Die Chroniken von Mistle End 2: Die Jagd beginnt - Benedict Mirow - E-Book

Die Chroniken von Mistle End 2: Die Jagd beginnt E-Book

Benedict Mirow

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Beschreibung

Die spannende Fortsetzung von "Der Greif erwacht" ist da! Tauche erneut ein in das Refugium der magischen Geschöpfe - Heimat für Hexen, Trolle und viele andere übernatürliche Wesen.

Das Buch der verschollenen Pfade wurde gestohlen. Damit droht Mistle End große Gefahr! Um das Buch zurückzuholen, reisen Cedrik und seine Freunde Emily und Elliot heimlich nach London. Doch in London sind Gestaltwandler und Hexen nicht willkommen, denn hier herrschen die Vampire. Eine atemlose Verfolgungsjagd beginnt, auch Crutch, der dunkle Druide, und einige Dornhexen sind ihnen auf den Fersen. Auf der Tower Bridge kommt es schließlich zu einem gewaltigen Kampf. Ist Cedrik inzwischen stark genug, um gegen Crutch zu bestehen?

Ein phantastisches Kinderbuch über einen jungen Druiden und die magischen Kräfte der Natur. Die besonders hochwertige Ausstattung lädt zum Verschenken ein.

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Das Buch

Im Mondlicht bemerkte Cedrik einen riesenhaften Schatten auf dem Fluss. Immer in Bewegung, mal groß wie ein Schiff, dann wieder kaum wahrnehmbar zwischen den Nebelschwaden und den Wellen. Doch als er ganz deutlich einen kräftigen Tentakel mit tellergroßen Saugnäpfen aus dem Wasser auftauchen sah, bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen.

„Der Krake! Er ist hier!“

Der Autor

© Matthias Boch

Benedict Mirow wurde 1974 in München geboren. Der Ethnologe und Regisseur schreibt und produziert seit vielen Jahren Dokumentarfilme und erstellt Filmporträts über Künstler der internationalen Kunst und Kulturszene. Nach Zeiten in Afrika und Wien lebt und arbeitet Benedict Mirow nun mit seiner Tochter und zwei Katzen in München und schreibt phantastische Romane für Kinder.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.thienemann-esslinger.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Für meine große und kleine Familie, auf vier Pfoten und zwei Beinen.

DIE GAUKLER SIND DA

Cedrik atmete ruhig und tief. Jetzt ging es für ihn um alles. Er ließ den Drachen nicht aus den Augen, hielt den Bogen bis zum Äußersten gespannt und wartete auf den richtigen Moment. Das Monster fauchte bedrohlich.

»Du musst schon irgendwann schießen. Sonst schaffst du das nie!« Elliot lehnte lässig am Baum und grinste spöttisch.

Cedrik überhörte die Bemerkung seines Freundes einfach und konzentrierte sich weiter auf sein Ziel. Auch wenn es sich bei dem Ungeheuer vor ihm nicht um einen Drachen, sondern um eine verzauberte Blechdose handelte. Am Dach der Bretterbude, über ihm, stand auf einem Schild in verschnörkelten Buchstaben Zur großen Drachenjagd und drei kleine Rostmonster hüpften krachend und scheppernd über den Tisch, brüllten unflätige Bemerkungen und stießen dabei kleine Rauchwolken aus.

Zwei Pfeile hatte Cedrik schon verschossen, der letzte musste einfach sitzen.

Gleich! Wenn er ...

»Für jemanden aus der Stadt ist es wirklich keine Schande, wenn mal ein Pfeil danebengeht«, unterbrach Elliot seine Gedanken. »Oder zwei. Ich mein, das ist okay, wer kann da schon viel erwar–«

Jetzt!!!

Der Pfeil flitzte von der Sehne, direkt auf das magische Ziel, doch die Dose machte einen Satz, wich dem Angriff geschickt aus und kreischte hämisch. Daneben.

Enttäuscht reichte Cedrik seinem Freund den Bogen.

Elliot hob theatralisch die Arme. »Ach herrje, kein einziger Treffer! Ich zeig dir, wie man das macht.« Er schnappte sich drei neue Pfeile und schob Cedrik augenzwinkernd zur Seite. Doch kurz bevor er anlegte, hörte der ihn leise murmeln.

»Was hast du da eben gesagt?«, fragte er misstrauisch.

»Ich, äh, nichts. Doch nun sieh und staune, wie ich, Elliot Golden aus Mistle End, diese drei schrecklichen Drachen mit nur einem einzigen Schuss –«

Weiter kam er nicht. Ein Falke ließ sich im Sturzflug auf ihn fallen, fing sich mit gespreizten Flügeln ab, packte den Pfeil von der Sehne und flatterte damit auf den Baum.

»Emily!!! Bist du irre?«, rief Elliot empört.

Ein leises PLOPP! und statt eines Falken saß ein blond gelocktes Mädchen auf dem Ast. Wütend wedelte die Gestaltwandlerin mit dem Pfeil. »Ha! Ein schöner Freund bist du! Du hast den Pfeil verzaubert! Schäm dich, Bruderherz! Und so was will ein Hexenmeister sein!«

»Echt jetzt?!« Cedrik war fassungslos, musste aber sofort grinsen, als er Elliots peinlich berührten Gesichtsausdruck sah.

»Und dabei hast du es nicht mal richtig gemacht. Ich möchte wetten, dein Zauber funktioniert gar nicht!«

Sie sprang vom Ast, riss ihrem Bruder den Bogen aus der Hand, nicht ohne ihn tadelnd anzufunkeln, legte an und ließ den Pfeil von der Sehne surren, ohne auch nur hinzusehen. Der Pfeil flog eine Kurve, umkreiste die johlenden Blechdosen und verschwand irgendwo im Hinteren der Bretterbude.

»Siehst du! Als wäre es so einfach, mit –«

»Aua! He! Was soll das?«, ließ sich eine dröhnende Bassstimme aus der Marktbude vernehmen. »Welcher Trottel schießt denn mit verzauberten Pfeilen auf mich?!«

Emily erstarrte und ließ den Bogen fallen, als wäre er auf einmal glühend heiß.

Cedrik lachte schallend, packte Emily und Elliot, zog sie mit sich und prustend und kichernd machten die drei Freunde, dass sie außer Reichweite des erbosten Schießbuden-Trolls kamen. Sie flitzten um eine Ecke, tauchten unter den Armen einer erstaunten Besenverkäuferin durch und waren schon mitten im Getümmel verschwunden.

Latha na Cailliche, oder der Tag der alten Hexe, wie sie es hier in den Bergen Schottlands nannten, war in vollem Gange. Jung und Alt, Hexen, Menschen, Elben, Zwerge, und allerhand andere magischen Geschöpfe aus Mistle End und den umliegenden Highlands waren schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen. Die Gassen des Dorfes und der ganze Marktplatz mit dem im Boden eingelassenen Hexenstern war voller Stände, die nicht nur antik wirkende, dafür fröhlich singende Gartengeräte, seltene Kräutersamen oder wundersam schnell wachsende Blumenzwiebeln anboten, sondern auch zischende Zaubertränke, Wunder-Zucker-Lutschbonbons, und verwunschene Küchengeräte.

Dabei sahen die meisten Dinge auf den ersten Blick eigentlich ganz normal aus.

Sind sie aber nicht, dachte Cedrik und lächelte.

Wie die Lichterketten, die zwischen den kleinen Holzbuden gespannt waren. Auch er hatte erst nach einer ganzen Weile bemerkt, dass das Licht nicht etwa von Glühbirnen ausging, sondern von winzigen, kichernden Elfen, die wie Spatzen auf einer Wäscheleine saßen. Ihr ganzer, kleiner Körper schien von innen zu leuchten, und wenn sie aufgeregt mit den Flügeln flatterten, regnete es goldene Funken.

Flirrelfen. Cedrik war ein klein wenig stolz, weil er ihren Namen kannte.

Mistle End und seine magischen Bewohner waren zwar nicht mehr völlig neu für ihn, trotzdem konnte er manchmal noch immer nicht ganz glauben, dass er wirklich hier war. Und dass er dazugehörte.

Vorsichtig warf er einen Seitenblick auf seine beiden Begleiter. Schon früh am Morgen hatten sie ihn heute abgeholt. Gleich nachdem der alte Bühnenwagen und die Pferdekutschen mit den Artisten des berühmten, magischen »Circus Paradise« über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen gerumpelt war und mit hellem Geklingel und quietschender Drehleier die Ankunft des fahrenden Volkes verkündet hatte. Seit Tagen schon waren die Zelte und Marktstände aufgebaut worden, und mit dem Eintreffen der Gaukler konnte das Fest nun endlich beginnen.

Die Stimmung war ausgelassen, alles lachte, quietschte, kicherte oder flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Es gab allerhand Bekanntes und Unbekanntes zu essen und trinken – und mehr als einmal bot Cedrik Anlass zu Gelächter, wenn er tapfer »Bulläugigen Schlabberquark« oder »Krossgebackene Hörzwabbler« probierte.

»Uah, das schmeckt ja genauso, wie es sich anhört«, hatte Cedrik mit vollem Mund gestammelt und alle Willensstärke aufbringen müssen, das gewöhnungsbedürftige Essen nicht sofort wieder auszuspucken.

Und trotzdem war er überglücklich. Es gab auf diesem Marktplatz mehr zu sehen und zu entdecken, als er es sich noch vor wenigen Wochen hätte vorstellen können.

Ja, im ganzen Dorf war tatsächlich nichts, wie es zunächst schien. Dafür sorgte der Zauber des Greifen, der das Refugium der Hexen vor den Blicken nicht eingeweihter Menschen verbarg. Bis vor Kurzem noch hatte auch Cedrik sich für einen ganz normalen Jungen gehalten. Aber normal, was heißt das schon. Bis zur Greifenprüfung, bald nach ihrer Ankunft im Dorf, als er erfahren hatte, dass er ein Druide war. Ein Kind der Erde, hatten sie ihn genannt, und nicht alle im Dorf waren über seine Ankunft erfreut gewesen. Er selbst hatte erst langsam verstanden, was das eigentlich für ihn bedeutete – Druide sein.

Seine Mutter, die er bei der Prüfung das erste Mal in seinem Leben getroffen hatte, war eine Baumnymphe, so viel wusste er. Eine Ewige. Und von ihr hatte er die Fähigkeit geerbt, nicht nur mit Tieren, sondern auch mit Pflanzen zu sprechen. Und sie zu kontrollieren.

Nein. Eher sie um einen Gefallen zu bitten.

Meistens taten die Tiere und Pflanzen dann auch, was er von ihnen erwartete. Wahrscheinlich konnte er noch einiges mehr, aber ganz genau wusste er es nicht. Er übte fleißig und hatte das Gefühl, tatsächlich schon ein wenig besser geworden zu sein, aber Fragen über das »Wie« und »Warum« konnte er eigentlich niemandem stellen.

Der einzige andere Druide, der vielleicht etwas hätte wissen können und mit dem er seine Erfahrungen und Entdeckungen hätte teilen können, war spurlos verschwunden. Corvus Crutcher, den alle nur Crutch nannten, war ein Junge in seinem Alter und wie er ein Druide. Mit einem Rabendämon als Vater und einer Dornhexe als Mutter.

Mein dunkler Zwilling, dachte Cedrik und erschauderte. Trotzdem waren sie Freunde gewesen, bis zu einem dramatischen Kampf auf der Dorfmauer, der Cedrik fast das Leben gekostet hatte. Dabei hatte ihn Crutch nicht nur unbeabsichtigt um ein Haar getötet, sondern ihn auch wieder zurück ins Leben geholt. Ihn geheilt. Mithilfe der Erde.

Die Erinnerungen an Crutch, den er trotz allem noch für seinen Freund hielt, lasteten schwer auf ihm. Er hatte das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben. Er fehlte ihm.

Dass er sich nun mit Emily und Elliot seit heute Morgen vom magischen Treiben auf dem Frühlingsfest verzaubern ließ, tat ihm nicht nur deswegen gut. Es gab so viel zu entdecken und so viel zu lernen, dass er jede Gelegenheit nutzte, alles um sich herum wissbegierig aufzusaugen.

Doch auch er selbst sorgte noch immer für allerhand Aufsehen. Im Dorf kannte ihn inzwischen fast jeder, aber aus den Highlands ringsum, den Bergen und Wäldern, den Flusstälern und kargen Hochmooren waren anlässlich der Festlichkeiten Trolle, Quellwichte, Waldgeister und andere magische Wesen in das Dorf gekommen.

Sie strichen schon den ganzen Tag um ihn herum, beäugten ihn aus der Ferne oder grüßten ihn freundlich. Und irgendwie hoffnungsfroh. Dass mit ihm und Crutch seit vielen Jahren wieder Druiden in Mistle End aufgetaucht waren, schien sich wie ein Lauffeuer über die Highlands verbreitet zu haben und so waren sie von nah und fern gekommen, um ihn zu sehen.

Er fühlte sich unwohl in seiner Haut. So viel Aufmerksamkeit gefiel ihm gar nicht.

Hoffentlich sind sie nicht enttäu– AAAAH!

Ein Junge, nur etwa halb so groß wie Cedrik, mit wilden Locken und knallroten Bäckchen, war wie ein Sack Kartoffeln auf die Straße gekracht. Wie aus dem Nichts, auf das harte Kopfsteinpflaster. WUMMS!

»Autsch! Ist dir etwas passiert? Hast du dir wehgetan?«

Erschrocken beugte sich Cedrik über den Jungen, prallte aber sofort wieder zurück, als dieser sich unvermittelt aufrichtete und ihn frech angrinste. Zahnlücke inklusive. Cedrik seufzte erleichtert.

Eine Bande kleiner Trollkinder hatte es sich augenscheinlich zur Aufgabe gemacht, ihn auf Teufel komm raus zu unterhalten. Und als sie mitbekommen hatten, dass Cedrik noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, wie zäh und schmerzfrei die kleinen Berggeister waren, schmissen sie sich bei jeder Gelegenheit und laut juchzend von Bäumen oder Hausdächern, krachten lachend auf das Kopfsteinpflaster der engen Gassen, rappelten sich strahlend wieder auf und knallten sich stolz alte Bretter, Äste und Krüge um die Ohren, dass es nur so schepperte. Das verrückte Spiel währte so lange, bis es Elliot endlich reichte.

»Wenn ihr jetzt nicht mal aufhört, verwandle ich euch in Kaninchen. Oder Mäuse! Oder beides!«, schimpfte der genervte Hexenmeister und schüttelte zornig seine Faust in Richtung der wenig beeindruckten Trollkinder. Danach hatten sie wieder Ruhe, was Cedrik jedoch tatsächlich sogar ein bisschen bedauerte. Auch wenn er immer wieder schrecklich erschrocken war, wenn eines der jungen Trollmonster kreischend vor ihm auf die Straße geknallt war, konnte er doch selten ein erleichtertes Lachen unterdrücken, wenn ihn die Kleinen mit ihren dreckverschmierten Gesichtern glücklich anhimmelten.

Cedrik und seine Freunde ließen sich durch die ausgelassene Menge treiben und landeten endlich vor dem kleinen Theaterwagen, der hinter dem steinernen Brunnen mit der mächtigen Greifenfigur im Schatten der uralten Eiche seinen Platz gefunden hatte.

Obwohl auf der Bühne mit dem roten Samtvorhang im Augenblick niemand stand, warteten die Zuschauer geduldig auf die nächste Nummer der magischen Gaukler.

Elliot stöhnte. »Oh Mann, wir haben schon das meiste verpasst!« Er hatte einen halb aufgeweichten Programmzettel vom Boden aufgesammelt und überflog die angekündigten Darbietungen des »Circus Paradise«. »Die bulgarischen Blumenelfen – verpasst! Die chinesischen Schwerttänzer – vorbei! Die Troll-Drillinge – war auch schon! Alles durch!« Er zog eine Grimasse, knüllte den Zettel zusammen und trat ihn wie einen Fußball in die Luft.

»Kommt denn überhaupt noch etwas?«, wollte Emily wissen.

»Irgendeine afrikanische Hohepriesterin und als Höhepunkt ein Crannog. Wenigstens den sehen wir noch, das wird sicher spannend.«

»Einen was?«, fragte Cedrik, aber bevor ihm einer der beiden antworten konnte, brandete Applaus auf und ein Mädchen betrat die einfache Bretterbühne. Mit schwarzen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren, einer dunkelroten Lederjacke und Jeans sowie perlenbesetzten Motorradstiefeln sah sie so ganz anders aus, als er sich eine afrikanische Hohepriesterin vorgestellt hatte.

Und sie war kaum älter als er.

Okay, der kleine, vergoldete Hühnerschädel, den sie an einer Kette um den Hals trug, sah magisch aus, irgendwie. Aber sonst?

Sie stellte sich in die Mitte der Bühne, kreuzte ihre Arme vor der Brust und schloss die Augen.

Cedrik konnte sehen und hören, wie sie mal leise vor sich hin murmelte, dann wieder Worte ausspie, als seien sie Gift.

Er verstand nicht, was sie sagte, in dieser fremden Sprache, die überhaupt nicht nach Wörtern klang, so wie er es kannte. Eher nach einer Mischung aus Stöhnen, Keuchen und Knurren. Dann war es, als liefe ein Schauer über ihren Körper. Sie krümmte sich, warf ihren Kopf nach hinten und schrie auf. Die Kraft und Energie, die von dem Mädchen ausging, waren so stark, dass Cedrik unwillkürlich die Luft anhielt.

Ihre Arme zuckten. Sie holte Atem, brüllte heiser, sank hart in die Knie und erbrach einen Schwall schwarzer, zäher Flüssigkeit.

Die Menge schrie auf, doch die Rufe des Ekels und Entsetzens verwandelten sich schnell in Begeisterung, als sich aus der Pfütze ein Mann erhob. Seine Haut war wie verbrannte Kohle, mit Rissen, unter denen flüssige Lava zu brodeln schien. Beißende Rauchschwaden waberten über die Bühne und der ganze Körper der Erscheinung schien zu flirren. Das Wesen war halb Schlange, halb Mensch und wechselte ununterbrochen und in verrückter Geschwindigkeit von Mann zu Tier. Es kauerte auf Händen und Knien, brüllte. Ließ sich als Mann auf den Boden fallen, wälzte sich hin und her, zischte und züngelte, ganz die große schwarze Schlange, die immer wieder seinen Platz einzunehmen schien.

»Ist er nicht prächtig anzusehen? Ist er nicht schauerlich-schaurig?« Der Mann, der nun aus dem Schatten des roten Bühnenvorhangs tänzelte, trug einen abgewetzten, zusammengestückelten Anzug, jeder Arm und jedes Hosenbein aus einem anderen Stoff und in einer anderen Farbe. Mit ausgebreiteten Armen und stolzgeschwellter Brust schritt er um die Hohepriesterin und die Kreatur, die sie gerufen hatte. »Seht ihn euch an, Damballah, die große Schlange, oberster Dämon und Herrscher des dunklen Dschungels, beschworen und gebändigt von unserer wundervollen Aissa!«

Den Kopf des Mannes zierte eine fantasievoll geschmückte und selbst gebastelte Krone aus Blech, unter kräftigen blonden Locken blitzte der Schalk aus blauen Augen. Übertrieben würdevoll zeigte der Kauz auf das Mädchen, das nun mit dem Dämon eine Art geistigen Ringkampf auszufechten schien. »Aissa, die Wundersame! Aissa, die Heilige! Aissa, die geheimnisvolle Hohepriesterin aus dem Königreich Dahomey, an der Westküste Afrikas! Niemand kann Dämonen so bezwingen wie die junge Meisterin des Voodoo!«

Die Menge jubelte. Das Mädchen warf einen fragenden Blick auf den Mann im bunten Anzug, der nickte kurz. Sie riss beide Arme mit einem tiefen, seltsam gurgelndem Schrei nach oben. Der Mann, nein, der Dämon, wurde hochgeschleudert, schien sich in der Luft zu verknoten, streckte sich wieder und fiel, nun endlich ganz in der Gestalt einer riesenhaften Würgeschlange auf die Bühne. Komplett schwarz, mit leuchtend grünen Reptilienaugen und viel zu großen Fangzähnen fauchte sie in Richtung Publikum. Erschrocken wichen die Menschen, Hexen und Elben ein paar Schritte zurück, allein ein Zwerg, grimmig grinsend, blieb seelenruhig stehen und reckte der Schlange auf der Bühne sein Kinn entgegen, gerade so, als wollte er sagen: Komm ruhig her, ich fürchte dich nicht!

Die Schlange hatte sich aufgerichtet und wiegte sich sanft hin und her. Sie zischte und züngelte – und ließ dabei den mutigen Zwerg nicht eine Sekunde aus den Augen.

»Was macht der da? Ist der irre?«, hörte Cedrik Elliot stottern, und doch gerade, als er etwas erwidern wollte, stieß die Schlange nach vorn, das Maul weit aufgerissen und raste auf den Zwerg zu. Aber noch ehe sie ihre Beute erreichen konnte, schnalzte das Mädchen auf der Bühne laut mit der Zunge, ballte ihre Hand zu einer Faust und riss die Riesenschlange wie an einer unsichtbaren Leine zurück. Die Schlange wand sich hin und her, von magischen Kräften gehalten. Dann: Eine erneute, schnelle Bewegung mit der geballten Faust – und die Schlange fiel krachend zurück auf die Bühne, wurde schlaff, rollte hin und her, und verwandelte sich schließlich wieder in die Pfütze brodelndes Schwarz, das zischend und blubbernd durch die Ritzen des Bretterbodens versickerte.

Aissa, die Voodoo-Priesterin, verbeugte sich und das Publikum applaudierte.

Elliot klatschte und johlte begeistert. »Der Hammer! Der Wahnsinn, oder? Ist das nicht stark?!«

Ohne mit der Wimper zu zucken, sprang das Mädchen von der Bühne und verschwand in der Menge.

Emily verdrehte die Augen. »Dass du immer so übertreiben musst, Brüderchen ...«

»Wieso denn? So was sieht man selbst in Mistle End selten.« Noch immer Feuer und Flamme klopfte er Cedrik mit viel Schwung auf die Schulter. »Findest du nicht auch, Cedrik? War doch super, oder? Wow, war die gut! Und der Dämon: Voll gruselig!«

»Ich dachte, der Crannog wäre der Höhepunkt der Show«, erwiderte seine Schwester verschmitzt. »Sie sollen einen Käfig voller Deimoni haben.«

»Einen Käfig voller was?«, fragte Cedrik.

»Feuerdämonen! Angeblich dürfen die dann zum Schluss das Winterfeuer anzünden.« Sie zeigte auf einen hoch geschichteten Scheiterhaufen etwas abseits der Bühne. »Ein letztes Opfer für den Winter, dann ist es mit der kalten Jahreszeit endgültig vorbei.«

Erneut brandete Applaus auf. Der Gaukler mit dem bunten Anzug trat an die Bühnenrampe und machte eine tiefe Verbeugung, während hinter ihm ein schmächtiger Bühnenarbeiter einen schweren, mit einem Tuch verdeckten Gegenstand unter lautem Geächze und Gestöhne auf die Bühne schob.

»Verehrtes Publikum, hochgeschätztes magisches Volk von Mistle End, willkommen zum spannendsten Nachmittag eures langweiligen Lebens: Ich bin Basil, König der Gaukler, Träger des dunklen Humors und Bewahrer des blendenden Witzes! Spaßmacher und Streitbringer, Freund des Einen und des Anderen. Gleich geht es weiter, hier und jetzt, im ›Circus Paradise‹, dem Zirkus der Gegensätze! Doch zuerst ... ein Geschenk!« Er richtete sich auf und seine Krone gerade und warf mit ausladendem Schwung eine Handvoll leuchtend roter Blüten in die Menge. »Für das verehrte Publikum und meine geliebten Untertanen!« Der König der Gaukler tänzelte leichtfüßig auf der Bühne hin und her, und verteilte die Blumen wie Kusshände. »Kommt näher, die Show geht weiter, kommt nur her!«

Die Zuschauer schoben und drängelten, kurz brandete Unruhe auf, als sich die vorderen über das Geschiebe der weiter hinten stehenden Dorfbewohner beschwerten.

»Staunen Sie und erleben Sie als nächsten und letzten Höhepunkt auf den Brettern der Spaßmacher, die gefährlichen, die glühenden, die sprühenden, die gefürchteten ... Deimoni!« Das letzte Wort hatte er fast geschrien. Er wirbelte herum und zog mit einer raschen Geste ein Tuch von dem, was sich nun als rostiger Käfig entpuppte.

»Wusste ich’s doch«, stieß Elliot begeistert aus.

Die Menge wogte hin und her, die Stimmung schwankte zwischen Furcht und Faszination.

»Oh, das sind aber viele! Deimoni sind garstige, übellaunige Biester. Halb Kobold, halb Dämon. Ich hab gehört, die stecken alles sofort in Brand, wenn man nicht aufpasst«, bemerkte Emily misstrauisch.

Cedrik versuchte einen Blick auf die wirbelnden Dämonenkobolde zu erhaschen. Mit ihren goldenen Mützen und Westen aus rötlich schimmerndem Samt sahen sie eigentlich aus wie Figuren aus einem alten Marionettentheater, nur dass sie sich mit aberwitziger Geschwindigkeit bewegten und bei jeder Drehung schillernde Flammen hinter sich herzogen. Sie schimpften und zeterten und rüttelten an den eisernen Gitterstäben. Ihre kleinen, faltigen Gesichter glühten zornig.

»Was hast du denn? Das sind Feuerteufel! Was willst du anderes von ihnen erwarten!?«, erklärte Elliot gleichermaßen amüsiert wie fasziniert.

Die Gaukler hatten fast ein Dutzend der kleinen Dämonen in den engen Käfig zusammengepfercht, in dem sie nun, böse Flüche ausstoßend, hin und her flitzten, dass die Funken flogen.

»Keine Mühen haben wir gescheut und alle Finger haben wir uns verbrannt, um sie von der eiskalten, Feuer speienden Insel im Norden hierher, in dieses wunderbare Dorf zu bringen – zu den feinen Bürgern von Mistle End!«

Die Leute wurden ungeduldig. »Jetzt quatsch nicht, sondern zeig uns endlich was Spannendes!«

Der Mann auf der Bühne grinste unverschämt. »Mein hochverehrtes Publikum, begrüßen Sie nun mit mir den einzig würdigen Gegenspieler des Feuers, den flabbrigen, den dunklen und düsteren, den platschenden und spritzigen Crannog!«

Cedrik stieß überrascht die Luft aus. Der Mann, der nun die Bühne betrat, war anders als all die Wesen, die er bisher in Mistle End gesehen hatte. Er hatte im Grunde eine menschliche Figur, war aber viel größer. Der Mann war kräftig gebaut, hatte dunkles, schulterlanges Haar und riesige blaue Glubschaugen, die ununterbrochen hin und her rollten. Cedrik hatte das unangenehme Gefühl, dass der Fischmann jeden Einzelnen auf dem Marktplatz kurz musterte. Sein Kinn zierte ein mächtiger Bart, unter dem gelbliche Kiemen hervorblitzen. Gekleidet war er in ein aus vielen Stoffbahnen und Streifen bestehendes Gewand, das silbrig schimmerte. Und ... er floss! Das Wasser strömte nur so aus ihm heraus. Aus seinen Haaren und aus seinen Ärmeln. Wenn er sich bewegte, gluckste und blubberte es und ein ganzer Schwall Wasser ergoss sich auf die Bühne, wo sich sofort Pfützen bildeten.

»Ist das ... das ist ein Wassermann, oder?«

»Quatsch! Wassermänner gibt’s nur im Märchen, Cedrik«, widersprach Elliot amüsiert. »Das ist ein Crannog.«

»Riecht irgendwie interessant hier, oder?«, fragte Emily trocken.

»Ja, nach altem Fisch«, ergänzte Elliot und verzog das Gesicht.

Der Crannog bewegte sich schwerfällig wie ein Molch auf dem Trockenen, und stellte sich unmittelbar an die Bühnenkante. Sein Blick schweifte nervös über den Marktplatz, dann riss er seine Arme nach oben, streckte die Hände in die Luft und sprühte feinen Wassernebel über die Anwesenden. In den winzigen Wassertropfen brach sich das flackernde Licht der Dämonenkobolde und zauberte einen Regenbogen in die Luft.

Die Menge jubelte begeistert.

»Und nun, mein hochverklärtes Publikum, meine Damen, meine Herren, werden Sie Zeugen der Magie der Elemente, wenn der uralte Kampf des ewigen Feuers ...«, er zeigte auf die Deimoni, dann auf den Crannog, »... mit dem unergründlichen Wasser seine Fortsetzung auf dieser Bühne erlebt!«

Der Crannog hatte sich nun stumm in Richtung des Käfigs mit den Deimoni gedreht und die Hände vor sein Gesicht erhoben. Unablässig strömte das Wasser aus seinen Ärmeln.

»Das Feuer hat uns einst Thor geschenkt, mit Blitz und Donner. Wild war es, zerstörerisch und alles verzehrend. Und doch haben wir es gebändigt ... mit der Hilfe des Wassers! Und DAS ...« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »... hat das Feuer dem Wasser nie verziehen.« Mit den letzten Worten hatte er den Riegel des Käfigs zur Seite gezogen und die Tür mit einem Ruck aufgerissen.

Sofort stürzten sich die Deimoni in einem wahren Feuersturm auf den Crannog. Innerhalb von Sekunden hatten sie ihn in eine grell-lodernde Feuersäule verwandelt. Flammen wirbelten um seinen Körper, die Deimoni rasten in atemberaubender Geschwindigkeit um den Crannog. Doch er stand ganz unbewegt da, die Hände noch immer vor dem Gesicht.

»Beim Hexenkessel, die grillen ihn ja!«, stieß Emily hervor.

Der Mann neben Elliot drehte sich zu ihnen um. Sein Blick war gehässig, als er sagte: »Selber schuld. Wer mit dem Feuer spielt, erntet Blasen.«

Cedrik runzelte die Stirn.

In diesem Moment begann sich der Fischmann zu bewegen. Langsam nahm er die Hände herunter. Es zischte und dort, wo die Wasserströme auf das brausende Feuer trafen, stieg dichter Dampf auf. Dann – eine schnelle Bewegung – und ein Feuerteufel flog, einen fauchenden Flammenschweif hinter sich herziehend, hoch in die Luft. Dann noch einer, und noch einer.

Der Fischmann schien die Deimoni, einen nach dem anderen, aus der Feuersäule zu pflücken.

»Er jongliert mit ihnen«, rief Elliot begeistert.

Ein Teil der Menge war entzückt und Applaus brandete auf. Vereinzelt waren jedoch auch Buhrufe zu hören. Die Stimmung war seltsam angespannt.

Der Fischmann stand inmitten der wirbelnden Deimoni und warf sie, einen nach dem anderen, in die Luft, fing sie auf und wiederholte das Spiel, bis das Wasser und die Funken nur so spritzten.

Ein Zwerg schob sich mürrisch zwischen Elliot und Emily und brummte ungehalten: »Könnt ihr gefälligst Platz für die kleinen Leute machen, ihr Quatschquabbler?«

Elliot sah Cedrik erstaunt an und zuckte ratlos mit den Schultern.

Emily dagegen ignorierte die unhöfliche Rempelei und musterte den Crannog mit zusammengekniffenen Augen.

»Was hast du, Emily? Alles okay?«, fragte Cedrik verwundert.

Aber bevor Emily antworten konnte, ohne Vorwarnung, begann der Crannog seinen Angriff: Mit einer weit ausholenden Bewegung packte er einen der Deimoni aus der Luft und schmiss ihn in einem hohen Bogen über die Menge. Jedoch nicht auf das vorbereitete Winterfeuer, wie Cedrik erschrocken feststellte, sondern geradewegs auf eines der umstehenden Häuser. Wie ein Komet mit einem mächtigen Feuerschweif flog der Kobold über den Marktplatz und landete unter wütendem Geheul in einer wahren Funkenexplosion auf dem Dach. Dann warf der Crannog den nächsten. Es ging einfach so weiter, ein kreischender Deimoni nach dem anderen zischte durch die Luft. Ehe das völlig verdutzte Publikum reagieren konnte, hatte der Crannog all die kleinen Feuerdämonen über die Menge hinweg auf die Häuser geworfen.

»Was tut er da?«, rief Emily panisch.

Innerhalb kürzester Zeit hatten die Dächer an verschiedenen Stellen Feuer gefangen, die Deimoni rasten wie tollwütig über die Schindeln, sprangen Funken sprühend von Dach zu Dach, von Haus zu Haus. Lange würde es nicht mehr dauern und das ganze Dorf würde in Flammen stehen!

»Warum tut er das?« Cedrik war völlig aufgebracht. Hastig sah er sich um. Was war hier los?

Ringsum brach Streit aus, Hexen, Zwerge und Elfen beschuldigten sich gegenseitig, schuld am Angriff des Crannog zu sein.

»Du! Das ist alles deinetwegen! Du bist schuld!«

»Wer? Ich!? Blödsinn!«

»Wenn du den Fischmann nicht provoziert hättest, hätte er die Deimoni nicht geschmissen!!«

»Ach ja, und wenn du nicht ...«

Emily raufte sich die Haare. »Hört auf zu streiten, wir müssen das Feuer löschen!«

Aber niemand hörte auf sie und es schien fast so, als interessierten die Brände, kaum hatten sie begonnen, niemanden mehr. Bei zwei, drei Dächern loderten die Flammen bereits hoch in den Himmel, aber die Leute auf dem Marktplatz hatten nichts Besseres zu tun, als sich lautstark zu streiten. Keiner kam auf die Idee, etwas gegen das drohende Inferno zu unternehmen. Sogar Elliot hatte sich mit dem grimmig dreinblickenden Zwerg von vorher in die Wolle gekriegt.

Es war wie verhext: Das ganze Dorf war kurz davor in Flammen aufzugehen, aber nur vereinzelt waren Leute zu sehen, die versuchten, das Feuer zu bekämpfen.

Emily packte Cedrik am Arm. »Der Fischmann!«

»Was?«

»Der Crannog! Er ist weg! Da ist was faul!«

Cedrik drehte sich zur Bühne. Dort stand mit offenem Mund Basil, der selbst ernannte König der Gaukler, neben dem leeren Käfig und starrte abwechselnd auf die brennenden Häuser und die streitende Menge vor ihm. Vom Crannog keine Spur.

Emily kämpfte sich zur Bühne. Cedrik folgte ihr. »Wo ist er hin? Wo ist der Crannog?« Wütend boxte sie dem Gaukler auf den Fuß. »He, Sie! Wo ist der Fischmann?«

Und endlich, als würde er aus einer Trance erwachen, entdeckte der Gaukler die zwei Freunde vor der Bühne. Mit aschfahlem Gesicht zeigte er auf den Greifenbrunnen, der unweit der Bühne unter der mächtigen Eiche stand. »Er ist da reingesprungen.«

Emily wirbelte herum. »Cedrik, hol du Elliot aus dem Streit da raus und dann ruft meine Mutter! Beeil dich!«

»Und du? Was machst du?«

»Ich folge dem Fischmann!«

»Wie?!«

Ohne ein weiteres Wort rannte Emily zu dem alten Ziehbrunnen. Spöttisch grinste sie Cedrik über das Wasser hinweg an. »Ich schwimme ihm nach. Mal sehen, wo er hin ist!« Damit kletterte sie auf den Rand des Brunnens, schloss für einen kurzen Moment die Augen – und ließ sich mit weit ausgebreiteten Armen nach vorne kippen. Kurz schien es, als würde sie in der Luft stehen bleiben. Dann, ein zischendes Geräusch, sie drehte sich um ihre eigene Achse – PLOPP! – und fiel als Fischotter in den Brunnen.

»Wo ift fie hin?« Elliot war hinter Cedrik aufgetaucht, etwas ramponiert. Er sah aus, als hätte er den Ringkampf mit dem Zwerg verloren und hielt sich nun die blutende Nase.

»Sie will dem Crannog nachschwimmen. Und sie hat gesagt, wir sollen eure Mutter holen ... Mensch, Elliot, weißt du eigentlich, dass du ziemlich heftig aus der Nase blutest?!«

»Ja, weif if ... Mom ift fon da!« Erschöpft zeigte er mit dem Daumen hinter sich.

Tatsächlich, Esmeralda und zwei weitere Hexen hatten sich auf der Bretterbühne der Gaukler in einem Halbkreis aufgestellt und streckten ihre Arme gen Himmel. Der Lärm der streitenden Dorfbewohner war so laut, dass Cedrik nicht hören konnte, was die drei sagten, aber er konnte sehen, wie sie konzentriert vor sich hin murmelten.

»Was tun sie da?«, fragte er Elliot atemlos.

»Elementezfauber. Fie verfuchen ef regnen tfu laffen. Fehr fschwierig.«

Blitze zuckten über den Himmel und ließen den Dorfplatz gespenstisch aufleuchten. Donner grollte und Wolkentürme bildeten sich. Wind brauste durch die Gassen, aber es fiel kein Regen. Nichts.

Es müsste schneien. Es schneit hier doch sonst auch immer! Schnee würde das Feuer ersticken, dachte Cedrik. Er fühlte sich schlecht. Warum konnte er nicht helfen? Da war er schon ein Druide, aber er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.

Der Sturm wurde immer stärker, und Cedrik konnte sehen, wie die jüngste der drei Hexen erschöpft schwankte und sich an ihrer Hexenschwester festhalten musste, damit sie nicht in die Knie sank.

»Verbammt. Wenn ef nift klappt, wird unf daf gampfe Dorf abbrennen«, sagte Elliot düster.

Er hatte recht. Ringsum waren zwar inzwischen einige Dorfbewohner dabei, das Feuer mit Eimern und Gartenschläuchen zu löschen, aber kaum hatte irgendwo ein Dach aufgehört zu brennen, entfachte an einer anderen Ecke ein johlender Dämon ein neues Feuer, das sich langsam, aber sicher von einer kleinen Flamme in einen brennenden Dachstuhl verwandeln würde.

Cedrik wurde wütend. Auf sich selbst. Er konnte mit Pflanzen sprechen, mit Tieren auch. Konnte er nicht vielleicht auch irgendwie mit den Wolken …

»CFEDRIK, PAFF AUF!«

Er wirbelte herum und sah gerade noch wie ein großes, für einen Menschen viel zu behaartes Gesicht mit einem erstaunten, aber etwas dümmlichen Ausdruck in beängstigender Geschwindigkeit näher kam. Der riesenhafte Bergtroll hatte das Gleichgewicht verloren und stürzte mit rudernden Armen auf ihn zu.

Panisch kniff Cedrik die Augen zusammen.

DER HIRSCHMANN

Wo bin ich?

Er stand in einem Wald, einem Sommerwald. Vor sich eine Art Tunnel aus prächtigen, grünen Bäumen, die sich sanft über einen grasbedeckten Pfad beugten. Das Laubdach war dicht und nur gelegentlich brachen goldene Sonnenstrahlen durch die Dämmerung des Waldes und zeichneten Muster in die von Insekten flirrende Luft. Cedrik konnte am Ende des Pfades eine Lichtung erkennen, sonnendurchflutet.

Er hörte eine Männerstimme.

Lachen.

Langsam folgte er dem Pfad.

Ein Mann, gekleidet in einen hellen Leinenanzug, mit einem stattlichen Hirschgeweih, das aus seinem Kopf zu wachsen schien, saß im Schneidersitz auf einem Felsblock. Ihm gegenüber, mitten auf der Lichtung, stand eine Hirschkuh, friedlich grasend. Erstaunt sah der Mann auf und musterte Cedrik freundlich.

»Bist du es tatsächlich«, sagte er erfreut und es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.

Cedrik sah sich verwundert um. »Wo bin ich?«

Über der Wiese flatterten Schmetterlinge, junge Büsche blühten am Waldrand und durch die Wipfel der Bäume ringsum rauschte sanft der Wind.

»Wo bin ich hier?«

»Ich habe dich gerufen. Ich wollte, dass wir uns kennenlernen.«

Die Stimme des Mannes klang sanft und erinnerte Cedrik an das Murmeln einer Quelle.

»Aber warum?«, fragte er, von tiefer Unruhe gepackt.

Der Mann lächelte milde. »Du gehörst zu meiner Familie.«

»Und wer ... wer bist du?«, fragte Cedrik und ahnte die Antwort schon. Und er fürchtete sich vor ihr.

»Ich bin Cernunnos, der Gott des Waldes.« Er wartete einen kleinen Moment, bevor er fortfuhr. »Und ich bin der Vater deiner Mutter. Ich bin dein Großvater.«

Cedriks Mund war trocken und er bemerkte, dass er vor Aufregung leicht zitterte. Wenn der Mann auf dem Felsen wirklich Cernunnos war, sprach er die Wahrheit. Der Gott des Waldes war sein Großvater. Und Cedriks Mutter, eine Nymphe, eine seiner Töchter. Cedrik hatte sie erst vor Kurzem kennengelernt, bei der Greifenprüfung im Wald. Als sie ihm geholfen hatte, den Drachen zu besiegen. Einen echten Drachen. Mit der Kraft der Erde.

Danach hatte er nichts mehr von ihr gehört. Sie war einfach wieder verschwunden. Aber er hatte mithilfe seines Vaters alles über Nymphen gelesen, und tatsächlich waren sich die Mythologen alle einig, dass die Baumgeister von Cernunnos, dem Gott des Waldes, abstammten. Seinem Großvater.

Cedrik holte tief Luft.

»Wo ist sie? Meine Mutter, mein ich.« Er stotterte. »Ich möchte sie wiedersehen.«

Cernunnos schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Aber wieso nicht?« Cedriks Herz schlug ihm bis zum Hals.

»Sie hat einen schweren Fehler gemacht, als sie sich mit einem Sterblichen eingelassen hat. Deinem Vater. Das hätte niemals geschehen dürfen.« Sein Blick ruhte klar und fest auf Cedrik. »Wir mussten sie dafür bestrafen«, sagte er leise.

Cedrik schluckte. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«

»Wir haben sie in ihren Baum gebannt. In ihrem Wald.«

»Aber ...«

»Genug jetzt, Cedrik. Ich habe dich nicht gerufen, um mit dir über deine Mutter zu streiten. Wir müssen uns sputen. Wir haben nicht endlos Zeit und du musst jetzt genau zuhören.«

Cedrik biss sich auf die Lippen und nickte. Die Vorstellung, seine Mutter in einem Baum gefangen zu wissen, schmerzte ihn.

Nymphen sind Baumwesen, versuchte er sich zu beruhigen. Es wird ihr gut gehen. In ihrem Baum.

»Du selbst und deine Freunde seid in großer Gefahr«, fuhr Cernunnos beunruhigt fort. »Das Dorf steht in Flammen, und ihr unternehmt nichts. Warum tut niemand etwas dagegen? Euer Zuhause brennt und keiner versucht, es zu löschen. Was ist bloß los mit euch Sterblichen? Seht ihr nicht, was geschieht? Könnt ihr die Zeichen nicht deuten?«

»Aber die Hexen sind doch gerade dabei, es regnen ...«, wollte Cedrik einwenden, Cernunnos ließ ihn allerdings nicht ausreden.

»Hinter all dem steckt mehr als die paar Dämonenkobolde. Hexenmagie vermag nicht zu verhindern, was gerade geschieht. Ihr werdet von einer dunklen Macht angegriffen, Cedrik!«

Cedrik zuckte hilflos mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach.

»Kannst du uns nicht helfen? Du bist immerhin ein ... Gott!«

Der Hirschmann schüttelte heftig den Kopf. »Nein, wir dürfen uns nicht in die Belange der Menschen einmischen. Das darf nicht geschehen, aus gutem Grund. Ihr Menschen seid für euer Handeln selbst verantwortlich. Aber du bist kein Gott und kein Mensch. Du bist ein Druide. Es ist an dir, das Dorf zu retten. Du musst Beira zu Hilfe rufen!«

»Aber ... ich kenne keine Beira«, sagte Cedrik erschrocken.

Cernunnos wischte seine Frage unwirsch zur Seite. »Du wirst sie gleich kennenlernen.« Er senkte kurz angestrengt die Lider. »Was feiert ihr heute? Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist? Heute ist der Tag der alten Hexe! Der Winter geht und der Frühling kommt. Aber wenn du dich beeilst, erwischst du sie noch!« Seine grünen Augen bekamen einen dunklen Glanz. »Für die schöne Brighid räumt sogar die Winterkönigin ihren Thron. Beira ist die älteste unserer Schwestern. Streng, aber gerecht. Wie der Winter.« Er lachte und es klang wie das Keckern junger Dachse. »Bitte sie um Schnee! Sie ist mächtiger als die meisten von uns. Und sie wird dir deine Bitte nicht abschlagen können.«

Die Hirschkuh zuckte zusammen und riss den Kopf nach oben, den Blick auf den Waldrand gerichtet.

Sie wittert Gefahr, dachte Cedrik.

Cernunnos straffte sich und schien zu lauschen.

Dann hörte Cedrik es auch. Ein dumpfes Dröhnen, das anschwoll und schnell näher zu kommen schien. Ihn erfasste Panik.

Cernunnos sprang behände von seinem Stein und packte ihn an den Schultern. »Du musst gehen. Sofort. Und finde sie!«

»Aber wo?!«, fragte Cedrik atemlos.

»Nicht in der Welt der Menschen!« Noch einmal wurde sein Ausdruck weich. »Sprich mit der Wölfin!« Er lächelte und schubste Cedrik hart nach hinten.

DIE GOLDENE WELT

Cedrik schnappte nach Luft und stolperte ein paar Schritte zurück. Der Troll krachte nur wenige Handbreit vor ihm in den Schnee und stöhnte laut.

Cedrik keuchte schwer. Hatte er die letzten Minuten vergessen zu atmen? Wie lange war er fort gewesen? Es konnte auch nicht nur eine Sekunde gewesen sein. Der Troll war eben erst hingefallen. Was war gerade passiert? War das wirklich sein Großvater? Cernunnos, der Gott des Waldes?

»Mann, daf war knapp! Waf ift blof lof mit dir?« Elliot stand auf der anderen Seite des benommenen Bergtrolles und hob fragend Schultern und Hände. »If dachte fschon, er erwifft dich. Du haft dich überhaupt nicht gerührt, fstandft da wie ein Sftein und hast nur ins Leere geftarrt. Allefs okay mit dir?«

Cedrik rieb sich den Kopf. Wenn es stimmte, was sein Großvater gesagt hatte, musste er helfen. Dann war es an ihm, das Feuer zu löschen.

Gespannt sah er zu den drei Hexen auf der Bühne. Die Hexen rechts und links von Esmeralda wirkten angeschlagen, aber auch die Mutter von Elliot und Emily machte den Eindruck, als müsste sie all ihre Kraft aufbringen, den Hexenkreis aufrechtzuerhalten. Und doch schienen all ihre Bemühungen erfolglos. Von Regen war weit und breit noch immer keine Spur.

»Cfedrik?! Hey, Cfedrik!«

Er musste den Winter zurückrufen. Er musste Beira finden! Aber wie zur Hölle sollte er das anstellen? Ringsum entstanden dort, wo die Deimoni ihren teuflischen Tanz aufführten, immer neue, kleine Brände.

»Cfedrik! Waf ift lof! Fag waf!«

Wo war diese Beira? Nicht in der Welt der Mensch, hatte sein Großvater gesagt. Und endlich verstand Cedrik.

Hastig wandte er sich an seinen Freund, der ihn zunehmend verwundert anstarrte. »Elliot, hör mir zu. Ich glaub, ich kann deiner Mutter helfen. Und dem Dorf! Aber du musst auf mich aufpassen, okay? Ich mein, falls wieder so ein Trolltrottel auf mich knallt, dann ziehst du mich weg, ja?!«

Elliot hob mit gespielter Hilfslosigkeit die Hände. »Natfürlich! Mach ich doch eh immer!« Sein Freund sprang über den nun schnarchenden Troll und stellte sich neben ihn. »Und jetzft?«

Ohne zu antworten, setzte sich Cedrik auf seine Fersen, legte seine Hände in den Schoß und schloss die Augen. Er holte tief Luft und versuchte das Prasseln der Flammen und das Streiten der Umstehenden auszublenden. Sein Atem wurde langsamer und er wurde ganz ruhig.

Mein Großvater ist ein Gott.

Meine Mutter eine Nymphe.

Und ich bin ein Druide.

Wieder war da das Rauschen, die unzähligen Stimmen und das Licht des Lebens um ihn herum. Cedrik war froh, dass er die letzten Wochen genau das immer wieder geübt hatte, den Wechsel zwischen den Welten. Er verließ die Welt der Menschen und betrat die »andere«, die »goldene Welt«, wie er sie insgeheim nannte. Wie auch die letzten Male erschienen ihm hier die Menschen, Tiere und Pflanzen in leuchtendem Gold, vor einem ansonsten grauen, eher undeutlichem Abbild der Szenerie. Er stand auf, in dieser Welt, während sein menschlicher Körper einfach sitzen blieb, als würde er schlafen. Bewacht von Elliot, seinem Freund.

In der goldenen Welt ging er ein paar Meter, abseits, an den Rand des Platzes und sah sich um: Alles, was Leben in sich trug, schimmerte in diesem warmen, brennenden Licht. Die Magie der drei Hexen auf der Bühne dagegen leuchtete blau. Esmeraldas Zauberkraft kräftig pulsierend, die der beiden anderen eher blass und flackernd. Sie schienen ihre Magie zu bündeln, zumindest schoss aus ihrer Mitte ein steter Strom bläulicher Funken in den Himmel. Pure Hexenmagie wirbelte um sie herum, und dort, wo der Magiestrahl der Hexen auf die Wolken stieß, brodelte der Himmel. Doch Cedrik konnte auch spüren, wie müde die drei sein mussten. Sie schaffen es nicht, dachte er.