Die Chroniken der Seelenwächter - Band 8: Machtkämpfe - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 8: Machtkämpfe E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Die Welt der Seelenwächter gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht. Dämonen fallen in Riverside Springs ein und vereinen sich zu einer Armee, die stärker und gefährlicher ist als jeder Gegner zuvor. Um sie aufzuhalten, entschließt sich der Rat der Seelenwächter zu einer drastischen Maßnahme, die Jess von ihrer besten Freundin für immer trennen wird. Was kann sie tun, um den Rat aufzuhalten - und darf sie überhaupt ihr eigenes Wohl über das der Menschen stellen? Jaydee kämpft weiter gegen seine eigenen Dämonen und sucht nach einem Ausweg aus seiner Raserei. Dabei erhält er Unterstützung von einer Person, von der er es nicht erwartet hätte. Doch auch diese Hilfe hat seinen Preis. So wie alles im Leben der Seelenwächter. Die Machtkämpfe fordern ihren Tribut. Dies ist der 8. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 186

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel13

3. Kapitel26

4. Kapitel31

5. Kapitel42

6. Kapitel54

7. Kapitel62

8. Kapitel67

9. Kapitel80

10. Kapitel92

11. Kapitel99

12. Kapitel108

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«128

Die Fortsetzung der Seelenwächter:129

Impressum130

Die Chroniken der Seelenwächter

Machtkämpfe

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

»Ich hatte es Anthony bereits gesagt …«

Keira erstarrte, als Jaydee die Klinge in ihren Bauch bohrte. Für eine Sekunde stand die Welt still. Da waren nur noch diese stechend-silbernen Augen, die sich in ihre gruben und jedes Detail, jede Regung von ihr aufnahmen. Jaydees Pupillen weiteten sich, er rückte näher an sie heran, rieb seine Wange an ihrer und atmete ein, als wolle er nichts von ihr verpassen.

»… Ich lasse mich nicht verarschen«, fuhr er fort und schob die Klinge tiefer.

Langsam.

Beherrscht.

Kontrolliert.

Er war kein willenloses Monster, das durch Blutgier zu unüberlegten Handlungen getrieben wurde. Er war ein Jäger. Ein gnadenloser, Tod bringender Jäger, der taktisch vorging und dabei jede seiner Taten bis ins Letzte genoss. Keira spürte, wie die Klinge sich in ihren Bauch grub, doch es schmerzte kaum.

Sie atmete ein letztes Mal ein, lehnte den Kopf gegen die Wand und versuchte, bei Sinnen zu bleiben. Anthony war gerade dabei gewesen, ihre Tattoos zu erneuern, als Jaydee hereingestürmt war. Und obwohl die Zeichen noch nicht vollendet waren, nahm die Tinte bereits ihre Arbeit auf und kämpfte gegen das Eindringen des Messers an.

»Jaydee, bitte hör auf«, versuchte sie es noch einmal. »Ich wollte dir nicht schaden.« Und das war die Wahrheit. Anthony hatte sie gezwungen, Jaydee an die Familie Blair mitsamt der Greiffeder auszuliefern. »Du musst mir …«

Jaydee verlagerte sein Gewicht nach vorn und drehte das Messer. Es war auf ihrer rechten Seite eingedrungen. Mit ein wenig Glück waren keine lebensnotwendigen Organe verletzt, aber sie würde ganz sicher an der Wunde verbluten, wenn ihre Tattoos sie nicht heilten.

»Was kann ich tun, um dich zu überzeugen?«, keuchte sie. Sie schluckte, schmeckte das Kupfer auf ihrer Zunge.

»Ich bin sowas von fertig mit Reden. Du und dein kleiner Kompagnon habt mich direkt in Joannes Hände geliefert.«

»Nein.«

Jaydee grinste, damit sagte er mehr als tausend Worte: Er glaubte Keira kein Wort. Und es gab nichts, was sie tun konnte, um ihn umzustimmen. Also sah sie ihm direkt in die Augen, versuchte dem bohrenden Blick aus Silber standzuhalten und ihm mit Kraft ihrer Gedanken zu vermitteln, dass es ihr leid tat. Jaydee erwiderte ihren Blick. Er wirkte mürbe. Der Kampf, den er mit sich selbst ausfocht, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Noch immer trug er dieselben Klamotten wie am Tag zuvor, als sie sich verabschiedet hatten. Sie waren verdreckt, zerrissen, stanken nach Blut. Seine Haare waren ebenso verkrustet und hoffnungslos verknotet. Sie taxierten einander für unendliche Zeit. Keiras Knie fühlten sich butterweich an. Sie atmete noch einmal ein. Ihre Lider wurden schwer, sie wollte nicht ohnmächtig werden, wollte ihm nicht die Befriedigung verschaffen, nach der er suchte.

Auf einmal sah sie einen Schatten huschen. Sie blinzelte, Jaydee bemerkte es, wirbelte herum, doch er war einen Hauch zu langsam. Anthony packte seinen Kopf und brach ihm das Genick.

Jaydee plumpste zu Boden.

»Großer Gott«, stammelte Keira. Jetzt, da Jaydee sie nicht mehr an der Wand fixierte, drohte sie tatsächlich zusammenzuklappen.

»Ich hab dich«, sagte Anthony und schob seine Hände unter ihre Arme. »Wir werden nicht viel Zeit haben, bis er geheilt ist.«

»Wie …« Keira blinzelte. Vielleicht halluzinierte sie bereits vom Blutverlust. »Warum bist du …?«

»Denkst du, Dämonen und Seelenwächter sind die einzigen, die heilen können. Mittlerweile müsstest du mich doch kennen, Keira-Maus. Warte.« Anthony rannte zum Tisch mit der Tätowierpistole, öffnete die oberste Schublade und holte ein schwarzes Pulver in einem Streuer heraus. Er verteilte es über ihre Wunde und die Klinge. »Das Pulver bindet das Blut. Trotzdem müssen wir dringend deine Tattoos vervollständigen, damit du heilen kannst. Aber erst kümmere ich mich um den Typen. Schätze, der ist nicht lange außer Gefecht. Kannst du alleine stehen?«

Sie nickte, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Die Wunde in ihrem Bauch pochte. Sie hörte Anthony herumhantieren und einen der Schränke öffnen. Vermutlich holte er eins seiner Superseile. Damit hatte Keira schon öfter gearbeitet, wenn sie jemanden einfangen mussten und dieser sich nicht einfangen lassen wollte. Die Seile verstärkten sich, je mehr Kraft man aufwendete. Obwohl sie nicht dicker als ihr Zeigefinger waren, hatte es noch keiner geschafft, sich daraus zu befreien.

»Ich werde dem Scheißer Blut abnehmen«, sagte Anthony. »Wenn er schon so dumm ist und uns ein zweites Mal in die Arme läuft, muss ich wissen, was er für ein Wesen ist. Denn eines ist klar: Er ist kein vollwertiger Seelenwächter! Die können nämlich keine Menschen foltern. Wusstest du das, Keira-Maus? Ich auch nicht, aber ich habe recherchiert, nachdem er mich in der Mangel hatte. Die haben eine natürlich eingebaute Hemmschwelle. Vermutlich geschieht das, wenn sie in die Transformation von Mensch zu Seelenwächter übergehen.«

Konnte dieser Typ nicht mal für eine Sekunde die Klappe halten? Typisch, dass er erst ans Geschäft dachte, während sie fast in der Mitte auseinanderfiel. Sie öffnete die Augen und sah ihm zu, wie er Jaydee in den Arm stach und Blut abnahm. Anthonys Blick war glasig, fast schon gierig, als hörte er bereits die Rubel rollen.

»Wir verabreichen ihm ein hochdosiertes Sedativum. Sobald deine Tattoos vollständig sind, wird seine Kraft absorbiert«, sagte Anthony.

»Du weißt, dass ich tagelang Migräne von den Tattoos bekomme und erst mal gar nichts mache.« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jaydee so lange warten würde.

Anthony blickte auf und schürzte die Lippen. »Na ja. Es kann sein, dass ich ein kleines Gegenmittel habe.«

Sie starrte ihn an. Das war jetzt hoffentlich nicht sein Ernst! Nach all den Jahren des Leidens, der Tage, an denen sie nicht mehr tun konnte, als in ihrem Bett zu liegen und zu warten, bis sich ihr Körper an die Magie gewöhnt hatte. »Du hast ein Gegenmittel und sagst mir nichts?!«

»Ja. Tut mir leid. Es ist hinten in den Kartons. Hochkonzentriertes Morphium. Aber es wirkt nur vorübergehend, und wenn es abklingt, kommt die Migräne trotzdem.«

»Du bist doch wirklich das größte Arschloch unter dieser Sonne.« Sie drückte sich von der Wand ab. Nur mit all ihrer Willenskraft schaffte sie es, das Zimmer zu durchqueren. Ein letztes Mal sah sie auf Jaydee. Er lag nach wie vor leblos da, aber einer seiner Finger zuckte. Anthony zog die Kanüle ab und steckte die Spritze mit dem Blut sofort ein. Dann begann er, das Seil um Jaydees Körper zu schlingen. »Keira, hilf mir mal.«

Sie drehte sich um und torkelte hinaus in den Verkaufsraum.

»Hey! Warte gefälligst.«

Die Tür schloss hinter ihr und Keira blieb einen Moment in dem dunklen Laden stehen. Es roch nach Weihrauch und Staub. Ein Geruch, der ihr so vertraut war wie ihr eigener. Sie war früher gerne hierhergekommen, sie hatte sich in diesem Haus geborgen gefühlt, es war ihr Zuhause. Und jetzt? Seit dem Vorfall mit dem Greif wusste sie es nicht mehr.

»Keira, verdammt. Hilf mir gefälligst, diesen Mistkerl zu …« Anthony röchelte, die Worte blieben ihm im Halse stecken. Buchstäblich.

Keira zuckte zusammen und lauschte. Es rumpelte, als würde ein Körper auf dem Boden landen.

Er ist wach.

Jaydee war geheilt.

So schnell?

»Scheiße!«

Keira schüttelte sich und setzte sich in Bewegung. Sie durchquerte den Verkaufsraum und betrat die Kammer dahinter. Die Wunde in ihrem Bauch loderte auf. Ihr Körper, oder eher gesagt ihre Tattoos, versuchten, sie zu heilen. Es würde erst gelingen, sobald sie vollständig waren – und in der Sekunde würde auch die Migräneattacke einsetzen.

Hinter ihr rumste es, als Jaydee die Tür vom Tätowierzimmer gegen die Wand knallte. Keira achtete nicht darauf. Sie würde nicht noch mal den Fehler begehen und sich nach ihm umdrehen, während er sie verfolgte. Das hatte sie in Athen getan und damit ihren Vorsprung sofort eingebüßt. Sie schloss die Tür zur Kammer, in der Anthony allerlei Gerümpel aufbewahrte. Keira scannte die Regale ab. Sie warf die ersten Kartons aus dem Regal und arbeitete sich zu den Medikamenten vor. Penicillin, Fentanyl, Paracetamol und schließlich – Morphium.

Hoffentlich war es das, von dem Anthony gesprochen hatte.

Keira schnappte sich die Schachtel, inklusive der zweiten mit den Kanülen und Spritzen, klemmte alles unter den Arm und rannte weiter zur nächsten Tür, durch die sie in Anthonys Wohnung gelangen würde. Bevor sie den Raum verließ, schmiss sie einige Kartons herum und baute so eine Barriere, die Jaydee hoffentlich ein wenig aufhalten konnte, bis sie fertig war. Seine Schritte hallten bereits durch den Verkaufsraum.

Sie hätte Anthony helfen sollen, statt zu gehen, aber manchmal ertrug sie diesen Kerl einfach nicht. Vielleicht war es auch ihr unbewusster Wunsch gewesen, dass Jaydee wach wird und ihn ausschaltet. Wäre sie traurig, wenn er tot war? Oder erleichtert? Es gab auch gute Seiten an ihm. Er hatte Keira aufgenommen, sie ausgebildet, ihr geholfen, zu dem Menschen zu werden, der sie heute war. Und er war ein feiges, hinterhältiges Arschloch, das eigentlich den Tod verdient hatte. Dennoch wusste Keira nicht, was sie sich für ihn wünschen sollte. Vielleicht wüsste sie es, wenn sie seine Leiche sehen würde oder ihm wieder gegenüberstand.

Aber erst musste sie sich um Jaydee kümmern.

Keira rannte los und gelangte in einen schmalen dunklen Flur, der zu Anthonys Wohnzimmer führte. Rechts ging eine steile Wendeltreppe nach oben in den ersten Stock, in ihr ehemaliges Reich. Das Haus war nicht sehr groß, die Wände oben so schräg, dass man kaum aufrecht stehen konnte. Doch das war auch nicht ihr Ziel. Keira eilte weiter in Anthonys Wohnzimmer, schlug die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor. Sie warf ihre Medikamente auf die Couch, drehte sich um und presste ihre Hand flach gegen die Tür. Die Bauchwunde pochte dumpf, Keiras Shirt war bereits vollkommen durchnässt, ihre Beine fühlten sich schwammig an.

Die Kartons im kleinen Raum polterten. Jaydee fluchte.

Keira schloss die Augen und sprach die drei Verschlüsselungsworte, die sie von Anthony gelernt hatte: »Cerraro protecto energa.« Das waren die einzigen Worte, die sie in dieser alten Sprache kannte, sie hatte ewig üben müssen, bis sie die Betonung korrekt beherrschte. Hoffentlich würde es funktionieren. Das Holz vibrierte unter ihrer Haut. Ein sanftes Glühen breitete sich auf der Oberfläche aus. Sie wusste nicht, wie lange und ob der Schutz überhaupt wirken würde, Keira war keine Magierin oder besaß Anthonys Kräfte. Letztendlich brauchte sie aber nur ein paar Minuten. Das Wohnzimmer hatte zwei Fenster, die auf die Rückseite in einen Innenhof zeigten. Der wiederum wurde mit einem massiven Eisentor gesichert und war nur von außen zugänglich. Ohne Schlüssel konnte Jaydee nicht zu ihr gelangen.

Kaum war sie fertig, hörte sie seine Schritte im Flur, gefolgt von einem wütenden Poltern gegen die Tür. Er schrie ihr keine Drohungen entgegen. Kein »Mach auf!« oder »Das wirst du bereuen!«. Jaydee war über das Stadium von Drohungen hinaus. Er machte ernst.

Er probierte es einmal, rüttelte ein weiteres Mal an der Klinke – und dann blieb es ruhig.

Keira lauschte einige Herzschläge lang, doch es geschah nichts.

Und diese Stille beunruhigte sie mehr als alles andere. Denn so hatte sie keine Ahnung, was er da draußen plante oder wo er sich aufhielt.

Sie zwang sich zurück in die Konzentration, durchquerte das Zimmer zu dem alten hölzernen Sekretär und öffnete die oberste Schublade. Drinnen lagen ein Tintenfässchen und eine kleine Tätowierpistole, die mit Batterien funktionierte. Anthony hatte das Set für Hausbesuche konstruiert. Keira nahm alles heraus und setzte sich damit aufs Sofa. Zwischendurch lauschte sie auf Geräusche von draußen, doch sie hörte noch immer nichts.

Keira atmete durch, drückte eine Hand auf die Wunde in ihrem Bauch und versuchte, das Pochen zu ignorieren. Sie stellte die Tinte auf den Tisch und schraubte den Deckel ab. Ihre Hände zitterten. Vor Anstrengung, vor Erschöpfung, vor Angst. Mit wackeligen Händen öffnete sie die Kartons, die sie mitgebracht hatte, und zog eine Spritze sowie eine Flasche Morphium heraus. Umständlich fummelte sie die Kanüle an die Spritze, zog das Mittel auf und legte alles bereit. Sobald die Tattoos vollendet waren, musste es schnell gehen. Sie rollte ihr Shirt nach oben. Die Stichwunde war heiß, das Pulver hatte sie tatsächlich geschlossen. Sobald der Kreis der Tattoos vollendet war, konnte die gesamte Kraft der Magie wirken.

Mit einem Kissen tupfte sie das getrocknete Blut ab, so gut es ging. Es brannte, als sie dabei die Wundränder streifte. Mit Tränen in den Augen setzte sie sich noch aufrechter hin und musterte ihren Bauch. Anthony hatte ihre Tattoos um ihren Nabel gestochen und war gerade dabei gewesen, sie über dem Hosenbund zu einem letzten Kreis zu schließen, als Jaydee hereingestürmt war. Keira aktivierte die Pistole und setzte sie an. Zum Glück war ein Kreis immer ein Kreis, egal aus welcher Richtung man darauf blickte, so musste sie sich keine Sorgen machen, dass sie alles auf dem Kopf sah.

Das vertraute Stechen der Nadel ziepte an ihrer Haut. Sie hielt die Luft an und führte die Pistole nach unten. Ihre Finger zitterten immer noch, die Striche wurden krumm.

Hoffentlich wirken sie dann auch.

Keira bemühte sich um einen gleichmäßigen Verlauf, aber es war nicht so einfach. Drückte sie zu fest, wurden die Stiche zu dick, drückte sie zu leicht, sah man sie kaum. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde sie nervöser. Vor allen Dingen, da sie immer noch nichts von Jaydee hörte.

»Atmen, Keira. Einmal ein, einmal aus, dann geht es weiter.« Und genau so machte sie es auch. Sie hielt erneut die Luft an, weil es ihr so leichter fiel, die Nadel ruhig zu halten, und setzte den Kreis fort.

Auf einmal hörte sie ein Schaben an der Außenwand, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen. Das Geräusch fuhr Keira durch Mark und Bein und ließ ihre Nackenhaare in die Höhe stehen.

»Scheiße, verdammte.« Sie zwang ihren Blick vom Fenster weg und wieder zurück auf die letzten Stiche. Sobald sie fertig war, musste sie schnell handeln, denn die Migräne kam meist als bohrender Clusterschmerz und wurde am Anfang so intensiv, dass Anthony sie in den ersten Minuten halten musste. Wenn er recht behielt und das Morphium würde die erste Attacke abhalten …

Das Kratzen wurde lauter, eindringlicher, wie ein heranrollender Zug, der unter Vollgas die Bremsen betätigte. Keira biss die Zähne zusammen, versuchte das Geräusch auszublenden und führte die letzten beiden Linien zusammen.

In dem Moment flog ein Stein durch die Scheibe. Sie schmiss die Pistole weg, griff nach der Spritze und wollte sie gerade ansetzen, als Jaydee durch das Fenster sprang. Seine Kleidung zerfetzte, er schnitt sich die Haut an den Splittern auf.

Keira gelang es noch, einen letzten Blick auf ihn zu werfen, dann setzten die Schmerzen ein. Obwohl sie wusste, was geschah, war es jedes Mal schrecklich. Als würde sie auf einen Schlag sämtliche Kopfschmerzen ihres gesamten Lebens aushalten müssen. Keira sah nur noch rot. Ihre Augen fühlten sich an, als würden sie von innen nach außen gedrückt. Am Rande ihres Bewusstseins bekam sie mit, wie Jaydee sich bückte, um in der nächsten Sekunde einen Satz nach vorne zu machen. Und sie bekam ebenso mit, wie die Tattoos ihren Dienst aufnahmen und die Wunde in ihrem Bauch heilten.

Keira taumelte. Sie reagierte mehr aus Instinkt denn aus Überlegung. Jaydee erwischte sie an der Schulter und warf sie auf die Couch. Die Spritze flog ihr aus der Hand. Keira landete rücklings auf den Polstern, er war sofort auf ihr.

»Ich sollte es mittlerweile besser wissen und jeden schneller töten.« Er umfasste ihren Kopf, ähnlich wie er es bei Anthony getan hatte, ruckte daran, doch Keira trat ihn mit voller Wucht in den Rücken. Ihr Stiefel bretterte gegen seine Wirbelsäule. Die Zeichen sogen Jaydees Kraft auf und fütterten damit sie selbst. Es war wie immer: Je stärker ihr Gegner war, desto stärker wurde sie – und umso schneller brannten die Zeichen aus. Wenn sie Jaydee überwältigen wollte, musste sie es gleich tun. Sie packte ihn mit einer Hand, zog seine Stärke aus ihm und trat ein weiteres Mal zu. Es überraschte sie selbst, wie viel Durchschlagskraft sie auf einmal hatte. Jaydee keuchte, als ihr Stiefel abermals seinen Rücken traf. Die Knochen knirschten, er brach auf ihr zusammen. Vermutlich hatte sie ihm das Rückgrat zertrümmert. Er blieb leblos auf ihr liegen. Keira nutzte die Chance und ließ seine Energie in sich hineinsickern. Mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte sie sich besser, stärker, ungehemmter. Sie schmeckte förmlich die Blutgier, die ihn antrieb, und musste sich beherrschen, nicht selbst davon übermannt zu werden.

Ihre Sinne verstärkten sich. Sie hörte sein Herz hämmern, das Blut in seinen Adern rauschen und die Knochen, die sich schon wieder zusammenfügten.

Nur leider wurden auch die Kopfschmerzen schlimmer. Ihr Magen zog sich zusammen, sie schob den leblosen Körper von sich und plumpste vor die Couch. Ihr stieg die Galle nach oben, sie krallte sich in den Boden, die Übelkeit war kaum noch auszuhalten. Ein letztes Mal schluckte sie alles wieder hinunter, aber mit der nächsten Drehung ihrer Körpers überkam es sie – und sie übergab sich. In ihrem Schädel brach die Explosion aus. Sie sah Sterne funkeln, Blitze schossen durch ihr Sehfeld, sie schmeckte eine bittere Note auf ihrer Zunge. Es würde nicht lange dauern, bis sie handlungsunfähig war.

Sie tastete umher. Die Spritze, die ihr bei dem Angriff von Jaydee aus der Hand gefallen war, lag zwei Meter entfernt. Mit Mühe robbte sie vorwärts. Mehr als einmal musste sie würgen und husten. Zum Glück hatte sie noch nicht viel gegessen, das tat sie nie vor dem Tätowieren.

Hinter ihr keuchte Jaydee. Er kam langsam zu sich. Keira erreichte die Spritze. Sie fuhr herum und jagte sich die Nadel in den Oberarm. Bestimmt hätte sie es sich intravenös verabreichen sollen, aber bis sie eine Vene gefunden hätte, wäre sie tot. Sie sank zurück auf den Teppich, starrte an die Decke und lauschte gleichzeitig auf Jaydees Geräusche. Seine Knochen arbeiteten auf Hochtouren, er war noch nicht wieder geheilt, würde es aber jede Sekunde sein.

Der Druck in ihren Augen ließ nicht nach. Es fühlte sich an, als würde jemand einen glühenden Nagel direkt zwischen ihre Brauen treiben. Am liebsten wäre sie einfach liegengeblieben und hätte gewartet, bis das Morphium endlich wirkte, doch das ginge nicht. Sie musste die Zeit nutzen, die sie hatte. Solange Jaydee ausgeknockt war, musste sie ihn fesseln.

Keira zwang sich in die Höhe. Ihre Knie knickten dreimal ein, bevor sie geradestand. Der Raum tanzte vor ihren Augen. Genau wie die Wände. Als würde sie auf einem Schiff mit zu viel Seegang stehen. Wenigstens hatte der Schmerz im Bauch nachgelassen. Nicht mehr lange, bis die Wunde geheilt war.

Sie torkelte zur Tür, löste den Verriegelungszauber und lief in den Flur. Jaydee keuchte erneut. Die Kissen unter ihm raschelten.

Schneller, schneller, versuchte sie sich selbst anzufeuern. Sie brauchte das Seil! Sie musste ihn fesseln, solange er noch nicht bei Bewusstsein war. Nach wenigen Metern erreichte Keira wieder das Tätowierzimmer. Anthony war verschwunden. An der Stelle, an der er mit Jaydee gekämpft hatte, war eine große Blutlache, sonst nichts. Keine Schleifspuren eines Körpers, keine Hinweise, dass Jaydee ihn weggeschafft hatte oder Anthony herausspaziert war. Als hätte er sich in Luft aufgelöst. Keira schüttelte sich und zwang sich weiter. Das Seil lag auf dem Boden. Sie hob es auf, rollte es zusammen und lief damit zurück zum Wohnzimmer. Sobald sie Jaydee gefesselt hatte, würde sie ihn mit dem Sedativum betäuben, das Anthony erwähnt hatte, und überlegen, was weiter zu tun war. Vorausgesetzt, er ließ sich betäuben. Vermutlich musste sie alle paar Minuten nachspritzen.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie zurück war. Die Kopfschmerzen waren nun deutlich schwächer, das Morphium setzte endlich seine Wirkung frei, sie konnte klarer sehen.

Als sie an der Wohnzimmertür ankam, streifte eine Windböe ihr Gesicht. Sie horchte in den Raum und stockte. »Oh nein, bitte nicht.« Mit wenigen Schritten war sie im Zimmer und starrte auf das leere Sofa.

Jaydee war abgehauen. Er musste erkannt haben, dass er gegen die Kraft aus ihren Tattoos nichts ausrichten konnte. Und er hatte die Tätowierpistole mit der Tinte mitgenommen. Sie starrte noch zwei Sekunden auf das leere Sofa, packte das Seil fester und folgte ihm.

2. Kapitel

Jessamine

Das heiße Wasser prasselte auf meine Schultern. Meine Haut glühte und juckte vor Hitze, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen, aus der Dusche zu steigen. Es war einfach zu schön hier. Zu simpel. Nur dem Rauschen des Wassers lauschen, die Augen schließen – und atmen.

Die Geräusche verstummten, die Gerüche verblassten, meine Empfindungen wurden auf mich selbst gelenkt. Es war gut, denn solange ich hier stand, musste ich nicht darüber nachdenken, was passiert war. Ich musste mir keine Sorgen um meine beste Freundin machen, die in den Händen eines Wahnsinnigen gelandet war und vermutlich Höllenqualen durchstand. Ich musste kein schlechtes Gewissen haben, dass ich einen anderen in den Irrsinn getrieben und eine Bestie entfesselt hatte. Ich musste nicht darüber nachdenken, wie viele Wesen ihm zum Opfer gefallen waren und ob diese Wesen – oder auch Menschen – auf meine Kappe gingen.

Weil ich ihn berührt hatte.

Weil meine Seele, meine Emotionen das Böse in ihm erweckt hatten.

Kendra hatte mir die Augen geöffnet. Sie hatte mir erklärt, wie es mit der Empathie funktionierte. Und sie musste es wissen, denn als Seelenwächterin des Wassers war genau das eine ihrer Fähigkeiten. Wieder und wieder kaute ich unser Gespräch von vor drei Stunden durch:

»Hier, bitte schön.« Kendra öffnete mir die Tür zu dem Zimmer, in dem ich bleiben konnte, bis Will mich wieder abholen würde.

Ich hatte die Arme um mich geschlungen und zitterte. Nicht vor Kälte, die Temperaturen waren auch im Schloss angenehm warm, sondern vor Erschöpfung. Diese vergangenen Stunden hatten jegliche Kraft aus meinen Gliedern gesogen. Ich rieb mir über die Augen, sofort war ich wieder in dem Raum, hörte Jaydee keuchen, gefolgt von den dumpfen Schlägen seines Kopfes gegen die Steinwand. Dazu Violets Schreie. So verzweifelt, so hoffnungslos, so allein …