Die Chroniken von Jeledor - Dennis Reinhart - E-Book

Die Chroniken von Jeledor E-Book

Dennis Reinhart

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Beschreibung

Fünfzig Jahre sind vergangen, seit Donry Saldur den verhängnisvollen Fehler beging, der den Kontinent für immer veränderte. Der einst gefeierte Befehlshaber öffnete ein Portal, um dunkle Mächte zur Verteidigung einer belagerten Stadt herbeizurufen - doch die Kreaturen ließen sich nicht kontrollieren. Die Götter errichteten daraufhin den Götterwall, eine magische Barriere, die das Grauen von der restlichen Welt abschottet. Doch innerhalb der Grenzen von Terimag Sai'Shon kämpfen die Zurückgebliebenen jeden Tag ums Überleben. Nun ist den Kreaturen das Unfassbare gelungen: Sie haben Donry Saldurs Seele den Göttern entrissen. Warum? Welche finsteren Pläne verfolgen sie? Während die Fraktionen der Menschen sich in einem fragilen Gleichgewicht gegenseitig belauern, bahnt sich eine Katastrophe an, die alles zu verschlingen droht. Ein Trupp Dämonenjäger, unter ihnen die junge Cerra, wagt sich tief in feindliches Gebiet, ohne zu ahnen, dass sie längst Teil eines perfiden Spiels geworden sind. Zur gleichen Zeit reist Vater Sisirion, Gesandter des Klosters von Ghun, zu einem Treffen der mächtigsten Fraktionen, um von der drohenden Gefahr zu berichten. Doch in den Schatten ziehen längst andere Kräfte die Fäden. Während die Menschen noch nach Antworten suchen, setzen die dunklen Kreaturen von Terimag Sai'Shon ihren Plan in Bewegung. Seit Jahrzehnten sind sie in dieser Welt gefangen - nun wollen sie sich befreien. Und wenn ihnen das gelingt, wird nicht nur Jeledor brennen. Terimag Sai'Shon ist der zweite Band der düsteren Fantasy-Saga Die Chroniken von Jeledor von Dennis Reinhart. Eine Welt voller Grausamkeit und Überlebenskampf, in der es keine Helden gibt - nur Menschen, Kreaturen und Wesen, die um ihre Existenz ringen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, und die Wahrheit ist weit komplexer, als es zunächst scheint. Für Fans von kompromissloser Dark Fantasy und Geschichten, die keine einfachen Antworten liefern.

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Seitenzahl: 605

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Chroniken von Jeledor

1) Der Wall der Götter

2) Terimag Sai’Shon

3) Ungewisse Pfade (in Arbeit)

Inhaltsverzeichnis

11. Tag im Mondzyklus Bonos

EINS : Grenze zum verdorbenen Land

Cerra

ZWEI : Schneehafen

Esgurt

DREI : Die Halle der Weisheit

Niria

Bizur

VIER : Schneehafen

Alaysha

FÜNF : Die Jägersiedlung

Tascha

SECHS : Schneehafen

Alaysha

12. Tag im Mondzyklus Bonos

SIEBEN : Die Jägersiedlung

Tascha

Rikkus

ACHT : Das Kloster von Ghun

Sisirion

Gerron

NEUN : Die Jägersiedlung

Rikkus

ZEHN : Terimag Sai’Shon

Kharrosch

ELF : Belgarins Exil

Belgarin

ZWÖLF : Schneehafen

Alaysha

DREIZEHN : Das Tenebrea Herrenhaus

Viktor

VIERZEHN : Südlich von Schneehafen

Denna

FÜNFZEHN : Das verdorbene Land

Cerra

Sybell

SECHSZEHN : Die Jägersiedlung

Rikkus

SIEBZEHN : Die Halle der Weisheit

Jeldara

Niria

ACHTZEHN : Das verdorbene Land

Sybell

Cerra

NEUNZEHN : Die Frostwacht

Yitar

Zalni

ZWANZIG : Die Ritter von Ridun

Ferdinand

Tarik

EINUNDZWANZIG : Terimag Sai’Shon

Tabaress

Ein nahezu Seelenloser

ZWEIUNDZWANZIG : Schneehafen

Viktor

13. Tag im Mondzyklus Bonos

DREIUNDZWANZIG : Tempel von Schneehafen

Todja

VIERUNDZWANZIG : Der große Wald

Zobreoc

Tascha

FÜNFUNDZWANZIG : Schneehafen

Branda

SECHSUNDZWANZIG : Hallen der Weisheit

Niria

Jeldara

SIEBENUNDZWANZIG : Südlich von Schneehafen

Denna

ACHTUNDZWANZIG : Terimag Sai’Shon

Tabaress

Enzikel

NEUNUNDZWANZIG : Die Frostwacht

Terrek

DREISSIG : Schneehafen

Branda

EINUNDDREISSIG : Die verdorbenen Lande

Cerra

Satif

ZWEIUNDDREISSIG : Belgarins Exil

Juliette

DREIUNDDREISSIG : Die östlichen Hügel

Tascha

VIERUNDDREISSIG : Südlich von Schneehafen

Denna

14. Tag im Mondzyklus Bonos

FÜNFUNDDREISSIG : Die verdorbenen Lande

Satif

Cerra

Sybell

SECHSUNDDREISSIG : Terimag Sai´Shon

Tabaress

Cerra

Sybell

Appendix

Adimar Ruhn

Alaysha Urden

Alte Seelen

Belgarin

Ben

Beteris

Bizur

Branda

Bryta

Caewynn

Cerra

Coja

Dämonenjäger

Denna

Domiric

Donry Saldur

Drei (die)

Elbar

Eldan

Elgar

Entstellte

Esgurt

Ewiges Licht

Fendraks

Fendrik

Ferdinand Wardorf

Finna

Frostwache

Frostwacht

Gerron

Ghun Taschar

Glanna

Grinny

Gillitid

Gott der Bestien

Götterwall

Großer Wald

Grundsätze von Warteburg

Haldun

Halle der Weisheit

Haniiden

Hantima

Higbar

Hindi

Hoher Rat

Hond

Horiden

Ingif

Jeldara

Jeledor

Jörn

Juliette

Juwel der aufgehenden Sonne

Kharrosch

Kloster von Ghun

Kreaturen der Dunkelheit

Krieg der Götter

Krista

Lyrra

Mondzyklus

Naemis

Omnimagus

Raaris

Radif Urden

Raldic

Rikkus

Ritter von Ridun

Niria

Sap

Saphielle

Satif

Schattenseele

Schneehafen

Senday

Siriell

Sisirion

Sokar

Sutter

Sybell

Sylva

Symbiosis

Syres

Stadt der Dunkelheit

Tabaress

Tarik

Tascha

Tenebrea

Terrek

Terimag Sai’Shon

Tjenor

Törn

Tollik

Turyn

Tyran Urden

Undar

Verbliebenen

Verdorbenes Land

Vertris

Viktor

Windkind

Yitar

Yur’Kai

Zet’Kar

Zobreoc

Zum sockenlosen Kater

11. Tag im Mondzyklus Bonos

EINS

Grenze zum verdorbenen Land

Cerra

Cerra sah den steinigen Boden schnell auf sich zukommen. Ihr wurde bewusst, dass sie nicht in der Lage wäre, den Sturz abzufangen. Satif hatte seinen Bogen meisterhaft eingesetzt, um ihr die Beine unterm Körper wegzuziehen, nachdem sie zu einer Finte angesetzt hatte. Der folgende Griff in ihr Haar und der damit ausgeübte Druck beschleunigte ihren Sturz zusätzlich, wodurch der Boden förmlich auf sie zuraste. Doch anstatt ihren Schädel mit Wucht auf den harten Stein zu hämmern, nutzte er seine Hand, um ihren Sturz abzubremsen. Eins seiner Beine brachte er ebenfalls schützend unter ihren fallenden Körper, so dass sie daran herabglitt und dem Aufprall zusätzlich etwas Kraft genommen wurde.

Trotz allem war die Ladung mehr als hart genug, um ihr die Luft auf den Lungen zu treiben. Sie grunzte vor Schmerz und schaute dabei zu dem Mann hinauf, der über sie gebeugt stand, und weiterhin ihre Haare in der Hand hielt. Ein schelmisches Grinsen war auf seinem von braunen Locken umspielten Gesicht zu sehen.

Satif sah trotz der großen Narbe, die über sein linkes Auge führte, attraktiv aus. Er war Anfang zwanzig und somit nicht übermäßig alt im Vergleich zu ihr. Cerra hatte ihn in ihrer Zeit als Novizin im Kloster kennengelernt, damals allerdings ohne Narbe. Dies war über vier Jahre her. Ein langer Zeitraum, für einen Dämonenjäger und gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass er fähig war. Anderenfalls überlebte man bei dieser Tätigkeit keine vier Jahre.

Er löste die Hand aus ihrem Haar und streckte sie ihr entgegen.

«Du nutzt bei weitem zu viele Finten, Cerra. Wenn deine erste Aktion im Kampf immer eine Finte ist, wird jeder, der dich kennt, nur einen Angriff brauchen, um dich zu besiegen, da er diese ignorieren wird. Die dadurch gewonnene Zeit reicht mehr als aus, um einen Treffer bei dir zu landen, wie du gerade gesehen hast.»

Mit einem erneuten Grunzen ergriff sie die Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Er hatte Recht mit dem, was er sagte. Sie nutzte häufig Finten, hauptsächlich da ihr bewusst war, dass ihr jeder aus dem kleinen Trupp in Sachen Erfahrung weit überlegen war. Sie versuchte, sich zu beweisen, und hoffte, durch die ein oder andere Finte, eine Schwäche zu entdecken, um diese dann auszunutzen. Der Plan schien allerdings nicht aufzugehen, denn der aktuelle Trainingskampf gegen Satif hatte nur wenige Augenblicke gedauert und hatte in der schnellsten Niederlage geendet, die sie jemals erlitten hatte. Höchstwahrscheinlich sogar in der schnellsten Niederlage, die ein Dämonenjäger jemals erlitten hatte.

Sie war wütend auf sich selbst, versuchte jedoch, es zu unterdrücken, um es nicht zu unverhohlen nach Außen zu zeigen. Mit einem knappen Nicken signalisierte sie Satif, dass sie verstanden hatte, und nahm erneut ihre Kampfposition ein. Dieses Mal würde sie sich besser schlagen. Keine Finte, sondern direkt ein riskanter Angriff, um ihm zu zeigen, zu was sie in der Lage ist. Andererseits rechnete er nach seiner Ansprache sicher damit, so dass es dieses Mal das Beste wäre, erneut den Kampf mit einer Finte zu eröffnen.

Sie setzte zu einem hohen Hieb mit dem Schwert an, führte den Hauptangriff hingegen mit dem Pfeil in ihrer linken aus, mit dem sie auf seine Hüfte zielte. Bevor sie ihre Waffe erhoben hatte, durchfuhr ein dumpfer Schmerz ihr Handgelenk, das den Pfeil hielt, da ein Tritt von Satifs schweren Stiefel sie traf. Seine linke Hand ergriff ihren rechten Unterarm und stoppte somit die Finte ihres Schwertes und im selben Moment berührte der Stahl seiner Klinge die weiche Haut an ihrem Hals.

Sie hielten beide augenblicklich inne in ihren Bewegungen und auf dem Gesicht von Satif, dass direkt vor ihrem war, sah sie erneut dieses schelmische Grinsen.

«Ich wusste, dass du es noch einmal auf dieselbe Art versuchen würdest», sagte er mit einem Zwinkern, bevor er die scharfe Klinge von ihrem Hals nahm und einen Schritt zurücktrat. Cerra senkte ebenfalls ihr Schwert und betrachtete ihr Handgelenk. Durch die Handschuhe erkannte sie nichts, aber die Bewegung schmerzte leicht. Nicht genug, um sie in einem Kampf zu behindern, jedoch ausreichend, um sie an ihren Fehler zu erinnern. Erneut nahm sie eine Kampfhaltung ein, um das Training fortzusetzen.

«Euren Eifer in allen Ehren, aber ich glaube das genügt für heute Abend», war die Stimme von Sybell zu hören, die ein Stück entfernt mit den anderen zwei Mitgliedern des Trupps im Gras saß, und in einem Topf etwas zu Essen vorbereitete. Das Feuer darunter kam aus einem kleinen, metallischen Kasten mit einer brennbaren Paste, die keinen Rauch erzeugte und somit ihren Standort nicht preisgab. Der größte Teil der Flamme war innerhalb des Kästchens, so dass ebenfalls das Flackern des Feuers verborgen blieb.

Satif legte seinen Arm um Cerra und klopfte ihr dabei kräftig auf die Schulter. Es war eine freundschaftliche Geste, mit der er sie ein Stück zu sich zog, um in Richtung der anderen zu schlendern.

«Komm, Dämonenjägerin. Ich glaube, wir haben uns beide eine Stärkung verdient. Sybells Eintöpfe sind unter den Dämonenjägern beinahe schon legendär, wenn auch nicht im positiven Sinne.»

Über seinen eigenen Witz lachend, setzte er sich zum Rest des Trupps auf den Boden, und Cerra gesellte sich nur einen Augenblick später zu ihnen. Selbst sie grinste über seinen Scherz. Und nachdem Sybell einen kleinen Stein nach ihm geworfen hatte, der vermutlich ihre Reaktion auf das Urteil ihrer Kochkünste darstellte, sogar noch etwas mehr.

Sie hatte den Trupp, von dem sie seit kurzem ein Mitglied war, gern. Es irritierte sie zwar weiterhin, Dämonenjägerin genannt zu werden, und nicht länger Novizin, doch langsam gewöhnte sie sich daran. Keiner im Trupp behandelte sie, als würde sie nicht hierhergehören. Und zu Beginn und zum Ende jeder Rast trainierte einer von ihnen mit ihr, um sie in die Besonderheiten einzuweisen, die über die Jahre in einer Gruppe entstehen, die gemeinsam viele Schlachten gekämpft hat.

Zusammen saßen sie auf dem Boden um das kleine Feuer herum. Dämonenjäger reisten immer ohne Reittiere, weshalb es wichtig war, das Gepäck so gering wie möglich zu halten. Dadurch war das Leben auf einer Mission recht spartanisch. Keine Sitzgelegenheiten, Kissen oder Decken für die Nacht. Besteck gab es nicht. Nahrung wurde unterwegs gejagt und direkt zubereitet. Gegessen wurde aus kleinen, leichten Holzschüsseln. Der Topf und die Feuerbox wurden im Wechsel getragen. Dadurch kamen sie schnell und ungesehen voran, aber es war doch eine große Umstellung nach all den Jahren im Kloster.

Sap, ein weiteres Mitglied des Trupps, der zu ihrer linken saß, reichte ihr eine volle Schüssel von dem Essen. Er dampfte, roch aber nicht übermäßig schmackhaft. Gewürze waren ein Luxus, den sie auf ihrer Mission nicht hatten, und so schmeckte der sogenannte Eintopf eher wie eine dünne, ungewürzte Fleischbrühe, in der ein paar Kräuter schwammen, die in der näheren Umgebung gewachsen waren.

Der fehlende Geschmack hielt sie jedoch nicht davon ab, die Schüssel voller Vorfreude an ihre Lippen zu setzen und die heiße Flüssigkeit zu genießen. Vor zwei Tagen waren sie vom Kloster aus aufgebrochen und die ganze Nacht sowie den darauffolgenden Tag ohne Pause in Richtung Südwesten gereist. Mit Einbruch der Dunkelheit hatten sie dann eine Rast eingelegt, nur um kurz vor Mitternacht erneut aufzubrechen. Die Sonne versank bereits wieder im Westen hinter den fernen Bergen. Und sie bezweifelte, dass die Rast in dieser Nacht länger ausfallen würde.

«Versucht etwas zu schlafen. Cerra und ich werden die erste Wache übernehmen. Um Mitternacht geht es weiter und wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, werden wir nach ungefähr einer Stunde die Grenze zum verdorbenen Land erreichen. Ich möchte die Dunkelheit nutzen, um möglichst weit ins Innere vorzudringen.»

Jeder aus dem Trupp nickte zu Sybells Worten und leerte zügig die kleine Schüssel, bevor sie ihre Umhänge zusammenrollten, und diese somit zu provisorische Kopfkissen formten. Cerra hatte es mit dem Essen nicht so eilig, da sie ihre Wache einige Stunden von dem benötigten Schlaf abhalten würde. Trotz allem war sie kurz darauf ebenfalls fertig und verstaute ihre Schale, bevor sie die wenigen Schritte zu Sybell schlenderte, die sich abseits des Trupps ins Gras gesetzt hatte. Cerra setzte sich mit dem Rücken an ihren, wodurch sich ihnen die Gelegenheit eröffnete, sich entspannt zurückzulehnen. Einige Zeit hielten beide schweigend Ausschau nach möglichen Gefahren, aber es war bis auf ein paar wenige Vögel erstaunlich friedlich.

«Morgen werden wir die verdorbenen Lande erreichen. Ich nehme an, du kennst diese bisher nur aus Erzählungen?»

Die Frage von Sybell überraschte Cerra. Normalweise war es nicht üblich, sich bei einer Wache zu unterhalten, schon allein um die anderen nicht bei ihrem wenigen Schlaf zu stören. Die Truppführerin sprach allerdings leise und hatte sich in einigem Abstand zum restlichen Trupp platziert. Offenbar hatte sie bereits bei der Wacheinteilung geplant, mit ihr zu sprechen.

«Das ist richtig», erwiderte Cerra nach wenigen Atemzügen. «Die Ausbilder haben davon erzählt, und einige der Priester haben erklärt, wie sie vermuten, dass das verdorbene Land entstanden ist. Aber selbst gesehen habe ich es noch nicht.»

Sie sprach ebenfalls leise bei ihrer Antwort, ohne den Kopf zu drehen. Die Umgebung vor ihr im Auge zu behalten, hatte für sie Priorität.

Von Sybell kam lange Zeit keine Reaktion, so dass Cerra davon ausging, das Thema wäre erledigt. Nach einer ausgedehnten Pause fuhr sie kurz darauf überraschenderweise doch fort.

«Dann ist dir das Wichtigste mit Sicherheit bereits bekannt. Aber trotz allem möchte ich dir sagen, dass die Erzählungen dich nicht vollständig darauf vorbereiten können. Das verdorbene Land entstand, nachdem die erste Welle der Kreaturen die Belagerer vernichtet hatten. Auf dieser Erde gab es Leid und Zerstörung, wie niemals zuvor. Das Land erinnert sich daran und scheint den Tod beinahe auszuatmen. Man kann das Böse und die Dunkelheit dort förmlich spüren. Sie kriecht in deine Knochen und frisst an deinem Geist, während sich unsere Feinde daran zu laben scheinen.»

Sybell unterbrach ihre Ausführung und erneut legte sich Schweigen über die aufziehende Nacht. Cerra hatte aufmerksam zugehört und zweifelte nicht an den Worten der Truppführerin. Da ihr darauf keine angemessene Erwiderung einfiel, entschied sie sich für ein stummes Nicken.

«Wenn wir dort in einen Kampf verwickelt werden, wovon auszugehen ist, dann sei vorsichtig. Die Kreaturen sind in den verdorbenen Landen schneller und wilder, so dass ein riskantes Manöver deinen Tod bedeuten könnte. Lass dich nicht von den anderen trennen und achte darauf, immer jemanden im Rücken zu haben. Und, und dass ich vielleicht sogar das Wichtigste von allem, fokussiere deine Gedanken auf etwas, dass dir Kraft gibt. Einen Grund, weiterzumachen. Andernfalls wird die Verzweiflung langsam von dir Besitz ergreifen. Eine Lethargie, die dich letztlich wie eine seelenlose Hülle umherwandern lassen wird, bis du von einer der Kreaturen zerfleischt oder sogar in die Stadt der Dunkelheit verschleppt wirst.»

Cerra hatte von diesen Seelenlosen gehört, wie die Priester sie nannten. Ihr Körper lebte, doch die Seele war gestorben oder sogar zerstört. Diese mitleiderregenden Kreaturen befolgten jedes Kommando, unabhängig davon, von wem es kam. Und sofern niemand ihnen auftrug zu Essen oder zu Trinken, starben sie, ohne zu klagen. Sie hatte nicht vor auf diese Art zu sterben, weshalb sie erneut entschieden nickte.

«Ich habe nicht vor, als Seelenlose zu enden. Und ich habe etwas, auf dass ich meine Gedanken fokussieren kann.»

Ihre Stimme klang bestimm beim Sprechen. Cerra rief sich ihre Familie und das Haus, in dem sie aufgewachsen war, in Erinnerung. Sie hatte nie erfahren, welches Schicksal ihren Eltern zuteilgeworden war. Eine Gruppe der Ritter von Ridun hatte seinerzeit den Rauch gesehen und das kleine Mädchen, das sie damals war, in den Ruinen entdeckt. Von ihren Eltern und Geschwistern hatte jede Spur gefehlt. Die Leichen blieben verschwunden, was nicht unüblich war, bei manchen der Kreaturen der Dunkelheit.

«Gut, aber ich hoffe, es ist mehr als nur Hass oder der Durst nach Rache», hörte sie die Stimme von Sybell und wurde dadurch aus ihren Gedanken gerissen. «Vater Sisirion hat mir mitgeteilt, dass er deine Beweggründe größtenteils in der Suche nach Vergeltung sieht, und dass bietet leider nicht viel Schutz gegen die Verderbnis des verdorbenen Landes. Du benötigst etwas, dass dich am Leben hält. Rache ist nur einer von vielen Wegen in den Tod.»

Dieses Mal war es Cerra, die lange Zeit nicht antwortete. Für einen Moment war sie zornig auf Sisi, dass er hinter ihrem Rücken mit Sybell über sie gesprochen hatte, aber sie erkannte, dass er nur aus Sorge und um sie zu schützen so gehandelt hatte. Doch das änderte nichts daran, dass ihr Zorn und ihre Rache nun einmal ihr Beweggrund waren, an der Seite der Dämonenjäger zu kämpfen. Schließlich war es schwer möglich, innerhalb weniger Stunden ihre innere Einstellung zu ändern.

«Denk daran, dass du nun Teil dieses Trupps bist. Welche Schmerzen und Verluste du in deiner Vergangenheit auch ertragen musstest, so hast du nun etwas Neues gefunden. Ich sehe großes Potential in dir. Zumindest sofern es dir gelingt, irgendetwas zu finden, wofür du bereit bist zu leben, und nicht nur etwas, dass dir als Grund dient, dafür zu sterben.»

Beim Zuhören presste sie die Lippen zusammen. Die Worte erreichten einen Teil von ihr, den sie über Jahren weggesperrt hatte. Seit dem Verlust ihrer Eltern hatte sie niemanden mehr an sich herangelassen und sich rein auf ihre Rache konzentriert in dem Wissen, dass sie auf der Suche nach jener eines Tages sterben würde. Sie hatte sich damit abgefunden, und ihren Zorn auf all die dunklen Kreaturen gerichtet. Doch die Worte ihrer Truppführerin ließen sie einen Teil in ihr erkennen, für den es notwendig wäre, sich etwas mehr dem Leben zu öffnen. Seit Jahren hatte sie darauf hingearbeitete, Mitglied eines Trupps zu werden, doch ausgelöst durch Sybells Worte erkannte sie, dass sie das nur gewollt hatte, um endlich Rache zu nehmen. Nicht um gemeinsam mit dem Trupp zu kämpfen.

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und aus Angst, dass ihre Stimme dünn klänge, nickte sie ein weiteres Mal nur. Für einen Augenblick drehte sie den Kopf und spähte zu den anderen Dämonenjägern hinüber. Jeder von ihnen verließ sich im Kampf auf sie. Bevor sie die Zeit fand, diesem Gedanken weiter nachzugehen, sprach Sybell erneut.

«Mach dir keinen Vorwurf deshalb. Die meisten, die sich uns anschließen, tun es aus diesen Gründen. Und das ist auch nicht verwerflich. Es dauert unterschiedlich lange, bis sie erkennen, dass es mehr gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Dieser Trupp ist für mich wie eine Familie. Früher oder später würdest du es sicher selbst bemerken, aber leider hast du nicht die Zeit dafür. Deine erste Mission führt dich bereits ins verdorbene Land, möglicherweise sogar in die Stadt der Dunkelheit. Daher nutze die dir noch bleibenden Stunden, um über das nachzudenken, was ich dir gesagt habe. Sei bereit zu sterben, aber finde trotz allem einen Grund zu leben.»

Cerra hörte jedem ihrer Worte genau zu. Sie verstand, worauf Sybell hinauswollte, und trotzdem stieg ein irrationaler Trotz in ihr auf. Sie verlangte von ihr, dass sie ihr Weltbild veränderte. Dass sie ihren Schwur, den sie vor über zehn Jahren sich selbst gegeben hatte, brach.

Schmollend betrachtete sie die untergehende Sonne. Sybell sprach nicht weiter und schien ebenso nicht mit einer Antwort zu rechnen, so dass Cerra mit ihren Gedanken allein war. Und je länger sie über ihre Beweggründe nachdachte, desto mehr gestand sie sich ein, dass sie egoistisch waren.

Rache suchen und dabei sterben stellte die augenscheinlichste Option dar. Doch in diesem Fall wäre sie nur eine weitere Dämonenjägerin, die nicht von ihrer ersten Mission zurückkehren würde. Vermutlich würde Sybell in diesem Fall Törn in ihren Trupp aufnehmen.

Sie merkte, wie sie mit den Zähnen knirschte und zwang sich hastig, damit aufzuhören. Nein, sie würde nicht eine weitere Novizin sein, die auf der ersten Mission starb. Sie würde ihre Rache bekommen, ohne dabei zu sterben. Es würde länger dauern, aber am Ende wäre es effektiver.

Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und hoffte, dass es ausreichen würde, um der Verzweiflung des verdorbenen Lands zu widerstehen. Mit neuer Entschlossenheit konzentrierte sie sich wieder auf ihre Wache.

ZWEI

Schneehafen

Esgurt

Esgurt setzte den hölzernen Krug kräftig auf dem verdreckten Kneipentisch ab. Das schal schmeckende Bier war das Geld nicht wert, aber Alternativen waren nicht vorhanden. Haldun, der ihm gegenübersaß, starrte hingegen in seinen vollen Krug. Seit über einer Stunde waren sie mittlerweile im sockenlosen Kater und hatten kaum ein Dutzend Worte miteinander gesprochen. Irgendetwas schien den kräftigen Mann zu beschäftigen.

Esgurt hatte nicht vor, nachzufragen. Sie waren befreundet, aber das bezog sich hauptsächlich auf ihre Wächtertätigkeiten, und nicht darauf, dass sie ihre Probleme miteinander erörterten. Und selbst wenn, hätten sie dafür sicher nicht die Taverne von Schneehafen gewählt.

Der Gastraum war zu dieser späten Stunde nicht einmal annähernd halb gefüllt. Neben ihnen waren nur wenige weitere Tische belegt, einer mit zwei der Dorfbewohner, die sich unterhielten, und ein anderer mit vier Bauern, die bei einem Würfeltrinkspiel lautstark lachten und sich amüsierten.

Esgurt mied die meisten Einwohner des kleinen Dorfes, seitdem Alaysha den Dorfvorsitz übernommen hatten. Fast alle von ihnen versuchten, ihr Steine in den Weg zu legen, weshalb die Besucher der Taverne normalerweise nicht in den höchsten Tönen von ihr sprachen. Ihr Name fiel nicht häufig, aber das war auch nicht nötig, wenn sich die Bauern darüber unterhielten, wie viel besser alles zu den Zeiten war, in denen Alayshas Vater gelebt und das Dorf geleitet hatte.

«Ich frage mich immer wieder, warum ich eigentlich hierherkomme», versuchte Esgurt ein weiteres Mal, eine Konversation in Gang zu setzen. «Das Bier schmeckt scheußlich, die Luft ist abgestanden und die Gesellschaft war ebenfalls schon einmal besser.»

«Schätzungsweise nur, weil dir die Alternativen fehlen. Sowohl für den Ort als auch für den Alkohol», erwiderte Haldun und starrte dabei weiter in seinen Bierkrug.

«Wenn es dir hier nicht gefällt, eröffne doch einfach eine eigene Taverne», war die Stimme von Grinny dem Wirt zu hören, der das Gespräch demnach von der Theke aus belauscht hatte. «Ich bin mir sicher, du würdest schnell Kundschaft finden, unter all den vielen Freunden, die du in Schneehafen hast.»

Esgurt entging der spöttische Unterton in seiner Stimme nicht. Das Verhältnis zwischen ihm und den Dorfbewohnern wurde beidseitig von großer Anspannung dominiert. Ihnen war nicht bekannt, dass er Alaysha liebte, aber das war auch nicht nötig. Allein die Tatsache, dass er sie in Diskussionen oftmals verteidigte, anstatt ebenfalls auf sie zu schimpfen, hatte ihn weit von der Dorfgemeinschaft distanziert.

«Vielleicht sollte ich das wirklich machen. Bei dieser Schafspisse, die du als Bier anpreist, würde es sicher leicht sein, die Kundschaft mit Qualität zu überzeugen. Und sofern am Boden vom Krug nicht kleine Goldstückchen schwimmen, wäre ein angemessener Preis sicher ein weiterer Punkt, mit dem ich meine Kundschaft locken könnte.»

Haldun schaute von seinem Bier auf, da er hörte, wie er lauter wurde. Außerdem hatte seine Stimme einen aggressiven Ton angenommen.

«Ganz ruhig, Esgurt», versuchte der Wächter seinen Trinkgesellen zu beruhigen. «Das hier ist nun einmal die einzige Kneipe, und auch wenn das Bier schmeckt wie das Flusswasser am Badetag, so haben wir doch zumindest die Möglichkeit zu trinken.»

Esgurt Reaktion auf Halduns Kommentar bestand aus einem verächtlich Schnauben. Grinny starrte unterdessen herausfordernd von der Theke zu ihm rüber.

«Trotzdem. Hätte er sich früher erlaubt, für solch ein Gesöff diese Preise zu verlangen, hätte man ihn aus dem Dorf geprügelt.»

«Wie wahr», erwiderte Grinny mit einem hämischen Grinsen. «Es scheint beinahe so, als würdest selbst du mit deinem Fliegenhirn langsam erkennen, dass dieses Dorf vor die Hunde geht, seitdem Alaysha sich als Dorfvorsteherin aufspielt.»

Ein Scheppern war zu hören, da er wütend aufstand und dabei den Stuhl umstieß. Er stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und fixierte Grinny mit stechendem Blick.

«Das Dorf geht vor die Hunde, weil egoistischer Dreck wie du nur an seinen eigenen Wohlstand denkt! Was hast du je für Schneehafen getan? Sobald Ärger droht, versteckst du dich in diesem Rattenloch, dass du Gasthaus nennst. Dein einziger Beitrag zur Gemeinschaft ist, dass du den Ruf von Alaysha beschmutzt!»

Haldun saß weiterhin auf seinem Stuhl und streckte besänftigend eine Hand aus, um Esgurts zu ergreifen.

«Beruhig dich, mein Freund. Er ist es nicht wert. Lass dich nicht von ihm reizen.»

Doch weder Esgurt noch Grinny schienen daran Interesse zu haben, das Thema fallenzulassen. Der Wirt stellte den Krug, den er mit einem dreckigen Tuch ausgewischt hatte, zur Seite, und trat hinter der Theke hervor, als wolle er zeigen, dass er keine Angst vor dem größeren Mann hatte.

«Ich glaube, das bekommt unsere geschätzte Lady auch ganz allein hin. Und seien wir doch einmal ehrlich. Wenn ein Strohkopf wie du das Einzige ist, was zwischen mir und einem Angreifer steht, dann bin ich gut damit beraten, mich in Sicherheit zu bringen. Du nennst dich Wächter von Schneehafen, aber du bist ein wandelnder Witz. Wahrscheinlich verbringst du mehr Zeit damit, deinen Bart zu trimmen, als mit dieser lächerlichen Axt am Gürtel zu trainieren. Du bist wie ein Schmetterling. Flatterst durch die Gegend und hältst dich für etwas Besonderes. Doch sollte dich jemand herausfordern, hättest du ihm nichts entgegenzusetzen.»

Esgurts Hände ergriffen im Zorn die Tischplatte, so dass seine Muskeln an den Unterarmen hervortraten. Im Gastraum war es mittlerweile still. Das Klappern der Würfel und die Gespräche waren verstummt. Jeder schien sich auf den Streit zwischen dem Wächter und dem Wirt zu konzentrieren.

«Willst du mich etwa herausfordern? Soll ich dir zeigen was ein Schmetterling mit einem dicken, egoistischen Glatzkopf wie dir anstellen kann?»

Esgurt legte seine rechte Hand auf den Schaft der Axt, die er am Gürtel trug. Er hasste diese primitiven Bauern aus der Tiefe seiner Seele. Nur zu gerne würde er diesem überheblichen, fetten Wirt den Schädel spalten.

«Esgurt, setz dich wieder. Alaysha würde das nicht wollen», flüsterte Haldun dem Wächter zu, weiterhin bemüht, die Situation zu entschärfen. Doch der Angesprochene nahm die Worte gar nicht wahr.

«Vielleicht hofft unser Schönling, Alayshas Bett zu wärmen und selbst der neue Dorfvorsteher zu werden», war der Ruf von dem Tisch, an dem zuvor gewürfelt worden war, zu hören. Der Sprecher, ein Bauer mit dem Namen Hond, gackerte wie ein altes Huhn über seinen eigenen Witz, redlich bemüht die Situation weiter anzustacheln.

«Blödsinn, er hätte doch niemals eine Chance gegen den alten Opa, den sie in ihr Bett nimmt. Wahrscheinlich versucht sie, den tragischen Verlust ihres Vaters zu verarbeiten, in dem sie diesen senilen Opa fickt.»

Grinnys Stimme triefte nur so vor gespieltem Mitleid. Dem ganzen Dorf war bekannt, dass Alaysha und Viktor häufig Zeit miteinander verbrachten, und er oftmals über Nacht blieb. Dolch solch eine offene Beleidigung hatte er bisher nicht gehört. Was die primitiven Bauern tuschelten, war eine Sache. Aber es in der Taverne offen auszusprechen, und das in seiner Anwesenheit, überschritt eine Grenze.

Esgurt verlor die Kontrolle über sich, und warf mit einem wütenden Schrei den Tisch zur Seite. Bevor dieser auf dem Boden aufschlug, zog er seine Axt aus der Lederschlaufe und streckte sie Grinny entgegen. Haldun, der im letzten Moment seinen Bierkrug ergriffen hatte, um ihn vor dem Schicksal, dass der Tisch erlitten hatte zu bewahren, sprang ebenfalls auf und legte beschwichtigend seine Hand auf die Schulter des anderen Mannes.

«Esgurt! Beruhig dich. Du kannst doch in der Taverne niemand mit deiner Waffe bedrohen. Komm mit mir nach draußen!»

Er nahm die Stimme von Haldun nur entfernt wahr. All der Spott und die Häme gegenüber Alaysha, die er seit dem Tod ihres Vaters von den Dorfbewohnern gehört hatte, hatte in diesem Augenblick eine Grenze überschritten und benötigte daher ein Ventil. Er würde diesen undankbaren Bauern eine Lektion erteilen, und der fette, geldgierige Wirt war perfekt dafür geeignet. Wie eine Seuche verbreiteten sich all die üblen Geschichten, die über Alaysha im Umlauf waren von diesem Gastraum aus. Grinny schien es nur darauf anlegen, Zweifel und Zwietracht unter der Bevölkerung zu sähen.

«Vielleicht ist das ja der neue Weg, wie Schneehafen geführt wird? Jeder der etwas gegen die allmächtige Alaysha sagt, wird von ihren Speichelleckern getötet?»

Grinny versuchte noch immer selbstsicher und gelassen zu wirken, wobei er weiterhin gegen den Tresen gelehnt den bewaffneten Mann anstarrte. Aber Esgurt erkannte, dass er seine Muskeln angespannt hatte, bereit dazu jeden Moment zu fliehen. Und auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Diese Anzeichen von Angst bei dem dicken Mann zu sehen, ließ ein gehässiges Grinsen auf Esgurts Gesicht erscheinen.

Jemand ergriff den Schaft der Axt, die er weiterhin auf den Wirt gerichtet hielt, und einen Wimpernschlag später trat Haldun zwischen ihn und sein Ziel.

«Esgurt! Komm zu dir. Warum gibst du etwas darauf, was diese Sumpfratte sagt! Du weißt es besser! Lass dich nicht auf eine Ebene mit ihnen ziehen.»

Die Stimme seines Freundes klang fest und entschlossen, aber gleichzeitig verständnisvoll. Ob dies der Grund dafür war, dass es zu ihm durchdrang, wusste er nicht mit Gewissheit. Er entspannte seinen Arm ein wenig, so dass die Axt etwas herabsank. Dieser winzige, aufgeblasene Feigling war es nicht wert, dass er Schwierigkeiten bekommen würde. Darin stimmte er Haldun zu.

«Und wieder ist sich der kleine Schmetterling zu fein, um etwas zu unternehmen», war Honds Stimme von der Seite zu hören. Der Bauer war inzwischen aufgestanden und nähergetreten, um alles besser zu sehen. Doch nun stand er da und wedelte in einem lächerlichen Versuch, den zuvor erwähnten Schmetterling zu imitieren mit den Armen und drehte sich im Kreis. Sein stinkender Atem sowie sein ungepflegtes Äußeres ließen einen Brechreiz in Esgurt aufsteigen. Ohne dass er es selbst bemerkte, ballte er die linke Hand zur Faust, und nachdem der Bauer lachend eine weitere seiner lächerlichen Drehungen beendet hatte, hämmerte er ihm diese mit voller Kraft zwischen die Augen.

Er hörte das Knacken der getroffenen Nase. Im selben Augenblick berührte etwas Warmes seine Hand und nur einen Moment später ebenfalls sein Gesicht. Reflexartig kniff er die Augen zusammen, als das Blut seine Haut besprenkelte. Trotz allem stoppte er den Schlag nicht und zog ihn bis zum Ende durch. Das Lachen von Hond erstarb und wurde durch ein gurgelndes Grunzen ersetzt, wohingegen die restlichen Besucher von einem auf den anderen Moment verstummten.

Haldun drehte ebenfalls erschrocken seinen Kopf in Richtung des Getroffenen. Sein Gesicht sowie seine Kleidung hatten vereinzelte Spritzer Blut abbekommen. Seine Hand hielt weiterhin den rechten Arm von Esgurt umgriffen. Doch er sagte kein Wort und starrte den Bauern nur reglos an, wobei dieser mit blutüberströmtem Gesicht nach hinten kippte.

Ein Tisch im Gastraum verhinderte, dass er sofort zu Boden fiel. Durch das Hindernis drehte es ihn einmal zur Hälfte um die eigene Achse, so dass er letztlich mit dem Gesicht voraus, wie ein Stein auf dem schmutzigen Holzboden aufschlug und reglos liegen blieb.

«Bärchen!»

Der erschrockene Schrei einer Frau war durch den Gastraum zu hören, gefolgt vom Poltern eines weiteren Stuhls, der zu Boden fiel. Esgurt erkannte Hindi, die Frau von Hond, die mir einem panischen Gesichtsausdruck auf ihren Mann zu rannte. Hond und Hindi. Er hatte die Namenskombination dieser beiden immer lustig gefunden. Außerdem sahen sie ebenso dämlich aus, wie ihre Namen klangen.

Etwas verwirrt, dass ihm das in diesem Moment auffiel, schüttelte er den Kopf, bevor er versuchte, sich mit der linken das Blut aus dem Gesicht zu wischen, mit dem Ergebnis, dass er es nur zusätzlich darauf verteilte.

«… vollkommen den Verstand verloren?»

Erst nach einigen Augenblicken fiel ihm auf, dass Haldun ihn anbrüllte. Schrie er schon lange?

Von einem Moment auf den anderen wurde ihm klar, was passiert war. Er sah Hindi, die verzweifelt versuchte, ihren Mann auf den Rücken zu drehen. Hond, der weiterhin reglos auf dem Boden lag, in einer Lache aus Blut, die sich unter seinem Gesicht gebildet hatte. Die offene Tavernentür, aus der vermutlich, die restlichen Gäste geflüchtet waren, nachdem er den Bauern geschlagen hatte. Und Grinny, der zitternd wie eine Flagge im Sturm hinter den Tresen gesprungen war, und ein rostiges Brotmesser in seine Richtung hielt.

Langsam öffnete er seine zur Faust geballten Hand. Hindi starrte zu ihm auf und schrie jetzt ebenfalls. Bei ihr war es ein Schrei voller Hass und Zorn, bevor sie aufsprang, um wütend mit ihren Fäusten auf Esgurts Brust einzuhämmern.

«Ich bete zu den Göttern, dass dich die Kreaturen in die Stadt der Dunkelheit verschleppen! Endlose Qualen sollst du brutaler, nutzloser Schläger dort spüren! Alaysha wird hiervon erfahren! Das verspreche ich dir!»

Esgurt bemerkte die Fausthiebe der Frau nahezu überhaupt nicht. Sie war nicht übermäßig kräftig. Ihre Arme bestanden zum größten Teil aus schwabbeligem Fett und nicht aus Muskeln, so dass er nicht auf ihr Gekreische reagierte, bis sie Alaysha erwähnte. Dies ließ ihn ein weiteres Mal die Fassung verlieren, und er stieß sie mit beiden Händen von sich weg, so dass sie rückwärts über ihren Ehemann stolperte und ebenfalls zu Boden fiel.

«Ach ja? Ich dachte, ihr bräuchtet sie nicht und sie wäre eine Witzfigur ohne Recht, Schneehafen vorzustehen. Waren das nicht eure Worte? Aber jetzt willst du zu ihr kriechen? Du bist sogar noch erbärmlicher, als ich es in Erinnerung hatte. Würde mein Pflichtgefühl gegenüber Alaysha mich nicht hier halten, wärt ihr alle schon lange auf euch allein gestellt. Ich würde den Kreaturen der Dunkelheit sogar noch mit Freuden den Weg zu dir und deinem Mann weisen, damit sie euch von euren erbärmlichen Leben erlösen könnten!»

Voller Zorn riss er sich von Haldun los und steuerte die Tür an. Er warf dabei keinen Blick mehr in Richtung der Verwundeten. Es scherte ihn nicht, ob einer oder sogar beide von ihnen ernsthaft verletzt waren. Seinetwegen könnten sie auf dem verdreckten Tavernenboden verrecken. Schneehafen und Alaysha wäre ohne sie besser dran.

Die Gasthaustür stand glücklicherweise von den flüchtenden Dorfbewohnern offen, so dass er den Gastraum, ohne innezuhalten, verließ. Er stampfte die zwei kleinen Stufen hinab und atmete erst einmal tief durch, um den Gestank der Taverne aus der Nase zu bekommen. Kurz darauf, ohne Vorwarnung, schrie er seinen Zorn in einem langen, lauten Schrei in die abendliche Dunkelheit.

«… einen Heiler», hörte Esgurt Wortreste von Haldun hinter sich. Wen er damit meinte, kümmerte ihn nicht. Im Moment war ihm alles egal.

Aus der Taverne hörte er schwere Schritte und einen kurzen Augenblick später wurde er unsanft an seinem rechten Arm gepackt. Er erkannte die Statur von Haldun und versuchte sich loszureißen, doch der andere Mann ließ nicht los, sondern zog ihn weiter hinter sich her.

«Mitkommen», war das einzige Wort, das er dabei sagte. Und obwohl es ruhig klang, erkannte er den Ernst und die Kälte in der Stimme und dass er Widerworte nicht akzeptieren würde.

Etwas widerwillig folgte er Haldun in die Dunkelheit. Er führte ihn an den Stallungen vorbei an das Ufer des Flusses. Im selben Moment, in dem er zum Nachfragen ansetzte, wohin er ihn führe, wurde er von Haldun grob nach vorne gestoßen. Ein recht unsanfter Tritt in seinen Hintern folgte, der ihn ins Stolpern brachte, so dass er mit dem Gesicht voraus in das eisige Wasser fiel.

Er taucht kurz unter und die Kälte traf ihn wie eine Faust. Schnellstmöglich hob er seinen Kopf, um wieder aus der eisigen Flut zu bekommen. Er japst nach Luft und setzte zu einem unkeuschen Fluch an, doch bevor er das erste Wort davon gesprochen hatte, wurde sein Kopf ein weiteres Mal unsanft unter die Wasseroberfläche gedrückt. Gedämpft hörte er einige äußerst kreative Flüche von Haldun, bevor es wieder still wurde, und kaltes Flusswasser in seine Ohren strömt.

Er wehrte sich gegen den anderen Mann, doch nachdem dieser zusätzlich ein Knie auf seinen Rücken drückte, hatte er der Kraft nichts mehr entgegensetzen. Er zappelt und versuchte um sich schlagend, seinen Kopf aus dem Wasser zu bekommen. Aber es war zwecklos. Seine Lungen bettelten mit brennenden Schmerzen nach Sauerstoff und nur einen Wimpernschlag, bevor er den Mund zum Einatmen geöffnet hätte, wurde er an den Haaren nach oben gezogen.

Keuchend zog er frische Luft in seine Lungen und stützte sich mit seinen Händen in dem kalten Flusswasser ab, in der Hoffnung auf diese Art ein weiteres ungewolltes Eintauchen zu verhindern.

« … nicht hohl, sondern allem Anschein nach voll mit Scheiße!», vernahm er das Fluchen von Haldun. Weiterhin tief luftholend stieg in ihm der Eindruck auf, dass es besser war, den Anfang nicht mitbekommen zu haben. Ein weiterer Tritt folgte dem ersten, doch dieses Mal kam er von der Seite und traf ihn ein Stück unterhalb der Rippen. Er grunzte vor Schmerz und landete erneut im kalten Flusswasser, dieses Mal auf dem Rücken.

«Jetzt hör auf mit der Scheiße!», schrie er Haldun entgegen und hob abwehrend seine Hände. Der Zorn im Gesicht des anderen Wächters verursachte ein ungutes Gefühl in seinem Bauch. Er bereitete sich auf einen erneuten Angriff von ihm vor, doch anstatt zuzuschlagen, trat er voller Zorn in das eisige Flusswasser, so dass sich ein Schwall davon über ihn ergoss. Mit wutverzerrtem Gesicht lief er im Wasser auf und ab und schrie ihn dabei an.

«Warum sollte ich? Dein Fliegenhirn ist doch allem Anschein nach auch der Meinung, dass es in Ordnung ist, andere Menschen tot zu prügeln? Warum habe ich dann nicht dasselbe Recht? Außerdem würde es vielleicht helfen, die anderen ein wenig zu besänftigen. Würde ich dann noch behaupten, ich hätte es im Auftrag von Alaysha getan, würde deine Dummheit vielleicht noch einer guten Sache dienen!»

Esgurt war erschrocken von dem Zorn in der Stimme des anderen Mannes. Nie zuvor hatte er solch eine Wut bei ihm gesehen.

«Haldun, beruhig dich! Lass die Pferde auf der Weide. Todja wird sich um Hond kümmern …»

«Du verstehst es nicht, oder? Es geht nicht darum, dass er wieder gesund wird! Es geht darum, dass deine Aktion direkt mit Alaysha in Verbindung gebracht werden wird. Und während du dich selbst als ruhmreichen Schläger siehst, der ihre Ehre verteidigt, ist es für die anderen nur ein weiteres Zeichen für Alayshas Schwäche! Das die Wächter von Schneehafen jeden, der etwas gegen sie sagt, zu Tode prügeln, bietet ihnen einen ausgezeichneten Vorwand, schon sehr bald aktiv gegen sie vorzugehen! Dann wird es nicht länger nur dummes Geschwätz in der Taverne sein.»

Esgurt Reaktion auf Halduns Worte bestand aus einem trockenen Schlucken. Der andere Mann sprach normalerweise nicht viel, weshalb ihn dieser Redefluss überraschte. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, erkannte er, dass Haldun mit seinen Worten recht hatte. Er ließ die Hände sinken und versuchte, nach einer angemessenen Antwort zu suchen. Trotz der Mühen fiel ihm nichts Passendes ein, weshalb er nur schweigend im Wasser saß, und Haldun beim Auf und Ab stampfen beobachte.

«Vielleicht … wenn ich Hond …», sagte er, ohne genau zu wissen, wie er den Satz beenden würde. Aber er kam gar nicht so weit, dass er ein Ende benötigte, da ihn Haldun erneut unterbrach.

«Du wirst dich von Hond und seiner Frau fernhalten! Zumindest für die nächsten Wochen, bis es sich ein wenig beruhigt hat. Würde es nach mir gehen, würde ich dich auf eine Mission in den Süden schicken, damit du gar nicht mehr gesehen wirst von den anderen. Aber dann wäre ich der Einzige, der auf Alaysha aufpassen würde, weshalb du wohl oder übel hierbleiben musst, und dich unauffällig verhältst.»

Esgurts Antwort bestand aus einem Nicken. Haldun hatte nicht unrecht. Im sockenlosen Kater würde er sich für den Rest der Mondphase besser nicht mehr sehen lassen.

«Ich … geh dann mal nach Hause und zieh etwas Trockenes an …», murmelte er halb zu sich selbst, aber ebenso zu Haldun, in einer Art Frage um Erlaubnis. Dieser starrte ihn daraufhin für einige Momente an, nachdem er endlich stehengeblieben war.

«Gute Idee. Und sofern das Dorf nicht angegriffen wird oder dein Haus anfängt zu brennen, bleibst du dort für die nächsten Tage!»

Haldun wartete nicht die Antwort von ihm ab, sondern stampfte zügigen Schrittes davon. Esgurt starrte ihm ungläubig hinterher. Es vergingen einige Momente, bevor er aufstand und zitternd vor Kälte in Richtung seines Hauses eilte.

DREI

Die Halle der Weisheit

Niria

Die Sonne starrte wie das brennende Auge einer lauernden Bestie zwischen den Berggipfeln im Westen hervor. Die letzten Strahlen fielen in einem flachen Winkel auf das ebene Land und schenkte selbst dem kleinsten Baum einen gigantischen Schatten.

Die Gebäude der Halle der Weisheit vor ihr wurden von diesem Licht beschienen und erstrahlen in einem klaren weiß. Die Kontur des großen Turms reichte bis zu dem Hügel, auf dem Niria stand. Sie trug wieder rein die Kleidung einer Magieschülerin. Das Schwert hatte sie vor wenigen Stunden in seinem angestammten Versteck in den Ruinen einer alten Gaststätte versteckt.

Dort lag es, seit Beginn ihrer Ausbildung bei der Halle der Weisheit. Oder war Mission der bessere Begriff dafür? Sie hatte keinerlei magische Kräfte, und somit war sie nicht in der Lage von den Magiern etwas zu lernen. Dies erschwerte ihre tatsächliche Aufgabe zusätzlich. Es wurden nur wenige Informationen mit einer unbegabten Magieschülerin geteilt. Zumindest keine Neuigkeiten, die nicht grundsätzlich öffentlich zugänglich wären. Und trotz allem gab sie jeden Tag ihr Bestes. In einem Rahmen, der ihre tatsächliche Tätigkeit nicht aufdeckte.

Nun, da sie die Türme und Hallen vor sich sah, bemerkte sie ein weiteres Mal, wie ausgeprägt ihre Abscheu gegenüber diesem Ort war. All diese überheblichen Magier, die sich aufgrund ihrer Macht für etwas Besonderes hielten. Dabei war der Großteil von ihnen nicht einmal in der Lage, eine Kerze zu entzünden oder eine Tür zu öffnen, ohne wie jeder andere Mensch ihre Hände dafür zu benutzen.

In den meisten Fällen war Magie schwach und absolut nutzlos. Nur die Wenigsten innerhalb der Halle der Weisheit waren in der Lage mit ihren magischen Kräften etwas zu bewirken. Und doch waren es diese Magier, die ihr ihren ungerechtfertigten Ruf verschafft hatten.

Bei der Verteidigung verließen sie sich auf ihre verstärkten Mauern und die über viele Mondphasen vorbereiteten Sprüche. Natürlich schreckte es Angreifer ab, wenn ein Kettenblitz ein halbes Dutzend Krieger innerhalb eines Wimpernschlags zu Asche zerfallen ließ. Aber nur weil es nicht öffentlich bekannt war, dass die Energie für diesen Angriff über etliche Mondphasen hinweg in den Gipfeln der westlichen Berge fokussiert, kanalisiert und letztlich zur Halle der Weisheit transportiert worden war. Tag und Nacht wurden diese Zauber von den magiebegabten Mitgliedern bereitgehalten, denn nur ein einziger Augenblick der Unaufmerksamkeit würde die geformte Magie sich verflüchtigen lassen.

Wie viele dieser Zauber vorbereitet auf ihren Einsatz warteten, war streng geheim. Die Aufgabeneinteilung der magisch begabten Mitglieder gab hier nur einen groben Anhaltspunkt. Niria vermutete, dass mindestens zwei Magier zu jeder Zeit für einen der Sprüche zuständig waren. Dadurch könnten sie die Kontrolle über die fokussierten Kräfte behalten, selbst wenn einer der Magier einschlief oder anderweitig ausgeschalten wurde.

Bei achtzehn jeweils gleichzeitig eingeteilten Magiern ergab dies gerade einmal neun Sprüche. Es war sogar durchaus möglich, dass sie sich auf Grund der immensen Vorbereitungen, die für einen einzigen Zauber nötig waren, mit drei magiebegabten Mitgliedern für denselben Spruch absicherten. Dann wären es sogar nur sechs Angriffe, die bei der Verteidigung eingesetzt werden könnten.

Aber unabhängig davon, ob ein halbes Dutzend oder sogar achtzehn. Die Hauptverteidigung der Halle der Weisheit bestand eindeutig in ihrem Ruf. Dies war einer der Gründe, warum sie bisher nicht aus ihr verbannt worden war. Sofern nur die Chance in Aussicht stand, dass jemand in der Lage war, die Nutzung von Magie zu erlernen, wurde alles versucht, um diese Gabe zu erwecken. Selbst wenn es Jahre dauerte. Denn unabhängig davon, ob die Person jemals einen nützlichen Zauber zustande bringen würde, wäre es dennoch möglich, sie einzusetzen, um vorbereitete Magie zu halten.

Bei ihr hingegen würde das nie passieren. Zumindest sofern sie nicht irgendein sagenhaftes Talent besaß, von dem sie nichts ahnte. Somit war sie aktuell, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, in einer Box mit nur einem Ausgang gefangen. Und dieser Ausgang wurde von einer Horde Magier belagert, die sie nicht aus den Augen ließen.

Sie setzte sich wieder in Bewegung und schritt auf die imposanten Bauwerke zu. Nicht mehr lange und eine Horde Ausbilder würde sich auf sie stürzen, um zu erfahren, ob ihre Reise in irgendeiner Form Erkenntnisse gebracht hatte. Ob sie Magie empfunden hatte. Oder gar gelenkt. Bewusst ergriffen und geformt. Und ein weiteres Mal würde sie alle enttäuschen.

Sie würde dieses Mal keine Geschichten von ungewolltem Magieeinsatz erzählen. Das Risiko, sich in Widersprüche zu verstricken, war mittlerweile zu groß. Da ertrug sie lieber die enttäuschten Blicke.

Bizur

Bizur starrt der Reihe nach in die Gesichter der drei weiteren Ratsmitglieder im Raum. Er lächelte ihnen dankbar zu, selbst wenn die getroffene Entscheidung die einzig logische dargestellt hatte. Alles andere hätte ihn überrascht, aber bei der Politik innerhalb der Halle bestand immer ein Restrisiko.

«Vielen Dank, geehrter Hoher Rat. Es wird mir eine Freude und Ehre sein, die Leitung der Halle der Weisheit im inneren des Götterwalls zu übernehmen, bis Omnimagus Belgarin zurückkehrt, ich diesem Posten nicht mehr gerecht werde, oder ein würdigerer Anwärter für die Position gefunden wird.»

Die Worte klangen geschwollen und unangebracht in seinen Ohren, doch es gab ein Protokoll, an das er sich zu halten hatte. Die anderen Magier beugten zustimmend und demütig ihre Köpfe. Beglückwünschungen oder gar offener Jubel waren im Hohen Rat nicht angebracht und hätten ebenfalls gegen das alte Protokoll für solch Situationen verstoßen.

«Da wir von einer Rückkehr des Omnimagus ausgehen, werde ich bis auf weiteres darauf verzichten, den fünften Platz in unserer Runde zu besetzen. Vielmehr bitte ich euch, in dieser Zeit auf mein Wort zu vertrauen, so dass wir bei einem Gleichstand bei Abstimmungen meine Stimme als die Entscheidende betrachten. Dies ist konform mit der Ratsordnung, nach der bei einem Unentschieden der Sitzungsführer die ausschlaggebende Stimme hat.»

Bizur bemühte sich, die Worte möglichst sachlich und emotionslos auszusprechen. Dieses Mal gab es ein kurzes Zögern bei den anderen, doch letztlich beugten sie erneut ihre Köpfe. Diese Anweisung war etwas ungewöhnlich, aber da sie ihn zuvor einstimmig zum neuen Oberhaupt des Rates gewählt hatten, war es nicht möglich, zu widersprechen. Der Sitzungsführer wurde in jeder Sitzung vom Ratsoberhaupt ernannt, und indirekt glich seine Bekanntgabe einer permanenten Ernennung seiner selbst.

«Kommen wir nun zum ersten Tagespunkt. Die Einladung der Ritter dürfte mittlerweile jeder von euch gelesen haben», sagte er in die Runde, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Zwei der Ratsmitglieder nickten, nur Jeldara blieb regungslos sitzen. Von ihr wusste er, dass sie das Schreiben kannte, da er bei der Entgegennahme dabei war.

«Ich bin der Meinung, die Halle der Weisheit sollte sich an diesem Treffen nicht beteiligen.»

Seine Worte sorgten deutlich für Überraschung, denn selbst wenn keiner etwas sagte, waren die Gesichtsausdrücke eindeutig.

«Zwischen den Zeilen ist augenfällig zu lesen, dass Kommandant Wardorf keinerlei Neuigkeiten über das aktuelle Vorgehen hat. Daher würde das Treffen nur ihm etwas nutzen. Im Gegenzug würden wir die Halle teilweise ihrem Schutz berauben. Ich bin nicht bereit, diesen Ort zu riskieren, um den Rittern Informationen zu bringen.»

Er faltete seine Hände und legte sie auf den Tisch, wobei er die anderen betrachtete. «Oder gibt es abweichende Meinungen?»

Es war Gutar, der Magier zu seiner Rechten, der zuerst sprach und damit den restlichen Ratsmitgliedern zuvorkam, die ebenso zu Sprechen beabsichtigten.

«Ich möchte Bizur vollkommen zustimmen. Für mich klingt diese Einladung ebenfalls nach einer egoistischen Art der Informationsgewinnung. Die Ritter waren im Kampf noch nie eine große Hilfe, und sollten wir ihrer Einladung nachkommen, würden sie im nächsten Schritt sicher unsere Stärke verlangen. Wenn sie einen Informationsaustausch möchten, sollen sie hierher kommen.»

Gutar verschränkte seine Arme vor der Brust, nachdem er gesprochen hatte. Eine eindeutige Geste, dass er nicht von seiner Ansicht abrücken würde. Damit war die Sache schon entschieden. Selbst wenn die restlichen Mitglieder des Rates eine abweichende Meinung hätten, würde es das Ergebnis nichts verändern.

Jeldara und Gyvera, die beiden anderen anwesenden Ratsmitglieder schauten sich für einen kurzen Augenblick gegenseitig an. Die großgewachsene Frau war die Erste von ihnen, die das Wort ergriff.

«Nun, meine Herren, ich sehe das ein wenig anders. Selbst wenn die Ritter möglicherweise keine neuen Informationen haben, so wird es bei diesem Treffen dennoch einen regen allgemeinen Austausch geben, der in den letzten Mondphasen stetig mehr vernachlässigt wurde. Eine Zusammenkunft ergibt Sinn, um alle auf den neuesten Stand zu bringen. Und selbst wenn es keine Neuigkeiten geben sollte, würden wir zumindest zeigen, dass wir an der Seite der anderen Verbliebenen stehen. Ein Fernbleiben erweckt möglicherweise den Eindruck, wir wollten uns separieren.»

Bizur winkte ihre Anmerkungen lapidar zur Seite, doch bevor er die Chance erhielt, etwas zu erwidern, ergriff Gyvera das Wort.

«Ich sehe die Situation wie Ratsfrau Jeldara. Es ist denkbar, dass andere Gruppierungen neue Informationen beisteuern, die wir bei einer Abwesenheit verpassen würden. Sei es nun vom Kloster, oder der dort ansässigen Dämonenjägern. Unter Umständen schickt die Frostwacht ebenfalls eine Delegation. Das Verhältnis zwischen ihnen und den Rittern war stets gut. Vielleicht kann dieses Treffen den schleichenden Rückzug von ihnen stoppen, so dass wieder ein Dialog entsteht.»

Gyvera faltete ihre Hände, legte sie vor sich auf dem Tisch ab und betrachtete die beiden Männer eindringlich. Bizur zwang sich ebenfalls, den Blick über die Anwesenden streifen zu lassen und so den Eindruck zu erwecken, er würde das Gehörte nachdenken.

«Dann haben wir aktuell einen Gleichstand. Sofern keiner seine Meinung aufgrund des Gesagten ändern möchte, wäre somit entschieden, dass wir nicht an der Versammlung teilnehmen.»

Die beiden Frauen richteten ihren Blick auf Gutar, der seinen daraufhin schnell senkte. Aber er sagte kein Wort und blieb demnach bei seiner Entscheidung.

«Damit ist es entschieden. Ich werde eine Nachricht verfassen, um Kommandant Ferdinand über unseren Beschluss zu informieren. Kommen wir direkt zu einem weiteren Anliegen, dass mir schon lange auf dem Herzen liegt und ich gerne einbringen würde. Wie ihr alle wisst, wird die Anzahl an magisch begabten Novizen immer geringer. Wir beherbergen stetig mehr junge Leute, bei denen kein Talent durchgebrochen ist. Diese Schüler und Schülerinnen binden unsere wenigen Magier in häufige, sinnlose Unterrichtseinheiten. Außerdem benötigen sie Raum und Nahrung, ohne dafür Gegenleistung zu erbringen. Wir akzeptieren dies bisher, in der Hoffnung, dass sich Talente entwickeln.»

Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Blick über die Ratsmitglieder wandern zu lassen. Gutar lauschte ihm konzentriert, wohingegen die beiden Frauen ihn mit gerunzelter Stirn betrachteten.

«Meiner Meinung nach ist dies nicht länger tragbar und gefährdet sogar die Halle der Weisheit. Daher möchte ich den Antrag einbringen, dass alle Schülerinnen und Schüler, die bisher nicht in der Lage sind, Magie zu halten, auf die Höfe im Norden verteilt werden. Dort können sie aktiv etwas für die Gemeinschaft leisten. Ein Lehrbuch zum Selbststudium kann gerne mitgenommen werden, aber mehr nicht. Und in der ersten Mondphase jeder Jahreszeit dürfen die Schüler die Halle der Weisheit aufsuchen, um ihre Fortschritte zu demonstrieren. Wer in der Lage ist, Magie zu nutzen, darf bleiben. Und wer nicht, muss zurück auf die Höfe oder sich eine andere Zukunft aufbauen.»

Er sah die fassungslosen Gesichter der beiden Frauen. Er verstand es sogar. Sein Vorschlag war ein Bruch mit alten Traditionen, die länger bestanden, als der Götterwall selbst. Anscheinend hatte der Antrag ihnen die Stimmen geraubt, denn erneut war es Gutar, der zuerst sprach.

«Das sind interessante Gedanken, Bizur. Ich muss zugeben, ich war zu Beginn irritiert über den Vorschlag, aber eure Argumente sind schlüssig. Es würde die Versorgung der Halle der Weisheit eindeutig verbessern. Und sollten Positionen für Bedienstete frei sein, könnten sich diese Schüler und Schülerinnen darauf melden und gegebenenfalls auf diese Art in der Halle der Weisheit bleiben.»

Erneut sah er aus den Augenwinkeln, wie die beiden Frauen sich bei den Worten aufrechter hinsetzten und die Hände auf dem Tisch ablegten. Gutar hatte den letzten Satz kaum beendet, da ergriff Jeldara das Wort.

«Ich bin hier erneut anderer Ansicht, Ratsmitglied Bizur.»

Sie betonte ‹Ratsmitglied›, als wolle sie ihn daran erinnern, dass er die Halle der Weisheit nicht leitet. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort.

«Dies bricht Traditionen, die seit der Gründung bestehen und nicht geändert wurden. Solch eine Entscheidung sollte nicht spontan aus dem Bauch heraus getroffen werden, und vor allem nicht während der Abwesenheit des Omnimagus. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass dies nicht für die Halle der Weisheit innerhalb des Götterwalls alleine entschieden werden kann. Die Abweisung all diese Magieschüler würde und stark schwächen. Selbst wenn nur diejenigen fortgeschickt werden, die bisher nicht in der Lage sind, Magie zu halten, würde die Kunde darüber viele zukünftige Schüler und Schülerinnen davon abhalten, es überhaupt zu versuchen. Diese jungen Menschen möchten Magie erlernen. Eine Kunst, die Zeit benötigt. Und nicht auf einem Hof, Getreide anbauen.»

Es war zu erkennen, dass sie versuchte Emotionen aus ihrer Stimme zu halten, doch ihre Aufregung war deutlich zu hören. Gyvera nickte die ganze Zeit über zustimmend, bevor sie im Anschluss ebenfalls das Wort ergriff.

«Erneut pflichte ich Ratsfrau Jeldara uneingeschränkt bei. Was ihr vorschlagt, wäre damit zu vergleichen, dass die Ritter Rekruten fortschicken, die zu Beginn die Waffenkunst nicht beherrschen. Oder Priester ihre Schüler, wenn sie mit ihren Gebeten noch nicht heilen können. Ihr schlagt vor, dass wir jeden wegschicken, der die Fähigkeiten, die er erlernen möchte, nicht von vornherein besitzt. Entschuldigt Ratsmitglied Bizur, aber das ist Wahnsinn.»

Er wartete einige Momente ab, um den Eindruck zu erwecken, er würde über ihre Worte nachdenken. Dabei nickte er langsam und verständnisvoll. Nach einer erneuten Pause sprach er weiter.

«Ich kann sehen, dass wir bei diesem Thema unterschiedlicher Auffassung sind, und ich kann eure Einwände zum Teil verstehen. Daher würde ich vorschlagen, dass neue Schülerinnen und Schüler eine Mondphase Zeit erhalten, um ihr Können zu zeigen. Offenbart sich in diesen Tagen allerdings keine magische Begabung, müssen auch sie sich entscheiden. Entweder andernorts ihr Glück versuchen, oder die Höfe im Norden unterstützen. Wer unterstützt diesen Antrag?»

Er schaute lächelnd in die Gesichter der anderen Ratsmitglieder. Sein vorgeschlagener Kompromiss kam den beiden Frauen nur minimal entgegen, das war ihm durchaus bewusst. Aber er signalisierte damit Entgegenkommen und zeigte, dass er ihre Meinung respektiere.

Gutar war erneut der Erste von ihnen, der nickte. Jeldara schüttelte nur fassungslos den Kopf und Gyvera folgte ihrem Beispiel einen Augenblick später.

«Dies ist nicht wirklich eine Veränderung des ersten Vorschlags. Die Auswirkungen werden dieselben sein», erwiderte sie und schüttelte dabei den Kopf.

«Nun, die Zeit wird es zeigen. Wenn ich es richtig deute, bleiben alle bei ihrer ursprünglichen Meinung, weshalb dies entschieden wäre. Ich würde euch, Ratsmitglied Gutar, bitten, die entsprechende Bekanntgabe vorzubereiten. Schickt zusätzlich bitte Schreiben an die Höfe im Norden mit der Aufforderung uns mitzuteilen, wir viel Hilfe sie benötigen und beherbergen können, so dass wir eine faire Zuteilung garantieren können.»

Gutar nickte zustimmend zu den Worten von Bizur, wohingegen die beiden Frauen nur irritiert den Kopf schüttelten. Er entschied sich, weiter zu sprechen, bevor eine von ihnen erneut protestierte.

«In Folge des vorherigen Beschlusses komme ich nun zu meinem letzten Anliegen für heute. Da wir durch die Abwesenheit der nicht magisch begabten Schülern und Schülerinnen freie Kapazitäten bei den tatsächlichen Magiern erhalten werden, würde ich vorschlagen, zwei weitere Zauber zur Verteidigung der Halle der Weisheit im Falle eines Angriffs vorzubereiten. Ich dachte dabei an einen Kugelblitz von Yema und der von euch, Ratsfrau Jeldara, theoretisch beschriebenen Frostsphäre. Wärt ihr bereit, diesen Zauber in der Praxis zu erproben und die notwendigen Energien zu sammeln?»

Jeldara runzelte ihre Stirn bei seine, Vorschlag. Es überraschte sie offensichtlich, dass er vorschlug, sie solle ihre theoretische Arbeit in die Praxis umsetzen, weshalb es einige Augenblicke dauerte, bis sie antwortete.

«Nun, Ratsmitglied Bizur, dieses Angebot ehrt mich. Und in normalen Zeiten würde ich diese Möglichkeit dankend ergreifen. Aber durch die Abwesenheit von Omnimagus Belgarin auf unbestimmte Zeit würde dies den Rat auf gerade einmal drei Mitglieder reduzieren. Vielleicht sollten wir damit warten, bis Belgarin zurückgekehrt ist?»

Bizur wischte ihre Bedenken ein weiteres Mal mit einer lässigen Geste zur Seite. Er hatte diese Antwort und sogar die genannten Gründe von ihr erwartet.

«Unsinn, Ratsfrau Jeldara. Der Rat ist auch mit drei Personen noch fähig, Beschlüsse zu fällen, und es würde zusätzlich diese unangenehmen Stimmengleichheiten verhindern. Außerdem wärt ihr nur wenige Wochen fort, sofern alles gut geplant wird. Jeder Magier wäre froh seine eigenen Theorien zu testen. Wenn ihr Erfolg habt, wird der Spruch sogar nach euch benannt. Von dem unbeschreiblichen Vorteil, bei der Verteidigung ganz zu schweigen!»

Jeldara setzte erneut zu einer Erwiderung an, doch Gutar kam ihr zuvor.

«Ich halte es für eine ausgezeichnete Idee. Ich habe eure Abhandlung über die Frostsphäre gelesen und es ist atemberaubend. Sollte es funktionieren, wäre der Nutzen für die Halle der Weisheit enorm. Selbst die Eismagier der Frostwache sind nicht zu dem, was ihr beschrieben habt, in der Lage.»

Jeldara starrte Gutar skeptisch an. Ihr Stirnrunzeln hatte zusätzlich an Tiefe gewonnen und erneut schwieg sie einige Zeit. Gyvera sah schweigend, mit fragendem Blick in ihre Richtung.

«Dann ist die Entscheidung doch sowieso bereits getroffen», antwortete sie leicht patzig ein paar Augenblicke später. «Ihr und Gutar seid euch wieder einig, so dass meine Worte, nur vergeudeter Atem wären.»

Eindeutig aufgebracht stand sie auf und wandte sich von der Gruppe ab. Bevor sie wortlos den Raum verließ, schien sie sich der Etikette zu besinnen und wandte ihren Kopf den anderen Ratsmitgliedern zu.

«Ich fühle mich unwohl und werde nicht zurückziehen. Aber wie ihr bereits festgestellt habt, seid ihr auch ohne meine Anwesenheit weiterhin beschlussfähig. Am Ergebnis würde dies heute eh nichts ändern.»

Nach dem Sprechen trat sie zur Tür, doch einen Moment, bevor sie diese öffnete, ergriff Bizur ein weiteres Mal das Wort.

«Ich hoffe, ihr fühlt euch bald besser, Ratsfrau Jeldara. Bitte überlegt euch, wen ihr auf eure Reise mitnehmen möchtet. Ich werde ebenfalls eine Auswahl an Kandidaten zusammenstellen. Ich erwarte, dass ihr innerhalb der nächsten drei Tage aufbrecht. Eure Mission ist von höchster Wichtigkeit für die Hallen der Weisheit.»

Ohne darauf weiter einzugehen, trat Jeldara durch die Tür und verließ den Raum. Die Lautstärke, mit der sie diese hinter sich wieder schloss zeigte, dass ihr Unwohlsein nicht der einzige Grund für ihren Rückzug darstellte. Bizur schaute einige Augenblicke auf die Tür bevor, er sich erneut den anderen Ratsmitgliedern zuwandte.

«Nun, ich denke, das war alles für heute. Sofern keiner von euch weitere Themen zu besprechen hat, schließe ich diese Versammlung hiermit.»

Die anderen beiden blieben stumm. Von daher erhob sich Bizur nach wenigen Augenblicken von seinem Stuhl, um ebenfalls den Ratssaal zu verlassen. Gyvera starrte Gutar über den Tisch hinweg erbost an. Womöglich gab sie ihm die Schuld an dem Verlauf der Versammlung. Und aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser Blick der Grund dafür, warum sich Gutar ebenfalls eilig erhob und nur wenige Schritt hinter ihm den Raum verließ.

Auf dem Flur angekommen wandte sich Bizur in Richtung des Haupteingangs. Es war spät und er beabsichtigte, sich in seine Quartiere zurückziehen. In seinem Rücken spürte er dabei die Blicke von Gutar. Doch er bleib nicht stehen. Nach der heutigen Sitzung wäre es besser, wenn man sie nicht direkt im Anschluss daran in der Öffentlichkeit miteinander sah.

Er hoffte nur, dass Gutar ebenfalls genug Verstand besaß, um zu diesem Schluss zu kommen.

VIER

Schneehafen

Alaysha

Alaysha saß auf dem Boden im Hauptraum ihres Anwesens. Vor ihr im Ofen brannte ein Feuer und erhitzte Wasser in dem Topf, der oben auf der steinernen Platte stand. Unmotiviert warf sie einen weiteren Holzscheit auf das Feuer. Ihre Stimmung hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht, nachdem sie einen Blick auf die Vorräte im Lagerkeller geworfen hatte. Sie benötigte nur wenig. Sie hatte nie üppig gegessen oder erwartet, dass exotische Lebensmittel bereitstanden. Aber abgesehen von einigen Möhren und Kartoffeln war nichts da, obwohl die Ernte von Salat, diversen Kohlsorten und anderem Gemüse seit Tagen in vollem Gange war. Doch die Dorfbewohner hatten sich dieses Jahr, wie es schien, entschieden, die Vorräte in ihrem Keller nicht länger auffüllen.

Seit der Gründung der Siedlung war es Gesetz, dass diejenigen, die ihre Tätigkeiten dem Gemeinwohl des Dorfes widmeten, von der Ernte der anderen mitversorgt wurden. Dies beinhalte neben den Wächtern von Schneehafen ebenfalls den Tempel und ihr Anwesen. Im letzten Jahr hatte die Versorgung noch stattgefunden, selbst wenn sie bereits damals den Verdacht hatte, dass die Qualität und ebenso die Auswahl an unterschiedlichem Gemüse nicht der aus den vorherigen Sommern entsprochen hatte. Aber sie hatte es akzeptiert und nichts gesagt, doch dieses Jahr, völlig ohne Vorräte, würde sie die Situation nicht auf sich beruhen lassen. Im ersten Schritt würde sie Haldun und Esgurt fragen, ob sie bei der Verteilung ebenfalls vergessen worden waren. Aber zuerst würde sie sich ein paar der Kartoffeln kochen. Sie hatte den ganzen Tag bisher nur ein wenig Obst zu sich genommen.