Die Chroniken der Welten: Worte, die Welten formen - Livia Everwood - E-Book

Die Chroniken der Welten: Worte, die Welten formen E-Book

Livia Everwood

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Beschreibung

Minakos Leben als Bibliothekarin verläuft ruhig und unspektakulär - bis zu dem Tag, an dem sie in einer verlassenen Ruine ein altes, geheimnisvolles Buch entdeckt. Fremde Welten, eine neue Realität und der ewige Kampf zwischen Gut und Böse. Doch was, wenn nicht alles nur Schwarz oder Weiß ist? Die Weltenwächter beschützen die Welten, während die Schattenmacher sie rücksichtslos für ihre eigenen Zwecke ausbeuten – selbst wenn sie dafür über Leichen gehen müssen. Als ein Schattenmacher das Leben von Minako rettet, wird alles nur noch komplizierter. Begleite Minako auf ihrer gefährlichen Reise durch fremde Welten und entdecke, ob die Wahrheit wirklich so klar ist, wie sie zunächst erscheint.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Die Chroniken der Welten

 

Worte, die Welten formen

 

von

 

Livia Everwood

 

 

 

 

Teil 1

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2024 Livia Everwood

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Inhaltsverzeichnis

Die Bibliothekarin

Verloren in den Seiten

Floraterra

Der Weltenwächter

Ein neues Bündnis

Geheimnisse der Bücher

Naiadon

Unter der Oberfläche

Allein

Auf den Wellen

Die Schattenmacher

Entscheidung in Sekunden

Freundschaft

Zwischen Licht und Schatten

Verlockung der Dunkelheit

Regen

Dunkle Wolken

Angst

Ungewissheit

Nur ein kurzer Augenblick

Hoffnungslosigkeit

Eludoria

Gefangen in der Täuschung

Das Fest

Der Plan

Der Pakt

In der Ewigkeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eine Sinne kehrten zurück, begleitet von einem wilden Tosen der Wellen und dem salzigen Geschmack der Meeresluft auf meiner Zunge. Ein dumpfer Schlag auf meinen Hinterkopf hatte mich außer Gefecht gesetzt.

Ich spürte grobe Holzdielen unter mir, deren raue Oberfläche meine Hände streiften. Die Welt war noch verschwommen, doch das Gefühl des über meinen Kopf gezogenen Sackes war unmissverständlich.

Wo bin ich? Und was soll das?

Der Geruch von Fisch und salzigem Wasser erfüllte die Luft, während Schatten vor meinen Augen tanzten und sich das Dröhnen des Wassers mit unklaren Stimmen mischte.

Ich hätte Merrid nicht vertrauen dürfen.

Doch dieser Gedanke, jetzt, hier, auf einem schlingernden Deck, brachte mir außer der Wut über mich selbst wenig. Die Wellen peitschten gegen das Schiff. Es war, als würde das stürmische Wasser mein Inneres widerspiegeln.

»Ist sie endlich wach?«, durchbrach eine Stimme das Tosen.

Ein Ruck an meinen Armen und der Sack, der mein Gesicht umhüllte, wurde unsanft entfernt. Grelles Sonnenlicht blendete meine Augen, doch ich zwang mich, die Umrisse der Gestalten vor mir zu erkennen. Unbekannte Gesichter, die meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten.

Der Gestank von Fisch vermischte sich mit dem Gefühl des Verderbens und der Spannung in der Luft. Das einzige halbwegs vertraute Gesicht, das ich erkennen konnte, war Gabriels. Doch ich bezweifelte, dass er mir noch einmal helfen würde. Immerhin war er einer von ihnen.

Das Schiff schwankte, das Meer tobte und ich wusste immer noch nicht, warum sie mich hierhergebracht hatten. Doch das unheilvolle Glitzern in ihren Augen verriet, dass es nichts Gutes war. Mein Herz begann zu rasen und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Sie hatten mich in ihren Fängen und jegliche Form von Sicherheit schien unerreichbar zu sein.

ie Sonne strahlte hell an diesem Morgen und kitzelte meine Nase. Die weißen, fast durchsichtigen Gardinen vor den bodentiefen Fenstern wehten sanft bei jedem Windstoß.

Ich liebte es, im Frühling bei offenem Fenster zu schlafen.

Meine Wohnung lag im obersten Stock des Mehrfamilienhauses. Hier oben hatte ich nie Angst, dass sich jemand Unbefugtes Zutritt durch eines der Fenster verschaffen könnte.

In der Bibliothek erwarteten wir an diesem Tag eine Lieferung an Büchern und Manuskripten. Gestern hatte Charlotte meine Neugier noch mehr angefacht, indem sie mir versprochen hatte, dass ich eines der Manuskripte lektorieren durfte. Die Vorstellung, ein Werk zu lesen und in Fantasien abzutauchen, die vor mir noch niemand betreten hatte, ließ ein aufgeregtes Kribbeln zurück.

Charlotte Davis war nicht nur meine Kollegin. Ihr hatte ich es zu verdanken, dass ich so viel über Bücher, Schreibstile und alles, was dazugehörte, wusste. Sie war Bibliothekarin und Lektorin. Bei dem Gedanken an die graue Haartolle an ihrem Kopf musste ich schmunzeln.

Voller Vorfreude sprang ich aus dem Bett und wusste, dass mir nichts und niemand die Stimmung vermiesen konnte. Doch ein Blick in den Spiegel belehrte mich eines Besseren. Ich bereute sofort, dass ich mir gestern Abend nicht mehr die Zeit genommen hatte, meine Locken in einem Zopf zu bändigen. Sie standen zu allen Seiten ab.

Da hilft nur noch eine warme Dusche.

 

 

Der Badezimmerspiegel war vom heißen Dampf beschlagen und ich wischte mit der Handfläche sanft darüber, um mein Spiegelbild zu betrachten. Die Sonne schickte ihre goldenen Strahlen durch das Fenster, die sich im Nebel des Badezimmers brachen und einen warmen Schleier aus Licht und Farbe über den Raum legten. Ich liebte diesen Moment, wenn das Sonnenlicht meine Augen in ein tiefes Bernstein tauchte und ich einen Moment lang den Zauber des Morgenlichts in meinem eigenen Blick einfangen konnte.

In der Küche machte ich mir ein bescheidenes Frühstück und setzte mich damit an meinen Schreibtisch.

Meine Wohnung war nicht groß, doch für mich war sie perfekt. Ich hatte eine kleine Küche, ein Badezimmer und einen Wohnraum, den ich unterteilt hatte in Wohn- und Schlafbereich. Ich lebte allein hier und mehr Platz brauchte ich nicht.

Auf meinem Schreibtisch stapelten sich, wie immer, Bücher. Das ist einer der Vorteile, in einer Bibliothek zu arbeiten. Man kann sich so viele Bücher ausleihen, wie man möchte. Und ab und zu durfte man sogar ausgemusterte Bücher behalten.

Mein Blick fiel zur Seite und ich sah verträumt aus dem Fenster. Die rosa Kirschblütenbäume standen in voller Pracht und säumten die Straßen von Momiji, dem Bezirk, in dem ich wohnte.

Als ich aufgegessen hatte, konnte mich nichts mehr halten. Ich schnappte meinen kleinen Rucksack, zog mir die gelbe Blumenjacke, welche mir drei Nummern zu groß war, an und schloss die Tür hinter mir.

Vor der Wohnung befand sich eine Art Balkon, den ich entlanggehen musste, um ins Treppenhaus zu gelangen. Überwältigt von dem Anblick, der sich mir bot, atmete ich tief ein und schaute vom Geländer aus auf das Meer an Blütenblättern, die sich im Fluss gesammelt hatten.

Es fiel mir schwer, mich von diesem Anblick abzuwenden, doch meine Neugierde auf die neuen Bücher war zu groß, um noch länger zu verweilen.

Mein Weg führte mich durch die Häusergassen des Bezirkes. Hier im Randgebiet waren die meisten Häuser auf zwei Stockwerke begrenzt und alles war grün und blühte. Das einzige Haus, was diese Stockwerkanzahl deutlich überschritt, war das, in dem ich lebte. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als dieses Gebiet nur aus Hochhäusern und Beton bestanden hatte.

Drei Straßen trennten mich noch von meinem Ziel und ich bog an einer Kreuzung ab. Meine Augen verfolgten zwei Vögel, die sich in einen der unendlich vielen Kirschbäume gesetzt hatten. Das Singen und Zwitschern der Vögel machte den Frühlingsmorgen zur perfekten Kulisse. Ich genoss jeden Meter, den ich ging. Doch ich hätte den Blick besser auf den Weg richten sollen. Als ich schnellen Schrittes abbog, prallte ich gegen etwas Festes und fiel rücklings nach hinten. Schmerzhaft landete ich auf meinem Po und blinzelte nach oben, um zu sehen, vor was ich gelaufen war. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einem Mann. Größer als ich, elegant gekleidet mit einem weißen Hemd und schwarzer Weste, in der sich ein rotes Einstecktuch befand. Seine schwarze Stoffhose, seine kurzen braunen Haare, alles war perfekt gestylt. Wie ein Baum stand er unbeeindruckt vor mir, obwohl ich ihn ebenso getroffen haben musste, wie er mich. Doch er bewegte sich kein Stück und schaute mich argwöhnisch mit seinen leuchtend braun, schon fast orange wirkenden Augen an.

»Kannst du nicht aufpassen?«, blaffte er mir entgegen und ging ohne eine Entschuldigung oder das Anbieten von Hilfe, an mir vorbei.

Schwerfällig stand ich auf und rieb mir meinen Hintern. »Das gibt einen blauen Fleck«, sagte ich laut zu mir selbst.

»Dummheit muss bestraft werden und Tagträumen erst recht«, rief der Typ von weiter weg, ohne sich zu mir umzudrehen. So etwas Arrogantes und Unhöfliches hatte ich bis dahin noch nicht erlebt. Wie angewurzelt stand ich da, den Blick fest auf ihn gerichtet, bis er um die nächste Ecke bog. Verwirrt von dem, was gerade geschehen war, sah ich ein paar Sekunden in die nun leere Gasse, schüttelte den Kopf, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen, drehte mich um und setzte meinen Weg nach Aoi fort.

 

 

 

Schon von Weitem sah ich den riesigen Lastwagen, der sich in die enge Straße vor der Bibliothek gequetscht hatte. Ein Stapel nach dem nächsten wurde hineingetragen.

»Guten Morgen«, sagte ich höflich zu dem Fahrer und seinem Helfer. Beide antworteten mir freundlich im Chor.

»Wenigsten hier sind nette Menschen zu finden«, brabbelte ich in die Bibliothek hineingehend vor mich hin, ohne zu bemerken, dass Charlotte in Hörweite war.

»Guten Morgen Minako, hier sind doch immer nette Menschen«, erwiderte sie und schenkte mir ihr sanftestes Lächeln.

»Ja, das stimmt, deswegen komme ich jeden Tag so gern hierher.«

»Ich bezweifle, dass das nur an den netten Menschen liegt.«

»Erwischt.«

Ich ging an Charlottes Schreibtisch und stellte meinen Rucksack darunter. Sofort machte ich mich daran, die eingewickelten Stapel auszupacken und zu sortieren. »Soll ich dir die neuen Manuskripte auf deinen Schreibtisch legen?«, rief ich Charlotte zu.

»Ja, bitte tu das. Ich werde schnell die Listen durchgehen und schauen, was wir alles geliefert bekommen haben.«

Das war eine Aufgabe, die ich gern an Charlotte abgab. Auf die Bürokratie einer Bibliothek konnte ich verzichten und vermied sie, so gut ich konnte.

Ich sah, dass die letzten Stapel in die große Vorhalle gebracht wurden. Schnell griff ich mir den Bücherwagen, der in einer Ecke schon darauf wartete benutzt zu werden. Die Bücher mussten verräumt und nach Genre und Autor geordnet werden, so fand ich mich später schneller zurecht.

Voller Staunen betrachte ich die Titel und Einbände und ich wollte nicht den gleichen Fehler wie das letzte Mal begehen. Dieses Mal wollte ich mir alle Buchtitel aufschreiben, die mich interessierten, um sie mir später selbst ausleihen zu können.

Ich huschte zum Schreibtisch zurück, griff in meinen Rucksack und zog Stift und Notizbuch heraus. Ohne von Charlotte bemerkt zu werden, ging ich wieder zurück. Ich wusste, was sie davon halten würde, wenn ich wieder nur Bücher im Sinn hatte und meine gesamte Zeit mit Lesen verbringen wollte.

Jedes Mal wenn der Bücherwagen zum Bersten voll war, fuhr ich in den hinteren Bereich der Bibliothek, wo sich ein Regal, gefüllt mit dem Wissen und den Geschichten der verschiedenen Autoren und Autorinnen, an das andere reihte.

Es war eine mühsame und schwere Arbeit und dauerte fast den ganzen Tag, doch ich liebte sie mit jeder Faser meines Körpers.

Immer wenn ich ein Manuskript zwischen einem der Stapel fand, legte ich es Charlotte auf ihren Schreibtisch. Ich wusste nicht, welches davon sie mir geben würde, aber ich las mir jeden Titel aufmerksam durch und freute mich wie ein kleines Kind darauf, eines davon lesen zu dürfen.

Nachdem ich endlich das letzte Buch einsortiert hatte, stand ich reglos in einem der Gänge der Bibliothek. Mit ihren hohen, rund geformten Decken, den goldglänzenden Kronleuchtern und dem Geruch nach Geschichten, Fantasien, fremden Orten und Abenteuern, die allesamt gelesen und entdeckt werden wollten. Ich arbeitete schon so lange hier, dass ich mich manchmal selbst kneifen musste, wenn ich einfach nur so dastand und die verschiedenen Eindrücke auf mich einströmten.

Das Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster und tauchte die gesamte Bibliothek in eine warme Atmosphäre. In der Vorhalle, in der sich die Besucher mit ihren Ausweisen anmeldeten, befanden sich mehrere längliche Tische, an denen man sich niederlassen und lesen oder studieren konnte. Heute jedoch waren nicht viele Leute gekommen. Wahrscheinlich genossen sie das Wetter lieber in einem der Cafés, die ihre Außenbereiche, nach den kalten Tagen, endlich wieder geöffnet hatten.

Ich begab mich zu Charlotte. Sie saß mittlerweile an ihrem Schreibtisch, der sich zwar ebenfalls in der Vorhalle befand, jedoch etwas abgesondert in einer Ecke. Von ihm aus hatte sie einen Überblick über alles und jeden, der die Bibliothek betrat. Sie hatte bereits angefangen, eines der Manuskripte durchzulesen. In ihrem riesigen Ledersessel lehnte sie sich nach hinten. Mit einem Stift in ihrer Hand, bereit, alles anzustreichen, was nicht passte.

Als ich näher herankam, las ich den Titel ›Die Höhenflüge‹.

»Von was handelt das Manuskript?«, fragte ich leise.

»Es ist eine Art Psychologiebuch. Dort wird anhand einer Geschichte erläutert, wie sich die verschiedenen psychischen Störungen bemerkbar machen können.«

»Klingt interessant. Lektorierst du auch den Inhalt oder nur die Geschichte?«

»Nur die Geschichte. Für alles andere fehlt mir das Fachwissen. Das Manuskript wurde von einem Doktor der Psychologie geschrieben und ich soll ihm helfen, die erzählten Beispiele zu verbessern. Also das Übliche. Aber es ist schon sehr spannend, selbst für mich als Laien.«

»Steht da auch etwas über Typen, die einen umrennen und dann beschimpfen?«

Charlotte schaute über den Rand der Seiten und zog ihre Augenbrauen hoch. »Ein Mann, aha«, sagte sie verschwörerisch, auf meinen unbedacht geäußerten Gedanken.

»Ist das alles, was du gehört hast?«, erwiderte ich mit einem Seufzer der Verzweiflung.

Charlotte versuchte ständig, mich mit jemanden zu verkuppeln, aber ich lehnte immer erfolgreich ab. Bis sie mich eines Tages so gedrängt hatte, dass ich nachgegeben und diesen speziellen Mann getroffen hatte. Ich hatte seinen Namen bereits vergessen, als ich fluchtartig von dem Treffen verschwunden war. Doch das Ganze hatte sich mir als schlechte Erinnerung eingebrannt.

 

 

 

Er war höchstens vierundzwanzig Jahre alt und fest davon überzeugt, dass es faszinierend sein würde, den ganzen Nachmittag über seinen Besitz und die potenziellen Käufe, die er mit seinem Vermögen tätigen könnte, zu plaudern. Es war ermüdend.

Als ich ihm erzählte, dass ich Bücher liebe und in einer Bibliothek arbeite, fragte er mich, ob mir das nicht irgendwann zu langweilig werden würde. Ich war kurz sprachlos. Charlotte hatte mir verraten, dass er sein eigenes kleines Bucharchiv auf seinem Anwesen besaß. Genau deshalb hatte ich mich überhaupt auf dieses Date eingelassen. Mir war bewusst, dass meine Absichten nicht ehrenhaft waren, aber es war das Einzige, was an ihm interessant klang. Ich hatte die Hoffnung, dass er genauso buchverliebt war wie ich. Aber das war ein gewaltiger Irrtum.

Während des Dates wehten so viele rote Fahnen um ihn herum, dass ich mir dachte, ich muss hier weg. Aber wie? Aufstehen und gehen? Nein, so etwas hatte niemand verdient. Also entschied ich mich dazu, das Beste daraus zu machen, und sprach ihn direkt auf Themen an, die mich interessierten. Als er mir dann gestand, dass das Letzte, was er gelesen hatte, ein Automagazin gewesen war – um sich ein Auto auszusuchen, versteht sich –, beschloss ich, ihn darauf anzusprechen, was Charlotte mir erzählt hatte.

Seine Erklärung, dass seine Buchsammlung nur Show für sein Arbeitszimmer war, um bei Geschäftstreffen einen guten Eindruck zu machen, ließ meinem Gesicht jegliche Fassung entweichen. Sobald ich nicht mehr mit dem Kopf schütteln musste, verabschiedete ich mich höflich und flehte Charlotte an, mich nie wieder verkuppeln zu wollen. Sie versicherte mir mehrfach, dass sie nichts davon gewusst hatte. Allerdings wusste ich nicht, ob ich ihr glauben konnte, denn trotz meines Blickes, oder vielleicht auch gerade deswegen, verfiel sie in ein so starkes und herzliches Lachen, dass ich mich nicht dagegen wehren konnte und es ihr gleichtat.

 

 

 

Sie hatte mir versprochen, mich nicht mehr verkuppeln zu wollen, und dieses Versprechen hielt sie. Charlotte dachte wohl in diesem Moment an dasselbe wie ich, denn sie kicherte leise und verzog sich wieder hinter die Seiten des Manuskripts. Auch ich konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Diese Geschichte würde mir für immer im Gedächtnis bleiben, dessen war ich mir sicher.

Am Ende des Tages suchte ich mir eines der Bücher, welche ich mir aufgeschrieben hatte, heraus. Ich stieg auf eine der Leitern, die an den Regalen angebracht waren, um die obere Reihe erreichen zu können.

»Was machst du denn da?«

Wie auf frischer Tat ertappt sah ich Charlotte an, die sich unten an der Leiter positioniert hatte. »Ich wollte mir eines der neuen Bücher ausleihen«, antwortete ich unschuldig und zog langsam ein Buch aus dem Regal.

»Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du ab morgen Urlaub hast. Bitte lies nicht wieder den gesamten Tag. Geh raus, triff dich mit Leuten oder mach einen Ausflug in die Natur. Ich möchte nicht, dass du immer allein zuhause sitzt und das Leben dort draußen verpasst.«

Ich stieg vorsichtig hinab und seufzte tief. »Okay, ich verspreche dir, ich werde einen Tag lang nicht lesen und etwas anderes machen. Zufrieden?«

»Außerhalb deiner Wohnung, hoffe ich?« Charlotte funkelte mich mit ihren sanften dunkelblauen Augen an. Sie wusste genau, dass meine Worte zu viel Interpretationsspielraum boten.

»Ach Charlotte«, entgegnete ich ihr mit einem Augenrollen. Ich verstand nicht, warum immer alle sagten, dass ich etwas dort draußen verpassen könnte.

»Na gut, einen Tag unternehme ich etwas außerhalb meiner Wohnung«, ließ ich mich dann breitschlagen.

»Das ist alles, was ich hören wollte.« Zufrieden ging sie zurück an ihren Schreibtisch und ließ mich wieder allein.

Mit dem Buch in meinem Arm war ich bereit meine Sachen zu holen und nach Hause zu gehen. Die Sonne stand mittlerweile so tief, dass die gesamte Bibliothek von ihren Strahlen durchflutet wurde. Ich mochte diese Zeit des Tages besonders. Alles wurde in dieses magische, orange-gelbe Licht gehüllt. Nicht mehr lange und die Kronleuchter würden zur Geltung kommen. Sie verliehen der Bibliothek etwas Festliches, Elegantes.

Ich beobachtete Charlotte für einen kurzen Moment. In diesem Licht sah sie viel jünger aus und ihre Falten wirkten nicht so tief. Ihre grauen Haare reflektierten dezent das einfallende Sonnenlicht und die Tolle vorn wippte bei jedem zustimmenden Nicken, während sie las. Ich lächelte in mich hinein. Ich fühlte mich sorglos und glücklich. Endlich hatte ich das Leben, welches ich mir immer gewünscht hatte.

Verträumt dachte ich an meine Vergangenheit, an die Familie, aus der ich kam. Nie hatte es dort die Möglichkeit für mich gegeben, das zu tun, was ich wollte. Alles war beherrscht von Traditionen und Verpflichtungen. Doch ich wollte mehr. Ich wusste, dass meine Eltern und meine Geschwister mich liebten, aber ich fühlte mich so eingeschränkt und sehnte mich nach dieser Freiheit, von der in Büchern oft die Rede war. Ich verschlang schon damals jeden Roman und jede Geschichte, die mir in die Hände fiel. Sie hatten mich stets in ferne Welten und in Abenteuer entführt, für die ich selbst viel zu ängstlich gewesen wäre.

Kopfschüttelnd erwischte ich mich dabei, wie ich immer mehr in meiner Vergangenheit versank. Deshalb holte ich schnellen Schrittes meinen Rucksack, flüsterte Charlotte ein flüchtiges »Bis dann« entgegen und ging nach Hause.

Die verbliebenen Sonnenstrahlen warfen bereits lange Schatten auf die Straßen und ich konnte an nichts anders denken, als an die Schritte, die mich hierhergebracht hatten.

Nachdem ich die Schule abgeschlossen hatte, verspürte ich einen unaufhaltsamen Drang, mein vertrautes Leben hinter mir zu lassen. Ohne Zögern zog ich in eine weit entfernte Stadt, fernab meiner Familie und allem, was ich kannte. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich diesen Schritt gehen musste, sonst hätte ich es eines Tages wahrscheinlich bereut. So war ich nach Mizusakura gezogen, die Stadt der Kirschblüten. Sie war bekannt für eine friedliche Atmosphäre und die unendlich wirkenden Kirschbäume, die im Frühling all ihre Schönheit unter Beweis stellten. Wenn die Blüten am Ende des Frühlings in den nahe gelegenen Fluss wehten, verwandelte sich das Wasser in ein Meer aus rosa fließenden Blütenblättern. Dieses wunderschöne Schauspiel konnte ich jeden Frühling aufs Neue betrachten und ich wurde nie müde, es zu bewundern.

Von meiner Wohnung bis zur Bibliothek waren es zwar nur zehn Minuten zu Fuß, doch mein Weg führte mich vorbei an den Gärten der Häuser, die allesamt mit Mauern umzäunt waren, damit kein Blick in sie hineinfallen konnte. Dies ließ nachts alles wie ein Labyrinth wirken. Wenn die Sonne unterging und nur die Laternen den Weg ausleuchteten, hatte die Stadt vieles von ihrer sanften Atmosphäre verloren. Finster, still und einsam fühlte sich der Heimweg dann an, aber gefürchtet hatte ich mich nie. Von der ersten Minute an hatte ich mich angekommen und wohl in dieser, mir fremden Stadt, mit ihren verschiedenen Facetten gefühlt.

Meine Anstellung in der Bibliothek machte alles perfekt. Ich war Charlotte so dankbar, dass sie mir eine Chance gegeben hatte und ich tat alles, um sie nicht zu enttäuschen. Sie sagte, dass sie einen Nachfolger bräuchte, damit sie wüsste, dass auch nach ihrem Tod die Bibliothek in guten Händen wäre. Die Bücher und alles, was die Bibliothek ausmachte, waren ihr Lebenswerk. Das war mir von Anfang an bewusst und ich behandelte alles mit größtem Respekt.

Oft saß ich mit Charlotte in ihrer gemütlichen Wohnung über der Bibliothek. Früher hatte der Raum als Lager gedient, als Charlotte und ihr Mann noch in einem Haus lebten. Doch nach seinem Tod ließ sie den riesigen Raum in eine gemütliche kleine Wohnung umbauen und hatte das Haus verkauft. Sie sagte immer, dass es nur mit ihrem Mann zusammen ein Zuhause für sie gewesen war. Nach seinem Tod band sie nichts mehr daran.

Im Lauf der Zeit war Charlotte nicht nur zu einem Mentor, sondern zu einer unverzichtbaren Freundin geworden. Obwohl sie mir immer wieder sagte, ich sollte mir Freunde in meinem Alter suchen, wusste ich, dass sie mich genauso gernhatte, wie ich sie.

Fünf Jahre war es nun schon her, dass ich das erste Mal einen Fuß über die Schwelle der Bibliothek gesetzt hatte. Mittlerweile vertraute Charlotte mir blind und ich durfte sogar selbst Bücherbestellungen aufgeben. Ich wollte, dass Charlotte irgendwann beruhigt in den Ruhestand gehen konnte. Mit ihren zweiundsechzig Jahren wurde es langsam Zeit, kürzer zu treten, doch das sah sie anders und ich konnte nicht behaupten, dass ich es schlimm fand, meine Freundin immer um mich zu haben. Seit ein paar Wochen führte sie mich an die Kunst des Lektorierens heran, leider nur mit mäßigem Erfolg. Doch davon ließ ich mich nicht beirren und versuchte mehr und mehr darüber zu lernen.

Den ganzen Weg über hing ich den Gedanken der Vergangenheit nach, die sich mit der Gegenwart vermischten.

Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf. Das Einzige, was ich in diesem Moment wollte, war es etwas zu essen und dann das Buch zu lesen, das sich in meinem Rucksack befand.

Wie einen Schatz zog ich das Buch heraus und ließ meinen Rucksack in eine Ecke fallen. Ich bereitete mir alles vor, damit ich dann ungestört in den Roman eintauchen konnte. Voller Vorfreude las ich den Titel ›Elfenlied und der Bann des Drachen‹, legte es auf mein Bett, ging in die Küche und bereitete mir etwas zum Essen zu.

 

 

 

Drei Tage waren vergangen und ich hatte das Buch regelrecht verschlungen. Nur zu gern wäre ich in die Bibliothek gegangen und hätte mir ein anderes Buch ausgeliehen, aber ich hatte Charlotte versprochen, einen Tag meines Urlaubes außerhalb meiner Wohnung zu verbringen. Bevor ich also zur Bibliothek zurückgehen konnte, musste ich mein Versprechen einlösen. Doch die Vorstellung, dass in der Bibliothek ganz neue Kostbarkeiten auf mich warteten, ließ ein Kribbeln voller Vorfreude in meinem Bauch zurück.

Als ich damals hierhergezogen war, hatte ich von der Stadt ein Willkommenspaket mit Broschüren und einer Stadtkarte bekommen. In diesem Moment war ich froh darüber, dass ich nicht alles sofort weggeworfen hatte, wie es eigentlich meine Art war. Ich holte mir eine Broschüre aus meinem Bücherregal. In ihr wurden die Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte der Stadt vorgestellt. Zudem wurden Ausflugsziele aufgelistet, die jeder Tourist einmal besucht haben sollte. Tourist war ich zwar nicht, aber mir fiel auf, dass mir die Stadt, in der ich seit fünf Jahren lebte, gänzlich fremd war.

Ich las davon, dass man im nahegelegenen Wald eine Führung mitmachen konnte, bei der man sich die alten Ruinen ansehen durfte. Als ich das las, war ich sofort Feuer und Flamme. Treffpunkt war jeden Donnerstag um dreizehn Uhr an der Ecke zur Straße Tokiwadori.

So ein Glück, dachte ich mir und zog mich an. Zwölf Uhr fünfzehn. Das konnte ich noch schaffen.

 

 

 

»Willkommen zur Ruinenführung im Kage Mori Wald. Es ist ein Wald voller mystischer Legenden und träumerischer Sagen. Ein Ort, an dem die Schatten der Vergangenheit mit jedem Sonnenstrahl, der durch das dichte Blätterdach dringt, zum Leben erweckt werden. Zwischen den tausend Jahre alten Bäumen verbergen sich die Ruinen der alten Zivilisation. Wie stumme Zeugen der längst vergangenen Geschehnisse versuchen wir ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Geheimnisse einer fernen Ära, bei der jeder Schritt eine eigene kleine Reise mit versteckten Rätseln sein kann. Begleiten Sie mich heute dabei. Doch ich bitte Sie inständig, auf dem gekennzeichneten Pfad zu bleiben. Der Wald erstreckt sich über mehrere Hektar und man verirrt sich schnell.

Mein Name ist Daniel Smith und ich werde Sie heute auf dieser Reise begleiten. Nennen Sie mich einfachheitshalber bitte nur Daniel.

Also dann, tauchen Sie mit mir ein in die Geschichte der Ruinen von Kage Mori und lassen Sie uns die Geschehnisse aus einer längst vergangen Zeiten wieder zum Leben erwecken. Lauschen Sie dem Flüstern des Windes, wenn er durch die Wipfel der Bäume weht, und begeben Sie sich mit mir auf eine Reise durch die Zeit.«

Eines musste man unserem Reiseleiter lassen, er schaffte es mit seiner Rede, dass die zwei Kinder, die in der Gruppe angemeldeten waren, kurz still standen und mit großen Augen innehielten. Auch mich hatte er in seinen Bann gezogen.

Voller Vorfreude setzte sich die Gruppe in Bewegung. Es hatten sich nicht viele eingefunden, deswegen war es auch kein Problem, dass ich mich spontan gemeldet hatte.

Unter den Teilnehmenden war eine Familie mit zwei Kindern, die schätzungsweise acht und zehn Jahre alt waren, die Eltern in ihren Dreißigern. Die Mutter hatte vorhin über hundert Details auf ihre Kinder und ihren Mann einprasseln lassen. Sie machte diese Führung anscheinend nicht zum ersten Mal. Ihr Mann unterbrach sie immer wieder und sagte, dass sie nicht alles verraten sollte. Doch die Kinder hörten ihr sowieso nicht zu und verfielen in ein Spiel untereinander. In mich hinein grinsend sah ich mir das Schauspiel ein paar Minuten an und hatte Mitleid mit dem Mann, der sich nun im Einzelunterricht alle Details über die Bäume anhören durfte, die im Wald wuchsen. Die Gruppe bestand nicht nur aus der Familie. Auch ein rüstiges älteres Ehepaar, das noch sehr fit zu sein schien, und eine Freundesgruppe, bestehend aus drei Personen - zwei Frauen und ein Mann -, nahm an der Führung teil. Mit mir und dem Reiseleiter waren wir elf Personen.

Wir standen auf einem sandigen Feldweg. Direkt vor uns sah man undurchdringbaren Wald, mit meterhohen Laubbäumen. Trotz der Sonne war es dort drinnen eher schummrig.

Der Reiseleiter ging mit uns geradeaus, gezielt auf den Weg zu, der den Startpunkt markierte. »Wir werden unterwegs mehrere Möglichkeiten haben, eine Pause zu machen. Keine Sorge. Egal welchen Alters Sie sind, der Pfad ist nicht zu anstrengend.« Sanft lächelte der Reiseleiter das ältere Ehepaar hinter mir an.

»Ich würde fast behaupten, dass er uns damit gemeint hat«, flüsterte der ältere Mann seiner Frau zu.

»Ach, wo denkst du hin. Wir sind beide noch knackig und jung. Der meinte bestimmt die Gruppe hinter uns«, entgegnete sie ihrem Mann und winkte ab.

»Ja, bei mir knackt einiges, wenn ich mich bewege.« Beide prusteten los und ihre Liebe zueinander wärmte mein Herz.

Der Weg führte mitten durch den Wald hindurch und wir wanderten fünf Minuten, bis wir zu einer kleinen Statue kamen. Sie war ungefähr einen Meter hoch und rundlich. Moos hatte sich überall an ihr festgesetzt. Sie sah wie verzaubert aus und hielt ihre Hände, als würde sie beten. Der Reiseleiter stoppte an der Seite der Statue.

»Hier sehen wir ›die verlorene Seele‹. Eine Statue, die eine betende Gottheit ehrt. Diese mystische Figur wurde zwar von der Zeit gezeichnet und vom Moos bedeckt, doch ich finde, die Schönheit wird gerade aus diesem Grund noch einmal betont. Laut Überlieferung birgt sie die Energie vergangener Gebete und Hoffnungen der Menschen von damals. Sie knieten sich vor die Statue und boten ihr Blumen, Äpfel oder andere Früchte dar. Diese Gottheit wird leider namentlich nirgends erwähnt. Der Name ist wohl, wie so vieles, im Nebel der Geschichte verblasst. Doch wenn man den Sagen und Legenden glauben mag, schützt sie den Wald und die Reisenden, die sich in ihm befinden. Die Menschen der antiken Welt verehrten sie als Hüter- und Beschützerin, und wenn man dem Wind genau zuhört, kann man das leise Flüstern der Blätter hören, die von der Anwesenheit der Gottheit berichten.

Es soll auch heute noch Glück bringen, der Gottheit ein paar Blumen darzubieten und sich vor sie zu knien, um zu beten.« Er zeigte auf einen kleinen, fast verwelkten Blumenstrauß, der neben der Statue lehnte. »Lassen Sie uns weitergehen. Es gibt noch so viel mehr zu entdecken.«

Jeder hatte Daniel aufmerksam zugehört und schaute ehrfürchtig auf die kleine steinerne Gottheit. Irgendetwas ließ mich erschaudern, doch ich wusste nicht, was dieses Gefühl erzeugte.

Auf dem weiteren Pfad sahen wir immer wieder kleinere Ruinen, umgestürzte Mauern und verlassene Häuschen, welche komplett von Pflanzen erobert wurden.

Wir waren schon eine Weile unterwegs, bis wir die erste Pause einlegten.

»Hier werden wir unsere erste von zwei Pausen machen. Umgeben von der Wildblumenwiese Kage Moris schmeckt das Essen gleich noch mal so gut.« Der Reiseleiter setzte sich auf eine der umstehenden Bänke und packte sein Essen aus. Die anderen taten es ihm gleich. Nur ich hatte in der Eile vergessen, mir etwas zu essen einzupacken. Zum Glück war ich nicht besonders hungrig. Ich zog meine Wasserflasche aus dem Rucksack und betrachtete die Umgebung. Es war malerisch. Mitten im tiefsten Wald, umgeben von tausenden Wildblumen, die in voller Blüte standen. Von der Bank aus, auf der ich saß, sah man in weiter Ferne eine große Ruine. Dort hinten wirkte alles dunkel und vermittelte etwas Düsteres und Unheimliches.

»Entschuldigen Sie?«, brachte ich zum Reiseleiter gesprochen hervor und wartete, bis er seinen Bissen zu Ende gekaut hatte.

»Ja?«

»Ich habe dort hinten die Ruinen gesehen. Können Sie mir vielleicht kurz etwas darüber erzählen?«

»Natürlich. Dort liegt eine größere Anlage, die wir noch nicht genau erkunden konnten. Der Weg dorthin führt über unwegsames Gebiet und macht die Erforschung nur schwer möglich. Wir vermuten, dass es eine Art Tempel war. Die Innenräume sind von außen betrachtet nicht mehr erhalten und alles ist überwuchert mit Efeu, Moos und allerlei anderen Pflanzen. Auch in alten Büchern haben wir bisher nichts Genaueres über diesen Ort gefunden, was schon sehr seltsam ist. Nächste Woche wird das Forschungsteam eine Expedition starten. Sie wollen sich den Tempel von innen ansehen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Dafür muss allerdings immer die Sicherheit gewährleistet sein. Die Ruinen dort sind sehr stark eingefallen und es ist zu gefährlich sie ohne Sicherungsmaßnahmen zu betreten. Solche Forschungen sind dadurch teuer und leider kann das Institut nicht alles aus eigener Tasche finanzieren. Deshalb muss immer wieder gestoppt werden, um finanzielle Mittel bereitzustellen. Das erinnert mich an etwas.« Er richtete das Wort an alle Teilnehmer und fuhr fort. »Wenn es Ihnen möglich ist, selbst wenn es nur ein winziges bisschen ist, dann können Sie dem Institut gern etwas spenden. Alle Einnahmen, die heute durch diese Führung zustande kommen, gehen direkt in die Forschung der Ruinen. Mit einer zusätzlichen Spende würden Sie den Forschern und dem Institut eine riesige Freude bereiten. Überlegen Sie es sich in Ruhe. Ich werde es am Ende der Führung noch einmal ansprechen.«

Mein Blick schweifte wieder zur Ruine und ich malte mir aus, wie das Leben damals hier ausgesehen haben könnte. Bis mich ein nervöses Stimmengewirr aus meinem Tagtraum riss.

»Ren, wo ist deine Schwester?«

»Sie hatte Blumen gepflückt und meinte, dass die Statue sich sicher über sie freuen würde und uns dann alle auf unserem Ausflug beschützt«, gab der kleine Junge zurück, als wäre es nicht schlimm, dass sich seine kleine Schwester allein auf den Weg zurück gemacht hatte.

Die Panik, die die Mutter empfand, stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie fing verzweifelt an, den Namen des Mädchens zu rufen. »Mia, wo bist du? Komm sofort wieder zurück!« Tränen standen in ihren Augen.

Der Vater zögerte keine Sekunde und rannte den Weg zurück. Auch wir anderen kamen zusammen. Die ältere Dame versuchte, die Mutter zu beruhigen, und sagte erfolglos ein paar tröstende Worte.

»Wenn sie auf dem Pfad geblieben ist, werden wir sie schnell wiederfinden. Machen wir uns auf den Weg zurück und suchen sie«, richtete sich der Reiseleiter an die Gruppe.

Wir packten so schnell wie möglich alles zusammen und gingen los. Immer wieder riefen wir den Namen der Kleinen. Jeder machte sich Sorgen, sie könnte vom Weg abgekommen sein.

Nach zehn Minuten kamen wir an der in Stein gehauenen Gottheit an und fanden den verzweifelten Vater betend davor. Als die Mutter das sah, hielten sie ihre Beine nicht mehr und sie fiel schluchzend zu Boden. Der Junge rannte zu seiner Mutter und sagte immer wieder, dass er das nicht gewollt hatte. Das Bild war herzzerreißend und ich bekam einen dicken Kloß im Hals.

Sie muss doch hier irgendwo sein. Vielleicht hat sie angehalten, um noch mehr Blumen zu pflücken.

Verschiedenste Gedanken geisterten mir im Kopf herum. Ich versuchte, alle schlechten beiseitezuschieben.

»Wir teilen uns auf und suchen die Gegend ab. Ich werde andere Reiseleiter anrufen und einen Suchtrupp zusammenstellen lassen. Ich bitte Sie inständig darum, immer in der Nähe des Pfades zu bleiben, damit Sie sich nicht in den Tiefen des Waldes verirren. Zur Orientierung für das Forschungsteam wurden einige Bäume markiert. Falls es zu dem Fall kommen sollte und Sie sich doch verirren, suchen Sie eine solche Markierung und folgen Sie ihnen. Sie bringen Sie immer wieder zurück zu einem Pfad. Wir brechen in drei Gruppen auf.«

Der Reiseleiter teilte mich mit dem älteren Ehepaar ein. Er selbst blieb bei der Familie. Wir gingen in verschiedene Richtungen. Startpunkt war die kleine moosbedeckte Statue der Gottheit. Das Ziel der Rastpunkt, an dem das Verschwinden des Mädchens augefallen war. Bevor ich mich umdrehte, um das ältere Ehepaar zu begleiten, sah ich noch einmal die Statue an und schickte ein leises Gebet an sie. Ich glaubte nicht an so etwas, aber in dieser Situation war mir alles recht.

Hoffentlich finden wir die Kleine schnell.

Wir liefen immer weiter in den Wald hinein und die ältere Dame behielt stets den Pfad im Auge, damit wir die Orientierung nicht verloren. Die Suche war anstrengend, denn der Pfad, welchen wir gewählten hatten, war unwegsam und ging über riesige Baumwurzeln, weichen moosbedeckten Boden und hohes Gras. Schweiß perlte mir mittlerweile von der Stirn herab. Immer wieder riefen wir den Namen der Kleinen, aber wir blieben ohne Erfolg.

Ich sah, dass das ältere Ehepaar am Ende seiner Kräfte war. »Machen wir eine Pause. Meine Beine tragen mich keinen Zentimeter weiter«, log ich, um den beiden kein schlechtes Gewissen zu machen. Dankend nahmen sie meinen Vorschlag an und setzten sich auf einen umgekippten Baum. Ich holte meine Flasche heraus und trank einen riesigen Schluck, doch langsam bekam ich Hunger. Als hätte die ältere Dame meine Gedanken gelesen, bot sie mir eines der Sandwiches an, die sie ausgepackt hatte. Dankbar nahm ich an und biss genussvoll hinein. Sie sahen nicht nur lecker aus, sondern schmeckten traumhaft. »Vielen Dank, das ist so lecker«, bedankte ich mich und lächelte kurz, bevor ich wieder abbiss.

»Gern. Ich mache sie selbst. Früher habe ich sie jeden Tag für die Gäste meines Cafés zubereitet.« Ein Lächeln, das einem das Herz erwärmte, überkam sie und sie reichte ihrem Mann auch etwas zum Essen. »Mittlerweile leitet unsere Enkelin das Café und darf sich von den Gästen immer anhören, dass sie wie ich aussieht, als ich noch jung war, aber an meine Sandwichkünste kommt sie leider nicht heran.« Sie lächelte verschmitzt. »Um das zu ändern, helfe ich ab und zu aus und bereite, Seite an Seite mit ihr zusammen, die Sandwiches zu.«

»Und ich muss immer die essen, die nichts geworden sind. Eine Tortur«, fügte ihr Mann mit vollem Mund hinzu. Er meinte es nicht ernst, so wie er seine Frau ansah, die ihn mit einem schiefen Blick strafte. Die beiden waren zuckersüß zueinander und insgeheim wünschte ich mir, irgendwann auch einmal eine solche Beziehung zu führen.

»Das hört sich bezaubernd an«, antwortete ich. »Wie heißt das Café? Ich würde gern vorbeikommen und ihrem Mann etwas von der Last abnehmen, wenn Sie gestatten?«

»W… Waf?«, panisch blickte er mich, den Mund voll mit Überresten des Sandwiches, an.

»Keine Sorge, mein Schatz, es werden immer genug für dich da sein. Da kannst du der jungen Dame ruhig ein paar abgeben. Es heißt ›Hanami Café‹ und liegt im Hanami Bezirk in der Nagomi Lane.«

»Den Bezirk kenne ich, aber ich war noch nie dort. Ich werde sicher bald vorbeischauen.«

Durch das kurze Gespräch konnten wir für ein paar Sekunden die angespannte Situation vergessen, bis ich plötzlich aus dem Augenwinkel heraus etwas sah. Es bewegte sich ein paar Meter weg von uns, im hohen Gras. Ich sprang sofort auf. »Da hinten bewegt sich etwas. Mia! Mia, bist du das?«, rief ich, so laut ich konnte, doch ich bekam keine Antwort. Das ältere Ehepaar erhob sich und schaute in die Richtung, in die meine Worte schallten. »Ich gehe und schaue nach, was das war. Vielleicht ist sie verletzt und zu weit weg, um uns zu hören. Oder sie hat zu viel Angst, um uns zu antworten. Bleiben Sie hier, ich werde schnell nachsehen.«

»Seien Sie vorsichtig.«

Ich nickte ihnen zu, bevor ich losging. Überrascht über den Mut, den ich aufbrachte, und voller Hoffnung, das Mädchen zu finden, kämpfte ich mir einen Weg durch das hohe Gras und versuchte das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Entfernung hatte ich falsch eingeschätzt. Ich dachte, dass es auch der Kleinen so ergangen sein musste. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, doch durch das hohe Gras bemerkte ich viel zu spät, dass mein rechter Fuß keinen Boden mehr unter sich hatte, und ich stürzte einen Abhang hinunter. Unsanft hielt mich ein Busch am Fuße des Abhangs auf.

Auf dem Boden sitzend, rappelte ich mich auf und klopfte mir Stöcker, Schmutz und Blätter ab. Schnell erkannte ich, dass der Hang zu steil war, um wieder nach oben zu gelangen.

Verwirrt blickte ich mich um. Hier unten wirkte alles viel düsterer und es fiel mir schwer, nicht in Panik zu geraten aus Angst, nicht wieder nach oben zu gelangen. Solche Gedanken verdrängte ich sofort und redete mir ein, dass ich es schaffen würde. Doch als ich hart auf dem Boden aufgeschlagen war, war mir schlagartig klar geworden, dass ich nicht Mia hinterhergerannt war.

Ich entschloss mich, am Fuße des Abhanges entlangzulaufen und einen Weg zu suchen, der mich wieder hinauf bringen würde. Der Abhang zog sich jedoch immer weiter und weiter, wie ein Graben, mitten im Wald.

Nach und nach sah ich Umrisse einer Figur und steuerte sie zielgerichtet an, bis ich merkte, dass ich einer Ruine näher kam, die wie ein Schatten aus dem Wald aufragte.

Meine Füße betraten einen steinernen Weg und die Figur, die von weitem so winzig wirkte, stellte sich als Statue heraus. Sie war so groß wie ich, mit einem Schwert in den Händen, das mit der Spitze auf den Boden zeigte. Es fühlte sich an, als würde sie die Ruine bewachen. Wie schon die kleine Gottheit zu Beginn der Führung, war auch sie von Moos bewachsen. Ihrer imposanten Erscheinung tat dies keinen Abbruch. Sie wirkte mächtig und einschüchternd und aus Gründen, die ich nicht verstand, verspürte ich den Drang, mich vor ihr zu verbeugen. Ich gab dem nach und senkte meinen Kopf andachtsvoll. Als ich wieder hochschaute, durchstreifte ich mit meinen Augen die Umgebung. Ich sah eine Art Durchgang und die Neugierde packte mich. Aus Angst, wieder einen falschen Schritt zu machen, setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen und durchschritt den Durchgang, der wie eine Art Tunnel aussah, direkt in die Ruinen hinein.

Nun hatte ich die Chance, mir alles genau anzusehen, und bemerkte, dass das, was sich vor mir auftat, früher einmal eine Art Tempel gewesen sein musste, von dem nun jedoch nur noch einzelne Teile standen.

Ist das die Ruine, von der Daniel gesprochen hat? Bin ich bereits so weit gelaufen?

Die Außenmauern waren von der Natur zurückerobert worden und hatten viele Löcher. So erhaschte ich einen Blick direkt ins Innere und es machte keinen gefährlichen Eindruck auf mich. Mutig, oder vielleicht eher töricht, ging ich hinein und stand in einem lichtdurchfluteten Raum, in dem die Decke fehlte.

Die Sonnenstrahlen fielen durch das dünnere Blätterdach und hüllten alles in eine mystische Atmosphäre. Überall lagen größere helle Mauersteine und alles war bedeckt von Pflanzen. Ab und zu stand ein junger Baum neben den Trümmern und bewegte sich im kühlen Wind, der sich seinen Weg durch alle noch so kleinen Öffnungen im Mauerwerk bahnte. Bedacht setzte ich meinen Weg mitten durch die Ruinen fort.

Als ich den ersten Raum durchquert hatte, kam ich zu einem zweiten. Dieser war besser erhalten und ich traute meinen Augen nicht, als ich meterhohe Regale stehen sah, in denen sich hunderte von Büchern befanden. Ich trat näher und sah, dass die meisten von ihnen die Zeit nicht überdauert hatten.

Die Decke in diesem Raum war zwar teilweise erhalten und verdunkelte den Raum, doch die gewaltigen Fensteröffnungen, die sich zwischen den Pflanzen wie Tore erstreckten, aber in denen jegliches Glas fehlte, machten es mir leichter, etwas zu erkennen.

Fasziniert von diesen unentdeckten Zeugen einer vergangenen Zeit, zog ich sacht eines der Bücher aus dem Regal. Es zerfiel bei der kleinsten Bewegung. So erging es mir mit jedem Buch, das ich anfasste.

Als ich aufgab ein Buch in den Händen halten zu können, schaute ich mich im Raum um. Ich sah, dass sich ein Schreibtisch an der Seite des Raumes befand. Auf ihm stapelten sich weitere Bücher. Viele Seiten hatten sich aus ihnen befreit und lagen verteilt auf dem Tisch und dem Boden herum. Die Einbände zerbröselten bereits bei dem kleinsten Windhauch.

Ich trat näher heran, traute mich aber nicht, etwas anzufassen. Eines der Bücher lag aufgeschlagen auf dem Tisch und ich trat näher heran. Ich konnte kaum etwas lesen. Die Zeit hatte dem Papier zugesetzt. Mir blutete das Herz bei all dem verlorenen Wissen.

Vertieft in meine Entdeckung hört ich ein Rascheln hinter mir. Voller Panik stürzte ich unter den Schreibtisch.

Ich bin wohl doch nicht so mutig, wie ich dachte.

Gespannt wartete ich darauf, dass sich der Ursprung des Raschelns zeigte, und kauerte wie ein Feigling unter dem Tisch. Als ich bemerkte, dass ich mich fast zu Tode vor einem kleinen, flauschigen Hasen erschrocken hatte, seufzte ich hörbar.

Unbekümmert hüpfte der Hase durch den Raum. Er sah aus, als hätte er keine Angst vor mir. Sprung für Sprung kam er neugierig auf mich zu und blieb direkt vor mir sitzen. Er war zum Greifen nah. Langsam und vorsichtig hob ich meine Hand und streckte sie dem Hasen entgegen. In dem Moment, als meine Hand sein flauschiges Fell fast berührte, zog ein Windstoß durch den Raum hindurch und wehte noch mehr Seiten vom Schreibtisch herunter. Erschrocken zog ich meine Hand zurück und der kleine Hase raste davon.

Allein, mit pochendem Herzen und kopfschüttelnd über mich selbst, saß ich noch immer unter dem Tisch und fragte mich, was ich hier eigentlich machte.

ch atmete tief durch und trat aus meinem Versteck. Erst jetzt bemerkte ich den riesigen Kamin auf der anderen Seite des Raums. Die Öffnung war rund und schlicht, nur ein Ring mit zwei Einkerbungen zierte ihn wie ein Rahmen. Ich stellte mir vor, wie es früher hier gewesen sein könnte: gemütlich am Kamin zu sitzen, umgeben von der wunderschönen Natur, mit ein Buch in den Händen und einem wärmenden Feuer. Ich dachte an Charlotte und konnte sie mir hier bildlich vorstellen, wie sie über ein Buch gebeugt am Schreibtisch saß, mit der Fußspitze wippend, so wie sie es immer tat, wenn sie ein Buch lektorierte. Ein weiterer Windstoß riss mich aus meiner Träumerei und ich erinnerte mich wieder daran, warum ich überhaupt hierhergekommen war. Ich wollte Mia finden und einen Weg am Abhang vorbei.

Das ältere Ehepaar machte sich wahrscheinlich schon wahnsinnige Sorgen. Viel zu lange war ich inzwischen weg.

Ich wollte mich aus dem Raum hinausbewegen, als mir ein Buch auf dem Boden auffiel, an dem etwas funkelte. Es war zum Teil von einem Stein bedeckt, den ich vorsichtig beiseiteschob. Ich sah das zersplitterte Glas, das das Buch bedeckte. Die Scherben reflektierten die Sonnenstrahlen, die nur durch den Wind hierhergelangten. Das Buch war in einer Art Glaskasten aufbewahrt worden, welcher in tausend Einzelteilen verstreut am Boden lag. Vorsichtig hob ich das Buch an und entfernte kleine Glassplitter. Es war besser erhalten als die anderen.

Wahrscheinlich hat die gläserne Hülle die Umwelteinflüsse eine längere Zeit von ihm ferngehalten.

Behutsam öffnete ich das Buch. Die Sprache war mir vollkommen fremd. Auf der ersten Seite befand sich eine Illustration, die eine Art Tunnel zeigte, unter der sich ein Satz befand. Wie in einer Art Trance murmelte ich den Satz vor mich hin. »Lyn Velorianos veridris, syri limandorin, lyn veleonos veridionis defensor.«

Ein lautes Knacken war zu vernehmen. Ich ließ das Buch in meiner Hand sinken und wandte meinen Blick auf den Kamin. Wo sich eben noch eine steinerne Rückwand befunden hatte, verschwammen die Steine kurz und eine Art Tunnel nahm ihren Platz ein.

Wie oft hatten Geschichten, die ich las, davor gewarnt, laut aus einem fremden Buch vorzulesen? Und doch hatte ich es getan. Immer hatte ich mich über die Figuren in diesen Geschichten aufgeregt und nun stand ich selbst hier und wusste nicht einmal, ob ich träumte oder ob dies die Wirklichkeit war.

Bin ich bei meinem Sturz mit dem Kopf gegen etwas Hartes gestoßen und liege bewusstlos im Gras? Das hier kann nicht wirklich geschehen.

Das Buch immer noch in meiner Hand haltend, starrte ich mehrere Sekunden auf den Kamin. Mir wurde bewusst, dass ich zwei Möglichkeiten hatte: Entweder gebe ich meiner Neugierde nach, besiege meine Angst und gehe in den Tunnel, oder ich drehe mich um und setze meine Suche nach Mia und einem Ausweg fort.

Gerade als ich auf dem Absatz kehrtmachen wollte, um hinauszugehen und meine Suche fortzusetzen, wurde der Drang danach, nicht immer nur von den Abenteuern anderer zu lesen, sondern selbst eines zu erleben, immer stärker. Das, was sich vor mir auftat, war die perfekte Gelegenheit.

Ich steckte das Buch in meinen Rucksack und atmete tief durch, um mir selbst noch einmal Mut zu machen. Ängstlich und doch entschlossen ging ich zum Kamin und blickte in den Tunnel.

Jetzt oder Nie, dachte ich und ging hinein.

Der Tunnel bestand aus massiven Steinbrocken, in dessen Rillen sich Pflanzen entlang schlängelten. Selbst an der Decke rankten etliche und hüllten die kalten Steine in ein Meer aus Grün. In der Mitte des Tunnels befand sich ein steinerner Weg, dem ich vorsichtig folgte. Alles hier drin wurde erleuchtet von Laternen, die direkt aus dem Stein zu kommen schienen. Mir war nicht klar, wie die Laternen leuchten konnten. Es waren keine Gaslaternen und Strom vermutete ich hier ganz gewiss nicht. Neben dem Weg war der Boden von einer Moosschicht und kleineren Pflanzen bewachsen. Der Tunnel war hoch genug, um bequem darin laufen zu können und nichts an allem ließ mich etwas Bedrohliches denken.

Mitgerissen von all den Eindrücken folgte ich dem Weg und es war mir für den Moment egal, wo er mich hinführte. Entschlossen, es herauszufinden, würde ich nicht kehrtmachen.

Nach einer Weile nahm ich ein Licht wahr, welches nicht von den Laternen kam, und steuerte darauf zu. Ich stand am Ausgang des Tunnels und meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das helle Licht zu gewöhnen. Nur schwerfällig erfasste ich meine Umgebung. Vor mir befand sich ein schmaler Weg, welcher an einem Berg entlangführte und an einer Brücke endete, welche den Teich vor mir überwand.

Vorsichtig folgte ich dem schmalen Pfad am Berg entlang und versuchte, mir einen Weg zur Brücke zu bahnen. Doch der Pfad war glitschig. Für einen besseren Halt berührte ich mit einer Hand die raue Wand des Berges, bis ich endlich an der Brücke ankam und einen Fuß auf ihr platzierte. Ich kämpfte mit meiner eingebildeten Angst vor dem Ungewissen, die mir im Kopf herumspukte, als ich mich gänzlich auf die Brücke wagte.

Was soll schon geschehen?

Es sah alles so friedlich und harmonisch aus.

Am höchsten Punkt der Brücke ließ ich meinen Blick über das Wasser und den sich angrenzenden Wald gleiten. Es hätte mich nicht gewundert, wenn mir eine Fee entgegengekommen wäre. Unberührte Natur die in allen nur erdenklichen Grün- und Brauntönen um die Wette eiferte. Die Luft fühlte sich so rein und frisch an, dass ich einen tiefen Atemzug machte. Es sah aus, als wäre alles direkt aus einem meiner Bücher entsprungen. Langsam fasste ich die ersten klaren Gedanken.

Wo bin ich hier? Ist das wirklich alles real?

Ich sah ins Wasser und beobachtete kleine gelbe Fische, die in Schwärmen herumtollten. Ihre Körper glitten mühelos durch das kristallklare Nass und streiften, wie Spielerei, ab und zu eine Seerose. Libellen surrten fast lautlos durch die Luft und machten Rast an den geöffneten Blüten im Wasser. Wie Inseln waren sie in der Mitte des Teiches verteilt und bildeten rosa Farbtupfer auf dem Blau des Wassers. Der Wald dahinter ragte voller Laubbäume auf und rahmte alles ein. Der Teich formte sich an einer Stelle zu einem kleineren Bach, der sich ungehindert durch den Wald zog. Direkt neben ihm befand sich ein weiterer Weg und ich beschloss, auf ihm weiterzugehen.

Es wehte eine leichte sommerliche Brise und die Wärme der Sonne tat gut. Ich zog meine Jacke aus und verstaute sie in meinem Rucksack. Ein letzter tiefer Atemzug und ich setzte mich wieder in Bewegung. Ich folgte dem Weg entlang des Baches durch den Wald.

Bisher war ich niemandem begegnet. Keinem Tier, keinem Menschen und keiner Fee. Bei dem Gedanken daran musste ich schmunzeln. Doch mir wurde immer bewusster, dass ich mich nicht mehr im Kage Mori Wald aufhielt. Aber wo ich wirklich war, konnte ich nicht abschätzen. Nichts war mir vertraut und doch machte es mir keine Angst.

Die Sonne fiel durch das Blätterdach der Bäume und hüllte den Weg in ein angenehmes gold-grünes Licht. In den Bäumen hörte ich Vögel, aber sie versteckten sich so gut, dass ich keinen von ihnen anhand ihres Gesanges ausmachen konnte. Verträumt und leichten Fußes ging ich immer weiter und genoss dabei jeden einzelnen Schritt in dieser Idylle. Hier fühlte sich alles so unbeschwert und so vollkommen an. Als ob man nicht nur Besucher dieser Natur war, sondern ein Teil davon.

Ich ging mehrere Minuten, bis sich die Bäume lichteten. Doch die Umgebung blieb von dichtem Grün und üppigen Pflanzen geprägt. Schnell versteckte ich mich hinter einem Baum, denn plötzlich vernahm ich Stimmen und sah Menschen. Ihre Kleidung unterschied sich von meiner eigenen. Ich befürchtete, dass die Menschen mich anstarren würden, wenn ich weiter den Weg entlangging, der direkt durch ihr Dorf führte. Die Männer trugen braune Hosen und lose sitzende, grüne Hemden. Die Frauen hatten lange, grüne Röcke an, kombiniert mit beigefarbenen Blusen. Es fiel mir jedoch auf, dass einige Frauen auch braune Hosen trugen, was bedeutete, dass die Kleidung nicht unbedingt geschlechtsspezifisch war. Die Schnitte waren schlicht und nur mit wenigen Nähten versehen.

Im Verborgenen beobachtete ich alles. Die Häuser schienen eins mit der Natur zu sein, verschmolzen in riesigen hohlen Baumstämmen und von Pflanzen bedeckt.

Das Bächlein murmelte weiter munter vor sich hin und floss durch das Dorf. Ein paar Kinder spielten am Rande mit einer Art Ball. Er war grün und sah pelzig aus. Sie hatten ihren Spaß und tollten ausgelassen herum.

Nachdem ich alles ein paar Minuten beobachtet hatte, entschied ich mich, um das kleine Dorf herumzugehen, damit mich niemand mit meiner braunen Hose und meinem beigefarbenen Top sah. Moment. Der Schnitt meiner Kleidung unterscheidet sich zwar deutlich von denen der Dorfbewohner, aber die Farben sind fast dieselben. Trotzdem war mir das Risiko zu hoch und ich blieb bei meinem Vorhaben.

Das Bächlein machte es mir leicht, den steinernen Weg nicht aus den Augen zu verlieren, und mit dem Dorf im Rücken, setzte ich meinen Weg fort. Ich wusste nicht, wohin er mich brachte. Ich wusste nur, dass ich meine Neugierde nicht unterdrücken konnte.

Zarte Efeuranken schlängelten sich um einige Bäume, überall sprossen rosa- und lilafarbene Blumen in kleinen Gruppen aus dem Boden und mischten sich mit dem Gras und den moosbedeckten Steinen, die einigen Blumen Schatten boten. Ich sah, dass der Weg ein paar Meter vor mir nach unten verschwand, und konnte schon von weitem Türme erahnen, die sich über die Wipfel erstreckten.

Von noch mehr Neugierde gepackt, beschleunigte ich meinen Schritt und blickte von einer Anhöhe hinab. Mir verschlug es den Atem. Von hier oben konnte ich eine Lichtung sehen und die Türme einem Schloss zuordnen, welches über und über von Moos, Gras und anderen Pflanzen überwuchert war. Das Schloss selbst schien aus massivem Stein zu bestehen und war zu Teilen in den Berg integriert, welcher hinter den Türmen emporragte.

Ich sah, dass der Weg am Abhang hinunterführte und vor dem Schloss endete. Davor stand ein gigantischer Baum, welcher nicht nur einen einfachen Stamm hatte, sondern vielmehr gegliedert in mehrere Abschnitte war. An seinem Fuße umgab die Wurzeln eine Pergola. Auf ihrem Dach befanden sich weitere große knorrige Wurzeln, die an den Seiten herab verliefen und die Pfeiler der Pergola umschlangen. Eine Vielzahl von rosa Blumen bedeckte die Spalten, die die Wurzeln des Daches frei gelassen hatten. Das dritte Segment schien am Baum zu schweben. Ohne Stützen legte es sich um den oberen Stamm des Baumes. Hölzerne Elemente, die kunstvoll in den Rand der oberen Plattform eingearbeitet waren, verschwanden in den herabhängenden Wurzeln des oberen Segmentes. Die Wurzeln schienen aus den einzelnen Stämmen herauszuwachsen und sich mit dem Holz der Dächer zu verbinden, die an dem Stamm ruhten. Auf jedem einzelnen blühten zarte rosa Blumen, die sich sanft in alles einbetteten. Ich konnte mich an dem Anblick nicht sattsehen und mein Blick wanderte Stück für Stück weiter hinauf, zu einer majestätischen Baumkrone in intensivstem Grün, die alles überragte.

Ich folgte dem Weg weiter und ging den Abhang hinab. Viele kleine Wasserzweige kamen aus dem Erdreich und das Bächlein formte sich zum Fluss. Um den Baum herum war ein Weg angelegt und ich sah, dass sich dahinter zwei kreisrunde Teiche befanden. Zwischen ihnen setzte sich der Weg fort und mündete in einen reich verzierten, spitz zulaufenden Torbogen. Ich ging immer weiter, keine Türen und keine Wache versperrte mir den Weg. Nichts war hier, was mich aufhalten konnte.

Am Stein des Torbogens entlang, wagte ich einen vorsichtigen Blick in den Innenhof und konnte auch hier niemanden entdecken. Das Grün der Pflanzen und das Blau des Wassers zogen sich weiter hindurch, in Form von länglichen Teichen, welche sich rechts und links an einem weiteren Weg positionierten.

Ich fühlte mich wie in einem Märchen und setzte unbedacht meinen Weg in den Innenhof fort. Das Weiß des steinernen Weges bot einen wunderschönen Kontrast zum Blau des Wassers und meine Schritte waren kaum hörbar. Zögerlich ging ich auf den zweiten Torbogen zu, der direkt ins Innere des Schlosses führte, und drückte mich nahe an ihn heran, um von dem gedämpften Stimmengewirr, welches aus dem Inneren des Schlosses zu mir drang, nicht entdeckt zu werden. Mein Blick folgte dem Korridor, der sich vor mir auftat und dessen Ende ich von hier aus nicht sehen konnte. Der Boden sah aus wie aus purem Marmor. Noch nie hatte ich einen Fußboden so glänzen gesehen. Filigrane dunkelgrüne Muster rankten sich darüber und hoben sich durch das steril wirkende Weiß der Wände noch mehr ab. Säulen unterbrachen die eintönigen Wände, an denen sich Pflanzen zur Decke empor klammerten und das Muster des Bodens fortführten. Deckenhohe, runde Fenster machten alles perfekt und durchfluteten den Gang mit Licht. Zwischen den Fenstern und Säulen hingen mit weißen Blumen bepflanzte Kronleuchter. Ich haderte mit mir selbst.

Soll ich hineingehen?

Ich wusste nicht, was mich dort erwartete, und ich bezweifelte, dass die Herren dieses Schlosses gern eine Fremde hätten, die unbefugt herumstreunte.

»Also dich habe ich hier noch nie gesehen. Was machst du da?«

Zu Tode erschrocken drehte ich mich um und sah einen Mann. Er war ungefähr in meinem Alter und trug eine grüne, schlichte Stoffhose und ein weißes Hemd, an dem die ersten drei Knöpfe offen waren und seine definierte Brust erahnen ließen.

Mein Kopf setzte aus. Ich öffnete zwar meinen Mund, doch es kamen nur gestammelte Worte heraus.

Er zog eine Braue hoch und begutachtete mich von oben bis unten. Ich spürte, wie er jede einzelne Haarsträhne analysierte. »Dir ist bewusst, dass nur jemand, der etwas zu verheimlichen hat, so rumstammelt wie du, oder?«

Er trug eine Kette um den Hals, die bei jedem Sonnenstrahl funkelte. Sie war schlicht, doch durch die zwei Schlangen, die silberglänzend rechts und links um den Anhänger geschlungen waren, fiel sie mir sofort auf.

Würden die Menschen, welche ich bisher gesehen habe, solche Schmuckstücke tragen?

Sein Blick folgte meinem und er berührte mit einer Hand die Kette, nur um sie blitzschnell abzuziehen und in einer Hosentasche verschwinden zu lassen.

Tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf und meine Knie wurden vor lauter Panik weich.

Was unternehmen die Helden in Büchern in solch einer Situation?

In Sekunden kramte ich jede Geschichte in meinen Kopf hervor, doch nichts schien passend für diesen Moment, bis mein Mund sich entschied, ein Wort hervorzubringen. »Sandwich!«, platzte es aus mir hervor.

Was stimmt nicht mit mir? Hab ich jetzt vollkommen den Verstand verloren?

»Sandwich ... Okay ... Du möchtest eins? Du servierst eins? Du bist eins? Ich hoffe, du kannst mehr sagen. Aber gut, wir fangen mit einer einfacheren Frage an. Ich hoffe, du bist bereit?« Er zog die Brauen tief ins Gesicht, doch sein Grinsen verriet mir, dass er mich verschaukeln wollte.

»Wer bist du? Und bitte sag jetzt nicht Hamburger oder Fritten oder so einen Blödsinn.«

Seine seltsame und arrogante Art machte mich wütend und ich bekam meine Panik unter Kontrolle. »Mein Name ist Minako. Minako Blum.«

»Na, das hat doch sehr gut geklappt. Prima.« Sein Grinsen wurde immer übertriebener und ich wusste nicht, ob ich Angst oder Wut empfinden sollte. »Jetzt machen wir es ein bisschen schwieriger. Was machst du hier, Minako Blum?« Er hatte diese Frage kaum ausgesprochen, da verwandelten sich seine Gesichtszüge umgehend in etwas Hartes, Suchendes und Verurteilendes.

Mein Herz raste wieder, aber ich riss mich zusammen, um ihm zu antworten. »Ich war spazieren und auf meinem Weg kam ich an diesem Schloss vorbei und meine Neugierde war zu groß, um daran vorbeizugehen.« Das war nicht gelogen. Ich hatte nur einen Teil weggelassen.

»Kennst du die Geschichte von Alice im Wunderland? Neugierde ist nicht immer eine positive Eigenschaft, Minako Blum.«

Wieso sagt er meinen Namen so seltsam?

Nichts an ihm machte für mich den Anschein, als wäre er aus einer anderen Welt. Er hätte jeder Idiot sein können, mit dem mich Charlotte verkuppeln wollte. Es machte mich zunehmend nervös, wie er mich ansah. Ich konnte nicht vorhersagen, was als Nächstes geschehen würde.

»Wenn ich mich unerlaubt hier aufgehalten habe, dann tut mir das leid und ich werde sofort verschwinden«, sagte ich in der Hoffnung, gehen zu dürfen. Doch dieser Plan wurde sofort zerstört, als der Fremde mich am Handgelenk packte und mich in den Korridor zog.

»Du tust mir weh. Lass mich los!«

»Hör auf, so ein Theater zu machen. Ich zeige dir das, weswegen du hier bist, und dann können wir endlich aufhören, dieses Spiel zu spielen.«

»Was meinst du damit? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Lass mich los!« Er verstärkte seinen Griff noch mehr und drückte mich mit seinem gesamten Gewicht gegen die kalte Steinwand des Korridors.

Er war mehr als einen Kopf größer als ich, schlank, aber trotzdem definierten sich seine Muskeln unter dem Hemd, das in dem hineinfallenden Licht der Fensterbögen fast durchsichtig wirkte. Er trat so nah an mich heran, dass ich seinen Atem an meinem Gesicht spürte, und flüsterte mir ins Ohr. »Hör auf rumzuschreien, bevor dich die Diener des Schlosses hören.« Er sah mich an und sein Blick ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Mein Herz raste voller Panik, als er sich einen Schritt von mir entfernte, den festen Griff um mein Handgelenk aber keinen Zentimeter lockerte. Er setzte seinen Weg, den Korridor entlang, fort und zog mich ungehindert mit sich. Seine kurzen dunklen Haare wurden dabei von jedem Sonnenstrahl mit einem lila Schimmer bedacht.

Wer ist er und was hat er mit mir vor?