Die Chroniken der Seelenwächter - Band 29: Weltenwanderer - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 29: Weltenwanderer E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Die Welt der Seelenwächter fällt immer weiter auseinander. Jeder kämpft an seiner eigenen Front, und Akil muss sich einem Feind stellen, der direkt aus ihrer Mitte kommt. Dereks Taten haben weitreichende Folgen, die niemand so erwarten konnte. Jaydee kehrt endlich zurück zu Jess und stellt sich seinen zwiegespaltenen Gefühlen. Er ist innerlich zerrissen zwischen dem, was Lilija ihm gesagt hat, und dem, was er für Jess empfindet. Nun ist es an ihr, stark zu sein. Aber nicht nur für Jaydee: Ihre Mutter verliert sich erneut in den Strudeln ihrer Visionen. Wovor sie zehn Jahre früher davonrennen wollte, als sie ihre Tochter verließ, holt sie alle mit voller Wucht wieder ein. Dies ist der 29. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel26

3. Kapitel32

4. Kapitel39

5. Kapitel47

6. Kapitel63

7. Kapitel69

8. Kapitel80

9. Kapitel95

10. Kapitel105

11. Kapitel121

12. Kapitel129

13. Kapitel138

14. Kapitel147

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«161

Die Fortsetzung der Seelenwächter:162

Impressum163

Die Chroniken der Seelenwächter

Weltenwanderer

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

»Nervös?«, fragte Marysol. Sie liefen einen dunklen Gang entlang, der sie tiefer in den Tempel führte. Die Luft wurde kühler und feuchter. Akil vernahm das leise Rauschen des Meeres, das gegen die Felsen brandete.

»Es geht.« Er spannte die Finger an und lockerte sie wieder. Kalter Schweiß stand ihm im Nacken, sein Herz hämmerte schneller als üblich. Akil war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Meist behielt er den Überblick und einen klaren Kopf, aber das hier war anders; persönlicher.

»Heute wirst du auch deinen Ring bekommen«, sagte Marysol und bog mit ihm um die nächste Ecke.

»Stimmt, das Ding muss ich ja auch tragen.« Ilai hatte ebenfalls einen gehabt, ihn aber meist nur zu den Sitzungen angelegt. Es war ein Symbol seiner Macht im Rat gewesen. Ein Ring mit einem eingestanzten Muster, welches das Feuer repräsentierte. Früher trugen die Ratsmitglieder sogar extra gefertigte Kleidung zu den Sitzungen, die, laut Ilai, alles andere als bequem gewesen waren und im Schritt gezwickt hatten. Irgendwann tauschten sie diese dann gegen lange Roben, in denen die Zeichen ihres Elementes eingewoben waren. Zum Glück mussten sie die aber auch nur für besondere Anlässe anziehen.

»Wie weit führt dieser Gang nach unten?«, fragte Akil. Sie liefen nun schon eine Weile bergab.

»Nicht mehr lange. Wir gehen bis zum Kern des Tempels.« Marysol steuerte auf eine Treppe zu, die im Halbkreis nach unten führte. Die Wände schimmerten mal orange, mal blau, mal weiß, auch grün. Sie passten sich den vier Elementen an. »Dies ist der Bereich, der nur uns vorbehalten ist. Kein normaler Seelenwächter hat hier Zugang. Sobald du initiiert bist, werden dir alle Wege und Türen offen stehen.«

»Und wo ist Lilijas Gefängnis?« Akil erinnerte sich gut an Ilais Worte, als er ihn im Tempel getroffen hatte: »Pass bitte auf Jaydee auf! Er ist unstet und braucht nach wie vor Führung.«

Marysol hielt inne und blickte über ihre Schulter zu Akil. »Überall. So fühlt es sich zumindest an.« Sie legte eine Hand auf die Wand. »Durch die Zauber ist es vor jedwedem Eingriff geschützt, auch vor unserem. Aber manchmal spüre ich sie. Ihre Kraft. Ihren Zorn. Ihre Traurigkeit. Sie ist ein Teil dieses Tempels und pulsiert in den Mauern.«

Akil strich ebenfalls sanft mit den Fingern über den kalten Stein, doch er spürte nichts; vielleicht, weil er noch nicht initiiert war. Marysol senkte die Hand und ging weiter. Die Treppe machte einen letzten Knick, und sie fanden sich in einem großen Raum mit glatt polierten Wänden wieder. Er war fensterlos, doch das Gestein strahlte genügend Licht ab.

Akil spürte einen Druck auf den Ohren. »Sind wir unter dem Meeresspiegel?«

»Ja.« Marysol lief bis zur Mitte. Im Boden waren die beiden liegenden Achten abgebildet. An der Decke hing eine lange Klinge aus glänzendem Titanium. Sie zeigte genau auf das Zentrum.

»Habt ihr das bei Damokles abgeschaut?« Akil hatte ihn gekannt, er war ein schrecklicher Hypochonder gewesen.

»Nicht ganz«, sagte Marysol und blickte nach oben. »Es hängt dort seit der Errichtung des Tempels, geformt aus dem ersten Titanium, das je geschmiedet wurde. Aus dem gleichen Guss wurde auch das Messer im Tempel der Wiedergeburt gefertigt. Zwei Waffen, die verbunden sind.«

Akil trat näher, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Kunstwerk. Die Klinge war lang und dick und alles andere als zum Kämpfen geeignet. Dennoch war das Metall glatt poliert und schien scharf zu sein. Es hatte keinerlei Verzierungen, der Griff endete im Gestein der Decke. Wie ein Stalaktit.

»Wir rufen ein Element nach dem anderen«, sagte Kjell auf einmal hinter ihm.

Akil wandte sich von dem Schwert ab. Nacheinander traten Kjell und Derek ein. Sie hatten die Roben angelegt, die sie als Ratsmitglieder auszeichneten.

Da sind sie ja, die guten Stücke.

Kjell trug zwei weitere über seinem Arm. Eine reichte er Marysol, die andere Akil.

»Nur für das Ritual«, sagte Marysol und zwinkerte ihm zu.

Er nahm sie mit einem Murren entgegen. Der Stoff fühlte sich schwer und dick an. Er war moosgrün, das je nach Lichteinfall heller oder dunkler schimmerte. Kleine Silberfäden waren eingenäht und formten auf dem Rücken das Zeichen für das Element Erde.

Marysol schwang sich ihren über die Schulter und schloss die Brosche oben, um ihn zu fixieren. Akil tat es ihr gleich und fühlte erneut die Schwere, die dieses Amt mit sich brachte. Der Stoff repräsentierte das ganz großartig.

»Ein Element nach dem anderen«, sagte Marysol und lief an die linke Seite des Raumes.

»Wasser«, sagte Kjell. Er stellte sich rechts von Akil auf den Teil der liegenden Acht, die für sein Symbol stand.

Auf einmal bebte die Klinge an der Decke. Akil sah noch mal hinauf, die Schneide sandte ein leichtes Strahlen aus. Im nächsten Moment löste sich ein Tropfen und fiel ins Zentrum des Symbols der Seelenwächter. Die Kurve für das Wasser erstrahlte kurz, als hätte sie neue Energie bekommen. Kjell breitete die Arme aus und senkte den Kopf.

»Feuer«, sagte nun Derek und hinkte zu seinem Element. Wieder bebte die Klinge, wieder entstand ein Tropfen. Dieses Mal war es Lava. Sie fiel hinunter, das Zeichen für das Feuer flammte auf.

»Luft«, sagte Marysol auf ihrem Platz, die Klinge reagierte erneut. Der Tropfen war flüssiger Rauch. Marysol nickte Akil zu, streckte die Arme wie die beiden anderen aus und senkte den Kopf.

Blieb also nur noch ein Element übrig.

»Erde«, sagte Akil.

Die Klinge gehorchte ein letztes Mal. Es rumpelte leise im Gestein. Ein Bröckchen löste sich von der Spitze des Schwertes und fiel auf das Element Erde. Helle Energie loderte auf, hüllte für einen Moment alle Ratsmitglieder in ihren Schein ein. Akil trat an die Spitze der liegenden Acht und stellte sich zu seinem Element. Der Boden bebte, unter Akil brodelte eine gewaltige Macht, die sich langsam in seine Zellen ausdehnte.

»Hier sind wir nun«, sagte Kjell und hob eine Hand.

»Um ein neues Mitglied in unseren Reihen zu begrüßen«, fuhr Derek fort.

»Sei willkommen, Akil aus dem Hause Malachai«, schloss Marysol. »Du trägst eine starke Energie in dir. Ilai hat dich in dieses Leben geholt.«

Akil wurde schwindelig von der Energie, die sie heraufbeschworen. Sie pulsierte von seinen Füßen aufwärts und breitete sich in seinem gesamten Körper aus. Er atmete sie ein, ließ zu, dass diese alte Macht der Seelenwächter ihn erfüllte. Es war nicht so unangenehm, wie er gedacht hatte. Diese Kräfte, die sie weckten, hatten nichts mit den Mühen des Rates zu tun. Sie waren rein und ursprünglich, sie kamen direkt von den Elementen und zeigten Akil, wer er war, woraus er geschaffen wurde, was in ihm wirkte.

»Bitte«, sagte Kjell und deutete auf die Mitte der liegenden Acht. »Tritt in den Kreis. Komm unter das Schwert.«

Ernsthaft?

Akil hielt die Luft an und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Er hatte nicht unbedingt Sorge, dass die Klinge auf ihn niedersausen würde, sonst gäbe es schließlich keine Ratsmitglieder. Dennoch fühlte es sich komisch an.

Im Zentrum angekommen, legte er den Kopf in den Nacken und blickte hinauf zur Spitze. Sie hing direkt über seiner Stirn.

»Hab keine Furcht«, sagte Marysol.

Wie aufs Stichwort brodelte es tief unten in der Erde. Die Klinge wackelte. Der Geruch nach Feuer intensivierte sich, als hätte jemand eine Packung Streichhölzer ausgeblasen. Akil und die anderen blickten zu Derek, der sich an die Stirn fasste und leise keuchte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Kjell.

»Es ist das Element. Ich fühle, wie es schwächer wird.«

Die Klinge vibrierte erneut über Akils Schädel. Er trat einen Schritt zur Seite, damit er nicht mehr direkt darunter stand.

»Können wir das Ritual beenden?«, fragte Marysol.

»Ich denke schon.«

»Du denkst?«, sagte Akil. Es war ja nicht Dereks Kopf, der gespaltet werden würde, wenn das Ding herabfiel.

Derek blickte ihn an. Akil hätte schwören können, dass ein Lächeln auf seinen Lippen lag. Es verschwand jedoch sofort. Entweder wollte Derek Akil nur nervös machen, weil ihm einer abging, oder es war Zufall.

»Wäre es besser, aufzuhören?«, fragte Kjell.

»Wer weiß, ob wir danach noch mal eine Chance bekommen«, sagte Derek. »Wir sind hier, ziehen wir es durch. Ich versuche, das Element zusammenzuhalten.«

»Wirklich nett von dir«, sagte Akil und stellte sich nur zögerlich unter das Schwert zurück.

Die anderen drei kamen näher, kesselten Akil in ihrer Mitte ein und schlossen den Kreis, indem sie sich an der Hand hielten.

»Dann lasst uns beginnen«, sagte Kjell. »Knie nieder, Akil.«

»Empfange das Wissen der Jahrtausende«, sagte Derek.

Er tat, wie geheißen. Die Klinge bebte, wuchs aus dem Stein heraus und senkte sich auf ihn herunter.

»Neige den Kopf«, sagte Kjell.

Er schluckte. Es fiel ihm schwer, das Vertrauen aufzubringen. Nur ein loser Stein an der Decke – und die Klinge würde ihm den Kopf abtrennen.

»Hab Vertrauen«, sagte Marysol. »Denn das ist es, was du brauchen wirst.«

Akil atmete einmal tief ein und aus, dann senkte er den Kopf und wartete, bis die Waffe seine oberen Halswirbel berührte. Er konnte ein leises Keuchen nicht unterdrücken. Die kalte Metallspitze drückte stärker auf, bohrte sich zwischen seine Wirbel, ohne seine Haut zu verletzen.

Bisher haben das alle Ratsmitglieder überlebt, also werde ich das auch.

Akil schloss die Augen, bemüht, diesem Prozess zu vertrauen und sich fallen zu lassen. Ein Kribbeln breitete sich an der Stelle aus, an der ihn das Metall berührte. Es sickerte in seinen Kopf, strömte bedächtig durch seinen Körper. Akil stöhnte leise, Bilder kamen in ihm hoch.

Er sah Seelenwächter. Überall auf der Welt. Sie gingen ihrer Arbeit nach, töteten Schattendämonen, lebten ihr Leben. Er spürte all die Last, die in diesen Gemäuern ruhte, all die Kraft, die sich seit jeher hier gesammelt hatte.

All das Wissen.

Akil bekam ein anderes Gespür für die Welt, für das, was sie waren. Er verband sich mit allen Familien rund um den Erdball, nahm ihre Energie wahr, ihre Verbundenheit zu den Elementen.

Jeder einzelne Seelenwächter wandte sich ihm zu. In Mexiko, in Südafrika, in Frankreich, in Chile, in Kambodscha, in Marokko. Akil reiste um die Welt, machte bei jedem Anwesen Halt, nahm jede Seele wahr. Sein Geist dehnte sich über diese Welt aus, bis er sie komplett umschlossen hatte und zu diesem Ausgangspunkt zurückkehrte. Er hatte sich einmal um den Globus gespannt, sich mit allen Seelenwächtern verbunden. »Es sind so wenige«, sagte er leise.

»Einhundertzweiundvierzig«, sagte Kjell.

Akils Herz zog sich zusammen. Als Jess in ihre Familie gekommen war, hatte er ihr erzählt, dass rund dreihundert unter den Menschen lebten, aber dem war nicht mehr so. Sie waren um mehr dezimiert worden, als er die ganze Zeit geglaubt hatte.

»Es ist wahr«, sagte Marysol. »Wir geben es nur nicht in unserer Gemeinschaft bekannt, sie sollen nicht ihre Hoffnung verlieren.«

»Wie viele Schattendämonen gibt es?«, fragte er.

»Das können wir nicht genau bestimmen«, sagte Kjell. »Die Zahl schwankt von Tag zu Tag. Nach dem Vertreiben des Emuxors wurde rund ein Drittel ausgelöscht, doch sie erholten sich rasch. Mittlerweile sind es wieder Millionen.«

Akil wollte unter dem Schwert weg, diese Nachricht verdauen, sich hinsetzen und darüber nachdenken, aber er konnte sich nicht rühren. Sein Gehirn fühlte sich an, als würde es jeden Moment platzen. Er gab einen leisen Laut von sich, spürte, wie die anderen näher an ihn heranrückten und ihn mit ihrer Präsenz fast erdrückten; als wäre er in einem Schraubstock eingeklemmt, der ihm sämtliche Luft zum Atmen nahm.

»Halte durch«, hörte er Marysols Stimme in seinen Gedanken. »Es ist bald geschafft.«

Akils Kiefer spannte sich so hart, dass er fast einen Krampf davon bekam. Er wollte nach Luft schnappen, bekam aber kaum Sauerstoff in seine Lunge.

»Gib dich dem hin«, sagte Kjell. »Werde Teil unseres Wissens.«

Die Energie strömte ungehemmt in sein Hirn, brachte es zum Brodeln, als würde es mit flüssigem Feuer gefüllt. Erneut roch er das Element intensiver. Obwohl er die Augen geschlossen hielt, flackerten wirre Punkte vor ihm herum. Seine Arme begannen zu zittern. Er hatte das Gefühl, als würde er von allen Seiten gepackt und auseinandergezerrt werden.

War das wirklich normal? Gehörte dies alles zum Prozess?

Akil spannte die Beinmuskeln, wollte so gerne aufstehen, aber er wagte es nicht. Tiefer und tiefer tauchte er in alles ein. Er verband sich mit dem Tempel, sah all die verborgenen Gänge, die einst errichtet worden waren. Viele führten in Sackgassen, einige waren verschüttet. Er entdeckte alle Gefängniszellen, die ihnen zur Verfügung standen und auf der Welt verteilt waren, er sah die große Halle; die Stelle, an der Jaydee mit Anna eingebrochen war, um nach Ud-dáva zu reisen, und auch die Bibliothek. Sie war groß mit unzähligen Regalen, die Reihe um Reihe mit ihrem Wissen aufwarteten. Akil erinnerte sich an Ilais Worte, dass er an eine bestimmte Stelle sollte, einen Stein aus der Wand entfernen musste, um dahinter zu blicken. Er suchte in Gedanken den Raum ab, doch die Verbindung reichte nicht aus, als dass er so weit schauen konnte.

»Komm zu uns«, sagten die anderen drei im Einklang.

Ohne Akils Zutun dehnte sein Geist sich in den Gemäuern aus. Er verlor das Gespür für seinen Körper, seine Haut, seine Muskeln, sein Wesen; es löste sich auf und setzte sich neu zusammen. Akil transformierte sich selbst. Seine Zellen spalteten sich, die Moleküle in seinem Blut kochten. Er wurde durchströmt von der Kraft der Seelenwächter.

Noch mehr Bilder kamen in ihm hoch. Er sah, wie die Ratsmitglieder sich hier versammelten, wie sie seit Jahrtausenden über das Schicksal aller beratschlagten, Entscheidungen trafen, miteinander brüteten und nicht immer Gutes taten.

Akils Seele schwappte über. Es war viel zu viel auf einmal. Worte und Bilder prasselten auf ihn ein, drohten ihn zu zersprengen, doch er hatte keine Wahl, als weiter hinzusehen und den Orkan des Wissens zuzulassen.

Er spürte die Last, die auf allen Ratsmitgliedern lag. Manche hassten sie, andere suhlten sich darin. Auch Seelenwächter waren nicht immun gegen die Verlockungen der Macht. Manche hatten sie genossen, hatten ihre Grenzen überschritten, indem sie Entscheidungen trafen, die sie nicht hätten treffen sollen. Akil spürte, wie Seelenwächter eingesperrt, wie sie ins Exil geschickt oder ihre Fähigkeiten gebannt wurden; früher mehr als heute.

Wie in der Geschichte der Menschen gab es bei den Seelenwächtern Zeiten, in denen sie nicht nur das Wohl aller als oberste Priorität gesehen hatten. Nicht einmal Ilai hatte alles verhindern können. Harte Urteile waren gefällt worden, Anwesen geschlossen, Familien gespalten. Akil sah auch Ashriel; die Seelenwächterin, die sich von der Gemeinschaft abgewendet hatte; die nun eigenständig und auf sich selbst gestellt in New York hauste – gefangen in ihrem Wahnsinn.

Akils Geist reiste weiter. All das Leid in der Seelenwächterwelt wurde ein Teil seiner selbst. Es drang in seine Seele, würde sie belasten wie ein Gewicht, das er für immer auf seinen Schultern tragen musste. So viele schlimme Dinge waren im Laufe der Jahrtausende geschehen. Seelenwächter hatten gekämpft, gelitten, waren getötet worden oder hatten getötet. Jeder Schattendämon, der von einer Titaniumklinge ausgelöscht worden war, war für immer verloren. Die Seele war vernichtet, herausgerissen aus dem Kreislauf der Wiedergeburt. Akil spürte auch das. Auf einmal nahm er das Wehklagen all derer wahr, die nicht mehr existierten; sie luden all ihr Leid und ihren Schmerz auf ihn ab und zerquetschten ihm fast die Lunge.

»Was ist das?«, keuchte er.

»Die Dunkelheit«, antwortete Marysol. »Jeder Schattendämon, der je durch uns starb. Sie alle lassen etwas in unserer Seele zurück.«

»Diese Energie wird hier gehalten«, sagte Kjell. »Im Tempel des Rates, sodass sie nicht die Gemeinschaft verseucht.«

»Ich ... Ich verstehe nicht.« Und doch tat er es. Er sah Hunderte um Hunderte Titaniumklingen vor sich. An ihnen klebte schwarzes Blut. Die Essenz des Todes. Das Zeichen der Vernichtung. Die Klingen blitzten in der Dunkelheit auf. Wie Mahnmale der Seelenwächter, wie Grabsteine, auf Tausenden von zerstörten Seelenfriedhöfen. Das alles hatten sie zu verantworten. Sie retteten die Menschen und sie löschten sie gleichzeitig aus, denn jeder Schattendämon war eine Person, die den falschen Weg gegangen war. Sie hatten eine Abzweigung genommen, von der es kein Zurück mehr gab. Anstatt ihnen zu helfen, doch noch ins Licht zu gelangen, löschten die Seelenwächter diese verlorenen Seelen aus.

Dieser Fakt war allen bekannt und hatte Akil von jeher gestört. Er zweifelte nicht an seiner Arbeit, denn die Alternative wäre, alle Schattendämonen am Leben zu lassen, bis sie die Menschen ausgerottet hätten. Es war ein Teufelskreis, aus dem es kein Zurück gab.

Der Rat nahm all das auf sich. Er schulterte die Last, die von Jahr zu Jahr schwerer wog. Es war, als würde jede ausgelöschte Seele ihre Finger heben und dem Rat die Schuld dafür geben.

Akils Augen brannten, eine Träne löste sich. In diesem Moment wurde ihm klar, wie verloren sie alle waren; wie sinnlos ihre Arbeit, wie falsch und gleichzeitig richtig sie war.

»Lass es einfach weiterfließen«, sagte Kjell. »Es ist gleich vorüber.«

Akil stöhnte, wollte genau das tun, als er erneut diesen komischen Geruch nach Feuer wahrnahm. Gleichzeitig spürte er ein heftiges Drücken in seiner Brust, seine Nackenhaare stellten sich auf. Das Brodeln unter ihm kehrte zurück, setzte sich dieses Mal auch in den Wänden fort und brachte das Gestein zum Vibrieren.

»Was ist das?«, fragte Kjell und klang beunruhigt. Dann gehörte das wohl nicht zum Ritual.

Ein anderer Duft mischte sich unter den des Feuers: Wasser. Salzwasser. Das Meer.

Akil wollte die Augen öffnen und nachsehen, doch er konnte sich nach wie vor nicht bewegen. In den Wänden rauschte es stärker, er spürte die Kraft des Ozeans von außen auf den Felsen drücken, hörte, wie die ersten Stellen platzten und das eiskalte Nass einströmte.

Das gehört ganz sicher nicht dazu!

»Achtung!«, rief Marysol, schon knallte es laut um Akil herum.

Endlich bekam er die Augen auf, wollte zurückweichen, aber die Klinge drückte ihn nieder. Er konnte nicht dagegen ankämpfen, musste dem Druck nachgeben, ehe sie ihm die Halswirbel durchtrennte. Akil hielt die Luft an, stützte sich mit den Händen vom Boden ab und wurde weiter nach unten gedrückt. Er fühlte sich wie ein Angeklagter auf dem Schafott, der darauf wartete, enthauptet zu werden. Die Schneide bohrte sich tiefer in seine Haut, Blut rann an den Seiten seines Halses hinab.

Plötzlich verlangsamte sich die Zeit. Das Metall suchte sich einen Weg zwischen seinen Wirbeln hindurch. Er duckte sich, so gut er konnte, doch irgendwann wäre er am Boden, und dann ...

Die Klinge verletzte ihn weiter, drang in seinen Körper und vergiftete sein Blut. Das Titanium breitete sich in ihm aus, bohrte sich noch tiefer. Gleichzeitig griff sein Element nach ihm und versuchte, den Fremdkörper loszuwerden. Akils Glieder wurden taub, seine Zunge wurde pelzig, seine Empfindungen zogen sich in der Mitte seines Körpers zusammen, bis er kaum noch Schmerz spürte.

War es so im Angesicht des Todes? War dies der letzte Schritt? Er hatte ihm schon mal so intensiv in die Augen geblickt, als Jaydee ihn vor vielen Jahren mit einem Titaniummesser in die Brust gestochen und fast sein Herz getroffen hatte.

Heute war es wieder so.

Alles kehrte wieder.

Akil schloss die Augen, sein Herz raste. Er schnappte nach Luft, verlor die Orientierung, während das kalte Metall sich weiterbohrte und seine Haut verletzte. Doch auf einmal schwand der Druck. Akil wurde zur Seite gestoßen, jemand gab ein dumpfes Keuchen von sich und landete auf ihm.

Im ersten Moment kapierte er nicht, was passiert war, dann ertönte ein gewaltiger Schlag und Marysol schrie schmerzerfüllt. Sie zuckte zusammen. Akil sah hoch und spürte etwas Warmes zwischen ihren Körpern.

Blut.

Hatte sie sich etwa in das Schwert geworfen?

»Marysol.«

Sie stöhnte als Antwort. Akil wollte sie von sich schieben, um zu sehen, wie groß der Schaden war, doch der gesamte Raum wurde von einem weiteren Beben erschüttert.

»Die Wände brechen ein!«, rief Kjell.

Akil blinzelte. Sein Kopf stand in Flammen. Er hörte nur noch Rauschen. »Was ...«, stammelte er und bekam eine Ladung eiskaltes Wasser ab. Er schluckte unbeabsichtigt einen Schwall davon und hustete ihn gleichzeitig wieder aus.

»Raus!«, sagte Kjell und erschien über Akil und Marysol. Seine Aura hatte sich ausgedehnt und schillerte in den schönsten Blau- und Cyantönen. Der Kontakt zu seinem Element und die Bindung an das Ritual erfüllten ihn mit mehr Stärke als üblich.

Behende zog er das Schwert aus Marysols Seite, hob sie von Akil herunter und gleichzeitig auf die Arme. Sie blutete heftig, aber Akil sah nicht, wo genau die Wunde war.

Akil setzte sich hin, die Klinge lag vor ihm im Wasser und schimmerte unter der Oberfläche.

»Das Schwert darf nicht im Meer versinken«, sagte Kjell. »Wird die Waffe aus dem Tempel entfernt, zerfällt sie zu Staub.«

»Ich nehm sie«, antwortete Akil und wollte sich aufrichten, aber kaum belastete er seine Beine, knickte er wieder ein.

Kjell fluchte, eilte mit Marysol Richtung Ausgang. »Ich bin gleich wieder da.«

Akil sah sich nach Derek um, doch er entdeckte ihn nirgendwo. Nur Wasser und Felsen und Dunkelheit. Der Schmerz in seinem Schädel machte ihn benommen. Ihm wurde übel, er sah alles doppelt. Akil war schon öfter von Titaniumklingen verletzt worden, aber so etwas hatte er noch nie erlebt. Das Brennen hatte sich verzehnfacht und raubte ihm sämtliche Sinne. Er konnte kaum etwas hören oder sehen oder spüren. Ihm war eiskalt, seine Muskeln waren steif.