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Die Grenzen zwischen den Welten beginnen zu bröckeln und Minako steht im Zentrum eines alten Geheimnisses, das die Vergangenheit eines Weltenwächters mit der Zukunft aller verbindet. Während sie nach Antworten sucht, ist es ausgerechnet Gabriel, der ihr immer wieder über den Weg läuft und scheinbar dasselbe Ziel verfolgt wie sie. Die Weltenwächter und Schattenmacher geraten in einen Strudel aus Verrat, Machtspielen und uralten Fehden, die alles ins Wanken bringen. Ein Buch, das nicht existieren dürfte. Ein Geheimnis, das mit ins Grab genommen wurde. Und eine Wahrheit, die alles verändert. Wenn Geheimnisse ans Licht drängen, zeigt sich, wem man wirklich vertrauen kann und wer bereit ist, für seine Welt zu kämpfen. Diese Tropes erwarten dich in Die Chroniken der Welten – Geheimnisse, die Welten entzweien: Portal Fantasy – Tore in fremde Welten voller Magie und Gefahren. Magische Wesen – Mystische Kreaturen, die Freund und Feind sein können. Mentor mit Geheimnissen – Mentoren, die mehr verbergen, als sie offenbaren. Slow Burn Romance – Eine Liebe, die langsam wächst – intensiv, unausweichlich und voller Spannung. Moral Grayness – Entscheidungen zwischen Licht und Schatten und Helden, die nicht immer heldenhaft handeln.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Deutsche Erstausgabe Juni 2025
1. Auflage
Copyright © Livia Everwood
Grafiken & Buchsatz: Livia Everwood
Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Impressum
Livia Everwood
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach
Die Chroniken der Welten
–
Geheimnisse, die Welten entzweien.
von
Livia Everwood
Teil 2
Copyright © 2025 Livia Everwood
Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsangabe
Prolog
Der König der Feen
Freiheit
Sonnenstrahlen
Zwischen den Büchern
Der Brief
Das Gespräch
Erinnerungen
Anerkennung
Sorgen
Liebe
Abschied
Geheimnisse
Unverhofft
Ein Käfer
Unbequeme Wahrheiten
Das unsterbliche Feuer
Erkenntnis
Beerdigung
In den Fängen
Kampfgeist
Khorava
Ein Schwur
Sahlarmir
Skystead
Mechanische Katze
Der Tempel
Das Monster
Einsamkeit
Schwäche
Nur zusammen
Taxifahrten
Verbotene Welten
Wüstensand
Das Weltenkind
Wo soll ich nur anfangen?
Zum ersten Mal, seit ich in Mizusakura lebte, verließ ich meine Wohnung für einen Ausflug – direkt in die Ruinen des Kage-Mori-Waldes hinein. Warum? Vielleicht aus Neugier, um endlich mehr von der Stadt zu sehen, in der ich seit Jahren lebte. Vielleicht, weil ich meinen Urlaub einmal anders verbringen wollte als sonst.
Oder vielleicht war es einfach nur Angst.
Angst davor, die Abmachung mit Charlotte, meiner Vorgesetzten und Mentorin, zu brechen. Sie hatte mir diesen Deal abgerungen: ein einziger Tag ohne Bücher, ohne Rückzug, ohne das sichere Versteck meiner Wohnung. Sie wollte, dass ich hinausging, etwas erlebte.
Ich ahnte nicht, dass dieser eine Tag mein Leben für immer verändern würde.
Ich stolperte – wortwörtlich – über Steine und durch Gestrüpp, direkt in verfallene Ruinen.
Dort, zwischen zerbrochenem Glas und bröckelndem Gestein, fand ich ein Buch. Alt. Fremd. Verloren. Und ich tat das, was ich immer tat. Ich las.
Ich dachte nicht nach. Ich sprach die Worte, die ich las, laut aus. Und dann – flackerndes Licht, ein Knistern in der Luft und die Rückwand eines alten steinernen Kamins, die zu flimmern begann. Und im nächsten Moment lief ich auch schon durch einen Tunnel, der mich in eine fremde Welt brachte. In eine Welt jenseits meiner Vorstellungskraft.
Floraterra.
Eine Welt, die atmete, lebte, wuchs. Ein Dschungel aus wucherndem Grün, voller unbekannter Wesen und Gefahren, die mich überforderten und zugleich faszinierten. Und dort begegnete ich ihm.
Ethan.
Er veränderte alles. Meinen Alltag. Meine Routine. Meine Sicht auf die Welt. Durch ihn begriff ich, dass das Leben mehr war als bloße Gewohnheit. Mehr als Tage, die sich gleich anfühlten, als würde man die Seite eines Buches immer und immer wieder lesen. Durch ihn hörte ich zum ersten Mal von den Weltenwächtern. Durch ihn begegnete ich Isa, mit ihren langen, goldenen Haaren und diesem strahlenden Lächeln, das selbst in dunklen Momenten Hoffnung schenkte. Sie war nicht nur schön, sie war warmherzig, mutig und trug eine stille Stärke in sich, die man ihr auf den ersten Blick nicht ansah. Gemeinsam mit ihrer Großmutter leitete sie damals ein Café in Hanami.
Doch nicht nur sie zählte zu den Weltenwächtern. Da war auch Maya mit ihrem schwarzen Bob und einem durchdringenden Blick, der einem das Gefühl gab, als sei man drei Köpfe kleiner als sie. Sie wirkte oft kühl, fast unnahbar, doch hinter ihrer harten Fassade schlug ein Herz, das loyaler und aufrichtiger war als viele andere.
Und schließlich Jonah – sachlich, logisch, immer gedanklich einen Schritt voraus. Manchmal schien es, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch gerade in seiner ruhigen, besonnenen Art lag etwas Beruhigendes und Verlässliches.
Alle drei wurden schnell mehr als bloße Verbündete. Sie wurden zu meinen Freunden.
Mein Leben hatte sich von einem Moment auf den nächsten verändert.
Ich erkannte, dass Licht stets einen Schatten warf. Dass das Staunen, die Euphorie, die ich in mir trug, in Bücher reisen zu können, nicht ohne einen bitteren Nachgeschmack blieb. Denn hinter allem lauerte eine Finsternis, die mir den Atem raubte. Herausforderungen, die mich an den Rand meiner Kräfte brachten.
Ich lernte die Feinde der Weltenwächter kennen – die Schattenmacher. Die Spuren, die sie hinterließen, waren tief. Narben, die nicht verblassten. Erinnerungen, die sich tief in meine Seele gebrannt hatten. Doch selbst in der tiefsten Dunkelheit gab es ein Licht.
Und das Licht, das mir die Schattenmacher zeigten, hieß Gabriel.
Er war der Beweis, dass nicht alle Schattenmacher von Natur aus verdorben waren. Dass es mehr gibt als Schwarz und Weiß. Er bewies es mir in Floraterra. Und später in Naiadon.
Naiadon …
Diese Welt hat mir gezeigt, wie vielschichtig Wesen und Welten sein können. Ich habe gelernt, auf mein Bauchgefühl zu vertrauen, selbst wenn die Welt um mich herum im Chaos versinkt und mir etwas anderes einflüstert. Naiadon war prägend, nicht nur wegen seiner Schönheit, sondern auch wegen seiner Lektionen. Ich bin über mich selbst hinausgewachsen, habe es sogar mit einem Tiefseemonster aufgenommen und jemanden getroffen, der mir für einen Moment den Kopf verdreht hat.
Calder.
Durch ihn entkam ich dieser Welt. Einer Welt, die mich lieber tot gesehen hätte.
Doch kaum hatte ich den Boden meiner eigenen Welt wieder unter den Füßen, spürte ich es. Diese Kälte im Nacken, das unsichtbare Gewicht auf meiner Brust. Ich war nirgends mehr sicher. Nicht ich. Nicht die anderen Weltenwächter an meiner Seite.
Gerade als ich glaubte, endlich Zeit zu haben, Antworten zu finden, verschwand Ethan. Der erste Albtraum begann.
Ich sehe ihn noch vor mir. Blass, reglos, gefangen in einem Krankenhausbett. Das kalte Neonlicht ließ seine Haut fast durchsichtig wirken, die sterilen Wände schienen ihn zu verschlucken. Der Piepton der Maschinen war der einzige Beweis, dass er noch lebte.
Die Ärzte schüttelten den Kopf. Keine Hoffnung. Ein leises Urteil, das schwerer wog, als ich zu beschreiben im Stande wäre. Und alle um mich herum nahmen es hin. Erstarrt zwischen Trauer und Angst.
Aber ich nicht. Ich konnte es nicht. Ich wusste, es musste einen Weg geben. Irgendwo, in irgendeiner Welt. Doch als ich darum bat, als ich nach Hilfe suchte, stieß ich auf verschlossene Türen und leere Blicke.
Also tat ich es allein. Suchte, forschte – verirrte mich in Möglichkeiten. Und beging meinen größten Fehler.
Eludoria.
Eine Welt, geboren aus meiner Verzweiflung, aus meinem Schmerz, aus der verzweifelten Hoffnung, Ethan zu retten. Doch was ich dort fand, war keine Rettung. Es war Dunkelheit. Es waren kalte, feuchte Tunnelwände, die mich verschlangen. Schatten, die mich verschleppten. Eine Welt, die sich an meinem eigenen Leid nährte.
Und Elara … die Hexe, die böse hätte sein sollen, doch sie war gut. Zu gut. Zu selbstlos.
Ich sehe sie noch immer vor mir, wie sie in meinen Armen ihren letzten Atemzug tat. Ihr Opfer … ihr Verlust … Es schnürt mir den Hals zu, selbst jetzt.
Elara war tot.
Zephyra, die Anführerin der Elfenarmee, war tot. Natürlich trauerte ich nicht um sie, so wie auch niemand anderes, aber es waren trotz allem zwei Leben. Zwei Leben von jetzt auf gleich ausgelöscht.
Wenigstens hatten sich Astra und Lysara, Zephyras treueste Anhängerinnen, mit der Armee der Elfen zurückgezogen. Doch das änderte nichts an dem, was geblieben war: der Stille in den dunklen Tunneln, das Gewicht des Blutes an meinen Händen. Denn ich hatte diese Welt erschaffen.
Isa, Maya, Jonah, selbst Sylva, die kleine Waldfee – sie alle waren da. Und doch fühlte ich mich hilfloser und einsamer als je zuvor.
Aber das war nicht das Ende.
Es war erst der Anfang.
Die Geschichte, die ich euch nun weitererzählen werde, ist keine leichte. Sie ist voller Dunkelheit, voller Schmerz, voller Verlust. Aber sie ist auch voller Hoffnung, voller Licht und voller unerschütterlicher Entschlossenheit.
Und ihr werdet nicht nur meine Stimme hören. Ihr werdet auch die Stimmen derer kennenlernen, die an meiner Seite standen. Und die derjenigen, die gegen uns kämpften. Denn nur so werdet ihr die ganze Wahrheit erfahren – nicht nur das, was mir widerfahren ist.
Alles, was bisher geschah, war nur der Anfang.
Der Anfang von etwas, das weit über meine kühnsten Träume – oder Albträume – hinausging.
»Wir müssen weiter«, drängte Sylva.
Nur mühsam fingen meine Beine an, sich zu bewegen. »Aber was ist mit Elara?«, fragte ich besorgt.
»Minako, wir können nichts mehr für sie tun. Wir müssen weiter. Ethan hat nur diese eine Chance. Wir müssen es schaffen, sonst war alles umsonst«, erklärte Isa mit einem warmen Lächeln, das sich mit Tränen vermischte. Mir wurde wieder bewusst, dass wir all das für Ethan taten. Das Elara wusste, worauf sie sich einließ, und ... dass ich dafür verantwortlich war, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, wenn wir aus den Tunneln herauskämen. Ich hatte das Buch erschaffen. Ihr Schicksal lag in meiner Verantwortung. Nie wieder sollte sie diese Entscheidung treffen, die sie in die Fänge der Elfen trieb. Das war ich ihr schuldig.
Jonah holte mich aus meinen Gedanken. »Seht nur, hier sind Zeichen an der Tunnelwand.«
Maya trat vor. »Was bedeuten sie?«
»Wartet, lasst mich mal sehen«, sagte Sylva, während sie näher an die Zeichen flog. Ihre schimmernden Flügel glitzerten im schwachen Licht des Tunnels und sie nickte nachdenklich. »Bitte stellt euch in die Mitte des Tunnels«, wies sie uns an, während sie sich schüttelte, als wollte sie etwas von sich abstreifen.
Wir warfen uns ratlose Blicke zu, folgten ihrer Anweisung jedoch zögerlich. Niemand wusste, was sie vorhatte.
Plötzlich begann der dunkle Tunnel zu leben: Winzige, leuchtende Partikel tanzten durch die Luft, lösten sich von Sylva, flimmerten wie Sternenstaub und wurden von den rauen Wänden eingesogen.
Ein leises Summen erfüllte die Stille, als die Wände in einem sanften, geheimnisvollen Licht erstrahlten. Es war, als hätte Sylva ihre Magie in die Dunkelheit geschickt. Die Farben, die von den Wänden ausgingen, erinnerten an den zarten Glanz ihrer Flügel – ein leuchtendes Grün, das den Weg vor uns markierte.
»Folgt mir!«, rief sie. Ihre Stimme war voller Entschlossenheit, während sie energisch voranschwebte. Ohne zu zögern stürmten wir ihr hinterher, das Ungewisse vor und die Dunkelheit hinter uns.
In dem nur schwach erhellten Tunnel war es schwer, die Orientierung zu behalten, doch Sylva schien genau zu wissen, wohin sie flog. Gelegentlich stießen wir auf weitere Zeichen, die die kleine Waldfee kurz studierte, bevor sie uns zielsicher weiterführte.
Die Zeit schien sich zu dehnen, während wir immer weiter liefen. Ich verlor vollständig die Orientierung, nachdem wir mehrere Male abgebogen waren. Meine Beine ermüdeten und meine Kräfte schwanden. Plötzlich blieb ich stehen, als ich eine Präsenz hinter mir spürte. Ich drehte mich ruckartig um und sah viele kleine Lichter direkt auf mich zukommen.
Wie ein Blitz schoss Sylva zu mir. »Was ist los? Geht es dir nicht gut?« Ihre besorgte Stimme durchdrang den Tunnel. Ihr Blick wechselte von mir zu den Lichtern. Doch bevor ich antworten konnte, hüllten mich die schimmernden Lichter ein. Sanft, aber unaufhaltsam trugen sie mich an den anderen vorbei in die Richtung, in die Sylva zuvor so zielstrebig geflogen war.
»Minako!«, hörte ich die besorgten Rufe meiner Freunde. Ihre Stimmen hallten von den steinernen Wänden wider, durchdrangen den Lichtkokon, der mich gefangen hielt. Ich spürte ihre Nähe, ihre Schritte, die eilig auf mich zukamen, doch Sylva hielt sie zurück. »Wartet! Es ist alles in Ordnung!«, rief sie mit einer Mischung aus Befehl und Zuversicht.
Innerhalb des leuchtenden Kokons konnte ich nichts sehen. Die Welt war verschwunden hinter flirrender, sanft pulsierender Helligkeit. Aber ich hörte die entfernten Geräusche – die hallenden Schritte, das Rufen, und dann ... Stille.
Die Lichter trugen mich weiter, bis sich vor mir eine kleine Öffnung auftat. Unerwartet sanft wurde ich schließlich abgesetzt. Der Boden unter mir fühlte sich weich an, fast unwirklich. Als der Kokon sich auflöste, sah ich mich um. Saftiges, grünes Gras erstreckte sich in alle Richtungen. Es war ein leuchtender Kontrast zur Dunkelheit der Wände. Ich befand mich in einem riesigen Raum, in dem alles blühte.
Mein Blick schweifte umher und dann erstarrte ich. Vor mir stand ein gigantischer Baum mit einer majestätischen Baumkrone und einer Aura, die seinesgleichen suchte. Sein Stamm schimmerte in tiefen, lebendigen Schattierungen von Violett und Magenta, als würde er von innen heraus pulsieren. Die ausladenden Wurzeln, die sich wie die Finger einer uralten Kreatur in den Boden gruben, leuchteten mit einem schwachen, rhythmischen Glühen.
Die Lichter, die mich getragen hatten, schwebten direkt auf den Baum zu. Sie tanzten ein letztes Mal um ihn herum, bevor sie eins mit dem gewaltigen Stamm wurden, als hätte er sie in sich aufgenommen.
Vorsichtig näherte ich mich dem Baum, meine Hand zögerlich ausgestreckt, um den Stamm zu berühren. Als meine Finger die Rinde fast erreicht hatten, durchzuckte mich eine Wärme, die sich wie ein sanfter Strom durch meinen Körper ausbreitete. Meine Hand wurde wie ein Magnet angezogen und legte sich auf die warme, raue Rinde des Baumes. Es fühlte sich an, als würde die Energie des Baumes direkt in mich hineinfließen. Ich wurde durchströmt von einem unerwarteten Gefühl der Verbundenheit, tief und beruhigend. Es war, als ob er mir ein Stück seiner Lebenskraft übertrug. Ein sanfter, pulsierender Strom von Energie, der die Müdigkeit, die mich zuvor gefesselt hatte, vertrieb. Ich fühlte mich erfrischt, als hätte ich stundenlang geschlafen, in wohltuender Wärme gebadet und die köstlichsten Nudeln der Welt genossen – alles zugleich.
Meine Gedanken wirbelten wie herbstliche Blätter im Wind umher.
Was ist das hier? Nichts davon steht in dem Buch, das ich geschrieben habe.
Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, je etwas Derartiges im Buch Eludorias gelesen zu haben.
Von einem Moment auf den anderen drang Mayas Stimme an mein Ohr, gefolgt von einer festen Umarmung von Isa. Die anderen hatten mich gefunden. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte mich. Es war beruhigend, sie bei mir zu wissen, ihre Anwesenheit zu spüren und sicher zu sein, dass es ihnen gut ging. Doch mein Blick blieb an Sylva hängen.
Sie hielt sich im Hintergrund, still und wachsam, wie ein Schatten, der nach etwas suchte. Etwas an ihrem Verhalten ließ mir keine Ruhe. Sanft, aber entschlossen löste ich mich aus Isas Umarmung und ging auf Sylva zu.
Die unausgesprochenen Fragen, die in mir brodelten, wollten sofort raus. »Was machst du hier mit uns?« Meine Stimme war schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Sylva zuckte zusammen und flog mit zögerlichen Flügelschlägen ein Stück näher zu mir. »Du hast die anderen aufgehalten, damit sie nicht zu mir und den Lichtern kommen«, fuhr ich fort. »Von Anfang an bist du zielstrebig in diese Richtung geflogen, und jetzt wirkst du überhaupt nicht überrascht, all das hier zu sehen. Also, was ist los? Was wird hier gespielt?«
Ihre Antwort kam leise, fast entschuldigend. »Ich wollte euch keine falschen Hoffnungen machen«, sagte sie schließlich. »Die Existenz dieses Ortes ist ... unwahrscheinlich. Es gibt viele Märchen darüber.«
»Was meinst du damit? Womit wolltest du uns keine Hoffnungen machen?«, ergriff Isa das Wort.
»Das hier ist der König der Feen«, erklärte Sylva ruhig.
Ich runzelte die Stirn und sah mich um. »Meinst du den Baum?«
»Genau den meine ich. Es ist ein Märchen, das allen Feen erzählt wird. Aber ich hätte niemals gedacht, dass es wahr ist. Bis ich die kleinen Lichter sah, die Zephyra aufgelöst und Elara mit sich getragen hatten. Da wurde ich neugierig. Und als ich die Symbole an den Tunnelwänden gesehen habe, fiel es mir wieder ein.«
Wir tauschten ratlose Blicke aus, unfähig, ihre Worte zu begreifen. Sylva sah uns nacheinander an, ihre leuchtenden Augen wirkten für einen Moment ernst. Doch bevor jemand etwas sagen konnte, schoss sie plötzlich blitzschnell an uns vorbei.
»Warte, wo willst du hin?«, rief ich und stürmte ihr hinterher. Die anderen zögerten nicht und folgten uns.
Als wir die andere Seite des majestätischen Baumstamms erreichten, blieben wir wie angewurzelt stehen.
Ich fiel auf die Knie, während meine Hände reflexartig meinen Mund bedeckten, um einen Schrei zurückzuhalten.
Dort lag sie – Elara. Ihre blasse Gestalt ruhte friedlich im weichen Gras, an den Wurzeln des Baumes gelehnt, und Sylva saß auf ihrer Brust, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Ein sanftes Lächeln umspielte Sylvas Lippen, während sie uns ansah. »Sie ist noch etwas schwach, aber in ein paar Minuten müsste es ihr wieder gut gehen. Die Wunde ist fast vollständig verheilt«, erklärte sie mit ruhiger Stimme.
»Wie ist das möglich? Woher weißt du, dass ihre Wunde ...«, fragte Jonah. Seine Stimme zitterte vor Unglauben, während er den Kopf schüttelte.
Plötzlich wurde mir alles klar. Die Puzzlestücke fügten sich zusammen und die Wahrheit traf mich mit voller Wucht. Alles, was Sylva getan hatte, jedes zögerliche Verhalten, jede geheimnisvolle Handlung ergab auf einmal Sinn.
»Warum hast du es uns nicht erzählt?«, fragte ich. Meine Stimme war eine Mischung aus Vorwurf und Erleichterung.
»Ich wollte euch keine falschen Hoffnungen machen, solange ich mir nicht sicher war. Das habe ich doch schon gesagt. Und die Sache mit der Wunde weiß ich, weil der König es mir gesagt hat«, erklärte Sylva und flog auf mich zu. »Geht es dir inzwischen besser?«
Der König?
»Ja, danke.« Meine Antwort kam mechanisch, denn in meinem Kopf hatte ich gerade noch einen roten Faden verfolgt, der mir sofort danach entglitt. »Aber … dass es mir nicht gut ging … woher wusstest du das?«
»Die Lichter.« Sie sah mich mit großen Augen an, als würde das alles erklären.
Maya, die genauso ratlos wirkte wie ich, runzelte die Stirn. »Aber woher wusstest du, dass die Lichter Minako hierher bringen würden?«
»Wusste ich nicht.« Sylva blinzelte unschuldig. »Da war schon ein bisschen Risiko dabei.«
Ich atmete tief durch, nicht sicher, was ich zuerst fühlen oder denken sollte. Keiner von uns rührte sich. Wir standen einfach nur da und beobachteten, wie Elara ruhig und gleichmäßig atmete.
Langsam drehte ich mich zu Isa, Maya und Jonah um. Sie wirkten wie lebendige Statuen – erschöpft, gezeichnet von den letzten Stunden. Ihre Kleidung, einst prächtig und makellos, war nur noch ein Schatten dessen, was sie auf dem Elfenball gewesen war. Der feine Stoff hing in zerfetzten Bahnen an ihren Körpern, verschmiert mit Staub und Dreck.
»Wie fühlt ihr euch?«, fragte ich leise.
Maya lachte trocken und zupfte an einer zerrissenen Rüsche ihres Ballkleides. Der einst schimmernde Stoff war an mehreren Stellen eingerissen, die zarten Stickereien von Schmutz überzogen. »Wie sollen wir uns schon fühlen, nach allem, was passiert ist?«
Ich sah zum Baum. »Streckt eure Arme aus und berührt den Stamm.«
»Wieso sollten wir das tun?« Jonah sah mich skeptisch an. Sein beigefarbenes Hemd war kaum noch als solches zu erkennen – übersät mit dunklen Flecken, zerrissen an den Ärmeln. Seine ehemals elegante Hose war am Knie aufgerissen, lose Fäden hingen daran, und seine Stiefel waren von Matsch und Blut durchtränkt.
Sylva summte leise, während sie zu uns schwirrte. »Der König erlaubt es«, verkündete sie. »Also los ... Ihr wollt sein Angebot sicher nicht ablehnen.«
Verwirrte Blicke wurden ausgetauscht und auch ich fragte mich, wovon sie sprach.
Welcher König? Hier ist niemand außer uns sechs.
»Na los«, drängte Sylva erneut, ihre Stimme wurde eindringlicher.
Fast gleichzeitig hoben Jonah, Maya und Isa ihren Arm und legten vorsichtig die Hände an den Baumstamm. In dem Moment, in dem ihre Fingerspitzen die raue, lebendig wirkende Rinde berührten, begannen leuchtende Linien über den Baum zu tanzen, wie Adern, die pures Licht durch den Stamm pumpten.
Fasziniert beobachtete ich, wie sich ihre Gesichter veränderten. Die Schatten der Erschöpfung, die dunklen Ringe unter ihren Augen – all das verblasste, als ob eine unsichtbare Welle neuer Kraft durch sie hindurchströmte. Ihre Haltung straffte sich, ihr Atem wurde ruhiger.
Langsam lösten sie die Hände vom Stamm. Isa streckte ihre Finger, als wolle sie testen, ob die neu gewonnene Energie wirklich real war. Maya drehte ihre Handflächen staunend hin und her, während Jonah mit gerunzelter Stirn die Wärme noch zu spüren schien, die auf seiner Haut lag.
Sylva kicherte und flatterte um uns herum. »So wirkt die Macht des Feenkönigs.«
Ein plötzliches, tiefes Ein- und Ausatmen ließ mich herumfahren.
»Elara!«
Sie hatte die Augen einen Spalt geöffnet, ihre Lippen formten ein schwaches Lächeln. Sylva schoss wie ein Pfeil zu ihr hinüber und ließ sich behutsam auf ihrer Brust nieder.
Elara formte die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Es dauerte einen Moment, bis Töne ihren Mund verließen. »Erzähl uns das Märchen«, flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. »Das Märchen vom Feenkönig.«
Obwohl sie noch schwach wirkte, wurde ihre Stimme mit jeder Sekunde stärker, und langsam kehrte die Farbe in ihre blassen Wangen zurück.
Sylva schenkte ihr ein zärtliches Lächeln. Eines, das mehr sagte, als Worte es je könnten.
Ohne zu zögern setzten wir uns um Elara und Sylva herum.
»Ich weiß nicht, ob ich noch alles zusammenbekomme.«
Eine stille Erwartung lag in der Luft, während Sylva den Blick über uns gleiten ließ.
»Es war einmal ein mächtiger König, dessen Glanz und Magie das gesamte Feenland erhellten. Er war gütig, rein und schätzte alle Lebewesen. Alle Feen lebten glücklich und friedlich in seinem Reich.
Doch seine Herrschaft wurde von dunklen Schatten bedroht. Böse Hexen, die aus den finsteren Ecken der Welt krochen, um sein Reich zu stürzen und seine Magie für sich zu beanspruchen. Ein Krieg brach aus, der das Schicksal des Feenreiches für immer verändern sollte.
Der König führte seine tapferen Krieger in den Kampf gegen die Hexen. Blitze zuckten am Himmel und Donner grollte, als die beiden Mächte aufeinanderprallten. Doch obwohl der König und seine Krieger tapfer kämpften, waren die Hexen mächtiger und listiger. Am Ende der Schlacht, als der Staub sich legte und die letzten Schreie verklungen waren, war der König der Feen schwer verwundet. Die Hexen hatten sehr dunkle Magie eingesetzt, um ihn zu schwächen, und er spürte, wie seine Kräfte immer weiter schwanden.
Unter keinen Umständen wollte er, dass seine Magie in die Hände der Hexen geriet. In seiner Not verwandelte er sich in einen majestätischen Baum, dessen Wurzeln tief in die Erde reichten und dessen Äste den Himmel berührten. Mit seinen Wurzeln sog er alle Magie aus dem Land und den Lebewesen heraus, die ihn umgaben. Kleine Lichter voller Magie vernichteten das Heer an dunklen Hexen und sogen alle Seelen in sich auf.«
Maya unterbrach Sylva vorsichtig. »Wenn er die Seelen in sich aufnimmt, bedeutet das, dass sie dann nicht wiedergeboren werden können?«
Sylva zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Bis vor ein paar Augenblicken wusste ich nicht einmal, dass das Märchen wahr sein könnte.« Sie atmete kurz durch und erzählte dann weiter. »Der König musste jedoch einen hohen Preis dafür zahlen, so viel dunkle Magie aufgesogen zu haben. Er blieb für immer in der Gestalt des Baumes.
Die Jahre vergingen und der Baum wuchs weiter, umgeben von einem Garten aus magischen Pflanzen und Blumen. Wer den Stamm des Baumes berührte, wurde von allen Wunden geheilt. Sogar die Toten konnten durch die Magie des Baumes wieder zum Leben erweckt werden, wenn sie in der Nähe des Baumes starben. Dazu nahmen die Lichter die Seele in sich auf und gaben sie frei, wenn der Körper wiederhergestellt wurde.
Doch der König der Feen war nicht nur ein Symbol der Heilung, sondern auch der Gerechtigkeit. Seine Lichter, diese kleinen glühenden Wesen, die von ihm ausgesandt werden konnten, durchstreiften die Umgebung und prüften die Seelen derer, die sich ihm näherten.
War eine Seele verdorben und böse, so wurden ihre Kräfte von den Lichtern absorbiert und ihr Körper wurde aufgelöst, um dem Baum die Magie zu geben. So bezog der König der Feen seine Kraft aus den dunklen Seelen, um sein Reich zu schützen und das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten zu bewahren.
Eines Tages überfielen Elfen, die sich mit Hexen zusammengetan hatten, erneut das Reich der Feen. Der Baum schaffte es, mit Einsatz seiner gesamten Magie die Feinde zu vernichten. Doch er wusste, dass er selbst in dieser Gestalt immer eine Bedrohung für sein Volk darstellen würde. Seine Kräfte waren zu begehrt in dieser machthungrigen Welt. Um dies zu verhindern, zog er sich in die Erde zurück und hinterließ einzig einen kahlen Fleck, auf dem nichts mehr zu gedeihen wagte.
Dass wir ihn hier finden ... Dass er hier in den Tunneln verborgen ist, wurde mir erst bewusst, als ich die Lichter sah und die Zeichen an den Wänden richtig verstand.«
»Die Hexen, die die Tunnel verschlossen hatten, mussten ihn gefunden und ihn in einen Zauber eingeschlossen haben«, schlussfolgerte Elara mit neuer Kraft in der Stimme.
Fasziniert von der Geschichte, blickte ich den Baum an.
In ihm lebt also der Geist eines Feenkönigs? Und Sylva muss mit ihm telepathisch sprechen können. Das würde erklären, wen sie meinte, mit dem König.
»Minako, warum sagst du uns das nicht? Du musst es schließlich in das Buch geschrieben haben, oder nicht?«, fragte Maya mich skeptisch, und ich konnte eine leichte Wut in ihrer Stimme wahrnehmen. »Wieso sollen wir ein Einhorn suchen, wenn hier ein lebensspendender Baum steht?«
»Ich hatte keine Ahnung. Weder habe ich ein Wort darüber ins Weltenbuch geschrieben, noch habe ich davon in dem eigentlichen Buch Eludoria gelesen. Ich wusste nichts von diesem Baum und selbst wenn ...«
»Was soll das heißen ›selbst wenn‹?« Mayas Wut nahm zu.
»Selbst wenn ich von dem Baum gewusst hätte, wäre es als Heilmittel für Ethan nicht in Frage gekommen.«
Isa sah mich fragend an. »Das verstehe ich nicht.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, ergriff Jonah das Wort. »Der Baum ist ein König. Es gibt nur diesen einen, und er besteht einzig aus Magie. Wir können keine Magie aus diesem Buch entfernen. Sie ist begrenzt, und ich denke, dass die Gefahr zu groß ist, davon etwas aus der Welt zu nehmen.«
Kaum waren die Worte ausgesprochen, flogen hunderte kleine Lichter aus dem Stamm, sammelten sich vor uns und formten eine Silhouette vor unseren Augen.
»Der König der Feen«, flüsterte Sylva ehrfurchtsvoll und ihre Augen weiteten sich.
»Willkommen in meinem Reich«, begrüßte uns die Gestalt mit einem Lächeln, das eine beruhigende Wärme ausstrahlte. »Eure Seelen sind rein, und ich bin bereit, euch zu helfen.«
Eine kurze Stille legte sich über uns, bevor er weitersprach, und wir hingen gebannt an seinen Worten. »Jedoch fordere ich dafür einen Gefallen von euch ein.«
Elara richtete sich auf. »Ich danke euch, dass ihr mich gerettet habt. Dafür werde ich immer in Eurer Schuld stehen. Nennt mir euren Gefallen, und ich werde ihn euch erfüllen.«
In seinen Augen glitzerten Hoffnung und Freude zugleich. »Ich bin einsam. Hier unten ist niemand, mit dem ich leben könnte. Niemandem, dem ich von Nutzen sein könnte. Bringt mich in das Land der Feen zurück. Ich möchte wieder bei meinem Volk sein. Ich habe genug von der Einsamkeit.«
Sylva flog auf ihn zu und verbeugte sich tief. »Eure Majestät, ich verstehe nicht. Seid ihr nicht freiwillig hier?«
»Ja und nein, kleine Waldfee Sylva. Die Geschichte, der ich so erfreut gelauscht habe, stimmt nicht ganz. Ich bin nicht hier, weil ich mich vor Feinden versteckt habe, sondern weil drei Hexen mich darum gebeten haben.«
»Das müssen die Hexen sein, die die Tunnel versiegelt haben«, bemerkte Elara.
»Das ist richtig. Ich bin der Hüter der Tunnel. Ich entscheide, wer sie betreten darf und wer nicht.«
»Aber eure Hoheit, wenn wir Sie von hier wegbringen, wer bewacht dann die Tunnel?« Sylva schüttelte den Kopf, unsicher darüber, was der König verlangte.
»Seht hier«, der König deutete auf einen Ableger. »Dieser kleine Spross wird schnell wachsen und immer mit mir verbunden sein. Er wird an meiner Stelle die Tunnel bewachen. Geboren aus den Seelen, die sich Zutritt verschaffen wollten, aber nicht würdig waren.«
»Aber wie sollen wir einen so mächtigen Baum in das Reich der Feen bringen?«, fragte Sylva, an Elara gerichtet.
»Das lass meine Sorge sein«, lächelte Elara zuversichtlich und nickte dem König zu.
»Ich nehme euch beim Wort, Hexe. Und da ich sehe, dass eure Seele rein ist, vertraue ich darauf, dass ihr nach getaner Aufgabe zu mir zurückkehrt und eure Versprechen einlöst.« Elara neigte leicht den Kopf, ihre Bewegungen zeugten von neu gewonnener Stärke. Die Müdigkeit, die sie noch vor wenigen Minuten gefangen gehalten hatte, schien verschwunden. Wir anderen beobachteten die Szene schweigend, aus respektvollem Abstand.
»Und nun«, sprach der Feenkönig mit einer Stimme, die wie ein leises Grollen rollte, »lasst mich euch helfen, eure Aufgabe schneller zu vollenden.«
Mit einer majestätischen Bewegung seines Arms setzte ein ohrenbetäubendes Krachen und Knacken ein, als ob der Tunnel selbst gehorchte. Die Wände bebten, und plötzlich brach blendendes Licht in den Raum ein. Hinter dem König öffnete sich ein Teil der massiven Wand und gab den Blick auf eine Wiese frei, deren Gräser und Blumen in allen Farben leuchteten.
»Ist das etwa ...«, entfuhr es mir ungläubig, während meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnten. »Die Wiese der Einhörner?«
Der Feenkönig nickte mit einer Ruhe, die wie die Ewigkeit selbst wirkte. Einen Moment lang hielt er inne, bevor er näher trat und uns mit einem ernsten Blick bedachte. »Nur einer von euch kann sich den Einhörnern nähern. Nur jemand, der mit dieser Welt verwurzelt und rein ist. Jemand, der auch bei verschwundenem Wissen nichts vergisst.«
Mit diesen Worten begann sein Körper zu leuchten, strahlend hell wie der Kern eines Sterns, bis das Licht zersplitterte und in tausende funkelnde Partikel aufbrach, die sich in die Luft erhoben und wie ein sanfter Regen in den Baum zurückkehrten.
Wir standen still, gefangen in der Schwere unserer Gedanken. Die Stille umhüllte uns wie ein dichter Nebel, bis Maya sie schließlich durchbrach. »Lasst uns gehen. Wir müssen so schnell wie möglich zurück zu Ethan. Also lasst uns ein Einhorn suchen.« Entschlossen setzte sie sich in Bewegung.
Kaum hatten wir die Wiese betreten, schloss sich die Wand hinter uns mit einem ohrenbetäubenden Donnern. Ein letzter Blick zurück offenbarte eine riesige Felswand. Alle Geheimnisse lagen damit wieder im Inneren verborgen.
Vor uns erstreckte sich eine endlos wirkende Wiese, die sich sanft im Wind wiegte.
»Wir müssen weiter bis dort vorn«, sagte Elara und zeigte auf eine kleine Anhöhe. Mit Sylva auf der Schulter schritt sie voraus.
»Warte!« Isa eilte ihr nach und hielt sie sanft am Arm zurück. Ihre Augen waren von Sorge erfüllt. »Fühlst du dich stark genug, diesen Weg mit uns zu gehen? Ihr beide habt gesehen, welche Gefahren auf uns lauern und was wir bisher durchmachen mussten. Wollt ihr beide das wirklich riskieren?« Ihr Blick wanderte von Elara zu Sylva, die auf Elaras Schulter saß.
Ich trat an Isas Seite, um ihr zu zeigen, dass sie meine Unterstützung hatte. »Wir würden es verstehen, wenn ihr uns nicht mehr begleiten wollt. Es wäre in Ordnung.«
Elara warf Sylva einen kurzen Blick zu. In dem wortlosen Austausch lag eine Vertrautheit, die alles zu sagen schien. Schließlich wandte sie sich wieder Isa zu und schenkte ihr ein flüchtiges, aber entschlossenes Lächeln, das keine Zweifel ließ. Ohne ein weiteres Wort drehten sie sich um und setzten den Weg fort.
Ich folgte ihnen, doch meine Gedanken hingen noch immer an den letzten Worten des Feenkönigs. »Was soll das heißen, ›bei verschwundenem Wissen nichts zu vergessen‹? Das ergibt keinen Sinn«, murmelte ich vor mich hin, während sich mein Blick auf den Boden richtete. »Und was bedeutet ›nur jemand, der mit dieser Welt verwurzelt ist‹?«
Neben mir lief Jonah, der die Stirn in Falten legte, als hätte er genau dasselbe überlegt. »Das beschäftigt mich auch«, gab er schließlich zu und klang dabei so angespannt, wie ich mich fühlte.
Plötzlich hielten Elara und Sylva inne und drehten sich zu mir um. Ihre Blicke waren ernst, fast durchdringend. »Ich glaube, ich weiß, was er meint«, sagte Elara leise, und ein Ausdruck der Schwere legte sich auf ihr Gesicht. »Aber ich bin mir sicher, dass dir die Antwort nicht gefallen wird.«
Als wir die Anhöhe erreicht hatten, standen wir einen Moment still da. Die Wiese erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Ein scheinbar endloses Meer aus saftigem, grünem Gras, das sich sanft im Wind bewegte. Das Gras wuchs bis knapp über die Knie und glitzerte im Licht, als wären tausend winzige Edelsteine darin verborgen.
»Wir sind da«, sagte Elara schließlich und blieb stehen. Ihre Stimme war ruhig, fast ehrfürchtig. »Das ist das Reich der Einhörner.«
Maya verschränkte die Arme und ließ ihren Blick suchend über die Landschaft schweifen. »Aber ich sehe keine«, platzte es aus ihr heraus. »Wie sollen wir sie hier finden?«
Elara drehte sich zu ihr um. Ein Hauch von Traurigkeit in ihrem Lächeln. »Das können wir nicht. Wir können nur hoffen, dass sie sich uns zeigen.«
»Und wie stellen wir das an?«, fragte Isa. Ihre Worte klangen genauso ratlos, wie ich mich fühlte.
Ich starrte auf die weite Fläche, während ich fieberhaft in meinem Gedächtnis kramte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was ich geschrieben und gelesen hatte. »Das Reich der Einhörner ...«, begann ich, während ich meine Hand an die Stirn legte und hoffte, mich wieder an alles erinnern zu können. »Die Einhörner verschmelzen mit der großen Wiese, um sich selbst und die Herde zu schützen. Sie werden eins.«
Jonah zog die Augenbrauen zusammen. Sein Blick wanderte über die endlose Ebene. »Sie werden eins?«, fragte er, die Skepsis in seiner Stimme deutlich hörbar.
Die Worte schwebten zwischen uns, während der Wind das Gras um uns sanft wiegte. Die Luft fühlte sich so unendlich rein an, dass mir schwindelig wurde.
»Wir haben nur eine Chance, dass sie sich zeigen.« Elara sprach langsam, ihre Stimme war leise, aber sie hallte in meinem Kopf wider wie ein Glockenschlag. »Einer von euch muss noch einmal sein Gedächtnis abgeben. Jemand muss frei und unbefangen von allen Ereignissen sein, die geschehen sind. Jemand muss vergessen, warum er hier ist. Jemand muss vergessen, wer er ist.«
Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich spürte, wie mir die Luft wegblieb. »Was meinst du damit? Was haben unsere Erinnerungen damit zu tun?«
»Erinnerungen fesseln euch. Sie halten euch an Ereignisse gebunden, an Entscheidungen, die ihr getroffen habt, weil das Schicksal euch dorthin geführt hat. Doch hier müsst ihr frei sein. Frei und ...« Sie hielt kurz inne, suchte nach den richtigen Worten. »... bereit, das Risiko einzugehen, eure Erinnerungen nie wieder zurückzuerlangen. Diesmal gibt es niemanden, der euch zurückholen kann. Nur ihr selbst könnt es schaffen. Der Wunsch, ein Einhorn zu finden, muss so groß sein, dass er euch zu euch selbst zurückführt.«
Maya ließ sich auf die Knie fallen, als ob ihre Beine unter ihr nachgegeben hätten. Ihre Hände gruben sich ins Gras und ihre Augen wurden glasig. »Weißt du, was du da verlangst?«, flüsterte sie. Ihre Stimme zitterte vor Verzweiflung.
Ich kniete mich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. Ich spürte ihre Angst, ihre Hoffnungslosigkeit. Sie wollte es tun, das wusste ich. Sie würde alles für Ethan tun. Aber ich sah auch, wie ihre Verzweiflung sie lähmte, wie die Angst vor dem erneuten Verlust ihrer Erinnerungen sie überwältigte.
In diesem Moment, als ich neben Maya kniete, wusste ich, was der König der Feen meinte. Mein Herz klopfte heftig, doch eine seltsame Ruhe überkam mich. Eine innere Gewissheit, die ich nicht erklären konnte. »Ich werde gehen.« Meine Stimme klang fester, als ich erwartet hatte. Ich wusste nicht, woher ich den Mut oder die Zuversicht nahm, alles zu riskieren, aber irgendetwas in mir sagte, dass es das Richtige war.
Maya sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, ihre Lippen bebten, als wollte sie etwas sagen, doch kein Wort kam über ihre Lippen.
Ich richtete meinen Blick auf Elara und nickte. »Tu es. Nimm mir meine Erinnerungen.«
»Nein.« Mayas Stimme klang brüchig, doch sie hob den Kopf und sah mich fest an. »Minako, ich muss gehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht du musst gehen, sondern ich. Ich bin die Einzige von uns vieren, die mit dieser Welt verwurzelt ist. Schließlich habe ich sie erschaffen.« Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. »Und selbst wenn ich es nicht schaffen sollte ... selbst wenn ich scheitern sollte, wüsste ich wenigstens, dass ihr es weiter versuchen würdet.« Maya wollte mich unterbrechen, doch ich redete weiter und ließ meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf. »Ich habe euch in diese Welt gebracht. Ich habe euch so vielen Gefahren ausgesetzt. Noch ein Grund mehr, warum ich gehen werde.« Ich stand auf und sah sie entschlossen an. »Ihr habt schon zu viel riskiert – für mich, für meine Besessenheit, Ethan zu retten. Ohne ihn ... ohne euch ... hätte ich niemals herausgefunden, was die Welt mir noch zu bieten hat. Ihr seid mir im blinden Vertrauen und weil ihr Ethan genauso retten wollt wie ich, hierher gefolgt. Jetzt bin ich an der Reihe.« Ich atmete tief durch, als ich in die mit den Tränen kämpfenden Gesichter von Jonah und Isa sah. »Früher hätte ich mein Leben zwischen Büchern, in einer Bibliothek oder meiner Wohnung verbracht. Eingesperrt in einer Welt, die so klein ist, dass ich vergessen hatte, wie man atmet.« Ich lächelte schwach. »Aber jetzt ... Endlich hat das, was ich tue, einen Sinn. Endlich kann ich jemanden unterstützen, jemandem helfen. Ich habe Freunde gefunden, für die ich alles tun würde, um sie zu beschützen. Endlich weiß ich, was mir immer gefehlt hat.« Ich spürte, wie mein Herz schwer wurde. Es gab so viele Dinge, die ich noch sagen wollte, doch keine Worte schienen genug zu sein.
Ich trat zu Elara, die ihre Arme hob und etwas murmelte.
Meine Entscheidung war gefallen, und ich ließ mich von niemandem umstimmen.
Im Hintergrund hörte ich kurz das Stimmengewirr der anderen, doch dann wurde alles um mich herum ruhig. Es fühlte sich an, als würde ich in einer riesigen Wolke schweben, die mich sanft mit sich trug.
Wer bin ich? Was mache ich hier?
Das Gras unter meinen nackten Fußsohlen war weich und kühl. Es kitzelte mich sanft bei jedem Schritt. Ich trug nichts außer einem schlichten, weißen Kleid, das mir bis zu meinen Knöcheln reichte und bei jedem Windstoß leicht flatterte. Mein Geist war wach, doch es fühlte sich an, als blickte ich durch einen unsichtbaren Schleier auf mich selbst herab – als sei ich zugleich hier und doch weit entfernt.
Was mache ich hier?
Meine Beine begannen, sich schneller zu bewegen, unaufhaltsam vorwärts, als hätten sie ein Ziel, das mir verborgen blieb. Zuerst war es nur ein hastiger Schritt, dann ein schnelleres Gehen, bis ich schließlich rannte – durch das unendliche Meer aus Gras, das mich umgab.
Wo will ich hin? Warum habe ich das Bedürfnis, mich zu beeilen?
Ein Wind kam auf, spielte mit meinem Kleid, wirbelte durch meine Haare, und es fühlte sich an, als würde er mich führen. Er schob mich in Richtungen, die ich zuvor nicht kannte, und trotzdem folgte ich ihm ohne Widerstand. Jeder Atemzug war erfüllt von der Frische der Luft, klar und lebendig. Es war, als wäre ich mit allem um mich herum eins – mit der Erde unter meinen Füßen, mit dem Wind, der mich trug, mit dem Rhythmus der Natur. Ich verschmolz mit ihr, ließ mich treiben, als wäre ich ein Teil von ihr.
Doch dann, allmählich, veränderte sich etwas. Meine Schritte wurden langsamer. Meine Beine fühlten sich schwer an, als wären sie mit der Erde verwurzelt. Schließlich blieb ich stehen.
Ich hob den Blick, sah in den grenzenlosen Himmel, der sich über mir ausbreitete, und spürte, wie mich eine Welle von Gefühlen überwältigte: Traurigkeit, Wut und etwas Dunkles – eine lähmende Hoffnungslosigkeit.
Was treibt mich an? Was ist meine Bestimmung hier?
Tränen liefen heiß über meine Wangen. Eine nach der anderen. Unaufhaltsam. Mein Schluchzen wurde lauter, unkontrollierbar, und ein Strom von Gefühlen brach aus mir heraus – roh, ungezügelt, schmerzhaft. Mein Kopf war leer, wie eine Hülle, und etwas Schweres, Unergründliches drückte auf mein Herz, als würde es jeden Moment zerbrechen.
Ich stand da, verloren in der endlosen Weite. Die Wiese erstreckte sich bis zum Horizont, sanft im Wind wogend, doch in mir tobte ein Sturm. Ich wusste nicht, wer ich war. Nicht wirklich. Ein Loch klaffte in meinem Inneren, dort, wo meine Erinnerungen hätten sein sollen.
Etwas in mir drängte nach außen. Ein Chaos aus Wut, Trauer und Angst, das ich nicht benennen konnte – nur fühlen. Es lag tief in mir, drückte auf meine Brust, wollte heraus. Doch warum? Ich wusste es nicht.
Dann flackerten Bilder durch meinen Geist. Flüchtig, kaum greifbar. Ein Mann in einem Bett. Ein schiefes Lächeln. Ein Zwinkern.
Ich sog scharf die Luft ein. Der Wind strich kühl über meine Haut, trug den Duft von Gras und Erde mit sich. Meine nackten Füße sanken leicht in den Boden, als würde er mich halten, mich einladen, zu bleiben. Als wäre ich ein Teil dieser unendlichen Wiese.
Ein Teil ...
Etwas fehlt.
Mein Blick glitt zum Himmel, wo weiße Wolken träge vorüberzogen. Eine seltsame Leere breitete sich in mir aus. Ein unerklärliches Ziehen in meiner Brust.
Warum fühle ich mich so? Warum taucht immer wieder das Bild dieses Mannes vor meinen Augen auf? Seine blasse Haut, seine reglose Gestalt. Er sieht aus, als würde er sterben.
Ob ich ihm helfen kann?
Ich schloss erneut die Augen und eine Flut neuer Bilder überkam mich. Ein Café. Eine Welt voller Pflanzen. Regale, gefüllt mit unzähligen Büchern.
Mein Herz zog sich zusammen.
Dann wieder er. Sein Lächeln. Das genervte Augenrollen. Seine Arme, die sich um mich legten. Seine Lippen, die sich bewegten, als würden sie ein Wort formen wollen, das ich nicht verstand.
Go ...
Gold ....
Goldlöckchen.
Ethan.
Wie ein Stromschlag riss es mich aus meiner Starre. Erinnerungen brachen über mich herein, durchbrachen die Leere, füllten jedes fehlende Stück. Bilder, Gefühle – ein Sturm, der mich durchrüttelte. Und plötzlich wusste ich es wieder. Ich wusste wieder, warum ich hier war. Warum ich all das tat.
Ein markerschütternder Schrei entfuhr meiner Kehle, roh und ungefiltert. Ein Schrei, der all die unterdrückten Emotionen in sich trug.
Mit jedem Laut fühlte ich, wie sich mein Herz öffnete. Wie der düstere Schleier um mich herum zu reißen begann. Wie Licht durch die Dunkelheit in meinem Inneren sickerte.
Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Alles, woran ich noch denken konnte, war das eine Ziel, das mich immer antrieb, das ich niemals aus den Augen verlieren durfte: Ethan zu retten.
Langsam, zögernd, streckte ich meine Arme aus, spürte den Wind, der mich umgab, mich einhüllte. Er schien meine Entschlossenheit zu spüren, mein Herz zu prüfen. Die Welt um mich herum schien stillzustehen, während ich alles losließ – jede Angst, jeden Zweifel. Alles, bis auf diesen einen Gedanken: Ethan.
Plötzlich spürte ich einen sanften Druck an meiner ausgestreckten Hand. Warm und beruhigend. Die Wärme drang durch jede Faser meines Körpers.
Langsam öffnete ich meine Augen und hielt den Atem an. Vor mir erstreckte sich eine Herde Einhörner. Ihre schimmernden Körper waren wie Lichtgestalten inmitten der endlosen Wiese.
Mein Blick blieb an einem einzigen Wesen haften: dem prächtigsten Einhorn von allen. Es stand dicht neben mir. Seine seidige Mähne schimmerte in allen Farben des Lichts und seine Augen sahen direkt in meine Seele.
Ein Gefühl von tiefer Verbindung durchflutete mich, als wüsste dieses Wesen, warum ich hier war und dass ich bereit war, alles zu geben.
Sein Fell strahlte in einer Reinheit, die jede Dunkelheit zu vertreiben schien. Es war weiß wie eine federleichte Wolke am klaren Himmel. Seine Augen sahen aus wie ein tiefer, unendlich scheinender Ozean. Sie waren klar, unschuldig und doch erfüllt von einer Weisheit, die über Jahrhunderte hinausging. Eine Aura erhabener Güte und sanfter Macht umhüllte es, ließ mich stillstehen, unfähig, meinen Blick abzuwenden.
Bedächtig trat es näher. Seine Bewegungen waren so anmutig, dass es mir den Atem verschlug. Schließlich neigte es den Kopf und legte ihn sanft an meinen. Meine Hände fanden wie von selbst ihren Weg, und ich schlang meine Arme um seinen Hals. Die Wärme seines Körpers durchströmte mich, als wollte sie mir sagen, dass ich nicht allein war.
In diesem Moment spürte ich es – eine Verbindung, die tiefer ging als Worte. Es war, als könnte dieses Wesen in mein Innerstes blicken, wie in ein aufgeschlagenes Buch. Mit jedem Herzschlag, der zwischen uns pulsierte, schien ich eine weitere Seite preiszugeben. Seite um Seite las es mich, und ich las mit.
In meinem Geist entfaltete sich mein eigenes Buch: All die vergangenen Ereignisse, die mich hierhergeführt hatten, kehrten zurück. Ich sah sie klar vor mir, erlebte sie noch einmal. Jeden Augenblick der Verzweiflung, der mich bis ins Mark erschüttert hatte. Jeden Moment der Hoffnung, der mich dazu brachte, weiterzugehen. Jeden Tropfen Glück, der mich zum Lachen brachte. Und jeden Schmerz, der mir die Luft raubte.
Ich kostete diese Reise aus. All die Höhen und Tiefen. Es war, als würden die Seiten meines Lebens vor mir aufblühen, jede Einzelne bedeutsam, jede ein Puzzlestück, das mich formte. Und dieses Geschöpf, dieses erhabene Wesen, nahm all das in sich auf. Sah die hellen und die dunklen Seiten gleichermaßen.
Es wusste nun alles, was in mir verborgen lag, dessen war ich mir sicher.
Behutsam zog sich das Einhorn von mir zurück, sein Blick voller Verständnis. Sein Kopf senkte sich, als würde es mir zustimmen – doch wobei? Diese Frage hallte in meinem Kopf wider, ohne eine klare Antwort zu finden. Dann drehte es sich leicht, seine Flanke zeigte zu mir, und in meiner Hand spürte ich plötzlich ein winziges Messer. Woher es kam, fragte ich nicht. Es spielte keine Rolle. Stattdessen spürte ich den schmerzhaften Zwiespalt in mir, der an meinen Nerven riss: Sollte ich wirklich sein makelloses, reines Fell beschmutzen? Sollte ich ihm Schmerz zufügen?
Es muss sein.
Mit zitternden Fingern führte ich die spitze Klinge an seinen Hals. Die Klinge schimmerte silbern im Sonnenlicht. Ich zögerte einen Moment, lauschte dem leisen Rauschen des Windes über die Wiese. Dann setzte ich die Klinge an und punktierte vorsichtig die makellose Haut des Einhorns. Ein paar Tropfen tiefroten Blutes traten hervor. Dick und leuchtend wie flüssiger Rubin. Ich fing sie in einer kleinen Phiole auf, die ich bei mir trug. Mein Verstand versuchte, die Situation zu begreifen, doch ich ließ die Gedanken nicht zu. Es gab keinen Platz für Zweifel, keine Zeit für Grübeleien. Wir hatten auf diesen Moment gehofft, ihn herbeigesehnt, und jetzt, da er da war, durfte ich nicht zögern.
Als die Phiole gefüllt war, riss ich ein Stück Stoff aus meinem schneeweißen Kleid und presste es vorsichtig auf die winzige Wunde. Das Einhorn blieb ruhig stehen und zu meiner Überraschung verschloss sich die Wunde fast augenblicklich. Der Stofffetzen verschmolz mit seinem Fell, als wäre er schon immer ein Teil von ihm gewesen.
Ich betrachtete die Stelle. Ein winziger roter Fleck blieb zurück, kaum sichtbar.
Als ich die Phiole in meiner Hand hielt, spürte ich, wie ein Gefühl wieder in mir aufstieg. Ein Gefühl, das ich längst verloren glaubte. Hoffnung. Sie kehrte zurück, wärmte mein Herz, ließ meine Gedanken klarer werden.
Das Einhorn drehte sich zu mir um. Seine tiefblauen Augen ruhten sanft auf mir. Mit einem leichten Stupsen seiner Nase gegen meine Schulter schien es mir etwas sagen zu wollen. Zunächst war ich unsicher, doch dann durchzog mich ein klarer, unwiderstehlicher Impuls.
Aufsteigen.
Zögernd schwang ich mich auf seinen Rücken und spürte das weiche, warme Fell unter mir. Ohne Sattel, ohne Zügel. Nur ich und dieses majestätische Wesen. Meine Hände gruben sich in seine seidige Mähne, und als ich dort oben saß, fühlte ich mich frei. Freier, als ich es je für möglich gehalten hatte. Unbezwingbar.
Das Einhorn setzte sich in Bewegung, seine Schritte zunächst vorsichtig, als wollte es sicherstellen, dass ich bereit war. Doch dann ging der gemächliche Schritt in einen kraftvollen Galopp über.
Der Wind rauschte um mich herum, trug mein Haar nach hinten und ließ die Welt um uns herum verschwimmen. Die Herde folgte uns. Ihre leuchtenden Silhouetten waren ein lebendiger Strom aus Licht und Bewegung. Gemeinsam durchquerten wir die endlose Wiese, die unter ihren Hufen lebendig schien.
Bald tauchte die Anhöhe in der Ferne auf und ich konnte die vertrauten Silhouetten von Jonah, Maya, Isa und Elara erkennen. Das Einhorn beschleunigte, als würde es meinen Herzschlag spüren, und wir flogen regelrecht auf sie zu.
»Du hast es wirklich geschafft«, rief Maya, als ich abstieg. Ihre Stimme war so voller Freude, wie ich es noch nie zuvor bei ihr erlebt hatte. Ihre Augen verrieten eine Erleichterung, die Worte nicht fassen konnten. Ich wollte etwas sagen, doch bevor ich den Mund öffnen konnte, bewegten sich die anderen Einhörner. Sie traten vor, um meine Freunde sanft mit ihrer Schnauze zu berühren, und positionierten sich so, dass auch sie aufsteigen konnten.
»Ich denke, sie wollen keine Zeit verlieren.«
Einen Moment lang wurde ich von einer Erinnerung erfasst. Gesichter voller Angst, Trauer und Zweifel tauchten vor meinem inneren Auge auf. Wie lange war das her? Stunden? Tage?
Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Wie ein ferner Traum. Und doch spürte ich, wie diese Bilder einen letzten Schatten von Unsicherheit in mir hinterließen. Doch dann schaute ich um mich. Maya, Jonah, Isa und Elara, mit Sylva auf ihrer Schulter, saßen auf den Rücken der Einhörner.
Niemand sprach aus, was vor uns lag. Niemand stellte Fragen. Wir alle wussten: Es gab kein Zurück mehr, nur noch den Weg nach vorn.
Wir werden es schaffen.
Wir werden nicht zu spät kommen.
Wir werden Ethan retten.
Mein Einhorn, das augenscheinlich das Leittier der Herde war, setzte sich erneut in Bewegung. Sein Körper schien vor Energie zu vibrieren und ich spürte die unerschütterliche Kraft, die von ihm ausging.
Gemeinsam galoppierten wir ein letztes Mal über die Wiese. Der Horizont war unser Ziel.
Der Wald der Feen erhob sich in der Ferne wie ein unheimliches Meer aus dunklen Baumkronen. Die Luft schien mit jedem Schritt kälter zu werden, als wir schließlich auf einer kleinen Lichtung anhielten und von den Rücken der Einhörner stiegen. Es war, als wären wir während unseres Rittes mit der Welt verschmolzen. Lautlos und versteckt – unsichtbar wie der Wind, der unermüdlich durch Eludoria trieb, konnten wir ungesehen bis hierher gelangen. Niemand war uns begegnet. Niemand hatte sich uns in den Weg gestellt.
»Wir müssen uns beeilen«, murmelte ich und legte meine Hand noch einmal sanft auf die weiche Stirn des Einhorns. Seine großen, glänzenden Augen funkelten im dämmrigen Licht, und ehe ich mich richtig verabschieden und bedanken konnte, begannen die majestätischen Wesen zu verschwimmen, bis sie sich in einem Schimmer aus Magie vor unseren Augen auflösten. Ein kühler Windzug strich über meine ausgestreckte Hand, wo eben noch die Wärme des Einhorns gewesen war. Ich atmete tief ein, hob den Blick und wandte mich den anderen zu, die sich bereits gesammelt hatten, um weiterzugehen, direkt hinein in den Wald, unter die dunklen Baumkronen.
Sylva flog voraus. Ihr glühender Körper war ein winziger Lichtpunkt im Schattenmeer zwischen den Bäumen. Die knarrenden Zweige reckten sich wie Finger in die Dunkelheit, und die uralten Bäume selbst wirkten wie stumme Wächter, die über unseren Weg wachten, während unzählige Glühwürmchen ihn sanft erleuchteten – als wollten sie uns ermutigen, weiterzugehen. Doch hinter mir hörte ich Elara keuchen.
Ich warf einen besorgten Blick über meine Schulter. Ihre blassen Wangen glühten vor Anstrengung. »Sylva, kannst du bitte etwas langsamer fliegen?« Meine Stimme klang dringlicher, als ich es beabsichtigt hatte, beinahe flehend. »Ich weiß, wir müssen uns beeilen, aber …«
»Es geht schon«, schnitt Elara mir leise, aber entschlossen das Wort ab. Ein mattes Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch es konnte ihre Erschöpfung nicht verbergen. »Ich schaffe das.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, doch Sylva hielt inne. Die kleine Waldfee drehte sich um, ihre leuchtenden Augen musterten Elara und ohne ein Wort zu sagen, reduzierte sie ihr Tempo.
Je tiefer wir in den Wald eindrangen, desto mehr begann die drückende Furcht, verfolgt oder entdeckt zu werden, von mir abzufallen. Die kühle, feuchte Luft roch nach Moos und Erde, beruhigte meine Nerven und ließ mich tiefer atmen. Die Schatten der Bäume wirkten plötzlich weniger bedrohlich, fast schützend, als ob der Wald selbst uns in seine Arme nahm.
Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl der Sicherheit in mir. Es war, als hätte der Wald uns akzeptiert, als Teil seines pulsierenden Lebens – zumindest für diesen einen Moment.
Bald erreichten wir den uralten Baum, dessen Stamm und knorrige Wurzeln das Portal formten.
Ein Zittern durchfuhr mich, als ich instinktiv meine Hand in die Tasche gleiten ließ, um die Phiole zu berühren. Sie fühlte sich kühl und beruhigend an. Ein leises Seufzen entwich mir, während ich die Augen schloss und tief einatmete, um die letzten Reste der Anspannung abzuschütteln.
Wir haben es wirklich geschafft.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass die anderen mich mit derselben Erleichterung anblickten. Ihre Gesichter spiegelten genau das wider, was ich selbst fühlte. Ich schluckte und trat einen Schritt nach vorn. Der Satz, der uns nach Hause bringen sollte, lag mir auf der Zunge, doch bevor ich ihn aussprach, traf mich eine Erkenntnis: Das hier war der Moment des Abschieds. Ein Abschied von Elara und Sylva.
Während Sylva sich bereits fest an Isa klammerte, die eine Träne nicht unterdrücken konnte, ging ich auf Elara zu, die sich gerade von Maya und Jonah verabschiedete. Ich ergriff ihre Hände, spürte die Wärme, die von ihr ausging, und blickte ihr fest in die Augen. »Ich werde dich nie vergessen«, sagte ich leise. »Ich werde nie vergessen, was für eine großartige, mutige und gütige Hexe du bist.« Meine Stimme brach und Tränen begannen unaufhaltsam über meine Wangen zu laufen. Ohne zu zögern zog Elara mich in eine feste Umarmung. Ich fühlte ihren Herzschlag gegen meinen und versank für einen Moment in diesem Abschied.
Ich spürte plötzlich kleine, federleichte Füße auf meiner Schulter. »Minako«, flüsterte Sylvas Stimme direkt an meinem Ohr, begleitet von einem leichten Kichern, »ich denke darüber nach, dich zur Ehrenfee des Waldes zu ernennen.« Sie seufzte theatralisch. Eine übertriebene Geste, die so typisch für sie war und die ich jetzt schon vermisste. »Natürlich müsstest du dafür ein wenig schrumpfen. Vielleicht ... um die Hälfte? Oder du könntest mir einfach eine Locke von deinem Haar geben. Das wäre ein Anfang.«
Ich löste mich langsam aus der Umarmung mit Elara und streckte meine Hände aus. Sylva flatterte mit ihren glänzenden Flügeln von meiner Schulter auf meine ausgestreckten Handflächen. Ihre Füße kitzelten, als sie sich dort niederließ.
»Du bekommst keine Locke von mir, Sylva, und mit meiner Größe bin ich mehr als zufrieden«, entgegnete ich mit gespielter Strenge, die jedoch von einem Lächeln unterbrochen wurde.
Sylvas winzige Augen blitzten schelmisch, während sich ihr Lächeln bis zu den Ohren zog. »Ach, Minako. Du bist wirklich stur – aber genau deshalb mag ich dich. Vielleicht lasse ich das mit der Ehrenfee doch lieber bleiben. Aber über die Locke kannst du ruhig nochmal nachdenken.«
»Du freche kleine Waldfee.«
Sylva grinste schelmisch. Ihr Lächeln so breit, dass es beinahe ihr winziges Gesicht sprengte.
»Versprich mir, gut auf Elara aufzupassen«, sagte ich, und meine Stimme war leise, fast flehend.
»Das werde ich. Versprochen«, antwortete Sylva mit ungewohnter Ernsthaftigkeit, bevor sie wieder in ihren gewohnt spitzbübischen Ton verfiel. »Elara darf für immer bei mir bleiben, wenn sie möchte.«
»Wirklich?« Elaras Augen weiteten sich, und ein Lächeln, das tief aus ihrem Herzen kam, breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihre erschöpfte Haltung wich für einen Moment purer Freude. »Ist das überhaupt möglich?«
»Natürlich! Eine gute Hexe kann man immer gebrauchen«, erwiderte Sylva und flatterte mit einem eleganten Schwung zu Elara hinüber. Sie ließ sich sanft auf ihrem Kopf nieder, als wäre es der natürlichste Platz der Welt für sie.
Es tat gut, die beiden so zu sehen. Die Art, wie Elara und Sylva einander ansahen, ließ mich hoffen, dass Elara endlich einen Ort gefunden hatte, an dem sie wirklich zu Hause sein konnte. Und es machte mir den Abschied ein wenig leichter.
Schließlich wandte ich mich von ihnen ab und ging zu den anderen, die bereits am Portal warteten.
Jonah blickte mich fragend an. »Können wir?«
Isa, die meine Hand fest umschlossen hielt, nickte mir aufmunternd zu.
Ich warf einen letzten Blick zurück zu Elara und Sylva, die jetzt wie ein unzertrennliches Duo wirkten. Sylva spielte mit einer Haarsträhne von Elara, während diese leise lachte.
Ich atmete tief ein, ließ meine Zweifel los und sagte mit fester Stimme: »Ja. Lasst uns Ethan retten.«
Mein Kopf fühlte sich schwer an und meine Beine waren bleiern. Erst als wir durch den Tunnel nach Hause liefen, spürte ich die Strapazen der letzten Tage. Jeder Schritt war eine Qual, aber anhalten oder ausruhen – allein der Gedanke war unmöglich. Wir hatten so viel Zeit in Eludoria verbracht, dass sich meine Gedanken nur um eines drehten: War es vielleicht zu lange gewesen?
Isas Hand hielt meine fest umschlossen und gemeinsam schleppten wir uns die letzten Meter vorwärts.
Am Ende des Tunnels sahen wir Samuel auf den kalten Steinen des Portalraums sitzen. Seine Schultern waren nach vorne gesunken, sein Blick auf den Boden geheftet. Doch als er uns entdeckte, sprang er auf. Seine Augen waren weit aufgerissen. Nicht vor Erleichterung, sondern vor innerer Unruhe. Als würden zu viele Gedanken gleichzeitig in ihm ringen, unfähig, ihren Weg nach draußen zu finden. Seine Lippen öffneten sich leicht, doch kein Wort kam über sie. Er blieb still, seine Finger zuckten unruhig, während er uns musterte. Hoffnung blitzte in seinem Blick auf, aber auch Angst.
»Wir haben das Heilmittel«, sagte ich knapp. »Wir sollten uns sofort auf den Weg machen.«
»Nachdem wir uns umgezogen haben«, ergänzte Isa und zupfte an einer losen Stoffbahn ihres einst prächtigen Ballkleids. Jetzt hing der silberne Stoff in Fetzen an ihr herab. Die feinen Pailletten waren abgerissen und an den Rändern hafteten dunkle Flecken aus Staub und Dreck. Der Rock war an mehreren Stellen eingerissen, sodass der Stoff bei jeder Bewegung flatterte, und einer ihrer dünnen Träger war angerissen, sodass sie ihn mit einer Hand festhielt. »Wir sollten hier genug Klamotten für jeden haben. Samuel, wie spät ist es?«
Im Portalraum gab es keine Uhr. Samuel hob den Arm und schüttelte ihn leicht, um die Uhr unter seinem Ärmel hervorzuziehen. Sein Blick blieb einen Moment an den Zeigern hängen, als würde er erst jetzt realisieren, wie viel Zeit vergangen war. »Es ist fast sechs«, murmelte er. »Ihr wart vier Stunden fort.«
Jonah ging bereits zur Tür. »Besuchszeiten im Krankenhaus sind bis sieben. Also verschwenden wir keine Minute.« Er öffnete die Tür, und wir folgten ihm.
Gerade als ich an Samuel vorbeigehen wollte, spürte ich plötzlich seine Hand an meinem Arm. Sein Griff war fest, beinahe verzweifelt. Ich sah zu ihm auf. Seine Augen suchten meinen Blick. »Wie viel Zeit ist für euch dort vergangen?«, fragte er leise, und in seiner Stimme lag mehr als bloße Neugier. Da war Furcht.
»Ungefähr drei oder vier Tage. Leider fehlt mir ein Teil meiner Erinnerung.«
»Wie meinst du das?« Samuel schüttelte den Kopf. »Erzähl es mir später. Viel wichtiger ist im Moment, dass du es tatsächlich geschafft hast, eine neue Welt zu erschaffen. Du weißt, was das bedeutet?«
Ich nickte stumm, denn die Konsequenzen waren mir nur allzu bewusst. In Samuels Blick lag ein unausgesprochenes Wissen – die Schwere dessen, was ich getan hatte, hing zwischen uns wie ein unsichtbarer Schleier. Aber jetzt war nicht die Zeit, um darüber zu sprechen. Es gab Wichtigeres, und das war auch ihm klar. Er ließ meinen Arm los, doch der Druck, die Verantwortung, die mir nur noch einmal allzu deutlich ins Gedächtnis gerufen wurde, wogen schwerer als die Phiole in meiner Tasche. Ich würde zur Zielscheibe der Schattenmacher werden, für den Rest meines Lebens.
Zusammen mit den anderen betrat ich den gemütlichen Raum, der mir mittlerweile so vertraut war, dass er sich wie eine zweite Heimat anfühlte. Meine Zigarrenlounge, ohne Zigarren, wie ich ihn mittlerweile nannte. Der Duft von altem Papier, Leder und Holz lag in der Luft. Eine Mischung, die mich sofort zur Ruhe kommen ließ. Ich sog den Geruch tief ein und fühlte, wie sich die Anspannung der letzten Tage löste. Es war wie ein sanftes ›Willkommen‹. Ein Gefühl, das mich daran erinnerte, wie oft ich in letzter Zeit gehetzt gewesen war, immer auf der Flucht, immer auf der Suche.
Isa hatte bereits für jeden von uns Kleidung bereitgelegt. Sorgfältig gefaltete Stoffe lagen auf den Polstern und warteten darauf, uns wieder ein Stück Normalität zu schenken. Ich entdeckte meine Sachen, die ich damals, nach unserer Rückkehr aus Naiadon, hier deponiert hatte.