Die Chroniken der Seelenwächter - Band 11: Bruderkampf - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 11: Bruderkampf E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Ralf ist mit seinen Plänen fast am Ziel. Nachdem er sich Kirian geholt hat, stehen als Nächstes Soraja und Logan auf seiner Liste. Auch Jess' Verschwinden bleibt nicht unbemerkt, und Jaydee begibt sich auf eine halsbrecherische Suche, bei der er nicht nur kämpfen, sondern sich auch seinen Gefühlen für Jess stellen muss. Die Wolken verdichten sich am Horizont, und die Seelenwächter müssen einen Schicksalsschlag nach dem anderen einstecken. Dies ist der 11. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel13

3. Kapitel19

4. Kapitel29

5. Kapitel40

6. Kapitel45

7. Kapitel55

8. Kapitel58

9. Kapitel72

10. Kapitel81

11. Kapitel85

12. Kapitel91

13. Kapitel99

14. Kapitel106

15. Kapitel113

16. Kapitel120

17. Kapitel125

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«137

Die Fortsetzung der Seelenwächter:138

Impressum139

Die Chroniken der Seelenwächter

Bruderkampf

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Jaydee

Mikael zurückholen!

Die Worte drehten und drehten sich in meinem Kopf, während ich ziellos durch den Wald streifte.

Meine Füße trugen mich blind vorwärts. Der Boden war vom Regen aufgeweicht und rutschig, doch es machte mir nichts. Genauso wenig wie die Dunkelheit oder die durchnässten Klamotten, die an meiner Haut klebten.

Rennen! Weg! Rennen! Immer weiter!

Das war es, was ich wollte. Tobias hatte vollkommen richtiggelegen: Wenn es schwierig wurde, haute ich ab. Ich kehrte allen den Rücken und floh wie ein dämlicher Hase vor dem Fuchs.

Feigling! Hosenscheißer! Memme!

So hatte er mich stets genannt, wenn ich nach stundenlanger Abwesenheit zurück in die Kirche kam. Seine Meinung über mich war mir im Grunde egal. Ich rannte nicht, weil ich Angst hatte. Ich rannte, weil mein Körper es brauchte, weil es mir half, den Jäger zu beschäftigen. Das war damals so gewesen und hatte sich bis heute nicht geändert. Wenn ich vorhin nicht gegangen wäre, wäre Ben nicht mehr am Leben. Ich hätte ihm das Genick gebrochen, hätte diese Wut, den Zorn, diesen unbändigen Drang, anderen wehzutun, an ihm ausgelassen.

Und genau deshalb haute ich ab.

Auf einer Lichtung blieb ich stehen. Nass bis auf die Haut, aufgeputscht und gleichzeitig erschöpft und unfassbar wütend. Der Regen hatte zugenommen, prasselte auf mich nieder, doch ich spürte ihn kaum noch. Mein Körper zitterte, vor Anspannung, vor Kälte, vor Eindrücken.

Sie wollten tatsächlich Mikael zurückholen!

Das allein zu denken fühlte sich so abwegig, so falsch, so ... unmöglich an!

Er würde als Schattendämon wiederauferstehen.

Als Schattendämon! Verdammte Scheiße!

Sobald er den Emuxor zurück in sein Gefängnis verbannt hätte, würde er postwendend auf unserer Abschussliste landen, und wir mussten ihn töten.

Damit wäre seine Seele endgültig vernichtet.

Keine Chance auf Wiedergeburt.

Keine Chance auf Frieden.

Ich strich mir übers Gesicht, wischte den Regen weg, um gleich darauf die nächsten Tropfen auf meiner Haut zu spüren.

»Ich kann das nicht.« Mikael war immer für mich dagewesen, er hatte mir Liebe geschenkt, obwohl ich sie nicht verdient hatte, er war für andere gestorben, weil er in dieser verdammten Kirche blieb, bis alle draußen waren. Er war besser als dieser ganze Scheiß!

Ich starrte in den Himmel, schloss die Augen, ließ Regentropfen auf mich prasseln. Um mich war es still, und trotzdem fühlte ich das Leben im Wald. Die Käfer, die Schutz vor dem Regen suchten, Maulwürfe, die ihre Tunnel gruben, Würmer, die sich in die Erde buddelten.

Alles um mich war in Bewegung. Alles hatte ein Ziel. Und ich? Keine Ahnung. Es gab zu viele Möglichkeiten, zu viele Optionen, zu viele Wege. Und es war zu schwer, sich zu entscheiden.

Also blieb ich stehen, lauschte auf die Geräusche des Waldes, versuchte, seine Energie in mich aufzunehmen und herauszufühlen, was richtig und was falsch war.

Dabei gab es vermutlich gar kein Richtig oder Falsch. Wenn wir gewinnen wollten, mussten wir den Emuxor zurück in seine Hölle schicken. Sollten die Schattendämonen weiter mutieren und sich so rasant entwickeln, hätten wir bald keine Chance mehr gegen sie. Sie würden uns niederwalzen wie eine Armee Heuschrecken. Und es gäbe kein Mittel, mit dem wir sie töten könnten ...

Wobei ...

Ein Gedanke schob sich in mein Bewusstsein. Ben hatte vorhin etwas zu uns gesagt. Ich hatte nicht nachgehakt, weil wir gleich darauf mit Abe losgezogen waren.

»So wie es aussieht, sind zwei Dämoninnen aus der Stadt geflohen, als die Barriere kurz gesenkt wurde. Joanne und eine andere. Die zweite suchte wohl in dem Dorf hier oben nach Nahrung. .... Rowan und Hakan töteten die Dämonin ...«

Sie töteten die Dämonin.

Eine, die aus der Stadt gekommen war. Zusammen mit Joanne.

Noch wussten wir nicht, welche Auswirkungen genau der Emuxor auf die Dämonen hatte. Joanne hatte die Attacke von Isabella damals überlebt, aber war sie dadurch auch unsterblich? Wir gingen lediglich davon aus, doch probiert hatten wir es nicht. Wie auch?

Und was für Möglichkeiten böten sich uns, wenn es nur Joanne betraf und die anderen nicht? Was hätten wir davon?

Wir könnten in Riverside einfallen, alle Dämonen auslöschen und uns Ralf vorknöpfen. Dann wäre er ausgeschaltet, dieser verdammte Emuxor, aber immer noch da.

Doch dann könnte Jess ihre Fylgja entlassen und wir müssten Mikael nicht rufen.

Sein Leben gegen das der Fylgja.

Durfte ich so etwas von Jess verlangen?

Ich betrachtete meine Hände. Noch immer konnte ich mich an das Gefühl ihrer Haut auf meiner erinnern. Ich wusste exakt, an welcher Stelle ich sie geküsst hatte, an welcher ich sie noch gerne geküsst hätte und an das, was ich vorhin zu ihr im Hotel sagte: Wir finden einen Weg.

Für uns. Für sie und mich.

Deshalb mussten wir gemeinsam entscheiden und überlegen, was wir tun konnten.

Ich drehte herum und machte mich auf den Rückweg.

Während der gesamten Strecke grübelte ich, wie ich mit ihr darüber sprechen konnte, legte mir im Kopf die passenden Sätze zurecht. Suchte Argumente, wägte das Für und Wider ab.

Bis ich das Bergdorf erreichte, in dem Abe und seine Leute wohnten, war ich keinen Schritt bei meinen Überlegungen weiter.

Ich blieb stehen, orientierte mich. Es war nach wie vor finster. Kein Mensch auf der Straße, und es regnete immer noch, wobei ich die Nässe kaum spürte. Das Dorf wirkte bei Dunkelheit noch mystischer, fast gespenstisch. Einige Holzläden klapperten im Wind, ein Mobile klimperte traurig vor sich hin. Es standen nur wenige Häuser rechts und links der Straße. Einige waren komplett verschlossen, die Holzlatten kaputt, die Dächer zum Teil abgedeckt. Das Dorf atmete mit jeder Minute seinen Verfall aus. Bald wäre hier kein Leben mehr übrig.

Auf einmal hörte ich Schritte. Sie kamen von dem Hügel rechts. Ich blickte in die Richtung und sah Anna. Sie stürmte den Weg herunter. Das Gesicht so blass, dass es in der Dunkelheit weiß schimmerte.

»Jaydee! Gott sei Dank!«

Sie warf sich in meine Arme und drückte sich an mich, als wäre ich tagelang weggewesen. Ihr Kleid war ebenso nass wie mein Shirt, sie war also schon eine ganze Weile draußen. Vermutlich hatte sie nach mir gesucht. »Ben hat mir alles erzählt. Das mit dem Emuxor und ... Mikael!«

Ich umschlang sie, vergrub meine Nase in ihren Haaren und nahm einen tiefen Atemzug. Der Duft ihres Shampoos umhüllte mich, vermischte sich mit dem Regen und lief in sanften Bahnen meine Arme hinab. Anna an meinem Körper. Weich und tröstend.

»Ich hatte Angst, dass du etwas Dummes tust.«

»Was sollte ich denn tun?«

»Die Stadt stürmen, dir einen Weg zu diesem Emuxor freikämpfen, versuchen, ihn eigenhändig zu töten. So Dinge eben.«

Der Gedanke war gar nicht mal so abwegig. Schon gar nicht nachdem, was Ben erzählt hatte. Ich fasste es für Anna zusammen. Dass Rowan und Hakan eine Dämonin getötet hatten und sie vielleicht nicht so stark waren, wie wir dachten.

Sie hörte mir schweigend zu, doch ich fühlte, wie ihre Anspannung mit jedem weiteren Wort wuchs. »Ich habe lange mit Tuja geredet, als wir Grabwache hielten. Sie erzählte mir, dass Rowan der Dämonin das Genick gebrochen hat.«

»Und das hat sie umgebracht?«

»Offenbar.«

»Aber das ist unmöglich.« Niemand konnte einen Schattendämon mit einem Genickbruch töten. Zwar hatte ich in Schottland auch keine Waffen gehabt, doch ich hatte nicht genug von den Körpern übrig gelassen, damit sie heilen konnten.

»Und dennoch war es so. Diese Menschen hier ... sie sind anders. Wie Ben. Er ist immun gegen unsere Fähigkeiten, Rowan kann einen Dämon mit bloßen Händen töten. Leoti kann schwere Verletzungen heilen ... dieses Volk umgibt ein Zauber, den ich noch nicht begreife. Es ist magisch.«

»Vielleicht könnten wir ja doch in die Stadt ...« Dem Jäger würde so ein Ausflug gefallen.

Anna löste sich von mir, umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und blickte mir in die Augen. »Versprich mir, dass du nichts dergleichen tun wirst.«

»Aber ...«

»Akil ist weg. Ilai halb tot ... Will und ich sind ...« Sie schloss die Augen. »Ich weiß es nicht, was wir sind, aber nichts ist mehr wie früher.« Eine Woge aus Angst schwappte zu mir herüber. Es war nicht nur eine Furcht vor den Dingen, die uns im Moment überrollten. Was Anna aussandte, war pure Urangst. Sie fühlte sich allein und verlassen. »Wir fallen auseinander, Jaydee. Unsere Familie zerbricht, und wenn du jetzt auch noch ...«

»Okay, ist gut.« Ich zog sie an mich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Es ist gut«, flüsterte ich gegen ihre kühle Haut. »Ich mache keine Dummheiten.«

Sie ließ die Luft aus den Lungen und entspannte sich. Es tat gut, das zu spüren. Anna war, neben Akil, immer so etwas wie mein Rückzug gewesen. Sie und ihre unerschöpfliche Liebe hatten mich unzählige Male aufgefangen, mir Kraft gegeben, den Jäger beruhigt. Ich zog sie noch enger an mich und blickte die Straße hinab. Der Regen hatte kleine Flüsse hinterlassen, die den Asphalt überschwemmten und den Hang hinuntersickerten. Die Luft roch klar, nach Kräutern und Erde und vielleicht tatsächlich ein wenig nach Magie. »Wie geht es eigentlich Jess?«

»Sie hat friedlich geschlafen, als ich zuletzt nach ihr gesehen habe, aber das ist schon eine Weile her.«

»Vielleicht ist sie ja jetzt wach.« Ich musste mit ihr über alles reden. Außerdem musste ich mich vergewissern, dass es ihr gut ging, dass sie nicht schon wieder verletzt war. Am liebsten würde ich vierundzwanzig Stunden am Tag auf sie aufpassen. Verrückt, aber so war es leider.

Anna drückte meine Finger. »Lass uns nachsehen.«

Sie führte mich die Straße hinunter zu einem der Häuser. Den ganzen Weg über sagte sie nichts, hielt einfach meine Hand fest und versuchte dabei, die Angst in sich niederzukämpfen.

Wir bogen nach links ab in eine Sackgasse und erreichten schließlich das Haus. Und wir waren nicht die Ersten.

Die Eingangstür stand sperrangelweit offen.

Sofort beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl. Die Sorte, bei dem einem heiß und kalt gleichzeitig wurde, bei dem sich alles zusammenzog und es kaum noch möglich war, Luft zu holen.

Es ist etwas passiert. Etwas mit Jess.

Ein Ziehen breitete sich in meinem Magen aus und kroch nach oben.

Drinnen brannte Licht, ich erkannte Bens Silhouette, der am Boden kniete und etwas aufhob. Ohne zu klopfen trat ich ein und wäre am liebsten rückwärts wieder hinaus. Das Zimmer war erfüllt von ihrem Duft. Er setzte sich in meine Poren, in die Nase, vervielfältigte sich in meinem Bauch zu einem einzigen Klumpen.

»Jaydee ...«, sagte Ben und stand auf. Er hielt Teile einer zerbrochenen Teetasse in der Hand. An seinem Hals waren rote Würgemale. Meine Fingerabdrücke. Noch immer konnte ich mich nicht dafür entschuldigen.

»Was ist passiert?«

»Jess ist weg.«

Er hätte mir genauso gut einen Schlag in den Bauch verpassen können. Das Ziehen in meinem Magen wanderte höher. Erfasste jetzt auch mein Herz. Meine Seele. »Seit wann?«

»Das weiß ich nicht.«

»Gewaltsam? Ich meine ... wurde sie entführt?«

»Es gibt keine Anzeichen für einen Kampf. Bis auf die Tasse und den umgeworfenen Stuhl, aber das hat nichts zu ...«

Ich stapfte an ihm vorbei, lief durch das Zimmer, blähte die Nasenflügel, um noch eine Spur, einen Duft zu erhaschen, der mir helfen konnte. Mein Herz raste, meine Hände waren schweißnass. Dieses Ziehen in meinem Inneren. Ich erinnerte mich daran. An diesen Schmerz, der so zerstörerisch, so lähmend war.

Jess ist weg! Einfach so.

»Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Nein, aber bestimmt gibt es eine ...«, sagte Ben.

»Sag mir nicht, dass es hierfür eine logische Erklärung gibt, wenn du nicht wirklich davon überzeugt bist.« Ich drehte mich zu ihm. Er sah zerknittert aus, mürbe.

Ich strich mir durch die Haare, tigerte von rechts nach links, auf und ab.

»Jaydee ...«

»Sie würde nicht gehen. Nicht ohne Nachricht.«

»Vielleicht hatte sie keine Zeit, etwas zu schreiben.«

»Für fünf Zeilen? Macht euch keine Sorgen, bin kurz spazieren. Brauche frische Luft, egal was! Sie weiß doch, wie verflucht noch mal ...« Nach allem, was wir miteinander erlebt hatten, musste sie doch wissen, dass ich ..., dass wir uns Sorgen machen würden. »Wir können nicht mal einen Suchzauber ausführen, denn sie trägt dieses beschissene Amulett!«

»Okay. Du holst jetzt Luft und lässt mich meine Arbeit machen«, sagte Ben. »Zuerst scherst du dich raus und hörst auf, meine Spuren zu verunreinigen. Ich untersuche das Haus, rufe ein paar Leute an, schreibe eine Fahndung aus.«

»Ohne Foto.«

Er trat näher und legte eine Hand auf meine Schulter, stoppte so mein Gewusel. »Jess war eine Verdächtige in einem Mordfall. Ich kann mich online in ihre Akte einloggen. Ich mache diesen Job nicht erst seit gestern, also bitte vertraue mir.«

Ich drehte mich von ihm weg. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Nicht jetzt. Die Eindrücke in diesem Raum erstickten mich. Sie waren so intensiv, kratzten über meine Haut wie Dornen. Meine Sinne waren überdreht und gleichzeitig lahmgelegt, als hätte ich verlernt, mit ihnen umzugehen. »Es sind so viele Gerüche hier.«

»Du bist zu befangen«, sagte Ben. »Das ist völlig normal.«

»Ich kann nicht ...« Jess Shirt, das sie in New York getragen hatte, hing über einem Stuhl links von mir. Ohne es zu wollen, schnappte ich es mir, knautschte den Stoff in den Händen und roch daran, als könnte ich so erfahren, was hier stattgefunden hatte. War sie entführt worden? War Coco mir gefolgt? So viele Möglichkeiten! Schon wieder gab es viel zu viele Wege!

»Könnte es sein, dass sie herausgelockt wurde? Von einem Dämon? Oder vielleicht ...« Oh, verdammt. Ich kam ins Straucheln, fing mich aber sofort. »Joanne.« Ben hatte es doch vorhin gesagt: Sie war mit einer anderen Dämonin entkommen. Ich hätte schneller reagieren, darauf eingehen sollen. »Wenn sie es ...«

»Joanne kann es nicht gewesen sein«, sagte Anna. Sie stand am Türrahmen. Ich zuckte, bemerkte erst jetzt, dass sie auch da war. »Sie ... sie wurde eingesperrt.«

»Wie bitte?« Natürlich hatte ich verstanden, was Anna gesagt hatte, nur wollte ich es nicht glauben.

»Kendra hat sie erwischt. Auf Kirians Anwesen. Sie hat die zweite Explosion ausgelöst. Jetzt sitzt sie in einem unserer Gefängnisse.«

Ich atmete tief ein. Kämpfte das Brodeln im Inneren nieder und starrte sie an. Sie wich meinem Blick aus. »Wie lange weißt du das schon?«

»Seit wir aus Toronto zurück sind.«

Also hatte sie mehr als genug Zeit, mir davon zu erzählen. »Du auch?«, fragte ich Ben.

»Wir wollten dich nicht zu sehr aufregen.«

Ich lachte. Aber nicht, weil ich es lustig fand, sondern weil ich es nicht fassen konnte! »Habt ihr eigentlich einen Knall? Dieses Miststück führt mich seit Wochen an der Nase herum. Sie hat mich an Jess gekettet, ich hätte sie daraufhin fast umgebracht! Joanne tritt mich mit Füßen, und ihr sagt mir nicht, dass sie bei uns in Gewahrsam sitzt?!«

»Logan befragt sie bereits«, sagte Anna leise. »Wir dachten, es ist besser, wenn du es erst mal nicht weißt. Abgesehen davon würde dich der Rat nicht in ihre Nähe lassen. Schon gar nicht, wenn sie sehen, wie du drauf bist.«

Ich biss den Kiefer zusammen. »Hat sie schon etwas gesagt?«

»Das weiß ich nicht. Logan und ich haben seither nicht miteinander gesprochen.«

Logan ... der Rat ... Und da dämmerte es mir. Logan hatte es uns selbst gesagt: Soraja hatte bereits angemerkt, ob es nicht doch das Beste wäre, sie zu opfern, damit Violet gehen kann ...

Ich warf das Shirt auf den Küchentresen, stiefelte zur Tür hinaus und pfiff nach Amir. Der Regen hatte zugenommen, peitschte mir ins Gesicht. Fast fühlte es sich an, als würden die Tropfen auf meiner Haut verglühen.

Jess ist weg!

Sie hätte einen Zettel geschrieben! Ich wusste es einfach. Sie würde mir das nicht antun, nicht nach unserem letzten Ausflug ...

Ich hörte Bens und Annas Schritte hinter mir. »Jaydee ...«

»Jetzt nicht.« Ich blickte nach rechts und links, von dort hörte ich Hufgetrappel.

»Was hast du vor?«

»Ich reite zum Rat und knöpfe mir Soraja vor.

»Jay, bitte sei vernünftig«, sagte Anna. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das tun würden. Der Rat tötet keine Unschuldigen. Sie können es gar nicht.«

»Sie nicht, aber es gibt genügend Menschen, die man für so etwas bezahlen kann.« Wenn dieses Miststück Jess tatsächlich etwas angetan hatte ... Ich schloss die Augen, kämpfte die Rage nieder.

Noch nicht.

Jetzt war noch nicht die Zeit.

»Du solltest nicht in diesem Zustand ...«

Ich blickte Ben an. Er wich einen Schritt zurück, als würde ich Feuer speien. Ganz sicher waren meine Augen stechend silbern. Ben griff automatisch an seinen Hals. Sein Herzschlag beschleunigte sich, er bemühte sich um Kontrolle, aber es gelang ihm nicht.

»Mach jetzt bitte keine Dummheiten, Jaydee.«

Amir kam die Straße heruntergaloppiert, ich wartete nicht, bis er gebremst hatte, schwang mich, noch während er trabte, auf seinen nackten Rücken. An seine Mähne geklammert trieb ich ihn voran.

»Jaydee, bitte tu ...«

Was auch immer Ben noch sagen wollte, ging im Knall unter, als das Portal mich verschluckte.

2. Kapitel

»Ach, verdammt noch mal!« Keira fegte die Landkarte vom Tisch.

Das war der fünfte Versuch!

Das fünfte Mal, dass sie mit Cocos Haaren den Suchzauber gefertigt hatte, das fünfte Mal, dass sie gescheitert war.

Sie konnte es einfach nicht!

Sie war keine Magierin.

Punkt. Aus. Fertig.

Dabei hatte sie gehofft, es würde klappen, nachdem sie so erfolgreich die Tür mit dem Zauber verschlossen hatte, als Jaydee hinter ihr hergewesen war. Aber ein Suchzauber war eine andere Hausnummer als der kleine Verriegelungstrick.

Es half alles nichts: Keira brauchte Hilfe.

Sie betrachtete die schwarzen Haare in der Schale vor ihr. Es war Glück, dass Jaydee bei seiner Attacke die gleichen Klamotten wie am Vortag getragen hatte. Bevor sie ihn in Arizona abgeliefert hatte, hatte sie seine Taschen durchsucht und tatsächlich die Haare von Coco gefunden, und nicht nur das: Ein Foto steckte ebenfalls dabei. Es zeigte eine hölzerne Tür, über der eine lateinische Aufschrift stand: ... ab Iniuria defendid ... Der Rest war zu zerkratzt gewesen. Keira hatte keine Ahnung, was es bedeutete. Er musste es aus ihrer Akte genommen haben, die Anthony extra für ihn deponiert hatte, damit er sie finden und Keira vertrauen würde. Der Plan hatte nicht ganz funktioniert, denn das erste, was Jaydee getan hatte, nachdem er aus Joannes Gefangenschaft entkommen konnte, war, sie zu attackieren. Dabei war nicht sie es gewesen, die ihn an Joanne verraten hatte, sondern Anthony.

Wie dem auch sei: Jetzt hatte sie Cocos Haare und kam dennoch nicht weiter!

Keira rieb sich durchs Gesicht. Sie war mürbe. Diese Suche nach Coco strengte sie an, außerdem schmerzte die Wunde, die Jaydee ihr zugefügt hatte. Bei ihrem stümperhaften Eigenversuch, die Tattoos zu vollenden, hatte sie anscheinend zu tief gestochen, und die Tinte war in einer tieferen Hautschicht ausgelaufen. Dafür hatten sich die Kopfschmerzen dieses Mal in Grenzen gehalten. Nach dem Kampf mit Jaydee, der absolut irre gewesen war, waren die Tattoos rasch ausgebrannt und ihre Wirkung schon bald verpufft. Jetzt saß sie mal wieder ohne ihre Zeichen da, denn leider war auch Anthony wie vom Erdboden verschluckt.

Keira bezweifelte, dass ihm etwas zugestoßen war. Sonst hätte sie schon längst davon gehört. Er war bekannt wie ein bunter Hund in der übernatürlichen Welt.

Viel wahrscheinlicher war, dass Anthony gerade in einem Labor saß und Jaydees Blut untersuchte, das er ihm abgenommen hatte, als dieser ohnmächtig gewesen war. Vermutlich überlegte er, wie er den größtmöglichen Profit herausschlagen konnte. Aber dieses Mal ohne sie. Sie würde nicht noch mal den Fehler begehen und Jaydee verraten, denn eins war sicher: Würde sie das ein zweites Mal tun, wäre sie hinterher erledigt.

Keira gähnte herzhaft und streckte ihre Arme über den Kopf. Ihre Schultern knackten, ein Zeichen, dass sie zu lange an ihrem Schreibtisch gesessen hatte. Aber wenn es um Coco ging, verlor sie jegliches Zeitgefühl. Sie packte alle Utensilien zusammen, löschte den Weihrauch und die Kerzen, die sie für den Zauber aufgestellt hatte, bettete Cocos Haare in eine Holzkiste und stellte die Sachen zurück zu ihren Büchern. Sie würde es in ein paar Tagen noch mal probieren, wenn ihr Kopf freier war und die Schmerzen in ihrem Bauch nicht mehr so präsent. Die Begegnung mit Jaydee war noch nicht lange her, sie sollte ihrem Körper Ruhe gönnen. Am besten oben auf der Dachterrasse, während sie ein Glas Wein trank und zusah, wie die Sonne aufging.

Sie hatte gerade alles verstaut, als es an der Tür klopfte. Keira stockte. Normalerweise bekam sie keinen Besuch. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Ihre Auftraggeber kontaktierten sie telefonisch oder per Mail, niemand wusste, wo sie wohnte, außer Anthony.

Es klopfte ein zweites Mal. Sie lief zu ihrem Schreibtisch und zog ein Messer daraus hervor, dann schlich sie zur Tür und linste durch den Spion. Sie erkannte niemanden, aber sie hörte Getuschel auf der anderen Seite. Eine gedämpfte Männerstimme, die anscheinend telefonierte. Keira stellte sich seitlich zur Tür und wartete. Die Klinke drehte sich einmal rechts, dann wieder links. Es war nicht schwer, das Schloss zu knacken. Keira hatte sich schon oft vorgenommen, ein besseres einzubauen, aber es gab nichts Wertvolles bei ihr zu holen. Nicht mehr, seit sie die goldene Stimmgabel an Anthony gegeben hatte, um sich die Teleportationskapsel zu leisten.

Die Klinke dreht herum und knackte. Das Schloss war offen. Langsam glitt die Tür auf, und eine Hand erschien am Rahmen. Keira packte zu und zerrte sie nach hinten. Ein Mann schrie. Keira bog ihm den Arm auf den Rücken, nahm ihn in den Polizeigriff und setzte mit der anderen Hand das Messer an seine Kehle.

»Ein Mucks, und du bekommst eine Rasur verpasst, die dir nicht gefallen wird.«

»Nicht! Stopp!«, stammelte der Mann und riss den freien Arm nach oben. Er hielt einen braunen A-4-Umschlag in der Hand. »I-ich ... ich komme ... ich bin ... ich will Ihnen nichts tun.«

Keira presste den Mann wie einen Schutzschild vor sich und spähte hinaus in den Flur. »Bist du alleine?«

»Ja!«

Sie erwartete nicht, dass er die Wahrheit sprach, also trat sie mit ihm in den Gang und sah sich kurz um. Es war niemand da. »Vertrauenspunkt Nummer eins für dich. Warum brichst du bei mir ein?«

»Weil Sie nicht geöffnet haben.«

»Das ist deine Erklärung? Machst du das immer so?«

»Wenn ich etwas abzuliefern habe, ja. Ich wollte Ihnen nur den Umschlag auf den Tisch legen und verschwinden.«

»Für solche Fälle habe ich einen Briefkasten.«

Sie zog ihn zurück in ihre Wohnung und schubste die Tür zu. »Bist du bewaffnet?«

»Nein!«

Keira bugsierte den Typen an die nächste Wand, ließ seinen Arm los und setzte gleichzeitig den Dolch in seinem Nacken auf. »Wenn du einen Mucks machst, jage ich dir das Ding zwischen die Wirbel. Verstanden?«

»J-ja. Oh Gott, bitte tun Sie mir nichts! Ich will Ihnen wirklich nur den Umschlag geben.«

»Hände an die Wand.«

Er gehorchte sofort. Der Kerl war einen Kopf größer, aber fast genauso schmal wie sie. Er trainierte nicht viel, schien eher der Typ »Laufbursche« zu sein. Doch wenn Keira bisher eins in ihrer Karriere als Kopfgeldjägerin gelernt hatte, dann, dass man niemals – wirklich niemals – sein Gegenüber nach Äußerlichkeiten einschätzen durfte. Anthony war ein ebenso hagerer blasser Kerl, aber sie wollte um nichts in der Welt mit ihm kämpfen.

Sie tastete die Taschen und die Hose ihres Gegenübers ab, fand allerdings keine Waffen. Dafür ein Taschentuch mit Monogramm: A.J. Der feine Stoff passte zum Rest: Maßanzug, perfekter Haarschnitt, gepflegte Fingernägel, saubere Schuhe.