verwahrte. Dank einiger glückreicher Börsenspekulationen war Balthasar nämlich steinreich. Na ja, beinahe … Jedenfalls hatte er genug Geld, um nicht mehr auf das Mitleid anderer angewiesen zu sein. Er konnte sein Schicksal selbst bestimmen. Und er würde es wieder tun.

Sicher, Homburg hatte schöne Seiten – vor allem die jungen Studentinnen, die Balthasar oft aus seinem Fenster beobachten konnte, weil er in der Nähe der Uniklinik wohnte. Doch vier Jahre an einem Ort waren genug. Erst recht, wenn hier merkwürdige Dinge zu passieren begannen …

 

Balthasar war froh, als der Bus endlich um die Ecke schnaufte. Er ließ sich vom Busfahrer, einem gutmütigen Tataren, in den Passagierraum helfen und wenige Minuten später im Zentrum absetzen. Dort rollte er friedlich über den Christian-Weber-Platz Richtung Gemüsehändler, um sich seinen Bio-Kohl zu holen.

Das Vibrieren traf ihn völlig unvorbereitet: ein penetrantes, ohrenbetäubendes Surren, das sich in seinen Kopf bohrte wie ein gefräßiger Wurm in einen Apfel. Balthasar schrie auf und presste die Hände gegen die Ohren. Dann überwältigte ihn die Angst. Hastig umfasste er die Räder und stieß sich ab. Lass mich in Frieden! Der Rollstuhl bewegte sich schneller und schneller, bis Balthasar ihn nicht mehr hätte stoppen können.

Das hatte er nun davon! Er hätte sich längst nach Rostock absetzen sollen, wie er es seit Wochen plante. Er hätte sich in einen Fluss stürzen sollen und dann …

Plötzlich ruckte es. Balthasars Oberkörper wurde nach vorne geschleudert. Der Rollstuhl ächzte metallisch, und dann – Stille.

Balthasar blinzelte. Zehn Zentimeter vor ihm klaffte ein riesiges, schwarzes Loch im Boden. Das Surren hatte aufgehört. Dafür vernahm Balthasar etwas anderes: ein rasches, flatterndes Pochen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nicht sein eigenes Herz war, das er hörte. Und einen weiteren Moment, bis er den heißen Atem wahrnahm, der von hinten seine Wange streifte. Jemand zog ihn rückwärts vom Loch weg. Dann klackten die Bremsen des Rollstuhls.

„Meine Güte, das war knapp! Geht es Ihnen gut?“

Balthasar wunderte sich. Er war immer noch auf dem Christian-Weber-Platz, doch viel näher an der Straße als vorhin, direkt neben dem kastenförmigen Kaufhaus namens H&M. Doch was noch viel außergewöhnlicher war: Vor ihm kniete eine Frau.

Ihr Blick glitt forschend über sein Gesicht. Ihre Hände lagen auf seinen, die die Armstützen des Rollstuhls umkrallten.

„Alles in Ordnung?“

Balthasar schluckte trocken. „Ich … denke schon …?“

Die Frau atmete durch. „Gott sei Dank! Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Was ist denn mit Ihnen passiert?“

Verwirrt musterte Balthasar ihr schmales, überhitztes Gesicht. Sie war jung, vielleicht Anfang Zwanzig. Fast noch ein Kind … ein ausgesprochen hübsches Kind: Rötlich schimmerndes, kastanienbraunes Haar fiel aus einem zerzausten Zopf über ihre Schulter und verdeckte eines von zwei weit aufgerissenen azurblauen Augen. Während sich das Mädchen zu Balthasar hinabbeugte, bauschte sich ihre weite, blassblaue Regenjacke und bot freien Blick auf eine leicht schlaksige und doch frauliche Figur in Wollpulli und Jeans.

Leider war Balthasar noch zu durcheinander, um angemessen auf diesen Anblick zu reagieren.

„Wo kommt denn auf einmal dieses Loch her?“, murmelte er. Dann erblickte er das rote Absperrband in seinem Schoß. Oh.

„Ich frage mich, wie lange sie noch an diesen Wasserleitungen arbeiten wollen“, knurrte er peinlich berührt. „Dieses Loch ist ja gemeingefährlich!“

„Allerdings. Sie hätten sich das Genick brechen können, wenn Sie hineingefallen wären.“

Balthasar rückte benommen seinen Hut zurecht. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte ihm das durchaus passieren könnten. Das Mädchen stieß einen weiteren Seufzer aus und erhob sich. „Warten Sie einen Moment.“ Sie verschwand aus Balthasars Blickfeld, kehrte aber rasch zurück und legte ihm seine schwarze Lederbörse in den Schoß.

„Das haben Sie vorhin verloren. Ich wollte sie Ihnen wiedergeben, aber dann rollten Sie plötzlich los, als wäre jemand hinter Ihnen her. Sie … haben nicht zufällig Stimmen gehört, die Ihnen das befohlen haben?“

„Nein, aber anscheinend haben sich die Bremsen gelöst …“

Balthasar steckte seine Börse in die Manteltasche. „Danke für Ihre Hilfe, Fräulein.“

Das Mädchen betrachtete ihn noch immer mit schief gelegtem Kopf, so eindringlich, dass er errötet wäre, wenn er gekonnt hätte.

„Nein, so kann ich Sie nicht alleine lassen. Dieses Ding ist ja offensichtlich kaputt, und wenn so etwas wieder passiert … kommen Sie, ich schiebe Sie nach Hause und mache Ihnen einen Tee gegen den Schreck.“

„Was?“

Was wollte diese Frau von Balthasar? Zugegeben, die Vorstellung, sie für sinnliche Vergnügungen in seine Wohnung zu locken, hatte ihren Reiz. Aber das hier ging Balthasar jetzt doch ein wenig zu schnell – und vor allem zu einfach!

Er wusste ja nicht einmal, ob er ihr trauen konnte. Als das Surren eingesetzt hatte, musste sie ganz in seiner Nähe gewesen sein … Nein, diese Angelegenheit gefiel Balthasar ganz und gar nicht. Er wollte protestieren, doch da setzte sich sein Rollstuhl in Bewegung.

„Wer sind Sie eigentlich?“, raunzte er etwas unhöflich.

„Mein Name ist Kadence Isberg“, antwortete das Mädchen. „Ich bin Krankenschwester in der Uniklinik.“

„Kadence?“, wiederholte Balthasar, während lateinische Konjugationen durch sein Hirn ratterten. „Cadens“ war Partizip Präsens aktiv von „cadere“. Somit hieß das Fräulein … die fallende Isberg? Komischer Name …

„Balthasar von Gundelstein, sehr erfreut“, erwiderte Balthasar automatisch – und biss sich auf die Zunge. Verdammt, jetzt wusste sie, wie er hieß!

„Wo wohnen Sie denn?“, fragte die Fallende.

„Ähm … ähm …“

Der Rollstuhl blieb so abrupt stehen, dass Balthasar beinahe vornüber auf den Asphalt klatschte. Das Mädchen beugte sich über seine Schulter.

„Oh nein … könnte es sein, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben? Dann bringe ich Sie besser gleich in die Neurologie.“

Gott bewahre! Balthasar kannte Krankenhäuser nur aus Büchern und Fernsehen, doch er wusste sehr gut, was dort lauerte: Pathologen – Leichenschänder! Jemand wie Balthasar würde unweigerlich bei ihnen landen. Und ihnen entging nichts …

„Nein!“, schrie Balthasar. „Keine Klinik! Krautstraße 97, da wohne ich!“

„Ah, okay. Das ist in diesem ruhigen Viertel am Waldstadion, richtig?“

Balthasar drückte die Fingerspitzen auf seine Nasenwurzel und nickte schicksalsergeben. Noch nie hatte er jemandem seine Adresse verraten. Nie! Er war so verärgert über seine eigene Unbeholfenheit, dass er sogar das unheimliche Surren und seine Todesangst vergaß.

So wunderte er sich auch nicht über die Gestalt, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einer Betonsäule stand und ihn aus schmalen, kleegrünen Augen ansah.

2~Kadence

 

Was ist bloß in mich gefahren?

Dieser Satz echote während des ganzen Nachmittags durch Kadences Kopf. Sie dachte es, während sie den alten Mann in einen klapprigen Aufzug aus den fünfziger Jahren schob und mit ihm in den zweiten Stock fuhr. Sie dachte es, während sie ihm in seine parkettbelegte Wohnung folgte, die aus einem schmalen Flur, drei Zimmern, einem kleinen Bad mit Wanne und einer hellen Küche mit gelben Vorhängen bestand. Und auch jetzt, während sie sich im Wohnzimmer gegenübersaßen – Kadence in einem samtbezogenen Ohrensessel und der alte Herr in seinem Rollstuhl – und jeder seinen Tee schlürfte, fragte sich Kadence, was in aller Welt in sie gefahren war.

Unschlüssig, was sie sagen sollte, ließ sie den Blick über die Einrichtung wandern: Ein riesiger roter Perserteppich bedeckte den hellen, nach Bohnerwachs duftenden Parkettboden, auf dem sie saßen. In einer Ecke stand ein geschmackvoller Holzsekretär mit einer antiken Leselampe aus Messing. An der Wand reihten sich mehrere überquellende Bücherregale und sogar ein altes Jugendstilklavier mit Kerzenständern am Notenpult. Dort, wo keine Schränke waren, hingen Imitate von Monet-Gemälden – liebliche Sommerlandschaften in Pastellfarben. Der ganze Raum war dank der weiten Fenster lichtdurchflutet. Schön …

„Leben Sie alleine hier?“, durchbrach Kadence die Stille. Herr von Gundelstein nickte. Er wirkte ein wenig blass um die Nase, vielleicht stand er noch unter Schock. Womöglich litt er aber auch einfach an Blutarmut wie viele alte Menschen.

Wenn sie ihn sich so ansah, war das sogar wahrscheinlich: Der Arme war ja nur Haut und Knochen! Seine gründlich rasierten Wangen waren eingefallen und sein schütteres weißes Haar stumpf. Die kleinen, hellgrauen Augen jedoch funkelten vor Leben und Intelligenz.

„Haben Sie denn noch Angehörige in der Stadt?“, fragte Kadence weiter. Ihr war aufgefallen, dass nirgends Fotos aufgestellt waren. Herr von Gundelstein nippte an seinem Assam-Tee.

„Meine Verwandten sind bereits gestorben.“

„Was, Sie meinen alle?“

Der alte Mann zuckte derart zusammen, dass es Kadence sofort leidtat. „Entschuldigen Sie bitte, es geht mich natürlich nichts an.“

„Ach, es ist schon lange her. Ein Flugzeugunglück, wissen Sie.“

„Oje …“, hauchte Kadence, überwältigt von Mitgefühl. Armer alter Mann.

„Also haben Sie niemanden, der für Sie sorgt? Kommt nicht wenigstens der Pflegedienst vorbei?“

„Ich komme schon zurecht … Und Sie? Leben Sie hier mit Ihrer Familie?“

Kadences Magen verkrampfte sich. Sie lächelte bitter.

„Ach nein … Ich bin hier aufgewachsen, aber meine Eltern sind vor zwei Jahren nach Berlin gezogen, und mein Freund hat vor einer Woche mit mir Schluss gemacht.“

Sie hielt die Luft an. Zum hundertfünfzigsten Mal: Was war heute in sie gefahren? Hier saß sie im Wohnzimmer eines Wildfremden und vertraute ihm Dinge an, über die sie nicht einmal mit ihrer besten Freundin gerne sprach.

„Dafür habe ich jetzt einen Kater“, lächelte sie, um ihren Fauxpas wiedergutzumachen. Herr von Gundelstein zog eine seiner beweglichen weißen Augenbrauen in die Höhe.

„Tut mir leid, mit Schmerztabletten kann ich nicht dienen.“

Das brachte Kadence zum Lachen: „Aber nein, keine Kopfschmerzen. Ich meine, ich habe einen echten Kater. Eine männliche Katze. Sie heißt Bert. Martin … äh … mein Ex-Freund hat ihn mir sozusagen vererbt.“

„Sie haben wohl viel für die beiden getan.“

„Ach, Bert ist nicht sehr anspruchsvoll. Und Martin … tja …“

Kadence überlegte. Was konnte sie über Martin sagen?

Eigentlich kaum etwas. Dabei kannte sie ihn schon über ein Jahr. Sie sah ihre erste Begegnung vor sich, als wäre es erst gestern gewesen …

Damals hatte Martin als Assistenzarzt in der Psychiatrie angefangen, auf derselben Station, wo auch Kadence arbeitete.

„Oho!“, hatte Millie, ihre Kollegin und beste Freundin, gerufen, als sie seine stattliche Statur erblickten. „Ein Mister Anabolikum! Herr, beschütze uns …“

Kadence konnte ihren Hohn nicht teilen. Zwar hatte auch sie keine Vorliebe für Muskelprotze, doch Martin war … irgendwie nett. In den darauffolgenden Wochen nahm er sie oft beiseite, scherzte mit ihr und veräppelte jeden, der gemein zu ihr war. Bald fühlte sie sich in seiner Gesellschaft so sorglos und unbeschwert, dass sie am liebsten den ganzen Tag bei ihm gewesen wäre. Und ab da ging es mit ihr bergab.

Wenn Martin in der Nähe war, schien in Kadences Kopf ein Zahnrad zu blockieren: Sie wurde fahrig, ließ Nachttöpfe fallen, verwechselte Blutröhrchen und stach sich bei der Blutzuckerkontrolle in den eigenen Finger. Und als Martin ihr einmal vom Ärztezimmer aus zuzwinkerte, überfuhr sie mit einem leeren Patientenbett versehentlich Oberschwester Brunhilde.

„Kadence Isberg! Jetz’ hann isch aber die Faxen dicke! Du Dummbeidel wirschd uns noch alle umbringe!“, echauffierte sich die Oberschwester, während sie ihren breiten Hintern aus dem Wäschewagen befreite.

„Gibt es ein Problem, Mädels?“

Martin trat an die vor Bestürzung erstarrte Kadence heran und legte beschützend die Hand auf ihre Schulter. Bei seinem Anblick plusterte sich Oberschwester Brunhilde auf wie eine wütende Pute.

„Misch du dich da gefälligst net ein, Jungsche! Des isch unsre Saach!“

„Martin … ist schon gut …“, stammelte Kadence mit glühenden Wangen. Am liebsten wäre sie selbst in den Wäschewagen gekrabbelt.

„Nein, das hier ist alleine meine Schuld“, versicherte Martin ritterlich und drückte ihre Schulter, während er mit der anderen Hand das Bett lässig aus dem Weg schob.

„Ich habe Kadence abgelenkt, es tut mir sehr leid. Bitte schimpfen Sie nicht mit ihr.“

„Ähs hat sisch aber net ablenke zu lasse! Passen Sie nur uff, die wird uns alle umbringe! Fuffzehn Beschwerden alleine diesen Monat! Fuffzehn!“

„Nun seien Sie doch nicht so streng. Jeder hat mal eine schlechte Phase. Stimmt’s, Kady?“

An diesem Tag gingen sie das erste Mal miteinander aus und wurden sofort ein Paar.

Martin war für Kadence der sprichwörtliche strahlende Ritter in weißem Kittel. Sie hätte alles, und zwar wirklich alles für ihn getan. Wenn er abends etwas mit ihr unternehmen wollte, ging sie mit, egal, wie müde sie war. Als er eine schwere Magen-Darm-Grippe hatte, wachte sie drei Nächte lang an seinem Bett und steckte sich schlimmer an als er. Sie kochte für ihn, putzte seine Wohnung, fütterte seinen Kater und verteidigte ihn, wann immer jemand ein böses Wort über ihn verlor.

Das schloss auch Millie mit ein.

„Ich will dich ja nicht nerven“, begann diese, als sie sich eines Abends zum Feierabend umzogen. „Aber ich habe deinen Martin vorhin mit der blonden Neurologin in der Cafeteria sitzen sehen, und er hatte seine Stielaugen eine Etage tiefer als es mir gefällt.“

„Vielleicht hat er auf ihr Namensschild geschaut“, murmelte Kadence, während sie ihre Turnschuhe band – und einen der Schnürsenkel abriss.

Millie knabberte an ihrem kugelförmigen Unterlippenpiercing. „Kady … sei mir nicht böse, aber ich schwöre, der geht fremd.“

„Unsinn, so etwas würde er nicht tun.“

Plötzlich knallte neben Kadences Kopf die Spindtür zu.

„Verdammt, ich kann das nicht länger mit ansehen! Du bist dreiundzwanzig und könntest jeden haben! Doch dein Leben dreht sich nur um einen Typen, der sich durch die halbe Klinik vö…“

„Emilia!“

Millie schüttelte ihre blauschwarze Mähne und schnaubte.

„Okay. Dann sag mir mal, wann er das letzte Mal etwas für dich getan hat. Wann hat er dir Blumen mitgebracht? Oder ist mit dir irgendwohin gegangen, wo du hinwolltest?“

„Er lernt eben für seine Promotionsprüfung, Millie. Das ist eine wichtige und kritische Phase. Als seine Freundin muss ich darauf doch Rücksicht nehmen …“

„Dass ich nicht lache. Der Arsch nutzt dich nach Strich und Faden aus!“

Nun, im Nachhinein musste Kadence ihrer Freundin zugestehen, dass sie wohl mehr Menschenkenntnis besaß als sie. Wobei es in den letzten Wochen nicht einmal ihr selbst entgangen war, diese feine Distanz, die sich zwischen ihr und Martin gebildet hatte wie eine durchsichtige Wand …

Eines Tages erhielt sie eine SMS von ihm:

„Ich denke, es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen“, schrieb er. „Du bist einfach zu gut für mich oder ich nicht gut genug für dich … Tut mir leid. Bert darfst du aber behalten. Der dicke Pastetenvernichter mag dich sowieso lieber als mich, und vielleicht tröstet er dich ein wenig. Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, du findest dein Glück. Martin.“

Damit war das Thema für ihn erledigt – einfach so. Kadence hatte bis heute nicht begriffen, was da eigentlich passiert war. Aber langsam formte sich eine dunkle Ahnung in ihr.

„Ich weiß nicht“, murmelte sie, noch immer halb in Erinnerungen versunken. „Irgendwie schien er von mir enttäuscht … umso mehr, je besser er mich kennenlernte …“

Wie bitte?, donnerte Millie in ihrem Kopf. Bist du jetzt völlig übergeschnappt?

Kadence seufzte. Du verstehst das nicht, Millie. Ich wurde in jeder meiner bisherigen Beziehungen verlassen. Das Einzige, was diese Beziehungen gemeinsam hatten, war ich, also muss es irgendwie an mir liegen. Das ist doch ganz logisch.

Ein Räuspern holte Kadence in die Realität zurück – diesmal endgültig. Sie saß immer noch im stillen, lichterfüllten Wohnzimmer Herrn von Gundelsteins. Seine grauen Augen blickten in ihre – voller Mitgefühl und Ruhe, doch gleichzeitig derart durchdringend, als könnten sie in ihre Seele schauen.

„Verzeihen Sie …“, begann er sanft und faltete die knorrigen Hände im Schoß. „Ich hoffe, ich bin nicht indiskret, aber … gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie momentan allein leben?“

Kadence schluckte hart. Jetzt bloß nicht wieder heulen! Die vergangene Woche war schon schwer genug gewesen: Martin jeden Tag in der Arbeit zu sehen, mitzuerleben, wie er sich von ihr abwandte, um mit der neuen Praktikantin zu flirten …

„Ja“, krächzte sie. „Ich bin allein.“ So allein wie nie zuvor …

Herr von Gundelstein kramte in seiner Hosentasche und reichte ihr ein gefaltetes Baumwolltaschentuch, das sie dankbar annahm. Sie schnäuzte sich geräuschvoll.

„Entschuldigung, Sie haben selbst genug Probleme. Ich weiß gar nicht, weshalb ich Sie so vollschwatze.“

„Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Ich höre gerne zu.“

Die hellgrauen Augen lächelten freundlich … und wie von Zauberhand fühlte Kadence sich besser.

„Herr von Gundelstein …“, hörte sie sich sagen.

„Fräulein Isberg?“

„Sie hätten nicht zufällig Interesse an einer Krankenschwester?“

Der alte Herr machte große Augen. „Sie meinen, Sie wollen hier einziehen?“

Kadence stutzte. „Was? Nein, so habe ich das nicht gemeint! Ich … dachte, ich könnte einfach jeden Tag herkommen und ein bisschen für Sie kochen, den Haushalt erledigen und dabei nach Ihrer Gesundheit sehen.“

Herr von Gundelstein wirkte skeptisch.

„Hm … und was ist mit Ihrer momentanen Anstellung? Da gibt es doch bestimmt eine Kündigungsfrist?“

Kadence winkte ab. „Was das angeht, kann ich bestimmt mit Oberschwester Brunhildes Unterstützung rechnen.“

„Will diese Oberschwester Sie etwa so dringend loswerden?“

Kadence schoss das Blut in die Wangen.

„Nun ja, wenn ich ganz ehrlich bin, ist es so, dass ich manchmal … äh, etwas ungeschickt bin.“

Sie senkte den Blick auf ihre Tasse.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe niemals … einen Patienten gefährdet. Ich habe nur ein paar ärgerliche Fehler gemacht und neulich … einen Schrank umgestoßen … leider mit Medikamenten drin …“

„Verstehe.“

„Es waren an die zweihundert Glasampullen“, fuhr Kadence mit zitternder Stimme fort, „und als ich die Scherben aufsammeln wollte, habe ich mich ganz unglücklich geschnitten. Fragen Sie nicht, wie, aber irgendwie habe ich eine Pulsader erwischt und dann war alles voller Blut und die Praktikantin fiel in Ohnmacht und … ach, reden wir nicht mehr darüber.“

Falls überhaupt möglich, wirkte Herr von Gundelstein jetzt noch blasser als zuvor.

„Die Pulsader erwischt …“, hauchte er heiser, die Finger um die Armstützen seines Rollstuhls verkrampft. „Du meine Güte …“

Kadence zog den linken Ärmel ihres Pullovers zurück und brachte einen weißen Verband an ihrem Handgelenk zum Vorschein. „Ich erzähle Ihnen das, damit Sie nicht denken, ich hätte das absichtlich gemacht … ich mag ja gerade ein Tief durchmachen, aber so etwas würde ich niemals absichtlich tun, verstehen Sie? Ich will in Zukunft auch besser aufpassen, aber bitte, bitte stellen Sie mich ein!“

Herr von Gundelstein riss seinen Blick von ihrem Handgelenk los. Er befeuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge, dann schenkte er Kadence ein breites Lächeln.

„Wann könnten Sie denn anfangen?“

3~Gregor

 

Es war zum aus der Haut fahren!

Seit drei Wochen steckte Gregor, der Gesichtslose, in dieser Einöde fest und konnte noch immer keine Erfolge verzeichnen.

Dabei hatte er gleich in der Nacht seiner Ankunft ein Suchsignal ausgesandt – ein prächtiges Suchsignal, das dieses lausige Homburg ordentlich durchschüttelte: Die Wälder erzitterten, die Fensterläden klapperten und verdatterte Tauben flatterten inmitten der Nacht durch die Straßen. Nur die menschlichen Einheimischen merkten nichts, weder am Anfang, als das Signal am stärksten war, noch während der darauffolgenden Wochen, in denen es nach und nach verhallte. Inzwischen war nur noch ein müdes Hüsteln davon übrig, das keinen großen Effekt mehr versprach.

Nur einmal, ein einziges Mal zu Beginn, hatte Gregor geglaubt, eine leise Resonanz zu fühlen – nämlich als dieser alte Kauz im Rollstuhl beinahe von der Erde verschlungen worden wäre.

Aber er hatte sich getäuscht. Wer würde auch ausgerechnet so einem alten Zausel etwas derart Wertvolles wie Es anvertrauen? Wobei der Alte dennoch eindeutig eine magische Aura ausstrahlte – vermischt mit einem beinahe schon kriminellen Geruch nach modrigem Kohl.

Vielleicht ist er eine Art vegetarischer Ghul, überlegte Gregor, der solche Gestalten von Zuhause kannte. Einer, der statt Leichen verrottetes Gemüse frisst und den Rollstuhl als Tarnung nutzt, um seine Eselsbeine zu verbergen … womöglich ist er aus Itthona geflohen und hat sich in dieser Welt eingenistet … Gregor würde ihn auf jeden Fall im Auge behalten, soviel stand fest. Und seine junge Pflegerin ebenfalls. An ihr schien zwar nichts außergewöhnlich zu sein, aber vielleicht täuschte der erste Eindruck. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sich hinter einem vermeintlich harmlosen Wesen ein zwölfäugiges, sabberndes Monster mit Harpunenzähnen und schleimigen Tentakeln verbarg.

Also postierte sich Gregor jede Nacht vor dem Haus des Alten und wartete, ob sich etwas rührte. Leider rührte sich nie etwas, woraus Gregor schloss, dass der Alte entweder verflixt gerissen war oder tatsächlich die Nächte durchschlief. Tagsüber flog Gregor hin und wieder in Gestalt einer Elster auf sein Fensterbrett und linste in die Küche hinein. Er konnte sich fast darauf verlassen, dort das Mädchen vorzufinden.

Manchmal saß sie am Küchentisch und schälte Kartoffeln für den alten Ghul oder schnitt ihm Gemüse klein. Meist stand sie jedoch in einer gepunkteten Küchenschürze am Herd und rührte emsig in einem dampfenden Kessel herum. Ein herziger Anblick, doch leider nutzlos. Da Gregors sonstige Streifzüge durch die Stadt aber weiterhin erfolglos blieben, kehrte er immer wieder zum Haus des alten Ghuls zurück. Immerhin schien er schon seit Längerem in dieser Stadt zu leben, vielleicht wusste er ja doch etwas über Es. Das hieß zwar noch nicht, dass er freiwillig mit dieser Information herausrücken würde. Aber wenn er sich bockig zeigte, hatte Gregor immer noch seine Mittel, um nachzuhelfen.

So wartete er an einem Freitagabend, bis das Mädchen um halb sechs die Wohnung verließ, und schlich sich als rotweiß gestreifter Kater durch die Eingangstür. Im zweiten Stock sprang er auf magischem Weg durch die Wohnungstür und suchte den Hausherrn.

Der Ghul, dick verpackt in einen geschmacklosen roten Morgenmantel, thronte auf seinem Rollstuhl im Wohnzimmer und sah äußerst unzufrieden aus. Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch neben ihm stand eine Schüssel mit Salat. Gregor schnupperte: Kleingeschnittene Paprika, Gurken, Karotten, Zwiebeln, Pilze und Basilikumsoße. Lecker! Er verstand gar nicht, weshalb der Ghul ein so saures Gesicht machte. Kurzerhand beschloss er, ihn anzusprechen.

„Na, Kumpel? Unter die Vegetarier gegangen?“

Die Überraschung gelang: Der Ghul erschrak nicht einfach bloß, er fuhr so heftig zusammen, dass seine Knie gegen die Tischplatte stießen. Die Gemüsestückchen flogen durch die Luft wie Konfetti.

„Wer ist das? Wer spricht da?“

Gregor schüttelte missbilligend sein rundes Köpfchen.

„Jetzt hast du dein Festmahl zerstört … andererseits, wenn das Zeug übers Wochenende da liegen bleibt, schmeckt es dir am Montag bestimmt besser.“

Der Ghul riss seinen Rollstuhl herum und glotzte Gregor an, als hätte er noch nie eine sprechende Katze gesehen.

„Wer bist du? Und wie kommst du hier rein?“

Gregor setzte sich gemächlich auf den Perserteppich und putzte seinen Katzenbart.

„Also wirklich, was ist mit deinen Instinkten los? Ich beobachte dich schon seit fast einem Monat.“

Der Alte biss die Zähne aufeinander. Offenbar war das wirklich eine Neuigkeit für ihn.

„Was willst du von mir? Ich habe niemandem etwas getan! Ich lebe friedlich unter den Menschen!“

Gregor seufzte, erhob sich majestätisch vom Boden und schlenderte vor die Füße des Ghuls.

„Es ist mir völlig egal, was du hier machst oder wen du auffrisst. Ich bin nicht vom AMO.“

„AMO?“

Gregor stutzte. „Du kennst das Amt für magische Ordnung nicht? Was für ein Ghul bist du eigentlich?“

Der Alte schnappte nach Luft. „Na, jetzt schlägt’s aber dreizehn! Ich bin überhaupt kein Ghul!“

„Und was bist du dann?“

„Sag ich nicht.“

„Dann verrate ich dir auch nicht, was ich bin“, fauchte Gregor etwas patzig. Zu seiner Verärgerung lachte der Alte schallend auf.

„Wie kommst du darauf, dass mich das interessiert?“

So, wir werden also frech? Gregor beschloss, sich ein wenig Respekt zu verschaffen, und nahm die Gestalt eines Hünen in schwarzem Lederoutfit an. Um den Effekt zu verstärken, verpasste er sich zudem eine Punkfrisur in Regenbogenfarben sowie eine beachtliche Reihe Augenbrauenpiercings. Er stemmte die kindskopfgroßen Fäuste in die Hüften.

„So, und jetzt hör mir zu, Freundchen!“, dröhnte er in tiefem Bass und Dolby-Surround-Sound. „Ich habe zwar gesagt, dass ich nicht vom AMO bin, aber der Hohe Orden stellt, wie schon der Name verrät, eine höhere Instanz dar. Ich kann dir durchaus Schwierigkeiten bereiten, wenn du nicht kooperierst.“

Der Alte legte den Kopf schief und blinzelte wie eine Eule.

„Hoher Orden? Nie davon gehört.“

Gregor rutschte die Sonnenbrille von der Nase. „Du kennst nicht den Hohen Ord…? Hör zu, ich habe weder Zeit noch Lust dir hier Nachhilfeunterricht zu geben. Es ist ganz einfach: Ich habe eine Frage an dich und ich erwarte, dass du sie nach bestem Wissen und Gewissen beantwortest!“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Wenn es sich nicht vermeiden lässt.“

Gregor nahm auf einem Sessel Platz, der für seinen muskulösen Hintern eigentlich zu eng war, und beugte sich vor.

„Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber es liegt Ärger in der Luft: Silvestria steht an der Schwelle zum Krieg mit Bergland, und wenn wir nicht aufpassen, wird Technika mitreingezogen.“

„Technika?“

„Diese Welt hier!“, raunzte Gregor ungeduldig. „Die nicht magische Welt. Im Gegensatz zu unserer Welt Itthona jenseits des Spiegels … sag mal, weißt du denn überhaupt irgendetwas?“

Der Alte murmelte etwas Beleidigtes in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Der Punkt ist“, fuhr Gregor fort, „hier in Homburg befindet sich eine mächtige Waffe, die uns Silvestrianern gehört. Wie sie aussieht oder woraus sie besteht, weiß niemand. Aber es steht in unseren Chroniken, dass einst Arawin, der mächtigste Weiße Weise Silvestrias, sie vor über zwanzig Jahren hier versteckt hat. Meine Frage an dich lautet nun: Ist dir, seitdem du hier lebst, irgendetwas Bemerkenswertes aufgefallen? Etwas, das auf den Aufenthaltsort unserer Waffe hindeuten könnte? Es geht um das Leben tausender Unschuldiger!“

Der Alte schluckte hörbar.

„Ich … habe vor einigen Wochen eine Art Vibrieren verspürt.“

Gregor nickte.

„Als ich hier ankam, habe ich ein Suchsignal ausgesendet. Ist Es irgendwo in der Nähe, interferiert Seine Aura – das ist eine permanente Schwingung, die alle magischen Dinge und Wesen aussenden – mit dem Signal und wird verstärkt.“

Der Alte brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Er tupfte sich mit einem Stofftaschentuch über die faltige, staubtrockene Stirn.

„Aber, wenn das so gut funktioniert, wieso machst du es dann nicht einfach noch einmal? Dieses Signal aussenden?“

Gregor knurrte. „Leider kostet es sehr viel Energie. Ich kann es nur einmal alle zwei Monate machen …“

„Und du hast keinen Kollegen, der dir bei der Suche hilft?“

„Meine Schwester ist Mitglied der königlichen Leibgarde und muss daher im Palast bleiben“, murrte Gregor, der sich allmählich wirklich im Stich gelassen fühlte.

Der Alte schnalzte mit der Zunge. „Dann würde ich an deiner Stelle deine Energie nicht bei mir vergeuden. Ich habe nichts, und wie du selbst schon bemerkt hast weiß ich auch nichts.“

„Nichts da!“ Die Gemüsestückchen machten wieder Luftsprünge, als Gregor mit der Faust auf den Wohnzimmertisch schlug. „Irgendeine hilfreiche Fähigkeit wirst doch wohl selbst du haben! Oder willst du mir allen Ernstes erzählen, du sitzt hier nur herum und lässt dich durchfüttern?“

„Mein Lebensstil ist alleine meine Angelegenheit“, erwiderte der Alte frostig und zog den Morgenmantel enger um seinen Körper. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mich ab jetzt mit deinem Unsinn in Ruhe lassen würdest. Ich habe schon genug Kriege überlebt, um zu wissen, dass man völlig von Sinnen sein muss, um bei einem solchen Blödsinn mitzumachen. Da ich weder dein Silvestria noch dieses Bergland kenne, fühle ich mich auch nicht versucht, etwas an dieser Einstellung zu ändern.“

Gregor war, als würde ein riesiger Ballon in ihm anschwellen und seine Brust jeden Moment zum Platzen bringen. Was für ein sturer alter Narr!

„Also schön, wie du willst!“, versetzte er, während er aufstand. „Aber eines lass dir gesagt sein: Ich mag der Erste sein, der gekommen ist, aber ich bin bestimmt nicht der Letzte! Früher oder später werden die Bergländer über dich stolpern, und mit diesen Typen ist nicht gut Kirschen essen … am allerwenigsten mit ihrer Königin!“

„Danke für die Warnung, ich kann auf mich aufpassen.“

„Schön!“

Gregor war so wütend, dass er sich nicht die Mühe machte, zur Tür zu gehen. Er stieß einfach das Fenster auf und sprang hinunter, ohne sich noch einmal nach dem Greis umzudrehen.

Federnd fing er seinen Fall ab und erschreckte ein Großmütterchen, das auf der anderen Straßenseite ihren Dackel Gassi führte, halb zu Tode. Es war ihm egal. Er war bedient.

Wenn der General wollte, dass er Erfolg hatte, sollte er ihm eine Einheit schicken, die dieses verflixte Homburg von oben bis unten durchkämmte. Wenn ich doch wenigstens wüsste, wonach ich suche! Es half alles nichts, er musste sich beruhigen, den Kopf freibekommen. Vor allem aber musste er aus dieser fremden Gestalt raus. Er war schon viel zu lange nicht mehr er selbst gewesen …

4~Balthasar

 

Was für ein unverschämter Bengel!

Noch nie in seinem Leben war Balthasar derart beleidigt worden. Da bricht der Kerl einfach mir nichts, dir nichts in seine Wohnung ein und lässt ihn wie einen Idioten dastehen.

„Silvestria, Bergland, Krieg. Pah!“

Die ganze Nacht saß Balthasar in seinem Rollstuhl, starrte durch das offene Fenster auf die blasse Mondsichel und grübelte über seinen magischen Besuch. Ob diese Bergländer tatsächlich kommen und ihn mit ihrem Unsinn belästigen würden? Was waren das eigentlich für Leute? Balthasar fröstelte bei dem Gedanken, dass irgendwelche haarigen Ungeheuer bei ihm eindringen und Erklärungen fordern könnten, die er – trotz seiner großen Weisheit – zu geben nicht imstande war.

Als die Morgensonne über den Horizont lugte, hockte Balthasar immer noch am Fenster und grübelte. Irgendetwas musste geschehen. Er konnte zum Beispiel versuchen, dafür zu sorgen, dass der Katzenbengel wiederkam, und ihm ein Tauschgeschäft anbieten: Seine, Balthasars, wertvolle Hilfe bei der Suche nach seinem Dingsbums gegen Information über diese andere, magische Welt. Wie er seinen Teil des Geschäftes erfüllen sollte, war Balthasar zwar schleierhaft, aber Bereitschaft zeigen konnte er allemal. Oder er entschied sich für die Alternative …

Ein letztes Mal sog Balthasar die taufrische Morgenluft tief in seine Lungen. Dann wendete er seinen Rollstuhl und fuhr geschwind in die Küche. Wie sollte er es diesmal anstellen? Sich erdolchen? Er öffnete eine Schublade und zog ein langes Fleischmesser heraus. Die ersten Sonnenstrahlen ließen die scharfe Klinge goldgelb funkeln.

Es war eine Möglichkeit. Andererseits würde es ohne Blut sehr unglaubwürdig wirken. Also vielleicht doch der gute alte Schlaganfall?

„Herr von Gundelstein, Sie sind schon auf?“

Hätte Balthasars Herz noch geschlagen, hätte es in diesem Moment ausgesetzt. Unwillkürlich presste er die Hand auf die Brust. „Kadence! Wie können Sie mich so erschrecken?“

Das Mädchen riss die Augen auf. „Oh, das tut mir leid! Ich habe mich nur gewundert, dass Sie … ooh!“

„Was ist denn?“

„Sie … Sie haben da ein M…M…Messer … in Ihrer B…B…Brust. Nicht bewegen! Ich rufe den Notarzt!“

Sie wirbelte herum und stürmte mit wehenden Haaren aus der Küche. Verdutzt blickte Balthasar an sich hinunter. Tatsächlich, das Fleischmesser steckte gut fünf Zentimeter tief in seiner Brust – und zwar genau auf Herzhöhe. Ups.

„Kadence, warten Sie, keine Polizei! Ich meine, keinen Arzt, bitte, mir geht es gut!“ Mit einem beherzten Ruck zog Balthasar das Messer heraus. Wenn ihm jetzt nichts wirklich Gutes einfiel, war er erledigt.

„Schauen Sie her, da steckt kein Messer!“, rief er Kadence hinterher. „Ich hatte es mir nur unter den Arm geklemmt, um mir … äh … die Achseln zu rasieren.“

Kadences kleine, sommersprossige Nase erschien im Türrahmen. „Sie wollten … was rasieren?“

Balthasar winkte sie zu sich.

„Kommen Sie her. Setzen Sie sich.“

Kadence zögerte einen Moment, dann trat sie näher und setzte sich ihm schüchtern gegenüber. „Aber … es sah wirklich so aus, als ob …“

Sie trug immer noch ihre beigefarbene Frühlingsjacke, darunter Jeans und hohe Stiefel, die ihre schlanken Fesseln betonten. Sie sah im wahrsten Sinne des Wortes zum Anbeißen aus, aber davon durfte Balthasar sich nicht ablenken lassen. Was jetzt anstand, war:

„Schauen Sie mir in die Augen.“

Kadence schaute.

„Sehe ich so aus, als ob ich fähig wäre, mir ein Messer in die Brust zu rammen? Schon allein physisch.“

Kadence zögerte wieder, schüttelte dann aber den Kopf.

„Irgendwann werde ich sterben. So will es die Natur“, verkündete Balthasar pathetisch. Es war nur fair, sie darauf vorzubereiten. „Und wahrscheinlich wird es bald sein … Aber das ist schon in Ordnung, denn wissen Sie, ich habe sowieso keine Angehörigen mehr, und ich habe mein Leben gelebt. Es wird also Zeit, dass …“

„Nein!“, platzte Kadence heraus und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. „So dürfen Sie nicht denken. Ich weiß, Sie sitzen in diesem Rollstuhl fest und glauben, das Leben hätte nichts mehr zu bieten … Sie haben keine Ahnung, wie oft ich das in der Klinik erlebt habe. Zuerst reden sie nur darüber und am Ende … am Ende …“

Zu Balthasars großem Erstaunen wurden ihre Augen feucht. Sie weinte. Wegen ihm! Aber wieso? Sie war doch nicht etwa in ihn …?

„Kadence … Sie machen sich wirklich Sorgen um mich?“

Während sie ihn seelenvoll ansah, wanderten Balthasars Augen auf die runden Erhebungen, die sich unter ihrer Jacke abzeichneten.

Nein!, rief er sich zur Ordnung. Dafür hatte er keine Zeit. Er musste schleunigst sterben, bevor diese ominösen Bergländer kamen und ihn womöglich wirklich abmurksten.

Andererseits, in der nächsten Viertelstunde würden die ja wohl kaum hier auftauchen. So viel Zeit blieb also noch, um eventuell …

„Natürlich mache ich mir Sorgen um Sie!“, rief Kadence leidenschaftlich. „Seit dem Tag unserer Begegnung sind Sie wie ein Großvater für mich. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich es gewagt habe, in der Klinik zu kündigen. Seitdem ich Sie kenne, fühle ich mich wieder wie ein Mensch und nicht wie ein kompletter Vollidiot! Schauen Sie …“

Sie erhob ihre schmalen Hände und hielt sie dem verdutzten Balthasar vor die Nase.

„Wie oft haben Sie mich in den letzten Wochen gebeten, für Sie Gemüse kleinzuschneiden? Anfangs hatte ich Angst, weil ich mich an scharfen Gegenständen grundsätzlich immer schneide. Aber diesmal dachte ich daran, dass Sie so dringend ein wenig zunehmen müssten und blutbesudeltes Essen Ihnen dabei kaum helfen würde – und siehe da, ich habe mich kein einziges Mal geschnitten.“

Balthasar versuchte sich an einem begeisterten Lächeln – es fiel wohl recht dünn aus.

„Das freut mich wirklich ganz … außerordentlich …“

Kadence strahlte ihn an.

„Sehen Sie, Sie tun mir gut. Und jetzt will ich Ihnen auch etwas Gutes tun!“

Balthasar schluckte. Ihn beschlich die Ahnung, dass das, was nun folgen würde, ihm nicht gefallen würde. „Sie tun doch schon genug für mich …“, murmelte er, doch Kadence fiel ihm ins Wort:

„Ich sage Ihnen, was ich tun werde: Ich ziehe bei Ihnen ein.“

„Was?“

„Das hatten Sie ja schon zu Beginn angesprochen, aber ich dachte, dass es unpassend wäre, weil wir uns ja gar nicht kannten. Aber jetzt glaube ich, ein wenig Gesellschaft würde uns beiden guttun. Sie sind schon viel zu lange alleine gewesen.“

Balthasar wollte etwas erwidern, aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Er war schlicht sprachlos.

„Keine Sorge, ich lasse Sie nicht im Stich.“ Kadence tätschelte seine Hand. „Meine beste Freundin hat morgen frei. Wenn ich sie lieb bitte, hilft sie mir bestimmt beim Umzug. Und wenn alles gut läuft, kann ich morgen Abend schon hier übernachten … ich glaube, am besten rufe ich Millie gleich an.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf und flitzte aus der Küche. Balthasar blieb zurück, unfähig, sich zu rühren.

Diesmal steckte er wirklich im Schlamassel.

5~Kadence

 

„Ich kann dich ja irgendwo verstehen …“ Millie ließ ihre langen, bestiefelten Beine von der Mauer baumeln, zog an ihrer Zigarette und blies eine Rauchwolke in die Nachtluft.

„Martin benimmt sich wie der letzte Arsch und du brauchst einen Tapetenwechsel. Klar. Aber musst du deshalb gleich bei irgendeinem wildfremden Opa einziehen?“

Kadence seufzte und rieb sich fröstelnd über die Oberarme. Obwohl offiziell Frühling war, kühlte die Luft nachts ganz schön ab, besonders hier oben auf dem Schlossberg – dies wurde aber durch die Aussicht auf die Stadt wieder wettgemacht. Wenn sie nichts zu tun hatten, kamen Kadence und Millie gerne hierher, um sich auf die Mauer der alten Festungsruine zu setzen und tiefsinnige Gespräche zu führen. Gespräche, die Kadence stets aufzumuntern pflegten – normalerweise …

„Ich weiß ja, dass es verrückt klingt …“, murmelte sie, „aber … keine Ahnung, mein Gefühl sagt mir, dass es richtig ist. Herr von Gundelstein ist so ein netter Mann.“

„Und vor allem kann er nicht davonlaufen wie die anderen Männer, die bisher mit deinem Helfersyndrom beglückt wurden.“

Diese Bemerkung versetzte Kadence einen Stich, doch sie schwieg.

„Du bist wirklich zu gut für diese Welt, Kady. Wäre das Leben gerecht, wären die Leute dir für deine Hilfsbereitschaft dankbar, aber so funktioniert das leider nicht. Menschen, und speziell die meisten Männer, respektieren einen nur, wenn man ihnen mindestens einmal richtig in die Weichteile tritt.“

„Ich kann nicht glauben, dass alle so sind“, brummte Kadence. „Herr von Gundelstein ist ein freundlicher alter Gentleman, aber er ist eindeutig selbstmordgefährdet und außerdem …“

„… ganz genauso wie alle anderen, glaub mir. Hast du nicht sein Gesicht gesehen, als wir vorhin beim Einräumen deinen monströsen Erste-Hilfe-Koffer angeschleppt haben?“

Millie machte die Stirn kraus, wie Herr von Gundelstein es öfter tat, und zog eine Schnute, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Obwohl Kadence ein wenig verärgert war, prustete sie los, weil sie seinen Gesichtsausdruck so gut traf.

„Ich glaube nicht, dass ihm der Gedanke gefällt, von dir wiederbelebt zu werden … zumindest nicht auf diese Weise.“

Millie grinste anzüglich, und Kadence verdrehte die Augen. Mochte ja sein, dass andere Männer so dachten. Aber doch nicht Herr von Gundelstein!

„Mir ist kalt“, murrte sie unwirsch. „Lass uns gehen.“

Die beiden verließen die Mauer, setzten sich in Millies alten schwarzen Ford Sierra und fuhren über eine Straße, die sich durch den Wald den Berg hinabschlängelte, in die Stadt zurück.

Millie setzte Kadence vor dem Schwesternwohnheim neben dem Uni-Campus ab.

„So, jetzt sind nur noch dein narkoleptischer Kater und das Fahrrad übrig. Meinst du, du packst das alleine?“

Kadence nickte. „Das ist kein Problem. Vielen Dank für deine Hilfe. Und jetzt fahr, sonst macht dein Freund sich noch Sorgen.“

Sie schlug die Tür hinter sich zu und wartete, bis die Rücklichter des Wagens hinter einer Kurve verschwunden waren. Dann schleppte sie sich zu Fuß in den fünften Stock hinauf.

Bert, ein prächtiger Kartäuser Kater, schlief wie gewohnt friedlich eingerollt auf dem Fensterbrett. Kadence hob ihn vorsichtig in die Höhe, steckte ihn in eine Katzenbox und verließ zum letzten Mal ihr ungewohnt leeres Apparment. Mit Bert auf dem Gepäckträger schlug sie den Weg Richtung Krautstraße ein.

Ob Herr von Gundelstein wohl schon zu Abend gegessen hatte? Wahrscheinlich saß er wieder vor seinem Fenster und brütete vor sich hin. Kadence hatte oft beobachtet, wie er das tat, und sich genauso oft gefragt, was den alten Herrn wohl so beschäftigte.

Auf einmal zwang eine Weggabelung sie, anzuhalten. Sie setzte einen Fuß auf den Boden und sah sich um. Sie befand sich an der Grenze zum Gelände der Uniklinik, direkt gegenüber der Pathologie. Rechts war die Schranke zum Campus, nach links führte der Weg durch waldiges Gebiet zur Hauptstraße.

Kadence warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Erst zwanzig nach neun. Wie in Homburg um diese Zeit üblich, befand sich keine Menschenseele auf der Straße. Dafür war die Stadt jedoch berühmt für ihre niedrige Kriminalitätsrate: Nie las man von Morden oder Überfällen in der Zeitung.

„Wie sieht’s aus, Dicker, sollen wir die Abkürzung nehmen?“, fragte Kadence über ihre Schulter. Sie erhielt keine Antwort, doch wer schwieg, stimmte ja bekanntlich zu.

„Na gut, auf deine Verantwortung.“

Sie trat in die Pedale und lenkte ihr klappriges Rad in den Wald hinein. Die Straßenbeleuchtung war selbst für Homburger Verhältnisse bescheiden, doch Kadence hatte kein bisschen Angst. Schließlich war alles wie immer: Die schwarzen, eng stehenden Bäume, das leise Geflüster ihrer Äste im Wind, das zehnstöckige Gebäude der HNO, das zwischen ihnen aufragte wie ein quadratischer Betonriese, das schlecht beleuchtete Wartehäuschen der Bushaltestelle, direkt daneben die Bodenwelle … Moment, seit wann gibt es hier eine Bodenwelle?

6~Gregor

 

„Hallo, hören Sie mich?“

Die Stimme klang dumpf und dünn, als würde jemand durch ein langes Rohr zu ihm sprechen. Gregor atmete tief ein, roch feuchtklare Nachtluft, Laub, Asphalt … und einen Hauch Jasmin.

„Was zum …“

Er blinzelte benommen und wollte sich aufrichten, wurde jedoch an den Schultern zurückgedrückt.

„Ganz ruhig, Sie sind bestimmt ohnmächtig geworden. Ich rufe jemanden, der Ihnen hilft.“ Gregor hörte kaum zu. Jetzt wusste er nämlich, was passiert war.

„Aach, verdammter Mist!“

Ohne die Person, die ihn geweckt hatte, zu beachten, setzte er sich auf und presste die Hände an seinen Kopf. Ihm war, als würde jemand im Takt seines Herzschlages mit einem Beil auf seinen Schädel einhacken.

Es geschah ihm nur recht. Was hatte er sich bloß gedacht? Wie hatte er so dämlich sein können, nach nur einem Monat ein weiteres Suchsignal auszusenden? Er hatte es aus purer Verzweiflung getan, weil ihm sonst nichts mehr eingefallen war. Nun hatte er den Salat: Seine Kräfte waren futsch und er hatte wer weiß wie lange bewusstlos auf der Straße herumgelegen – alle Viere von sich gestreckt wie ein Spanferkel auf dem Serviertablett. Hätten die Bergländer ihn so aufgefunden, hätten sie leichtes Spiel mit ihm gehabt. Es war reines Glück, dass sie …

„Geht es Ihnen gut?“

Gregor zuckte zusammen. Diese Stimme … Böses ahnend drehte er sich zu ihr um – und war gleich doppelt entsetzt. Zum einen, weil er die großen meerblauen Augen, die ihn sorgevoll anblickten, kannte. Zum anderen, weil er das Gesicht, das sich in diesen meerblauen Augen spiegelte, noch sehr viel besser kannte: das Gesicht des Gesichtslosen – sein eigenes Gesicht …

„Whooaa!“ Gregor sprang auf die Füße. Er torkelte ein paar Schritte rückwärts. Dann endlich kreuzte er die Arme vor dem Kopf. Doch es war zu spät: Die Pflegerin des Alten hatte ihn gesehen. Sie wusste, wie er in Wirklichkeit aussah. Auf der ganzen Welt wusste nur seine engste Familie, wie er in Wirklichkeit aussah!

Aber wie konnte das sein? Er hatte doch extra die Gestalt eines Joggers angenommen … Plötzlich fiel es ihm ein: Das Suchsignal! Es hatte ihm nicht nur sein Bewusstsein geraubt, es hatte ihm auch noch seine ganze Magie abgezapft, einschließlich derjenigen, die er brauchte, um seinen Tarnzauber aufrechtzuerhalten. So eine Sch…!

„Ich … äh, hole dann mal jemanden aus der Klinik …“

Das Mädchen war inzwischen aufgestanden. Sie trat ein paar Schritte rückwärts und stolperte über ihr Fahrrad, das scheppernd umfiel. Eine Kiste polterte auf den Boden, und ihr Inhalt miaute kläglich. Doch Gregor starrte nur auf das Mädchen. Er sah sie vor sich, wie sie in der Küche des Alten saß und Gemüse klein schnitt. Sie ist völlig harmlos, meldete sich sein Gewissen. Lass sie laufen.

Aber er konnte sie nicht laufen lassen. Einige Bergländer besaßen die Fähigkeit, aus menschlichen Erinnerungen Bilder abzurufen. Er musste seine Identität schützen. Es durfte keine Zeugen geben …

„Tut mir leid“, flüsterte er und ging auf das Mädchen zu. Ihre Augen weiteten sich. „Was haben Sie vor?“

Plötzlich sprang wie aus dem Nichts ein graues, fauchendes Fellknäuel zwischen Gregor und das Mädchen. Das Viech machte einen Buckel, und seine Augen glühten wie heiße Kohlen.

Gregor packte es an einer Speckfalte am Genick und warf es in die Büsche. Das Mädchen schrie: „Bert!“ Es weinte, und Gregor kam sich vor wie ein Monstrum, als er seine Hände nach ihr ausstreckte. Keine Zeugen! Keine Zeugen!

Er hatte sie noch nicht berührt, da fiel sie plötzlich in Ohnmacht und blieb regungslos auf dem Asphalt liegen. Gregor starrte verwirrt auf sie hinab. Dann spürte er den Wind.

Mit lautem Getöse wehte er durch die Baumkronen und stach wie mit spitzen Nadeln in seine Augen. Die Luft begann zu pulsieren – langsam erst, dann immer schneller, bis Gregor das Vibrieren in jedem einzelnen Knochen fühlte.

Ihm war sofort klar, was das bedeutete. Na toll!

Er erschien aus dem Nichts, direkt vor Gregors Nase: Ein Schatten, zunächst nur knopfgroß, der auf Menschengröße wuchs und wie ein schwarzes Loch wahllos Materie ansaugte: Laub, Müll, Steine, Sand.

Es vergingen keine fünf Sekunden, da stand ein gut drei Meter großer Müllgigant vor Gregor und grinste ihn mit seinem Kaugummipapier-Mund hämisch an.

„Hallo, Greg“, dröhnte eine rasselnde Bassstimme. „Lange nicht gesehen. Du hättest mir ruhig Bescheid sagen können, als du Hamburg verlassen hast.“ Er wedelte tadelnd mit einem Zeigefinger, der aus einem dreckigen alten Kugelschreiber bestand. Gregor schluckte schwer.

„Ich … äh … hatte es leider eilig.“

„Nicht einmal eine Nachricht hast du mir hinterlassen. Ich bin wirklich enttäuscht.“ Der Müllhaufen schüttelte seinen Erdklumpen-Kopf, aus dem ein Büschel Gras herauswuchs. Die langen Halme fielen über seine winzigen schwarzen Kiesaugen wie bei einer besonders kessen Frisur.

Eine Schweißperle löste sich von Gregors Stirn und rollte kitzelnd über seine Schläfe.

Das war kein böser Traum: Vor ihm stand Hauptmann Tassud, der Schattengebieter Berglands. Er hatte Gregor eingeholt – und obwohl er gerade aussah wie eine Witzfigur, machte Gregor sich nichts vor: An seinen schlechten Tagen besaß Tassud mehr Zauberkraft in seinem kleinen Finger als die meisten Magier überhaupt. Gregor, der gerade sein zweites Suchsignal ausgesendet hatte, besaß zurzeit etwa so viel Zauberkraft wie der fette Kater hinten im Busch. Dass nun auch Tassud seine wahre Visage kannte, war somit sein geringstes Problem. Er war geliefert, und zwar so was von.

„Es war eine gute Zeit in Hamburg“, plauderte er los, um Zeit zu schinden. „Aber irgendwann hat man die Großstadt satt.“

Tassud brach in schepperndes Gelächter aus.

„Ach so, dem Herrn war nach Landluft, soso … Nun lass mal die Späße, Greg. Du hast dich heimlich davongemacht und geglaubt, du könntest mich abhängen. Hältst du mich wirklich für so bescheuert?“

„Aber ich habe dich doch abgehängt, oder nicht?“, wandte Gregor ein. „Sonst wärst du schon früher gekommen.“

Das Grinsen gefror auf Tassuds Kompostgesicht.

„Nun, jetzt bin ich jedenfalls hier. Und du, mein Freund, hast deine letzten Kraftreserven umsonst verschwendet. Nie und nimmer ist unsere Waffe in einem solchen Provinznest!“

„Eure Waffe? Ha, von wegen!“ Gregor straffte die Schultern und machte sich so groß, dass er Tassud fast bis an die Brust reichte. Der Bergländer wusste, dass Gregor wehrlos war, es war also sowieso egal.

„Die Waffe gehörte unserem Weißen Weisen Arawin, ihr elenden Geschichtsverdreher!“, verkündete er inbrünstig. Tassud knirschte mit den Kieselzähnen.

„Das ist dann wohl mein Stichwort.“ Mit einer dramatischen Geste hob er seine ausgestreckten Arme und richtete die Fingerspitzen auf Gregor. „Verabschiede dich vom Leben, Silvestrianer!“

Gregor verschränkte die Arme vor der Brust und blickte trotzig zurück. Das Herz hüpfte wild in seiner Brust, als wollte es das sinkende Schiff verlassen, doch Gregor dachte nicht daran, um Gnade zu winseln. Niemals! Und vor Tassud schon gar nicht.

Es war seltsam. Früher hatte er sich immer ausgemalt, dass er einmal im Krieg oder als alter zahnloser Greis umgeben von seinen Enkeln sterben würde. Beides waren würdevolle Tode … Und das hier würde auch gleich zu einem werden, verflixt noch mal!

Gregor spannte seine Muskeln und setzte zum Sprung an. „Lang lebe König Randolf!“, schrie er. „Lang lebe Silvestria!“

Tassuds Gesicht streckte sich vor Verblüffung.

Jetzt glotzt du blöd, dachte Gregor mit Genugtuung – bis ihm aufging, dass Tassud ihn gar nicht beachtete. Vielmehr starrte er an Gregor vorbei …

Überrascht drehte er sich um – und sog scharf die Luft ein.

Es war die Pflegerin. Sie stand reglos da wie ein Strich in der Landschaft. Die langen dunklen Haare fielen strähnig über ihre Stirn und verdeckten ihr Gesicht – bis sie ihren Kopf hob und Gregor und Tassud aus tiefblauen Augen anblickte. Eine einsame Träne rollte über ihre Wange.

Dann explodierte die Welt.

Gregor, der es kommen sah, hechtete im letzten Moment zur Seite, ehe eine haushohe Welle aus schneeweißen Flammen die Straße überrollte. Tassud hatte nicht so viel Glück. Die Explosion schleuderte ihn gut zwanzig Meter rückwärts mitten in das schwarze Baumlabyrinth. Es regnete Erdbrocken und verkokeltes Gras.

Gregor robbte zum Straßenrand und kroch in den erstbesten Busch, wo er dem Kater von vorhin begegnete. Das Tier kauerte platt wie eine Flunder im Laub und war so sehr damit beschäftigt, sein Frauchen anzustarren, dass es Gregor ignorierte.

Dann fuhr ein neuer Windstoß durch den Wald, gefolgt von einem bienenschwarmartigen Summen. Tassud kommt zurück!, dachte Gregor. Er beschafft sich einen neuen Körper.

Das Mädchen stand immer noch bewegungslos auf der Straße. Lange, braune Strähnen strichen im Wind um ihre Schultern. Ihre Augen waren geschlossen.

Gregor konnte es nicht fassen. Sie schläft?

Plötzlich verstummte das Summen. Es wurde totenstill. Gregor und der Kater hielten die Luft an.

Dann ging alles ganz schnell: Aus dem Nichts stürzte eine gewaltige, silbergraue Meute mit Höllenlärm auf das Mädchen zu – Raben, mindestens dreihundert Tiere mit rubinroten Augen und messerscharfen Krallen. Tassud, dieser verflixte Teufelskerl, steuerte sie alle gleichzeitig!

In Sekundenbruchteilen wurde das Mädchen von einer metallisch schimmernden, zappelnden Kugel aus befiederten Körpern verschlungen. Gregor spürte den Impuls, den Blick abzuwenden. Das überlebt sie nicht, dachte er in einer Mischung aus Grauen und Mitleid. Sie werden sie in der Luft zerreißen!

Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da rollte ihm eine Druckwelle entgegen, so stark, dass er sich an einer Wurzel festhalten musste, um nicht davongeweht zu werden. Kreischend stoben die Raben auseinander, als hätten sie dem Teufel persönlich ins Auge geblickt.

Kaum waren sie in der Luft, verdunkelte sich ihre Farbe. Sie zerbarsten zu Tausenden von tiefschwarzen Federn, die zu Boden rieselten und dort zu einer pechartigen Flüssigkeit zerschmolzen.

In kleinen Bächen floss das Pech zu einem Straußenei-großen Klumpen zusammen, der wie ein kalter Stein regungslos auf dem Asphalt liegen blieb.

Abrupt wurde es still. Kein Vibrieren mehr, kein Wind, kein Krähen.

Gregors Blick sprang auf das Mädchen zurück. Sie stand immer noch da, völlig unversehrt, mit geordneten Haaren und hängenden Armen. Sie lächelte sogar ein wenig.

Auf ihrer rechten Schulter hockte ein weißer Rabe. Sein scharfer, elfenbeinfarbener Schnabel näherte sich langsam ihrem Kopf. Gregors Glieder zuckten, intuitiv wollte er aufspringen und sie warnen. Doch dann erkannte er, dass der Vogel sie bloß sanft an der Schläfe kraulte. Im nächsten Moment löste er sich in weißen Nebel auf.

Gregor musste nicht lange überlegen, was das alles bedeutete: Er war ein Idiot. Ein Volltrottel. Eine Blindschleiche. Die ganze Zeit über war es vor seiner Nase gewesen. Wie hatte er es nur übersehen können?

Während er fieberhaft überlegte, was er tun sollte, raschelte es neben ihm im Gebüsch. Der Kater kroch ins Freie und näherte sich geduckt seiner Herrin. Wenige Meter vor ihr blieb er stehen, setzte sich und betrachtete sie mit schräg gelegtem Köpfchen. Als sie nicht reagierte, maunzte er fragend.

Endlich blickte das Mädchen zu ihm hinab. Ihre Schultern hoben und senkten sich. Sie blinzelte, als erwachte sie aus einer Art Trance. „Bert …“, flüsterte sie heiser. Dann brach sie zusammen.

Es verging eine Weile, ehe Gregor sich aus seinem Versteck wagte. Benommen kämpfte er sich aus dem Busch und schlich an das Mädchen heran. Ihr Brustkorb bewegte sich ruhig auf und ab, es schien ihr also gut zu gehen – ganz im Gegensatz zu Tassud.

Gregor konnte sich kaum ausmalen, wie stark ein Zauber sein musste, um ihn in seiner Schattengestalt in eine solche Kapsel zu sperren. Wie hatte sie das nur gemacht?

Mit einem nervösen Seitenblick auf das Mädchen berührte er den inzwischen verhärteten Pechklumpen und spürte Tassuds aufgebrachten Geist darin rumoren. Ein süffisantes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

„Dumm gelaufen, Kumpel.“

Im Inneren der Schattenkapsel knurrte es wie aus einem Tigerkäfig.

„Ich werde dich töten!“, fauchte Tassud mit seiner menschlichen Stimme, die mindestens eine halbe Oktave höher und viel weicher klang, als der kratzige Bass seiner Schattengestalt. „Lass mich raus, du Drecksack!“

Gregor lachte. „Sorry, ich fürchte, dafür bin ich viel zu schwach.“

Dann wandte er sich wieder dem Mädchen zu. Sie lag auf der Seite und hatte die Beine ein wenig angewinkelt wie ein schlafendes Kind. Gregor betrachtete sie eine Weile. Wie harmlos sie aussieht … Was immer für ein Geschöpf sich hinter dieser Fassade verbarg, es hatte sein Versteck gut gewählt.

Gregor gab sich einen Ruck, kniete sich neben sie und beugte sich über ihr Gesicht. An ihrer Wange hing immer noch diese eine Träne, glitzernd wie ein Tropfen aus Glas …

Gregor rang lange mit sich. Sollte er es wagen? Es war auf alle Fälle riskant, aber was blieb ihm schon übrig? Irgendjemand musste das Chaos hier aufräumen.

Langsam streckte er seinen Arm aus und fing die Träne vorsichtig mit dem Rücken seines Zeigefingers auf. Zitternd vor Aufregung leckte er daran – peinlich darauf bedacht, ja nichts zu schlucken – und spürte auf der Stelle sengende Hitze durch seinen Körper schießen. Wow, das Zeug hatte es in sich!

Gregors Fingerspitzen kribbelten vor Magie. Ihm war, als könnte er einen ganzen Wald ausreißen … oder aus dem Stand mindestens drei Suchsignale aussenden – aber das war ja jetzt nicht mehr nötig.

Behände sprang er auf die Füße und wechselte als Erstes die Gestalt zu einem glatzköpfigen Schwergewichtsheber. Aaaah! Das war schon viel, viel besser.

Nun berührte er die Stirn des Mädchens und belegte es vorsichtshalber mit einem tiefen Schlafzauber. So sanft er konnte, hob er sie mit einer Hand vom Boden und sammelte mit der anderen die Schattenkapsel ein.

„Hey, was tust du jetzt?“, schrie Tassud. „Wo bringst du mich hin?“

Gregor hatte Lust, die Kapsel mit aller Kraft gegen einen Baumstamm zu schleudern. Doch damit hätte er Tassud womöglich noch befreit, und für diese Nacht hatte er genug Scherereien gehabt. So begnügte er sich mit einem kleinen Kniescheibentritt.

„Halt die Klappe. Ich muss nachdenken.“

„Wo ist die Frau?“

„Auf meiner Schulter. Und jetzt Ruhe!“

„Dir ist schon klar, mit wem du es da zu tun hast?“, quakte Tassud. „Das ist kein normales Mädchen!“

„Was du nicht sagst, Eierkopf.“

„Sie wird dich vernichten! Befreie mich und überlass sie mir, ich kümmere mich um sie.“

„Haha, träum weiter.“

Daraufhin ließ Tassud eine wüste Schimpftirade auf Gregor los, doch dieser dachte nicht daran, weiter mit ihm zu diskutieren. Stattdessen befahl er munter pfeifend den Spuren des Brandes und des Kampfes, sich selbst zu beseitigen: Innerhalb von Sekunden flogen Erdbrocken von der Straße ins Gebüsch, richteten sich umgefallene Bäume auf, lösten sich die schwarzen Spuren des Feuers von den Rinden. Nur ein paar abgebrochene Äste ließ Gregor liegen, damit die Straße wie nach einem Sturm aussah – für die Menschen hier wohl die einleuchtendste Erklärung für den nächtlichen Krach. Anschließend machte er sich zufrieden auf den Weg.

Endlich!, dachte er. Endlich hat das Glück sich gewendet.

Jetzt durfte er es nur nicht vermasseln. Er würde mit seinem General Kontakt aufnehmen und um weitere Instruktionen bitten. Dann würde alles gut werden.

7~Balthasar

 

Wie hatte es nur so weit kommen können?

Da saß Balthasar nun und besah sich die Bescherung. Seine schöne Wohnung! Noch vor einigen Tagen war hier alles luftig, sauber und ordentlich gewesen. An Möbeln hatte er bei seinem Einzug nur das Nötigste besorgt: Ein paar niedrige IKEA-Schränke hier und da, ein altes Klavier vom Sperrmüll, zwei Tische für Wohnzimmer und Küche, einen Sekretär, ein schlichtes Bett für das Schlafzimmer, einen Sessel und jeweils einen Stuhl für alle Räume, weil das einfach dazugehörte.

Und was war jetzt? In allen Ecken lagen halb offene Umzugskisten herum, das Wohnzimmer war zugestellt mit Hockern, Topfpflanzen, einer Kommode und diesem unsäglichen Erste-Hilfe-Koffer, der widerlich nach Medizin stank. Nicht einmal ins Badezimmer konnte man flüchten, denn wo früher blanke, weiße Kacheln strahlten, wimmelte es jetzt von Badetüchern, Wattepads und allerlei anderem gruseligen Frauenkram. Doch was Balthasar mit Abstand am meisten entsetzte, war der anderthalb Meter hohe Katzenkratzbaum mitten im Flur. Als Kadence und ihre furchterregende schwarz gewandete Freundin den anschleppten, hatten sie Balthasar beinahe soweit, dass er Einspruch erhob. Doch Kadence und ihr treuherziger Meerwasserblick machten ihm einen Strich durch die Rechnung.

„Das alles ist nicht nur für mich, es ist auch für Sie“, erklärte sie. „Mir ist schon vor einer Weile aufgefallen, dass Sie nur ganz dürftig eingerichtet sind. Womit haben Sie sich denn bisher abgetrocknet?“

Balthasar schwieg darüber, dass er jahrelang geglaubt hatte, zum Abtrocknen benutze man heutzutage Küchenpapier. Als er dann herausfand, dass dem nicht so war, hatte er sich schon zu sehr daran gewöhnt, um auf Handtücher umzusteigen. Das viel brisantere Thema war jedoch:

„Sagen Sie, Kadence, diese eigenartige Skulptur … brauchen wir die denn unbedingt?“

„Sie meinen den Kratzbaum? Den habe ich extra gekauft, um Ihre Möbel zu schützen.“

Balthasar dachte einen Moment darüber nach, begriff jedoch den Zusammenhang nicht.

Auf seine Nachfrage, wovor seine Möbel denn beschützt werden müssten, erklärte Kadence: „Na, vor Bert. Nicht, dass er bei mir jemals etwas kaputt gemacht hätte, meistens schläft er ja. Aber schaden kann es nicht.“

„So … Bert kommt also auch mit?“, hauchte Balthasar, einem gefühlten Schlaganfall nahe. Doch da war Kadence schon wieder durch die Wohnungstür gestürmt, gefolgt von Goth-Emilia, die noch kurz im Türrahmen stehen blieb.