Die Chroniken der Seelenwächter - Band 26: Machtgefüge - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 26: Machtgefüge E-Book

Nicole Böhm

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Beschreibung

Kedos ist zurück. Erneut verursacht der Dämon in Riverside ein Chaos. Verzweifelt kämpft Ben gegen die Schatten des Hasses an und gelangt nicht nur körperlich an seine Grenzen. Der Ruf der Vergangenheit ist stark – und der seines Blutes noch viel stärker. Nur wenn er alle Kraft zusammennimmt, kann er dem Bösen widerstehen. Aber nicht nur Ben kämpft. Auch William hadert mit seinem Schicksal. Die Aufgabe, die Ilai ihm abverlangt, ist mächtig. Und Will weiß nicht, ob er ihr gewachsen ist. Er braucht seine Familie mehr denn je. Zugleich rückt der Moment des Abschieds immer näher. Selbst Akil lernt, dass seine Entscheidung, Mitglied des Rates zu werden, heftigere Konsequenzen haben könnte, als er bisher geahnt hat. Marysol lässt ihn hinter die Fassade des Amtes blicken und zeigt ihm, welche Herausforderungen auf ihn warten. Wird er sie bewältigen können? Dies ist der 26. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel14

3. Kapitel21

4. Kapitel32

5. Kapitel38

6. Kapitel49

7. Kapitel61

8. Kapitel68

9. Kapitel79

10. Kapitel86

11. Kapitel92

12. Kapitel100

13. Kapitel105

14. Kapitel110

15. Kapitel119

16. Kapitel128

17. Kapitel134

18. Kapitel152

Die Fortsetzung der Seelenwächter:167

Impressum168

Die Chroniken der Seelenwächter

Machtgefüge

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Bens Körper bebte, genau wie der Boden unter ihm. Das gesamte Gebäude schien mit einer Energie geflutet zu werden, die nicht von dieser Welt stammte. Sie drückte auf Bens Organe und setzte ihn unter einen Druck, wie er ihn nie zuvor gespürt hatte; als wäre er ein Dampfkessel, der jeden Moment explodieren musste.

Der Raum war erfüllt von dunklen Schatten, Nebel und Kedos’ Brüllen. Mit dem Erwachen des Dämons war das Chaos ausgebrochen.

Verzweifelt versuchte Ben, die Orientierung zu behalten, er blickte nach rechts, nach links, hielt eine Hand nach oben und stieß gegen einen der Stahltische. Etwas Kaltes streifte ihn an der Seite, er fuhr herum, schlug danach, aber es war schon fort.

Neben ihm keuchte ein Mann. Es war einer der Kollegen, die Ben zu Hilfe geeilt waren. Gemeinsam hatten sie auf Kedos geschossen, aber es hatte ihn nicht aufgehalten.

»Payden!«, rief Ben, doch er erhielt keine Antwort.

Ich hätte sie nicht herbringen sollen.

Sie hätten bei ihr zu Hause bleiben und ihre Zweisamkeit genießen sollen, statt sich dem hier auszusetzen.

»Payden!«, rief er erneut.

Nichts.

Auf einmal bekam er einen Schlag in den Rücken und kippte vornüber. Ben rollte sofort herum, hob die Hände zur Abwehr, aber es war nur Graig, der gegen ihn gerannt und gestolpert war. Die Schatten hatten sich im gesamten Raum ausgebreitet. Ben konnte kaum etwas erkennen.

»Was ist hier los?«, keuchte er. »Sind Sie verletzt, Sir?«

»Nein, das ist ... es ist ein Nervengas. Ein Mann ist hier eingebrochen und will meine Freundin entführen.« Das Beste, was ihm auf die Schnelle einfiel. Um die Details musste er sich später kümmern.

Graig erhob sich und packte Bens Arm, um ihm aufzuhelfen. Kaum stand er, breitete sich ein Brennen in der Stelle seines Bauches aus, an der er vor Kurzem verletzt worden und fast daran gestorben war. Ben versuchte es zu ignorieren, aber beim nächsten Atemzug wurde der Schmerz so intensiv, dass er sich zusammenkrampfte.

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte Graig.

»Nichts ist in Ordnung, verdammt.« Seine Stimme troff vor Boshaftigkeit, wie er sie nie zuvor von sich gehört hatte. Erschrocken löste er sich von Graig und stolperte nach vorne.

Eine unbekannte Panik griff nach ihm. Sie dehnte sich in seinem Herzen aus und nistete sich dort ein wie ein Parasit. Normalerweise behielt er die Ruhe. Er war professionell, vorausschauend, gelassen. Selbst in den brenzligsten Situationen mit den Seelenwächtern hatte er einen kühlen Kopf bewahrt. Nun fühlte es sich anders an.

Persönlicher. Vielleicht war es wegen Payden, vielleicht, weil das Blut in seinen Adern in einem Rhythmus pochte, den er nie zuvor gespürt hatte. Es war dunkel und böse und unfassbar stark.

Was auch immer hier geschah: Es traf Ben bis in die Tiefen seiner Zellen. Es war eine Angelegenheit des Blutes.

»Ben ...«, hörte er Paydens Keuchen und fuhr sofort herum.

»Wo bist du?«, erwiderte er.

Ein Rumpeln war die Antwort, dann das Stöhnen eines Mannes, ein Krachen – als brächen Zweige –, ein Hinfallen. Ben schloss die Augen.

Kedos hatte erneut einen Menschen getötet.

Benommen griff Ben nach seiner Waffe, obgleich er wusste, dass sie wirkungslos war, und folgte den Geräuschen.

Er kam zwei Meter weit, ehe ihn ein Hieb in die Seite traf und er gegen die nächste Wand geschleudert wurde. Bens Kopf donnerte auf, er keuchte vor Schmerz.

Eine Tür wurde geöffnet, Schritte entfernten sich von ihm. Verwirrt zog er sich an der Wand hinauf, kroch ein Stück nach vorne, ehe er sich auf die Füße stellen konnte. Er taumelte geradeaus, krachte versehentlich gegen die geöffnete Tür, schüttelte sich und eilte weiter.

»Payden!«

Die Schatten lösten sich nur langsam auf, jetzt, da sie sich nicht mehr nur auf den Raum konzentrierten, und endlich sah Ben in der Ferne zwei Gestalten.

Kedos und Payden.

Er hatte einen Arm fest um sie geschlungen, schleifte sie halb mit sich. Sie schlug und kickte nach ihm, konnte sich aber nicht aus seinem Griff befreien.

Ben eilte den beiden hinterher, überlegte fieberhaft, was er gegen den Dämon ausrichten konnte. Akil hatte ihn mit der Macht der Urahnen zurückgedrängt, er hatte archaische Kräfte heraufbeschworen und sie auf den Dämon losgelassen.

Im Rennen griff Ben nach seinem Handy und drückte die Kurzwahltaste für Jess’ Nummer. Die Mailbox sprang an. »Kommt sofort zu mir! Kedos ist zurück! Er hat Payden und wütet im Revier!« Dann steckte er das Gerät weg und rannte weiter die Flure entlang.

Ob ich es auch schaffe, die Urahnen heraufzubeschwören, wie Akil es tat?

Immerhin hatte Ben schon einmal engeren Kontakt zu ihnen hergestellt. In der Kirche, als sie Mikaels Geist aus der Totenwelt zurückgebracht hatten. Aber da hatten die anderen Dowanhowee Ben unterstützt.

Er war nicht allein gewesen.

Er bog um eine Ecke, rannte die zum Ausgang führende Treppe hoch und stolperte über etwas, das auf der obersten Stufe lag. Ben schlug der Länge nach hin, erkannte erst nicht, über was er gefallen war. Er drehte sich um und zuckte zusammen. Am Treppenabsatz lag der leblose Körper von Sheldon; der Junge, der ihn und Payden vorhin eingelassen hatte.

»Beim heiligen Ikandu ...« Es kam ihm wie bloße Ironie vor, den Namen des Gottes in den Mund zu nehmen, der Kedos erst erschaffen hatte.

Ben schloss erneut die Augen, sammelte seine Kräfte und stemmte sich wieder nach oben. Kedos tötete Menschen, als wären sie lästige Fliegen. Er holte aus und ließ nichts am Leben, was sich ihm in den Weg stellte.

Warum hat er mich verschont?

Der Dämon hätte ihn ebenso erledigen können, aber er hatte es nicht getan. Vielleicht hatte es etwas zu bedeuten, vielleicht war es nur der bloße Spott, weil er Ben leiden lassen wollte.

Wie auch immer: Solang Ben kämpfen konnte, würde er es tun.

Er rannte weiter zum Ausgang, der sperrangelweit offen stand. Der Wind fegte die Schneewehen herein und trieb Ben eine Gänsehaut über den Körper. Er trat in die kalte Nachtluft, sah sich um. Die Lichter der Straßenlaternen kämpften gegen die Dunkelheit. Leichter Schneefall hatte eingesetzt und pustete ihm die weißen Flocken ins Gesicht. Ben blickte sich um, bemerkte die Fuß- und Schleifspuren im Schnee, die zur Straße führten, und folgte ihnen.

Er hatte den Innenhof zur Hälfte durchquert, als er die nächsten Fährten der Verwüstung sah. Blut. Erst war es nur der eine oder andere Spritzer, dann eine Lache und schließlich fand er den Mann dazu. Walter. Er war für den Ein- und Auslass im Hof verantwortlich gewesen. Kedos hatte ihm das Herz aus der Brust gerissen und es neben seinen Körper geworfen.

Bens Kehle schnürte sich zu. Ihm wurde übel, obwohl er es gewöhnt sein sollte, mit dem Tod konfrontiert zu werden. Wie konnte er diesen Wahnsinn stoppen?

Trunken vor Hilflosigkeit rannte er auf die Vorderseite des Gebäudes, hörte schon von Weitem das Gehupe und ein lautes Scheppern und Klirren. Er legte seine Waffe erneut an, gelangte auf die Straße. Durch die schlechte Witterung hatten drei Autos sich ineinander verkeilt. Zum Glück war es mitten in der Nacht und nicht so viel los wie tagsüber. Kaum auszudenken, wie viele Opfer es dann gegeben hätte.

Ben blickte zu den Passanten in den Autos. Zwei stiegen aus ihren Wagen, einer hielt sich die Schulter.

Kedos war schon auf der anderen Straßenseite. Samt Payden. Sie hing leblos an ihm, ließ sich nur noch mitschleifen, statt sich zu wehren.

Im ersten Moment wusste Ben nicht, was er als Nächstes tun sollte: sich um die Verletzten kümmern, Kedos verfolgen, die Kollegen warnen? In seiner Brust brannte das Feuer, in seinem Bauch hämmerte der Schmerz.

Was geschieht hier?

Was würde noch geschehen?

»Benjamin!«, rief Mark von hinten und rannte aus dem Revier. Ben drehte sich zu ihm, blinzelte und zwang sich, den Verstand zu behalten. Er war Polizist, er würde hiermit zurechtkommen.

»Ich muss dem Verdächtigen hinterher, kümmere du dich um den Rest«, rief er Mark zu.

»Aber du kannst nicht allein ...«

Ben winkte ab und setzte sich schon in Bewegung. Es war in der Tat Wahnsinn, Kedos allein stellen zu wollen, aber konnte er es verantworten, noch mehr Kollegen zu verlieren? Kedos machte keinen Halt vor den anderen, aber vor Ben – und genau das sollte er ausnutzen.

Wie ferngesteuert folgte Ben Kedos in den Park hinein.

»Ben, warte!«, rief Mark erneut, doch Ben war schon auf der anderen Straßenseite, wo er eine weitere Leiche fand. Ein junger Mann, sein Handy lag neben ihm im Schnee, sein Kopf war schräg verdreht. Ben wurde speiübel. Gegen so viele Gegner hatte er gekämpft, der Emuxor hatte sie alle bis an die Grenzen getrieben, Ben hatte geglaubt, dass es nicht schlimmer werden könnte – und nun das.

Ben fühlte sich, als würde Kedos in seine Seele greifen, als hätte Ben selbst diese Menschen getötet, als klebte ihr Blut an seinen Fingern.

Vielleicht tut es das auch ...

Verwirrt sah Ben auf seine Hand, doch da war nur Schmutz. Er spannte die Finger an. Schloss sie. Öffnete sie. Sein Arm verschwamm vor ihm. Das Drücken in seinem Bauch wurde stärker, er blickte auf, sah alles diffus. Die Bäume, den Schnee, die Dunkelheit. Alles vermengte sich zu einer wirren Landschaft mit grotesken Formen, die nicht von dieser Welt zu stammen schienen.

Ben zwang sich, weiterzugehen, rang sich jeden einzelnen Schritt ab. Selbst der Boden unter seinen Füßen fühlte sich anders an. Er blickte hinunter, sah nur Dunkelheit, wo eigentlich Schnee liegen sollte. Sie griff nach ihm und umschlang sein Herz. Er wollte sie aussperren, sich gegen sie wehren, aber er konnte nicht, denn sie war ein Teil von ihm geworden. Sie war in seinem Blut. Sie war sein Erbe.

Sein Volk hatte einst in Kedos‘ Namen gemordet. Sie hatten den Hass über der Welt ausgeschüttet, hatten Dörfer ausradiert, Menschen wahllos massakriert, genauso wie Kedos es gerade tat. Auf einmal spürte Ben all das Grauen, das dieses Wesen ausgelöst hatte. Er spürte die Verzweiflung der Opfer, die Angst, die Panik und die Genugtuung ihrer Schlächter.

Er spürte den Hass.

Und es fühlte sich gut an.

Nie in seinem Leben hatte Ben ein derart intensives Gefühl wahrgenommen. Es saß tief in seinem Herzen, tränkte all seine Zellen, seine Seele, sein Blut. Ben atmete den Hass ein, ohne ihn wieder auszuatmen. Sein Körper wandelte sich, seine Haut brannte, als würde sie sich transformieren. Auf einmal fühlte er sich stärker an, mächtiger, unverletzbar!

Er kam ins Straucheln, musste sich an einem Baum abfangen. Seine Finger krallten in die Rinde, er konnte kaum noch atmen, so sehr nahm ihn das Gefühl gefangen.

So viele Opfer.

So viel Leid.

Durch uns.

Wir haben das getan.

Ben war ein Teil hiervon. Sein Erbe waberte durch ihn und zeigte ihm seine Vergangenheit.

Er hörte die Trommeln des Volkes, er vernahm dessen Rufe, die Schlachtgesänge, das Jubeln, wenn es über ihre Feinde herfiel. Ben sah sie alle vor sich. Seine Brüder und Schwestern, ihre Gesichter, die sie mit dem Blut ihrer Feinde bemalten und sich an dem ergötzten, was sie anrichteten.

Das war es. Das war seine Vergangenheit. Es war so gut.

»Nein.« Er presste die Handfläche gegen seine Stirn und zwang die Bilder zurück.

Das bin ich nicht. Ich bin nicht wie meine Vorfahren.

Ben hatte sich dem Guten verschrieben. Er kämpfte auf der anderen Seite. Er hatte seine Wahl getroffen.

Ich bin Polizist.

Ich hüte Leben.

Ich nehme es nicht.

Er schüttelte sich, besann sich auf seinen eigenen Körper. Die Kälte half ihm, sich zu erden. Er hielt daran fest, zwängte den Hass und die Gewalt weg von sich.

Ben blickte nach vorne, sah Kedos nur noch als Schatten um eine Ecke huschen. Mit Mühe stieß er sich vom Baum ab, stolperte die ersten Schritte, ehe er sich fangen konnte und mehr Kraft in den Beinen spürte.

Weiter. Ich muss ihn aufhalten.

Er stapfte durch den kniehohen Schnee, bis er auf einen Weg kam, der geräumt worden war. Ben beschleunigte, sein Atem tanzte vor ihm in der Nacht, sein Herz hämmerte gegen seine Brust. Zwanzig Meter vor ihm sah er Kedos. Er steuerte die alte Kirche an.

Immer wieder lief es darauf hinaus.

Das Gebäude war seit dem Zwischenfall mit dem Emuxor gesperrt worden, aber das Gemäuer schien übernatürliche Energien anzulocken. Vielleicht war es wirklich verflucht, wie jeder behauptete.

Ben eilte zu dem Hügel, der zu der vorderen Mauer führte, und fand noch eine Leiche. Wieder ein junger Mann, er trug Joggingkleidung, sein Genick war auf dieselbe Art verbogen wie bei dem anderen Toten am Straßenrand.

Oh nein.

Ben hielt nur kurz inne, er konnte sich nicht um den Leichnam kümmern. Abgesehen davon riegelten die Kollegen bestimmt den Park ab. Schon bald käme hier niemand mehr raus oder rein. Ein Mord in der Stadt war schlimm genug, ein Amokläufer, der im Revier wütete, eine Nummer schärfer. Die Kollegen würden ein Großaufgebot losschicken, wenn es sein musste.

Und dann bekäme Kedos mehr Opfer, als er verlangt hatte.

Ben rannte weiter den Hügel hinauf. Oben sah er schon die alte Kirche, die sich dunkel und erhaben gegen den Nachthimmel abzeichnete. Das Gestein sah fast schwarz aus, die Giebel und die Dächer waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, an den Kanten hingen Eiszapfen. Die Kirche hatte stets eine mystische Ausstrahlung gehabt, doch heute Nacht wirkte sie wie aus einer anderen Welt; als würde sie die Grenze zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit öffnen; als wäre Zeit hier nicht länger existent.

Ben ging langsam weiter. Sein Atem tanzte vor ihm. Viel zu hektisch. Viel zu unruhig. Er schluckte gegen die Nervosität, bemühte sich, einen klaren Kopf zu bewahren, während sein Innerstes fast durchdrehte. Seine Finger fühlten sich klamm und steif an. Vermutlich könnte er so nicht mal eine Waffe führen, wenn er musste.

Langsam lief er auf die Mauer zu, bog nach rechts ab Richtung Haupttor. Das Gebäude war mittlerweile besser abgeriegelt worden. Soweit Ben wusste, wollte die Stadt sogar einen Zaun um die Mauer errichten, damit niemand mehr auf das Gelände gelangen konnte. Vielleicht nicht die schlechteste Idee.

Der Schnee knirschte unter Bens Schuhen. Die Nacht war so still, dass er seinen Puls in den Ohren pochen hörte. Nur in der Ferne erklangen die Sirenen.

Neben ihm krachte es, er blickte herum, doch es war nur Schnee, der von einem Ast gefallen war. Ben rieb sich die laufende Nase am Ärmel ab, ging weiter. Sein Gesicht war steif gefroren, jeder Muskel in seinem Körper angespannt. Auf die ungesunde Art und Weise.

Je näher er an das vordere Tor kam, desto wärmer wurde es. Sogar der Schnee schmolz, nach einigen Metern war er komplett verschwunden. Kedos hatte eine Spur aus Hitze hinterlassen, überall dort, wo er entlanggekommen war.

Ben erreichte das vordere Tor, passierte den Eingang und kam ins Stocken.

Kedos stand auf der Mauer und hatte die Schwingen weit ausgebreitet. Von seinen Flügeln tropfte flüssiges Feuer. Die Flammen hielten ihn umschlossen, zogen über seinen Körper und hüllten ihn ein, ohne ihn zu verletzen.

Payden baumelte leblos an der Seite des Dämons. Wie ein erlegtes Tier, welches er nun in seine Höhle schleppte, um es zu verspeisen.

Ben zückte seine Waffe, doch seine Hände waren so klamm, dass er kaum die Finger um den Griff legen konnte. Geschweige denn vernünftig zielen.

Er musste es dennoch darauf ankommen lassen.

2. Kapitel

Akil atmete tief ein und aus. Sein Herz raste so heftig, dass ihm schwindelig davon wurde. Es war, als donnerte jemand mit einem gigantischen Hammer von innen gegen seine Brust. Er spürte jede einzelne Vibration, fühlte, wie das Blut durch seine Adern schoss, wie es fast kochte, weil es so schnell durch ihn gepresst wurde. Er bemühte sich, Ruhe zu bewahren, sich auf die Erde unter seinen Füßen zu konzentrieren, die Macht dieses Ortes in sich aufzunehmen und sie zu nutzen, um sich zu ankern. Wenn nicht hier, wo dann?

Hier, im Ratstempel.

Wo seit Jahrtausenden die vier ältesten Seelenwächter eines Elementes zusammenkamen und über das Wohl der Gemeinschaft berieten. Wo Sitzung um Sitzung, Diskussion um Diskussion stattfand, damit alles zusammengehalten wurde, was sowieso mit jedem Jahr mehr auseinanderfiel.

Es gab bisher nur einen anderen Moment in seinem Leben, in welchem Akil sich genauso hilflos gefühlt hatte wie jetzt: als sein ehemals bester Freund Azam sich gegen ihn gewandt und nichts mehr mit ihm hatte zu tun haben wollen; als Akil alles genommen worden war, er am Boden gelegen und Dreck gefressen hatte, als es keinen Ausweg mehr gab, außer sich noch mehr zu erniedrigen.

Doch selbst da hatte Akil ganz tief in sich drinnen eine Hoffnung gefühlt. Einen Funken an Licht gesehen, der ihm zeigte, dass dies nicht das Ende war, sondern der Anfang; dass irgendwo da draußen etwas auf ihn wartete, was größer war als er selbst. Etwas, von dem er nichts ahnte.

Zweitausend Jahre später stand er nun hier. Er war als Mensch gestorben, als Seelenwächter wiederauferstanden. Er hatte geliebt, gelitten, gekämpft, gefeiert. Er hatte das Leben mit all seinen Facetten in sich aufgesogen. Er hatte sich von der Energie der Freude tragen lassen, er hatte jeden Tag mit einem Lächeln begrüßt.

Und nun?

Fühlte er Angst.

Enge.

Machtlosigkeit.

Denn Akil hatte die magischen Worte gesagt, er hatte seinen rechtmäßigen Platz im Rat eingenommen und sich diesem Amt verschrieben, bis er eines Tages sterben sollte und jemand anderes nachrücken konnte.

Akil hatte einen Teil von sich selbst an diesen Tempel gekettet.

Und es gab kein Zurück mehr.

»Akil?«, fragte Marysol und legte eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte zusammen, weil er gar nicht bemerkt hatte, wie sie vor ihn getreten war. Er blinzelte irritiert, sah erst zu Marysol, dann zu Kendra. Sie starrte ihn mit offenem Mund an. In ihren Augen sammelten sich die Tränen. Er wusste nicht, ob sie diese für ihn weinte oder für sich selbst. Vielleicht für sie beide.

Derek und Kjell saßen am Tisch in der Mitte. Kjell wirkte gesetzt und ruhig, während Derek um seine Fassung rang; wenn auch nicht auf die Art, mit der es Kendra tat. Hätte Akil ein Streichholz neben ihm entzündet, wäre er explodiert.

»Brauchst du eine Pause?«, fragte Marysol.

»Ich denke, das ist angemessen«, sagte Kjell, ehe Derek etwas erwidern konnte.

»Höchstens eine Stunde«, blaffte er rasch. »Wir haben diese Sache lang genug verschoben, wir müssen zu einem Ende kommen, schließlich haben wir genügend andere Dinge auf dem Tisch.« Derek erhob sich schwerfällig und stützte sich auf seinen Stock. Er warf Akil einen letzten verächtlichen Blick zu, drehte herum und ging davon.

Akil achtete nicht weiter auf ihn. Er konnte nicht.

»Kendra«, setzte Marysol an. »Du kannst draußen bei deinem Element und Aiden warten. Wir werden dich zur Urteilsverkündung rufen.«

»Ich ...«, sagte sie, verstummte und überbrückte stattdessen die kurze Distanz zu Akil, wo sie nach seiner Hand griff und ihn an sich heranzog. Er ließ es geschehen, denn er hatte keine Kraft, etwas anderes zu tun. Kendra schlang die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. Sie fühlte sich kühl und frisch an. Ihr Element umschloss sie genauso fest wie sie ihn.

Er legte eine Hand auf ihren Rücken und grub seine Nase in ihre Locken. Seine Brust schnürte sich enger zu, er spürte die Verzweiflung in sich hochkriechen, wie sich dieses Gefühl in seinem Inneren sammelte und nach draußen strebte. Zu Kendra.

Sie zog an dieser Emotion. Sie nahm ihm einen Teil der Panik.

»Nicht«, sagte er, hatte aber auch keine Kraft, sich gegen sie zu wehren.

Kendra legte eine Hand um seinen Hinterkopf, drückte ihn enger an ihre Haut, wie um ihm zu zeigen, dass es in Ordnung für sie war. Tiefer und tiefer griff sie in ihn hinein, schloss ihre Finger um den Klumpen, der sich in seinem Inneren gebildet hatte, und beförderte ihn nach draußen. Für diese wenigen Momente lichtete sich alles Schwere von Akil. Die Angst, die Panik, die Sorge. Es floss aus ihm heraus, hin zu Kendras Seele.

»Es wird alles gut«, hauchte sie mit heiserer Stimme und löste sich von ihm. Er sah ihr fest in die Augen, entdeckte dort all das, was er eben noch gefühlt hatte. Nun waren es ihre Emotionen, nun musste sie damit umgehen, sie verarbeiten, sie loslassen.

Akil öffnete den Mund, wollte sich bedanken, aber sie schüttelte den Kopf, wandte sich von ihm ab und verließ den Tempel. Er blickte hinter ihr her. Ungläubig, weil er solche Dinge nicht von ihr gewohnt war.

»Danke«, flüsterte er und strich sich über den Nacken, wo Kendra ihn eben berührt hatte.

»Komm«, sagte Marysol. »Wir gehen auch kurz hinaus.«

Er schüttelte sich und nickte Marysol zu. Sie lief voraus, er folgte ihr stoisch. Den Blick auf den Boden geheftet, setzte er stumpf einen Schritt vor den anderen, bis er endlich draußen war. Mehr denn je hatte er das Bedürfnis, sich seinem Element zuzuwenden. Er wollte sich am liebsten irgendwo in der Erde vergraben und nie wieder zurückkehren.

Ein kühler Luftstrom streifte sein Gesicht und trieb ihm kalte Gischt in die Augen. Das Meer tobte. Es krachte gegen die Felsen, erfüllte mit seinem salzigen Duft Akils Lunge.

»Komm«, sagte Marysol. »Wir gehen von der Küste weg, da wird es angenehmer für dich.«