Die Chroniken von Narnia - Alle 7 Teile in einem E-Book (Die Chroniken von Narnia) - Clive Staples Lewis - E-Book

Die Chroniken von Narnia - Alle 7 Teile in einem E-Book (Die Chroniken von Narnia) E-Book

Clive Staples Lewis

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten begeistern "Die Chroniken von Narnia" Millionen von Leser*innen und das Filmpublikum weltweit! Dieses attraktive Bundle vereint alle sieben E-Books. Perfekt für Fans, die vollständig in die magische Welt hinter dem Kleiderschrank eintauchen möchten. Enthält die E-Books: Das Wunder von Narnia, Der König von Narnia, Der Ritt nach Narnia, Prinz Kaspian von Narnia, Die Reise auf der Morgenröte, Der silberne Sessel, Der letzte Kampf

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The Chronicles of Narnia®, Narnia® and all book titles, characters and locales original to The Chronicles of Narnia are trademarks of C. S. Lewis Pte. Ltd. Use without permission is strictly prohibited.

Vollständige E-Book-Ausgabe der 2014 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin, erschienenen Buchausgabe

© Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2014

ISBN 978-3-7641-7025-7

eISBN 978-3-7641-9299-0

Die Originalausgaben der Einzelbände erschienen

1955 unter dem Titel »The Magician’s Nephew« (Band 1)

1950 unter dem Titel »The Lion, the Witch and the Wardrobe« (Band 2)

1954 unter dem Titel »The Horse and His Boy« (Band 3) und

1951 unter dem Titel »Prince Caspian« (Band 4)

1952 unter dem Titel »The Voyage of the ›Dawn Trader‹« (Band 5)

1953 unter dem Titel »The Silver Chair« (Band 6)

1956 unter dem Titel »The Last Battle« (Band 7)

bei Geoffrey Bles in Großbritannien.

Copyright © 1955 (Band 1), 1950 (Band 2), 1954 (Band 3), 1951 (Band 4), 1952 (Band 5), 1953 (Band 6) and 1956 (Band 7) by C. S. Lewis Pte. Ltd.

Published by Ueberreuter Verlag GmbH under license from The C. S. Lewis Company Ltd. Aus dem Englischen von Wolfgang Hohlbein und Christan Rendel.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Coverbilder: Art by Cliff Nielsen, Copyright © 2002, 2010 C. S. Lewis Pte. Ltd.

Umschlaggestaltung: Init, Büro für Gestaltung

www.ueberreuter.de

www.narnia.com

Inhalt

Das Wunder von Narnia

Über dieses Buch

Die falsche Tür

Digory und sein Onkel

Der Wald zwischen den Welten

Die Glocke und der Hammer

Das Gramvolle Wort

Onkel Andrew gerät in Schwierigkeiten

Was vor der Haustür geschah

Der Kampf an der Straßenlaterne

Die Gründung Narnias

Der erste Witz und andere Angelegenheiten

Digory und sein Onkel in der Klemme

Strubbels Abenteuer

Ein unerwartetes Zusammentreffen

Der Baum wird gepflanzt

Das Ende dieser Geschichte und der Beginn aller anderen

Der König von Narnia

Über dieses Buch

Vorwort

Lucy schaut in einen Kleiderschrank

Was Lucy dort entdeckte

Edmund und der Kleiderschrank

Türkischer Honig

Zurück auf dieser Seite der Tür

Hinein in die Wälder

Ein Tag bei den Bibern

Was nach dem Essen geschah

Im Haus der Hexe

Der Bann beginnt zu brechen

Aslan naht

Peters erster Kampf

Tiefer Zauber aus der Dämmerung der Zeit

Der Triumph der Hexe

Noch tieferer Zauber von vor der Dämmerung der Zeit

Was aus den Statuen wurde

Die Jagd auf den Weißen Hirsch

Der Ritt nach Narnia

Über dieses Buch

Wie Shasta sich auf den Weg machte

Ein Abenteuer am Wegesrand

Vor den Toren Tashbaans

Shasta begegnet den Narnianen

Prinz Corin

Shasta bei den Gräbern

Aravis in Tashbaan

Im Hause des Tisrocs

Durch die Wüste

Der Einsiedler der Südmark

Der unwillkommene Weggefährte

Shasta in Narnia

Die Schlacht von Anvard

Wie Bree ein weiseres Pferd wurde

Rabadash der Lächerliche

Prinz Kaspian von Narnia

Über dieses Buch

Die Insel

Die alte Schatzkammer

Der Zwerg

Der Zwerg erzählt von Prinz Kaspian

Kaspians Abenteuer in den Bergen

Das Volk, das im Verborgenen lebte

Alt-Narnia in Gefahr

Wie sie die Insel verließen

Was Lucy sah

Die Rückkehr des Löwen

Der Löwe brüllt

Zauberei und plötzliche Vergeltung

Der Hochkönig führt das Kommando

Wie alle sehr beschäftigt waren

Aslan öffnet ein Tor in der Luft

Die Reise auf der Morgenröte

Über dieses Buch

Das Bild im Schlafzimmer

An Bord der Morgenröte

Die Einsamen Inseln

Was Kaspian dort tat

Der Sturm und seine Folgen

Eustaces Abenteuer

Wie das Abenteuer endete

Zweimal knapp entronnen

Die Insel der Stimmen

Das Buch des Zauberers

Die Töffelpötte werden wieder froh

Die Dunkle Insel

Die drei Schläfer

Wo das Ende der Welt beginnt

Die Wunder des Letzten Meeres

Das äußerste Ende der Welt

Der silberne Sessel

Über dieses Buch

Hinter der Turnhalle

Jill bekommt einen Auftrag

Der König sticht in See

Das Eulenparlament

Puddelglum

Die Wüstenei des Nordens

Der Hügel mit den seltsamen Gräben

Schloss Harfang

Wie sie etwas Wissenswertes entdeckten

Eine Wanderung fernab vom Sonnenlicht

Im dunklen Schloss

Die Königin von Unterland

Unterland ohne die Königin

Der tiefste Grund der Welt

Jills Verschwinden

Die Heilung der Übel

Der letzte Kampf

Über dieses Buch

Am Kesselteich

Die Unbesonnenheit des Königs

Der Affe in seiner Herrlichkeit

Was in jener Nacht geschah

Wie dem König Hilfe zuteilwurde

Eine arbeitsreiche Nacht

Allerhand über Zwerge

Welche Nachricht der Adler brachte

Die große Versammlung auf dem Stallhügel

Wer geht in den Stall?

Die Ereignisse beschleunigen sich

Durch die Stalltür

Wie die Zwerge sich nicht hinters Licht führen lassen wollten

Nacht fällt auf Narnia

Weiter hinauf und weiter hinein

Abschied von den Schattenlanden

C. S. Lewis

Das Wunder von Narnia

Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Hohlbein und Christian Rendel

Über dieses Buch

Das Abenteuer beginnt

NARNIA ... Heimat der sprechenden Tiere und einer bösen Zauberin ... wo Wunder geschehen und eine neue Welt geboren wird.

Um ein Leben zu retten, werden zwei Freunde auf eine gefährliche Reise geschickt – an einen Ort jenseits unserer Zeit, wo eine Hexe auf sie wartet. Doch dann erschafft der mächtige Löwe Aslan mit seinem Lied das Land Narnia. Und in Narnia ist nichts unmöglich ...

... mehr von Narnia!

Für Familie Kilmer

Inhalt

Die falsche Tür

Digory und sein Onkel

Der Wald zwischen den Welten

Die Glocke und der Hammer

Das Gramvolle Wort

Onkel Andrew gerät in Schwierigkeiten

Was vor der Haustür geschah

Der Kampf an der Straßenlaterne

Die Gründung Narnias

Der erste Witz und andere Angelegenheiten

Digory und sein Onkel in der Klemme

Strubbels Abenteuer

Ein unerwartetes Zusammentreffen

Der Baum wird gepflanzt

Das Ende dieser Geschichte und der Beginn aller anderen

Die falsche Tür

Diese Geschichte handelt von Dingen, die sich vor langer Zeit zugetragen haben, als dein Großvater noch ein Kind war. Es ist eine sehr wichtige Geschichte, denn sie zeigt, wie all das Hin und Her zwischen unserer Welt und dem Lande Narnia seinen Anfang nahm.

In jener Zeit wohnte Mr Sherlock Holmes noch in der Baker Street, und in der Lewisham Road waren die Bastable-Kinder auf Schatzsuche. Als Junge musste man jeden Tag einen steifen Eton-Kragen tragen, und in der Schule war es meistens noch scheußlicher als heute. Aber das Essen schmeckte besser; und was die Süßigkeiten angeht, will ich dir gar nicht erst erzählen, wie billig und gut sie waren, sonst liefe dir nur ganz umsonst das Wasser im Mund zusammen. Und in jenen Tagen wohnte in London ein Mädchen namens Polly Plummer.

Sie wohnte in einem von einer langen Reihe von Häusern, die alle miteinander verbunden waren. Eines Morgens, als sie gerade hinten im Garten war, kletterte aus dem Garten nebenan ein Junge an der Mauer empor und schaute herüber. Das überraschte Polly sehr, denn bisher hatten in jenem Haus nie Kinder gewohnt, sondern nur Mr Ketterley und Miss Ketterley, zwei Geschwister, die als alter Junggeselle und alte Jungfer dort zusammenlebten. Also schaute sie voller Neugier hinauf. Das Gesicht des fremden Jungen war sehr schmutzig. Es hätte kaum schmutziger sein können, wenn er sich erst einmal die Hände mit Dreck eingerieben, dann ordentlich geweint und schließlich mit den Händen sein Gesicht abgetrocknet hätte. Tatsächlich war es auch ziemlich genauso gewesen.

»Hallo«, sagte Polly.

»Hallo«, sagte der Junge. »Wie heißt du?«

»Polly«, sagte Polly. »Und du?«

»Digory«, sagte der Junge.

»Das ist aber ein komischer Name!«, sagte Polly.

»Nicht halb so komisch wie Polly«, erwiderte Digory.

»Das stimmt überhaupt nicht«, sagte Polly.

»Klar stimmt es«, entgegnete Digory.

»Wenigstens wasche ich mir mein Gesicht«, sagte Polly. »Das hättest du auch mal nötig; besonders wenn –«, und dann verstummte sie. Eigentlich hatte sie sagen wollen: »Wenn du geflennt hast«, aber dann fand sie das zu unhöflich.

»Na gut, habe ich halt geflennt«, sagte Digory mit viel lauterer Stimme, als wäre ihm vor lauter Unglück völlig egal, ob andere merkten, dass er geweint hatte. »Das würdest du auch«, fuhr er fort, »wenn du dein ganzes Leben auf dem Land gelebt hättest, mit einem Pony und einem Bach am Ende des Gartens, und man dich dann in so ein scheußliches Loch wie das hier verfrachten würde.«

»London ist kein Loch«, erwiderte Polly empört. Aber der Junge war zu aufgeregt, um auf sie zu achten, und er fuhr fort –

»Und wenn dein Vater weit weg in Indien wäre – und du bei einer Tante wohnen müsstest und einem Onkel, der verrückt ist (wer könnte das aushalten?) – und zwar deswegen, weil sie sich um deine Mutter kümmern würden – und wenn deine Mutter krank wäre und bald – bald – sterben müsste.« Dann verzog er ganz komisch das Gesicht, wie es oft passiert, wenn man versucht, seine Tränen zu unterdrücken.

»Das wusste ich nicht. Tut mir leid«, sagte Polly beschämt. Und weil sie kaum wusste, was sie sagen sollte, und auch weil sie Digory gerne von seinem Kummer ablenken wollte, fragte sie:

»Ist Mr Ketterley wirklich verrückt?«

»Also, entweder ist er verrückt«, erwiderte Digory, »oder da geht irgendwas Geheimnisvolles vor sich. Er hat ein Arbeitszimmer im obersten Stockwerk, und Tante Letty sagt, dass ich es auf keinen Fall betreten darf. Da ist doch schon mal was faul, finde ich. Und dann noch etwas. Immer wenn er beim Essen etwas zu mir sagen will, schneidet sie ihm das Wort ab. Mit ihr versucht er gar nicht erst zu reden. Sie sagt dann: ›Bedränge den Jungen doch nicht, Andrew‹, oder ›Davon will Digory bestimmt nichts hören‹, oder ›Na, Digory, möchtest du nicht lieber draußen im Garten spielen gehen?‹«

»Was für Sachen will er dir denn sagen?«

»Keine Ahnung. Er kommt ja nie dazu. Aber das ist noch nicht alles. Ich könnte schwören, eines Abends – gestern Abend, genauer gesagt –, als ich auf dem Weg ins Bett am Fuß der Dachbodentreppe vorbeikam (und ich gehe gar nicht gern daran vorbei), da habe ich einen Schrei gehört.«

»Vielleicht hat er da oben eine verrückte Ehefrau eingesperrt.«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht.«

»Oder vielleicht ist er ein Falschmünzer.«

»Oder er könnte früher Pirat gewesen sein, so wie der Mann am Anfang von der Schatzinsel, und jetzt muss er sich immer vor seinen alten Schiffskameraden verstecken.«

»Ist das aufregend!«, sagte Polly. »Ich wusste gar nicht, dass euer Haus so interessant ist.«

»Du findest es vielleicht interessant«, sagte Digory. »Aber wenn du da schlafen müsstest, würde dir das auch nicht gefallen. Oder wie fändest du das, wach im Bett zu liegen und zu lauschen, ob Onkel Andrews Schritte durch den Flur zu deinem Zimmer geschlichen kommen? Und er hat so unheimliche Augen.«

So lernten Polly und Digory einander kennen; und da die Sommerferien gerade erst anfingen und keiner von ihnen in jenem Jahr ans Meer fuhr, trafen sie sich fast jeden Tag.

Ihre Abenteuer begannen hauptsächlich deshalb, weil es einer der feuchtesten und kältesten Sommer seit Jahren war. Also mussten sie sich im Haus beschäftigen; im Haus auf Kundschaft gehen sozusagen. Es ist erstaunlich, was es, mit einem Kerzenstummel ausgerüstet, in einem großen Haus oder gar in einer Häuserreihe alles zu entdecken gibt. Polly hatte schon vor langer Zeit herausgefunden, dass man durch eine bestimmte kleine Tür in der Rumpelkammer unterm Dach ihres Hauses zum Wasserspeicher kam, und dahinter gab es einen dunklen Raum, in den man gelangen konnte, wenn man vorsichtig hinüberkletterte. Der dunkle Raum war eine Art langer Tunnel zwischen einer Ziegelmauer auf der einen und der Dachschräge auf der anderen Seite. Durch kleine Spalten zwischen den Dachschindeln drang etwas Licht herein. Einen Fußboden hatte dieser Tunnel nicht; man musste von Balken zu Balken steigen, dazwischen war nur Putz. Ein falscher Tritt und man wäre durch die Decke in das Zimmer darunter gestürzt. Gleich neben dem Wasserspeicher hatte Polly sich eine Schmugglerhöhle eingerichtet. Sie hatte alte Kistenbretter und Sitzflächen von kaputten Küchenstühlen und dergleichen Dinge heraufgebracht und sie von Balken zu Balken gelegt, als Fußboden sozusagen. Hier bewahrte sie eine Geldkassette auf, die alle möglichen Schätze enthielt, eine Geschichte, an der sie schrieb, und meistens auch ein paar Äpfel. Schon oft hatte sie hier oben in aller Stille eine Flasche Ingwerbier getrunken; durch die alten Flaschen sah es noch mehr wie eine Schmugglerhöhle aus.

Digory gefiel die Höhle (die Geschichte zeigte sie ihm nicht), aber noch mehr reizte es ihn, auf Entdeckungsreise zu gehen.

»Warte mal«, sagte er. »Wie weit geht eigentlich dieser Tunnel? Ich meine, hört er da auf, wo euer Haus zu Ende ist?«

»Nein«, sagte Polly. »Die Wände reichen nicht bis zum Dach. Er geht immer weiter. Wie lange, weiß ich nicht.«

»Dann könnten wir ja die ganze Häuserreihe entlanggehen.«

»Stimmt, könnten wir«, sagte Polly. »Und – oh!«

»Was?«

»Wir könnten in die anderen Häuser hinein.«

»Klar, und als Einbrecher verhaftet werden! Nein danke.«

»Schlaumeier. Ich dachte an das Haus hinter eurem.«

»Was ist damit?«

»Na, das steht doch leer. Papa sagt, es hat schon immer leer gestanden, seit wir hierher gezogen sind.«

»Dann sollten wir es uns mal ansehen, schätze ich«, sagte Digory. Er ließ sich nicht anmerken, wie aufgeregt er war. Denn natürlich kamen ihm, euch wäre es nicht anders gegangen, alle möglichen Gründe in den Sinn, warum das Haus schon so lange leer stand. Polly ging es ähnlich. Keiner von beiden sprach das Wort »Spuk« aus. Und beide hatten das Gefühl, nachdem der Vorschlag einmal gemacht war, wäre es feige gewesen, ihn nicht in die Tat umzusetzen.

»Sollen wir gleich hingehen und es versuchen?«, fragte Digory.

»Gut«, sagte Polly.

»Du musst nicht, wenn du lieber nicht willst«, sagte Digory.

»Ich bin dabei, wenn du dabei bist«, erwiderte sie.

»Wie merken wir, wann wir im übernächsten Haus sind?«

Sie beschlossen, zurück in die Rumpelkammer zu gehen und sie der Länge nach abzuschreiten, mit Schritten, die so groß waren wie der Abstand von einem Balken zum nächsten. Dadurch würden sie ungefähr herausbekommen, wie viele Balken zu einem Raum gehörten. Dann würden sie noch vier für den Durchgang zwischen den beiden Dachbodenräumen in Pollys Haus dazuzählen, und dann noch einmal für das Dienstmädchenzimmer genauso viele wie für die Rumpelkammer. Zusammen hätten sie dann die Länge des Hauses. Wenn sie diese Entfernung zweimal gegangen waren, hatten sie das Ende von Digorys Haus erreicht; jede Tür, die danach kam, musste sie auf den Dachboden des leeren Hauses führen.

»Allerdings glaube ich, dass es in Wirklichkeit gar nicht leer ist«, sagte Digory.

»Was denn sonst?«

»Ich schätze, irgendjemand wohnt heimlich dort und kommt nur nachts heraus, mit einer verdunkelten Laterne. Wahrscheinlich werden wir eine gefährliche Verbrecherbande aufspüren und eine Belohnung bekommen. Kein Haus steht jemals so lange leer, ohne dass ein Geheimnis dahintersteckt. Das wäre doch Quatsch.«

»Papa meint, es müssten wohl die Rohre sein«, sagte Polly.

»Pfft! Die Erwachsenen haben immer so langweilige Erklärungen für alles«, sagte Digory. Jetzt, wo sie sich bei Tageslicht in der Rumpelkammer unterhielten anstatt bei Kerzenlicht in der Schmugglerhöhle, kam es ihnen viel weniger wahrscheinlich vor, dass es in dem leeren Haus spukte.

Nachdem sie die Dachstube abgeschritten hatten, mussten sie sich einen Bleistift holen und rechnen. Zuerst kamen die beiden zu verschiedenen Ergebnissen, und ich bin nicht ganz sicher, ob sie richtig gerechnet hatten, selbst nachdem sie sich einig geworden waren. Schließlich konnten sie es kaum abwarten, ihre Expedition anzutreten.

»Wir müssen mucksmäuschenstill sein«, sagte Polly, als sie wieder am Wasserspeicher vorbeikletterten. Weil es so ein wichtiges Unternehmen war, nahmen sie jeder eine Kerze mit (Polly hatte in ihrer Höhle einen reichlichen Vorrat davon).

Es war stockfinster, staubig und sehr zugig, und sie stiegen von Balken zu Balken, ohne ein Wort zu sagen, bis auf ein geflüstertes »Jetzt sind wir bei eurer Dachstube« oder »Wir müssten jetzt zur Hälfte durch unser Haus durch sein«. Keiner von ihnen stolperte, und die Kerzen gingen nicht aus, und schließlich kamen sie an eine Stelle, wo sie zu ihrer Rechten eine kleine Tür in der Ziegelmauer sehen konnten. Auf dieser Seite hatte sie weder einen Riegel noch eine Klinke, denn die Tür war natürlich dazu da, um hereinzukommen, nicht hinaus; aber es gab einen Haken (wie er oft auf der Innenseite einer Schranktür zu finden ist), und sie waren sicher, dass es ihnen gelingen würde, ihn zu öffnen.

»Soll ich?«, fragte Digory.

»Ich bin dabei, wenn du dabei bist«, erwiderte Polly, genau wie sie es zuvor gesagt hatte. Beide hatten das Gefühl, dass es jetzt richtig ernst wurde, aber keiner wollte einen Rückzieher machen. Mit einiger Mühe löste Digory den Haken. Die Tür schwang auf, und das plötzliche Tageslicht ließ sie blinzeln. Dann sahen sie zu ihrem großen Schrecken, dass sie nicht in eine verlassene Dachbodenkammer, sondern in ein möbliertes Zimmer schauten. Leer schien es allerdings zu sein. Es war totenstill. Pollys Neugier gewann die Oberhand. Sie blies ihre Kerze aus und trat hinaus in das seltsame Zimmer, wobei sie sich so leise bewegte wie ein Mäuschen.

Es hatte natürlich die Form einer Dachstube, aber eingerichtet war es wie ein Wohnzimmer. Die Wände waren bis in den letzten Winkel von Regalen bedeckt, und die Regale waren dicht gefüllt mit Büchern. Im Kamin brannte ein Feuer (wie gesagt, es war ein sehr kalter, feuchter Sommer in jenem Jahr), und vor dem Kamin stand mit der Rückenlehne zu ihnen ein hoher Ohrensessel. In der Mitte des Zimmers, zwischen dem Sessel und Polly, nahm ein großer Tisch den meisten Raum ein. Darauf stapelten sich alle möglichen Sachen – Bücher, auch solche mit leeren Seiten, in die man etwas hineinschreibt, und Tintenfässer und Federhalter und Siegelwachs und ein Mikroskop. Was ihr jedoch als Erstes auffiel, war ein leuchtend rotes Holztablett, auf dem einige Ringe lagen. Es waren immer zwei zusammen – ein gelber und ein grüner, dann ein kleiner Abstand und wieder ein gelber und ein grüner. Sie waren nicht größer als gewöhnliche Ringe, aber sie waren nicht zu übersehen, weil sie so funkelten. Es waren die wunderschönsten glänzenden kleinen Dinger, die man sich vorstellen kann. Wäre Polly nur ein kleines bisschen jünger gewesen, hätte sie den Wunsch verspürt, einen davon in den Mund zu stecken.

In dem Zimmer war es so still, dass man sofort das Ticken der Uhr bemerkte. Und doch stellte sie nun fest, dass es nicht absolut still war. Da war noch ein leises – ein ganz, ganz leises – summendes Geräusch. Wären Staubsauger in jenen Tagen schon erfunden gewesen, so hätte Polly es für das Geräusch eines Staubsaugers in weiter Ferne gehalten – etliche Zimmer weit weg und etliche Stockwerke tiefer. Aber das Geräusch war angenehmer, der Ton musikalischer; nur eben so schwach, dass man es kaum hören konnte.

»Alles klar, es ist niemand hier«, sagte Polly über die Schulter zu Digory. Sie flüsterte jetzt nicht mehr. Digory kam blinzelnd zum Vorschein. Er sah ausgesprochen schmutzig aus – wie Polly auch.

»Das ist nicht gut«, sagte er. »Das Haus steht überhaupt nicht leer. Lass uns lieber abhauen, bevor jemand kommt.«

»Was glaubst du, was das ist?«, fragte Polly und deutete auf die farbigen Ringe.

»Jetzt komm schon«, sagte Digory. »Je eher –«

Er konnte nie beenden, was er sagen wollte, denn in diesem Moment geschah etwas. Der Ohrensessel vor dem Feuer bewegte sich plötzlich, und von ihm erhob sich – wie ein Geist im Theater, der durch eine Falltür in der Bühne aufsteigt – die furchterregende Gestalt Onkel Andrews. Sie waren überhaupt nicht in dem leer stehenden Haus; sie waren in Digorys Haus, in dem verbotenen Arbeitszimmer! Beide Kinder riefen »O-o-oh!« und erkannten ihren schrecklichen Irrtum. Es kam ihnen vor, als hätten sie die ganze Zeit wissen müssen, dass sie längst nicht weit genug gegangen waren.

Onkel Andrew war sehr groß und ausgesprochen dünn. Er hatte ein langes, glatt rasiertes Gesicht mit einer spitzen Nase, äußerst helle Augen und einen üppigen, zerzausten grauen Haarschopf.

Digory brachte keinen Ton heraus, denn Onkel Andrew sah tausend Mal erschreckender aus als je zuvor. Polly hatte noch nicht so große Angst; aber die bekam sie kurz darauf. Denn das Erste, was Onkel Andrew nun tat, war, hinüber zur Zimmertür zu gehen, sie zu schließen und den Schlüssel herumzudrehen. Dann wandte er sich um, schaute die Kinder mit seinen hellen Augen an und lächelte, dass seine Zähne blitzten.

»So!«, sagte er. »Jetzt kommt meine närrische Schwester nicht an euch heran!«

Das war erschreckend anders als alles, was man von einem Erwachsenen erwartet hätte. Pollys Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie und Digory begannen sich rückwärts auf die kleine Tür zuzubewegen, durch die sie hereingekommen waren. Doch Onkel Andrew war zu schnell für sie. Er sprang hinter sie, machte diese Tür ebenfalls zu und stellte sich davor. Dann rieb er sich die Hände und ließ seine Knöchel knacken. Er hatte sehr lange, schön weiße Finger.

»Ich bin entzückt, euch zu sehen«, sagte er. »Zwei Kinder kommen mir jetzt gerade recht.«

»Bitte, Mr Ketterley«, sagte Polly. »Für mich ist fast Essenszeit, ich muss nach Hause. Lassen Sie uns bitte hinaus?«

»Nicht so schnell«, sagte Onkel Andrew. »Die Gelegenheit ist zu günstig, als dass ich sie mir entgehen lassen könnte. Ich brauche zwei Kinder. Wisst ihr, ich stecke gerade mitten in einem großen Experiment. Mit einem Meerschweinchen habe ich es schon probiert, und das hat offenbar funktioniert. Aber ein Meerschweinchen kann einem nun einmal nichts erzählen. Und man kann ihm nicht erklären, wie es wieder zurückkommen soll.«

»Hör mal, Onkel Andrew«, sagte Digory, »es ist wirklich Essenszeit, und man wird gleich nach uns suchen. Du musst uns hinauslassen.«

»Muss ich das?«, fragte Onkel Andrew.

Digory und Polly wechselten einen Blick. Sie wagten es nicht, zu sprechen, doch ihre Blicke sagten: »Ist das nicht schrecklich?« und »Wir müssen tun, was er will.«

»Wenn Sie uns jetzt zum Essen gehen lassen«, sagte Polly, »könnten wir hinterher wiederkommen.«

»Ah ja, aber woher wüsste ich, dass ihr das auch tun würdet?«, erwiderte Onkel Andrew mit einem verschlagenen Lächeln. Doch dann schien er seine Meinung zu ändern.

»Aber nun gut«, sagte er, »wenn ihr wirklich gehen müsst, dann hilft es wohl nichts. Ich darf nicht erwarten, dass zwei Küken wie ihr Spaß daran habt, euch mit einem alten Esel wie mir zu unterhalten.« Mit einem Seufzen fuhr er fort: »Ihr ahnt ja nicht, wie einsam ich manchmal bin. Aber sei’s drum. Geht nur essen. Aber ich muss dir ein Geschenk machen, bevor du gehst. Ich bekomme ja nicht jeden Tag Besuch von einem kleinen Mädchen in meinem muffigen alten Arbeitszimmer; schon gar nicht, wenn ich das sagen darf, von einer so entzückenden jungen Dame wie dir.«

Polly kam der Gedanke, dass er in Wirklichkeit vielleicht doch nicht verrückt sei.

»Möchtest du nicht einen Ring haben, meine Liebe?«, sagte Onkel Andrew zu Polly.

»Meinen Sie etwa einen von diesen gelben oder grünen?«, fragte Polly. »Wie schön!«

»Keinen grünen«, erwiderte Onkel Andrew. »Die grünen kann ich nicht verschenken, fürchte ich. Aber ich würde dir mit Vergnügen einen von den gelben schenken; mit meinen besten Wünschen. Komm und probier einen an.«

Polly hatte ihre Angst inzwischen völlig vergessen und war sicher, dass der alte Herr keineswegs verrückt war; und diese funkelnden Ringe hatten zweifellos etwas seltsam Anziehendes. Sie ging hinüber zu dem Tablett.

»Nanu!«, sagte sie. »Das Summen wird hier ja auf einmal lauter. Es hört sich fast so an, als ob es von den Ringen käme.«

»Was für ein ulkiger Gedanke, meine Liebe«, sagte Onkel Andrew lachend. Das Lachen hörte sich ganz natürlich an, doch Digory entging nicht der ungeduldige, fast gierige Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Polly! Sei nicht dumm!«, rief er. »Fass sie nicht an!«

Es war zu spät. Noch während er sprach, streckte Polly die Hand aus, um einen der Ringe zu berühren. Und im selben Moment, ohne einen Blitz oder einen Lärm oder irgendeine Art von Vorwarnung, war Polly nicht mehr da. Digory und sein Onkel waren allein im Zimmer.

Digory und sein Onkel

Es geschah so plötzlich und war so viel grässlicher als alles, was Digory je erlebt hatte, selbst in seinen Albträumen, dass er einen Schrei ausstieß. Sofort hielt ihm Onkel Andrew mit der Hand den Mund zu. »Bist du wohl still!«, zischte er Digory ins Ohr. »Wenn du anfängst, hier Radau zu machen, wird deine Mutter es hören. Und du weißt ja, was passieren könnte, wenn du ihr einen solchen Schrecken einjagst.«

Wie Digory später sagte, wurde ihm beinahe schlecht von der abgrundtiefen Gemeinheit, jemanden auf diese Weise in die Zange zu nehmen. Aber natürlich schrie er nicht noch einmal.

»Schon besser«, sagte Onkel Andrew. »Vielleicht konntest du nicht anders. Es ist schon ein Schock, wenn man zum ersten Mal jemanden verschwinden sieht. Sogar ich bin zusammengezuckt, als das neulich abends mit dem Meerschweinchen passierte.«

»War das, als du geschrien hast?«, fragte Digory.

»Ach, das hast du wohl gehört, was? Du hast mir doch nicht etwa nachspioniert?«

»Nein, habe ich nicht«, sagte Digory empört. »Aber was ist mit Polly passiert?«

»Du darfst mir gratulieren, mein lieber Junge«, sagte Onkel Andrew und rieb sich die Hände. »Mein Experiment ist geglückt. Das kleine Mädchen ist weg – verschwunden – geradewegs hinaus aus der Welt.«

»Was hast du mit ihr gemacht?«

»Ich habe sie an – nun – an einen anderen Ort geschickt.«

»Wie meinst du das?«, fragte Digory.

Onkel Andrew setzte sich und sagte: »Das werde ich dir genau erklären. Hast du je von der alten Mrs Lefay gehört?«

»War das nicht irgendeine Großtante oder so?«, fragte Digory.

»Nicht ganz«, erwiderte Onkel Andrew. »Sie war meine Patin. Das ist sie, dort an der Wand.«

Digory schaute hin und sah eine verblichene Fotografie, die das Gesicht einer alten Frau mit einer Haube zeigte. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er in einer alten Schublade zu Hause auf dem Land einmal ein Foto von demselben Gesicht gesehen hatte. Er hatte seine Mutter gefragt, wer das sei, und Mutter hatte offenbar keine große Lust gehabt, lange darüber zu reden. Es war überhaupt kein nettes Gesicht, fand Digory, obwohl man das natürlich auf jenen frühen Fotografien nie richtig erkennen konnte.

»War da – war da nicht – irgendetwas, was mit ihr nicht stimmte, Onkel Andrew?«, fragte er.

»Nun«, antwortete Onkel Andrew schmunzelnd, »das hängt davon ab, was du unter nicht stimmen verstehst. Die Leute sind ja so engstirnig. Sicher, gegen Ende ihres Lebens wurde sie ziemlich merkwürdig. Sie benahm sich sehr unbesonnen. Deswegen wurde sie ja dann auch eingesperrt.«

»In einem Irrenhaus, meinst du?«

»O nein, nein, nein«, erwiderte Onkel Andrew schockiert. »Nichts dergleichen. Nur im Gefängnis.«

»Im Gefängnis!«, rief Digory. »Was hatte sie denn angestellt?«

»Ach, die arme Frau«, sagte Onkel Andrew. »Sie hatte sich wirklich sehr unklug verhalten. Da gab es eine ganze Reihe Dinge. Das müssen wir jetzt nicht alles besprechen. Zu mir war sie immer sehr freundlich.«

»Aber sag mal, was hat denn das alles mit Polly zu tun? Ich wünschte, du würdest –«

»Immer mit der Ruhe, mein Junge«, sagte Onkel Andrew. »Mrs Lefay wurde entlassen, bevor sie starb, und ich war einer der wenigen, die sie während ihrer letzten Krankheit zu sich ließ. Sie hatte einen Widerwillen gegen gewöhnliche, unwissende Leute entwickelt, weißt du. Mir selbst geht es ebenso. Doch sie und ich hatten dieselben Interessen. Wenige Tage vor ihrem Tod sagte sie mir, ich solle ihr aus dem Geheimfach ihres alten Sekretärs ein kleines Kästchen bringen. Sobald ich dieses Kästchen herausnahm, spürte ich an dem Stechen in meinen Fingern, dass ich ein großes Geheimnis in der Hand hielt. Sie übergab es mir und nahm mir das Versprechen ab, das Kästchen, sobald sie tot sei, ungeöffnet und nach einer bestimmten Zeremonie zu verbrennen. Dieses Versprechen habe ich nicht gehalten.«

»Also, das war aber ziemlich schäbig von dir.«

»Schäbig?«, wiederholte Onkel Andrew mit einem verdutzten Blick. »Ach so, du meinst, weil kleine Jungen ihre Versprechen halten sollten. Ganz recht; natürlich, das gehört sich so, und ich bin sehr froh, dass du gelernt hast, dich danach zu richten. Aber du musst doch einsehen, derartige Regeln, wie ausgezeichnet sie auch für kleine Jungen sein mögen – und für Dienstboten – und für Frauen – ja, sogar für die Leute im Allgemeinen, können unmöglich auch für tief schürfende Forscher, für die großen Denker und Weisen gelten. Nein, Digory. Männer wie ich, die über geheimes Wissen verfügen, sind von gewöhnlichen Regeln befreit, wie uns auch die gewöhnlichen Freuden versagt sind. Uns, mein Junge, ist ein hohes und einsames Los beschieden.«

Bei diesen Worten seufzte er und sah so ernst und nobel und geheimnisvoll aus, dass Digory eine Sekunde lang wirklich glaubte, er sage etwas besonders Edelmütiges. Doch dann fiel ihm die hässliche Grimasse wieder ein, die er unmittelbar vor Pollys Verschwinden auf dem Gesicht seines Onkels gesehen hatte; und sogleich durchschaute er Onkel Andrews hochtrabende Worte. »Das bedeutet nur«, sagte er sich, »dass er meint, er könne alles tun, was ihm passt, um zu kriegen, was er will.«

»Freilich«, fuhr Onkel Andrew fort, »wagte ich es lange Zeit nicht, das Kästchen zu öffnen, denn ich wusste, dass der Inhalt möglicherweise äußerst gefährlich war. Meine Patin war eine äußerst bemerkenswerte Frau. Die Wahrheit ist, sie war eine der letzten Sterblichen in diesem Lande, die noch Feenblut in sich hatte. (Sie sagte, zu ihrer Zeit habe es noch zwei andere gegeben. Die eine war eine Herzogin, die andere eine Putzfrau.) Somit, Digory, sprichst du gerade mit dem (möglicherweise) letzten Menschen, der wirklich eine Fee zur Patin hatte. Jawohl! Von dieser Erinnerung kannst du zehren, wenn du selbst ein alter Mann bist.«

»Ich wette, sie war eine böse Fee«, dachte Digory; und laut fügte er hinzu: »Aber was ist jetzt mit Polly?«

»Wie du immer darauf herumreitest!«, rief Onkel Andrew. »Als ob es darum ginge! Meine erste Aufgabe war es natürlich, das Kästchen selbst zu studieren. Es war uralt. Und ich kannte mich damals schon gut genug aus, um zu wissen, dass es nicht griechischer, altägyptischer, babylonischer, hethitischer oder chinesischer Herkunft war. Es war älter als alle diese Kulturen. Ah – das war ein großer Tag, als ich endlich hinter die Wahrheit kam. Das Kästchen war atlantisch; es stammte von der verschollenen Insel Atlantis. Das hieß, es war Jahrhunderte älter als all die Gegenstände aus der Steinzeit, die sie in Europa ausgraben. Und dabei war es kein grob behauenes Ding wie jene Funde. Denn schon in der Morgendämmerung der Zeit war Atlantis eine große Stadt mit Palästen und Tempeln und gelehrten Männern.«

Er hielt einen Moment inne, als erwartete er, dass Digory etwas sagte. Doch Digory mochte seinen Onkel von Minute zu Minute weniger und schwieg deshalb.

»Inzwischen«, fuhr Onkel Andrew fort, »lernte ich auf anderen Wegen (mehr will ich dazu nicht sagen, dafür bist du zu jung) eine Menge über Magie im Allgemeinen. Dadurch gewann ich eine recht klare Vorstellung davon, was sich in dem Kästchen befinden könnte. Durch verschiedene Tests schränkte ich die Möglichkeiten ein. Dazu musste ich einige – nun, einige verteufelt merkwürdige Leute kennen lernen und ein paar äußerst unangenehme Erlebnisse durchmachen. Das war es, was mir das Haupt ergrauen ließ. Man wird nicht Zauberer, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Am Ende brach meine Gesundheit völlig zusammen. Aber ich erholte mich wieder. Und endlich kam ich tatsächlich dahinter.«

Obwohl eigentlich nicht die geringste Möglichkeit bestand, dass jemand sie belauschte, beugte er sich vor und flüsterte beinahe, als er sagte:

»Die atlantische Schatulle enthielt etwas, was aus einer anderen Welt hergebracht worden war, als unsere Welt gerade erst entstand.«

»Was denn?«, fragte Digory, dessen Neugier jetzt gegen seinen Willen erwacht war.

»Nur Staub«, sagte Onkel Andrew. »Feiner, trockener Staub. Sah nicht nach viel aus. Ein geringer Lohn für meine lebenslange Mühe, könnte man sagen. Oh, aber als ich diesen Staub betrachtete (ich passte mächtig auf, ihn nicht zu berühren) und darüber nachdachte, dass jedes Körnchen davon sich einmal in einer anderen Welt befunden hatte – ich meine nicht einen anderen Planeten, weißt du; die gehören ja zu unserer Welt, und man könnte sie erreichen, wenn man weit genug flöge – sondern eine wirklich Andere Welt – eine andere Natur – ein anderes Universum – einen Ort, den man nie erreichen könnte, selbst wenn man bis in alle Ewigkeit durch den Weltraum dieses Universums reisen würde – nun!« Hier rieb sich Onkel Andrew die Hände, bis seine Knöchel knackten wie Feuerwerkskörper.

»Da wusste ich«, fuhr er fort, »dass jener Staub, wenn man ihn nur in die richtige Form bringen könnte, einen zurück an den Ort ziehen würde, von dem er gekommen war. Aber das war eben das Schwierige – ihn in die richtige Form zu bringen. Meine früheren Experimente sind alle gescheitert. Ich habe sie an Meerschweinchen ausprobiert. Manche von ihnen starben einfach nur. Einige explodierten wie kleine Bomben –«

»Das war aber grausam von dir!«, sagte Digory, der selbst einmal ein Meerschweinchen gehabt hatte.

»Musst du ständig vom Thema ablenken!«, erwiderte Onkel Andrew. »Dafür waren die Kreaturen doch da. Ich habe sie schließlich selbst gekauft. Moment mal – wo war ich? Ah ja. Endlich gelang es mir, die Ringe herzustellen; die gelben Ringe. Doch nun ergab sich eine neue Schwierigkeit. Ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass ein gelber Ring jedes Lebewesen, das ihn berührte, an den Anderen Ort schicken würde. Aber was nützte mir das, wenn ich sie nicht zurückholen konnte, damit sie mir sagten, was sie dort gesehen hatten?«

»Und was ist mit ihnen?«, fragte Digory. »Die würden ja in einem schönen Schlamassel stecken, wenn sie nicht mehr zurück könnten!«

»Ständig musst du alles aus dem falschen Blickwinkel betrachten«, sagte Onkel Andrew mit ungeduldiger Miene. »Begreifst du denn nicht, dass es sich hier um ein großes Experiment handelt? Wenn ich jemanden an den Anderen Ort schicke, geht es doch nur darum, dass ich herausfinden will, wie es dort ist.«

»Na, warum bist du dann nicht selbst hingegangen?«

Digory hatte noch nie jemanden so verblüfft und empört erlebt wie seinen Onkel in diesem Moment. »Ich? Ich?«, rief er. »Der Junge muss den Verstand verloren haben! Ein Mann in meinem Alter und bei meiner Gesundheit soll sich dem Schock und der Gefahr aussetzen, plötzlich in ein anderes Universum geschleudert zu werden? So etwas Groteskes habe ich noch nie im Leben gehört! Ist dir eigentlich klar, was du da sagst? Überleg doch mal, was das bedeutet, eine Andere Welt – da könnte dir alles Mögliche begegnen – alles.«

»Und dorthin hast du Polly also geschickt, nehme ich an«, sagte Digory. Seine Wangen waren jetzt flammend rot vor Zorn. »Und alles, was ich dazu sagen kann«, fügte er hinzu, »auch wenn du mein Onkel bist, ist, dass du dich wie ein Feigling benommen hast, indem du ein Mädchen an einen Ort geschickt hast, an den du dich selbst nicht traust.«

»Ruhe, junger Mann!«, rief Onkel Andrew und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Für wen hältst du kleiner, rotznäsiger Schuljunge dich, dass du so mit mir redest! Du verstehst das nicht. Ich bin der große Gelehrte, der Zauberer, der Experte, der das Experiment durchführt. Natürlich brauche ich Versuchsobjekte, an denen ich es durchführe. Meiner Treu, gleich wirst du mir wohl noch erzählen, ich hätte die Meerschweinchen um Erlaubnis bitten sollen, bevor ich sie benutzte! Hohe Erkenntnisse sind nicht ohne Opfer zu gewinnen. Aber der Gedanke, ich hätte selbst gehen sollen, ist lächerlich. Genauso gut könnte man einen General auffordern, zu kämpfen wie ein gewöhnlicher Soldat. Wenn ich nun umkäme, was sollte dann aus meinem Lebenswerk werden?«

»Ach, hör doch auf zu schwafeln«, sagte Digory. »Holst du Polly jetzt zurück?«

»Gerade, als du mich so unhöflich unterbrochen hast, wollte ich dir sagen«, erwiderte Onkel Andrew, »dass ich endlich einen Weg gefunden habe, wie man zurückkehren kann. Die grünen Ringe bringen einen wieder zurück.«

»Aber Polly hat doch keinen grünen Ring.«

»Nein«, sagte Onkel Andrew mit einem grausamen Lächeln.

»Dann kann sie nicht zurück«, rief Digory. »Und das ist genauso, als ob du sie ermordet hättest.«

»Sie kann zurück«, sagte Onkel Andrew, »wenn jemand ihr nachreist, der selbst einen gelben Ring trägt und zwei grüne Ringe mitnimmt; einen, um selbst zurückzukehren, und einen, um sie zurückzubringen.«

Und nun begriff Digory natürlich sofort, in welcher Falle er saß. Wortlos und mit weit geöffnetem Mund starrte er Onkel Andrew an. Seine Wangen waren ganz bleich geworden.

»Ich hoffe«, sagte Onkel Andrew im nächsten Moment in erhabenem Tonfall, so als wäre er ein mustergültiger Onkel, der einem gerade ein großzügiges Taschengeld zugesteckt und ein paar gute Ratschläge gegeben hatte, »ich hoffe, Digory, dass du keiner bist, der so leicht die weiße Fahne schwenkt. Es wäre mir ein äußerst unangenehmer Gedanke, dass jemand aus meiner Familie nicht die Ehre und Ritterlichkeit aufbrächte, einer – äh – Dame in Not zu Hilfe zu eilen.«

»Ach, sei doch still!«, entgegnete Digory. »Hättest du nur einen Funken Ehre im Leib, würdest du selbst gehen. Aber das wirst du nicht tun, ich weiß. Na schön. Mir bleibt also nichts anderes übrig. Aber du bist ein Ungeheuer. Wahrscheinlich hast du die ganze Sache genauso geplant, dass sie geht, ohne es zu wissen, und ich dann hinterher muss.«

»Natürlich«, antwortete Onkel Andrew mit seinem widerwärtigen Lächeln.

»Na gut. Ich gehe. Aber eines will ich dir vorher unbedingt noch sagen. Bis heute habe ich nicht an Zauberei geglaubt. Jetzt sehe ich, es gibt sie doch. Nun, wenn das so ist, werden wohl auch all die alten Märchen mehr oder weniger wahr sein. Und du bist einfach nur ein böser, grausamer Zauberer wie die in den Geschichten. Und ich habe noch nie eine Geschichte gelesen, in der solche Leute nicht am Ende ihren verdienten Lohn bekommen hätten, und ich wette, so wird es dir auch ergehen. Und das geschieht dir recht.«

Von all den Dingen, die Digory gesagt hatte, war dies das erste, das wirklich saß. Onkel Andrew fuhr zusammen, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck solch blanken Entsetzens, dass er einem fast leidtun konnte, auch wenn er ein Ungeheuer war. Doch eine Sekunde später hatte er sich wieder in der Gewalt und sagte mit einem ziemlich gezwungenen Lachen. »Ja, ja, ich nehme an, es ist nur natürlich, dass ein Kind so denkt – vor allem, wenn es unter lauter Frauen aufgewachsen ist, so wie du. Altweibergeschichten, hm? Ich glaube, über die Gefahr, in der ich schwebe, brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wäre es nicht besser, dich um die Gefahr zu sorgen, in der deine kleine Freundin schwebt? Sie ist schon eine ganze Weile weg. Falls da drüben irgendwelche Gefahren lauern – nun, es wäre doch ein Jammer, wenn du einen Moment zu spät kämst.«

»Als ob du dich darum scheren würdest«, sagte Digory wütend. »Aber ich habe genug von diesem Geschwafel. Was muss ich tun?«

»Du musst wirklich lernen, dein Temperament zu zügeln, mein Junge«, sagte Onkel Andrew kühl. »Andernfalls wirst du wie deine Tante Letty, wenn du groß bist. Und nun aufgepasst.«

Er stand auf, zog ein Paar Handschuhe an und ging hinüber zu dem Tablett mit den Ringen.

»Sie funktionieren nur«, sagte er, »wenn sie tatsächlich deine Haut berühren. Mit Handschuhen kann ich sie anfassen – so – ohne dass etwas passiert. Wenn du einen in der Tasche hast, passiert nichts; nur musst du natürlich aufpassen, nicht die Hand in die Tasche zu stecken und ihn aus Versehen zu berühren. Sobald du einen gelben Ring berührst, verschwindest du aus dieser Welt. Wenn du an dem Anderen Ort bist, erwarte ich – natürlich ist das noch nicht getestet worden, aber ich erwarte –, dass du in dem Moment, wo du einen grünen Ring berührst, aus jener Welt verschwindest und – so erwarte ich – wieder in dieser erscheinst. So. Ich nehme diese beiden grünen Ringe und stecke sie in deine rechte Tasche. Merk dir genau, in welcher Tasche die grünen sind. G für Grün und R für Rechts. GR, verstehst du; die ersten beiden Buchstaben des Wortes grün. Einer ist für dich und einer für das kleine Mädchen. Und nun nimm dir einen gelben für dich selbst. Ich würde ihn anstecken – an deinen Finger, wenn ich du wäre. Dann verlierst du ihn nicht so leicht.«

Digory hatte den gelben Ring schon fast ergriffen, als er sich plötzlich bremste.

»Was ist denn mit Mutter? Wenn sie nun fragt, wo ich bin?«

»Je eher du gehst, desto eher bist du wieder zurück«, sagte Onkel Andrew unbekümmert.

»Aber du weißt doch eigentlich gar nicht, ob ich überhaupt zurück kann.«

Onkel Andrew zuckte die Achseln, ging hinüber zur Tür, entriegelte sie, stieß sie auf und sagte:

»Na, dann eben nicht. Ganz wie du willst. Geh hinunter zum Essen. Lass doch das kleine Mädchen in der Anderwelt von wilden Tieren gefressen werden oder ertrinken oder verhungern oder für immer umherirren, wenn dir das lieber ist. Mir ist es gleich. Vielleicht solltest du vor dem Tee noch schnell bei Mrs Plummer vorbeischauen und ihr erklären, dass sie ihre Tochter nie wieder sehen wird, weil du Angst davor hattest, einen Ring anzustecken.«

»Menschenskind«, sagte Digory, »ich wünschte bloß, ich wäre groß genug, um dir eins über den Schädel zu ziehen!«

Dann knöpfte er seine Jacke zu, holte tief Luft und ergriff den Ring. Und er dachte in diesem Moment, wie er auch später immer dachte, dass er anständigerweise nichts anderes hätte tun können.

Der Wald zwischen den Welten

Onkel Andrew und sein Arbeitszimmer verschwanden sofort. Dann herrschte einen Moment lang ein ziemliches Durcheinander. Als Nächstes bemerkte Digory ein sanftes grünes Licht, das von oben auf ihn herabschien. Unter ihm war es dunkel. Er schien nicht auf irgendetwas zu stehen, zu sitzen oder zu liegen. Nichts schien ihn zu berühren. »Ich glaube, ich bin im Wasser«, sagte Digory. »Oder unter Wasser.« Das jagte ihm eine Sekunde lang Angst ein, aber gleich darauf spürte er, dass er rasch aufwärts stieg. Dann durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche, und er kletterte an Land, auf einen weichen, grasbewachsenen Boden am Rande eines Teichs.

Kaum war er auf den Beinen, fiel ihm auf, dass er weder triefend nass war noch keuchte, wie man es normalerweise erwarten würde, wenn man gerade unter Wasser war. Seine Kleider waren vollkommen trocken. Er stand am Rande eines kleinen Teichs – kaum mehr als drei Meter von einer Seite zur anderen – in einem Wald. Die Bäume standen dicht beieinander und trugen so viel Laub, dass nirgends ein Stückchen Himmel zu sehen war. Das einzige Licht war das grüne Licht, das durch die Blätter kam; doch darüber musste eine sehr starke Sonne scheinen, denn dieses grüne Tageslicht war hell und warm. In dem Wald war es so still, wie man es sich nur vorstellen kann. Es gab weder Vögel noch Insekten noch andere Tiere, und es wehte auch kein Wind. Man spürte beinahe, wie die Bäume wuchsen. Der Teich, aus dem er gerade gekommen war, war nicht der einzige. Es gab noch Dutzende andere – alle paar Meter kam ein Teich, so weit das Auge reichte. Man spürte fast, wie die Bäume mit ihren Wurzeln das Wasser aufsogen. Dieser Wald war ganz und gar lebendig. Wenn Digory ihn später zu beschreiben versuchte, sagte er immer: »Alles war üppig dort; so üppig wie Früchtebrot.«

Das Merkwürdigste war, dass Digory, beinahe bevor er sich umgeschaut hatte, schon halb vergessen hatte, wie er hierher gekommen war. Zumindest dachte er überhaupt nicht an Polly oder an Onkel Andrew, nicht einmal an seine Mutter. Er war nicht im Geringsten ängstlich oder aufgeregt oder neugierig. Hätte jemand ihn gefragt: »Woher kommst du?«, so hätte er wahrscheinlich gesagt: »Ich war schon immer hier.« So fühlte es sich an – als ob man schon immer an diesem Ort gewesen wäre und sich nie gelangweilt hätte, obwohl nie etwas geschah. Viel später sagte er einmal: »Es ist kein Ort von der Art, wo Dinge geschehen. Die Bäume wachsen unentwegt; das ist alles.«

Nachdem Digory lange Zeit den Wald betrachtet hatte, bemerkte er, dass am Fuß eines Baumes, ein paar Meter von ihm entfernt, ein Mädchen auf dem Rücken lag. Sie hatte die Augen fast geschlossen, aber nicht ganz, so als wäre sie gerade zwischen Schlafen und Wachen. Er schaute sie lange Zeit an, ohne etwas zu sagen. Endlich öffnete sie die Augen, sah ihn lange Zeit an und sagte ebenfalls nichts. Dann sprach sie mit einer Stimme, die sich irgendwie verträumt und zufrieden anhörte.

»Ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen.«

»Das Gefühl habe ich auch«, sagte Digory. »Bist du schon lange hier?«

»Oh, schon immer«, sagte das Mädchen. »Mindestens – keine Ahnung – schon sehr lange.«

»Ich auch«, sagte Digory.

»Nein, du nicht. Ich habe dich eben erst aus dem Teich da kommen sehen.«

»Ja, jetzt, wo du es sagst«, erwiderte Digory verdutzt. »Das hatte ich ganz vergessen.«

Dann schwiegen beide lange Zeit.

»Hör mal«, sagte das Mädchen plötzlich, »ich frage mich, ob wir uns wirklich schon einmal begegnet sind. Ich hatte da gerade so einen Gedanken – eine Art Bild in meinem Kopf – von einem Jungen und einem Mädchen, so wie wir – die irgendwo ganz anders gelebt haben – und alles Mögliche zusammen gemacht haben. Vielleicht war das nur ein Traum.«

»Ich glaube, ich hatte denselben Traum«, sagte Digory. »Von einem Jungen und einem Mädchen, die nebeneinander wohnten – und die irgendwo zwischen Balken herumkrochen. Ich weiß noch, dass das Mädchen ein ganz schmutziges Gesicht hatte.«

»Bringst du da nicht etwas durcheinander? In meinem Traum war es der Junge, der ein schmutziges Gesicht hatte.«

»An das Gesicht des Jungen erinnere ich mich nicht«, sagte Digory; dann fügte er plötzlich hinzu: »Hallo! Was ist denn das?«

»Nanu! Das ist ja ein Meerschweinchen«, sagte das Mädchen. Und tatsächlich – es war ein dickes Meerschweinchen, das im Gras herumschnüffelte. Doch um die Mitte trug das Meerschweinchen ein Band, und an dem Band war ein leuchtend gelber Ring befestigt.

»Schau! Sieh doch mal«, rief Digory. »Der Ring! Und da! So einen hast du auch am Finger. Und ich auch.«

Jetzt setzte sich das Mädchen auf, denn ihr Interesse war endlich richtig erwacht. Die beiden schauten einander ganz genau an und versuchten sich zu erinnern. Und dann, in genau demselben Moment, rief sie: »Mr Ketterley«, und er rief: »Onkel Andrew«, und sie wussten, wer sie waren, und die ganze Geschichte fiel ihnen nach und nach wieder ein. Nachdem sie ein paar Minuten lang fieberhaft geredet hatten, war ihnen alles klar. Digory berichtete, wie niederträchtig Onkel Andrew sich benommen hatte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Polly. »Nehmen wir das Meerschweinchen und gehen nach Hause?«

»Wir haben es nicht eilig«, sagte Digory und gähnte ausgiebig.

»Ich denke doch«, sagte Polly. »Es ist zu still hier. Es ist so – so verträumt. Du schläfst ja schon fast. Wenn wir einmal nachgeben, werden wir uns hinlegen und für alle Zeiten dösen.«

»Es ist sehr schön hier«, sagte Digory.

»Ja, ist es«, sagte Polly. »Aber wir müssen zurück.« Sie stand auf und ging vorsichtig auf das Meerschweinchen zu. Aber dann überlegte sie es sich anders.

»Das Meerschweinchen können wir genauso gut hier lassen. Es ist vollkommen glücklich hier, und wenn wir es mit nach Hause nehmen, wird dein Onkel ihm nur irgendetwas Furchtbares antun.«

»Würde er bestimmt«, antwortete Digory. »Schau dir an, wie er uns behandelt hat. Übrigens, wie kommen wir überhaupt nach Hause?«

»Wir müssen zurück in den Teich, schätze ich.«

Sie gingen hin, stellten sich zusammen an den Rand und schauten hinab in das glatte Wasser. Die grünen, belaubten Äste spiegelten sich darin und dadurch wirkte es sehr tief.

»Wir haben kein Badezeug dabei«, sagte Polly.

»Das brauchen wir doch nicht, du Dummkopf«, sagte Digory. »Wir springen mit den Kleidern hinein. Weißt du nicht mehr, dass wir auf dem Weg herauf überhaupt nicht nass geworden sind?«

»Kannst du schwimmen?«

»Ein bisschen. Und du?«

»Na ja – nicht besonders gut.«

»Ich glaube nicht, dass wir schwimmen müssen«, sagte Digory. »Schließlich wollen wir doch nach unten, oder?«

Keinem von ihnen behagte der Gedanke, in diesen Teich zu springen, aber sie gaben es nicht zu. Sie nahmen sich an den Händen, sagten: »Eins – zwei – drei – los!« und sprangen. Es gab ein großes Gespritze, und natürlich schlossen sie die Augen. Doch als sie sie wieder aufmachten, stellten sie fest, dass sie immer noch Hand in Hand in dem grünen Wald standen und das Wasser ihnen kaum bis zu den Knöcheln reichte. Der Teich war offenbar nur ein paar Zentimeter tief. Sie planschten zurück aufs Trockene.

»Was ist denn jetzt schief gegangen?«, fragte Polly mit ängstlicher Stimme; wenn auch nicht so ängstlich, wie man hätte erwarten können, denn es ist schwer, in diesem Wald wirklich Angst zu empfinden. Es ist einfach zu friedlich dort.

»He! Ich weiß«, sagte Digory. »Klar, das kann ja gar nicht funktionieren. Wir haben ja immer noch unsere gelben Ringe an. Die sind für die Hinreise, weißt du. Die grünen bringen einen nach Hause. Wir müssen die Ringe wechseln. Hast du Taschen? Gut. Steck deinen gelben Ring in die linke. Ich habe zwei grüne. Hier ist einer für dich.«

Sie steckten ihre grünen Ringe an und gingen zurück zum Teich. Doch bevor sie wieder hineinsprangen, gab Digory ein lang gezogenes »O-o-oh!« von sich.

»Was ist denn los?«, fragte Polly.

»Mir ist gerade ein großartiger Gedanke gekommen«, antwortete Digory. »Was ist eigentlich mit den ganzen anderen Teichen?«

»Wie meinst du das?

»Na, wenn wir in unsere eigene Welt zurückkehren können, indem wir in diesen Teich springen, könnte es da nicht sein, dass wir irgendwo anders hinkommen, wenn wir in einen der anderen springen? Stell dir vor, es gäbe eine Welt auf dem Grund jedes Teichs.«

»Aber ich dachte, wir wären schon in der Anderen Welt oder an dem Anderen Ort oder wie immer dein Onkel Andrew das genannt hat. Hast du nicht gesagt –«

»Ach, vergiss Onkel Andrew«, unterbrach sie Digory. »Ich glaube nicht, dass er irgendetwas darüber weiß. Er hatte ja nie den Mumm, selbst hierher zu kommen. Er hat nur von einer Anderen Welt gesprochen. Aber wenn es nun Dutzende davon gibt?«

»Du meinst, dieser Wald ist vielleicht nur eine davon?«

»Nein, ich glaube nicht, dass dieser Wald überhaupt eine Welt ist. Ich glaube, er ist nur so eine Art Zwischenort.«

Polly machte ein verdutztes Gesicht. »Verstehst du nicht?«, fragte Digory. »Nein, bitte hör zu. Denk an unseren Tunnel unter den Dachziegeln zu Hause. Irgendwie ist der eigentlich kein Teil von irgendeinem der Häuser. Aber wenn man erst einmal in dem Tunnel ist, kann man ihn entlanggehen und von dort aus in jedes Haus in der Reihe gelangen. Könnte dieser Wald nicht so etwas Ähnliches sein? Ein Ort, der nicht in irgendeiner dieser Welten liegt, aber wenn man ihn erst einmal gefunden hat, gelangt man in alle hinein.«

»Also, selbst wenn man das könnte –«, fing Polly an, doch Digory sprach weiter, als ob er sie gar nicht gehört hätte.

»Und das erklärt natürlich alles«, sagte er. »Darum ist es hier so still und verschlafen. Hier passiert nie etwas. Genau wie zu Hause. In den Häusern reden die Leute und tun alles Mögliche und halten ihre Mahlzeiten. An den Zwischenorten, hinter den Wänden und über den Decken und unter dem Fußboden, oder auch in unserem Tunnel, geschieht überhaupt nichts. Aber wenn man aus unserem Tunnel hinauskommt, könnte man sich in irgendeinem Haus befinden. Ich glaube, von hier aus können wir so ziemlich überall hin! Wir brauchen nicht in denselben Teich zu springen, durch den wir heraufgekommen sind. Jedenfalls noch nicht.«

»Der Wald zwischen den Welten«, sagte Polly verträumt. »Das hört sich schön an.«

»Komm«, sagte Digory. »Welchen Teich wollen wir nehmen?«

»Hör zu«, sagte Polly, »ich nehme überhaupt keinen neuen Teich, solange wir nicht sicher sind, dass wir wirklich durch den alten zurückkönnen. Wir wissen ja noch nicht einmal genau, ob das funktioniert.«

»Ja«, sagte Digory. »Und dann erwischt uns Onkel Andrew und nimmt uns die Ringe weg, bevor wir unseren Spaß gehabt haben. Nein danke.«

»Könnten wir nicht ein kleines Stück hinunter in unseren eigenen Teich tauchen?«, überlegte Polly. »Nur um zu sehen, ob es funktioniert. Falls ja, wechseln wir die Ringe und kommen wieder herauf, bevor wir ganz in Mr Ketterleys Arbeitszimmer sind.«

»Geht das denn – nur ein Stück hinuntertauchen?«

»Nun, es hat etwas Zeit gedauert, heraufzukommen. Ich nehme an, der Rückweg wird auch etwas Zeit brauchen.«

Digory machte ein ziemliches Theater, bevor er sich darauf einließ, aber schließlich musste er, weil Polly sich rundheraus weigerte, irgendwelche neuen Welten zu erkunden, ehe sie ganz sicher war, dass sie in die alte zurückkonnten. Bei manchen Gefahren (Wespen zum Beispiel) war sie genauso tapfer wie er, aber sie hatte kein so großes Interesse daran, Dinge herauszufinden, von denen noch nie jemand gehört hatte; während Digory zu den Menschen gehörte, die alles wissen wollen. Als er erwachsen war, wurde er der berühmte Professor Kirke, der in anderen Büchern vorkommt.

Nach einem langen Hin und Her einigten sie sich darauf, ihre grünen Ringe anzustecken (»Grün steht für Sicherheit«, sagte Digory, »so kann man nicht durcheinander kommen«), sich an den Händen zu fassen und zu springen. Doch sobald es so aussah, als ob sie zurück in Onkel Andrews Arbeitszimmer oder auch nur in ihre eigene Welt kämen, sollte Polly »Wechseln!« rufen, und dann würden sie die grünen Ringe abstreifen und die gelben anstecken. Digory wollte lieber selbst derjenige sein, der »Wechseln!« rief, aber darauf wollte Polly sich nicht einlassen.

Sie steckten die grünen Ringe an den Finger, fassten sich an den Händen und riefen wieder: »Eins – zwei – drei – los!« Diesmal funktionierte es. Es ist schwer zu beschreiben, was für ein Gefühl es war, denn alles ging sehr schnell. Zuerst sahen sie helle Lichter, die sich in einem schwarzen Himmel bewegten; Digory denkt immer, das seien Sterne gewesen, und schwört sogar, er habe den Jupiter ganz aus der Nähe gesehen – nahe genug, um einen seiner Monde zu erkennen. Doch gleich darauf waren rings um sie her lauter Reihen von Dächern und Schornsteinen, und sie sahen die St.Pauls-Kathedrale und wussten, dass sie London vor sich hatten. Doch sie konnten durch die Mauern direkt in die Häuser schauen. Dann erblickten sie Onkel Andrew, ganz undeutlich und schattenhaft, aber mit jedem Moment wurde er klarer, so als würde er allmählich scharf gestellt. Doch bevor er ganz wirklich wurde, rief Polly »Wechseln!«, und sie wechselten die Ringe, und unsere Welt verblasste wie ein Traum; das grüne Licht über ihnen wurde stärker und stärker, bis ihre Köpfe aus dem Teich auftauchten und sie ans Ufer kletterten. Und da war wieder der Wald rings um sie her, so grün und hell und still wie zuvor. Das Ganze hatte weniger als eine Minute gedauert.

»So!«, sagte Digory. »Das hätten wir. Und jetzt auf ins Abenteuer. Welchen Teich wir nehmen, ist egal. Komm. Probieren wir den hier.«

»Warte!«, hielt Polly ihn zurück. »Wollen wir nicht erst einmal diesen Teich markieren?«

Sie starrten sich an und wurden ganz blass, als ihnen klar wurde, welch furchtbaren Fehler Digory eben beinahe begangen hätte. Denn es gab unzählige Teiche in dem Wald, die alle ähnlich aussahen, und die Bäume waren sich auch alle ähnlich. Hätten sie den Teich, der zu unserer eigenen Welt führte, zurückgelassen, ohne ihn irgendwie zu markieren, so hätten die Chancen hundert zu eins gestanden, dass sie ihn nie wieder gefunden hätten.

Mit zitternden Händen klappte Digory sein Taschenmesser auf und schnitt einen langen Streifen Gras am Ufer des Teichs heraus. Die Erde (die sehr angenehm roch) hatte eine kräftige, rötlich-braune Farbe, die sich gut gegen all das Grün abhob. »Nur gut, dass wenigstens einer von uns was im Kopf hat«, sagte Polly.

»Jetzt blas dich nicht so auf«, erwiderte Digory. »Komm schon, ich will endlich einen anderen Teich erkunden.« Polly reagierte ziemlich ungehalten, und Digorys Antwort darauf war noch gemeiner. Der Streit dauerte mehrere Minuten, aber es wäre zu langweilig, alles aufzuschreiben. Springen wir lieber zu dem Moment, als sie mit klopfenden Herzen und verängstigten Gesichtern, die gelben Ringe an den Fingern, am Rand des unbekannten Teichs standen und aufs Neue »Eins – zwei – drei – los!« riefen.

Platsch! Wieder hatte es nicht funktioniert. Auch dieser Teich schien nur eine Pfütze zu sein. Statt in eine neue Welt zu gelangen, holten sie sich nur nasse Füße und spritzten sich zum zweiten Mal an diesem Morgen die Beine nass (falls es ein Morgen war; im Wald zwischen den Welten schien immer die gleiche Tageszeit zu sein).

»Donnerkeil und Wolkenbruch!« rief Digory. »Was stimmt denn jetzt wieder nicht? Wir haben doch unsere gelben Ringe an. Gelb für die Hinreise, hat er gesagt.«

Nun war es in Wahrheit so, dass Onkel Andrew, der nichts von dem Wald zwischen den Welten wusste, eine ganz falsche Vorstellung von den Ringen hatte. Die gelben Ringe waren gar nicht für die »Hinreise« und die grünen nicht für die »Rückreise«; zumindest nicht so, wie er sich das dachte. Der Stoff, aus dem beide gemacht waren, stammte samt und sonders aus diesem Wald. Der Stoff in den gelben Ringen hatte die Kraft, einen in den Wald hineinzuziehen; es war ein Stoff, der an seinen eigenen Ort, diesen Zwischenort, zurückkehren wollte. Der Stoff in den grünen Ringen dagegen ist ein Stoff, der versucht, von seinem eigenen Ort wegzukommen; sodass ein grüner Ring den Träger aus dem Wald heraus in eine Welt bringt. Wisst ihr, Onkel Andrew hantierte mit Dingen, die er eigentlich nicht verstand; das ist bei den meisten Zauberern so. Natürlich erkannte auch Digory die Wahrheit nicht ganz, jedenfalls jetzt noch nicht. Aber nachdem sie darüber geredet haben, beschlossen sie, es bei dem neuen Teich mit den grünen Ringen zu versuchen, nur um zu sehen, was passierte.

»Ich bin dabei, wenn du dabei bist«, erklärte Polly. Das sagte sie aber eigentlich nur, weil sie jetzt tief im Innersten überzeugt war, dass keiner der Ringe in dem neuen Teich funktionieren würde, sodass es nichts Schlimmeres zu befürchten gab als einen weiteren Platscher ins Wasser. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Digory nicht dasselbe Gefühl hatte. Jedenfalls waren sie, als sie beide ihre grünen Ringe aufgesteckt hatten und wieder Hand in Hand am Rand des Wassers standen, viel fröhlicher und längst nicht mehr so ernst, wie sie es beim ersten Mal gewesen waren.

»Eins – zwei – drei – los!«, sagte Digory. Und sie sprangen.

Die Glocke und der Hammer

Diesmal gab es keinen Zweifel, dass der Zauber wirkte. Hinab und immer weiter hinab zog es sie, zuerst durch Dunkelheit, dann durch ein Meer undeutlicher und wirbelnder Formen, die alles Mögliche sein mochten. Es wurde heller. Dann hatten sie plötzlich das Gefühl, auf festem Boden zu stehen. Einen Moment später wurde alles scharf, und sie konnten sich umschauen.

»Was für ein seltsamer Ort!«, sagte Digory.

»Mir gefällt es hier nicht«, sagte Polly mit einem leichten Schaudern.

Das Erste, was ihnen auffiel, war das Licht. Es war nicht wie Sonnenlicht, aber auch nicht wie elektrisches Licht oder Laternen oder Kerzen oder irgendein anderes Licht, das sie je gesehen hatten. Es war ein trübes, rötliches Licht, ziemlich trostlos, das stetig leuchtete ohne zu flackern. Sie standen auf einem flachen, gepflasterten Untergrund, und rings um sie her ragten Gebäude auf. Über ihnen war kein Dach; sie befanden sich in einer Art Innenhof. Der Himmel war ungewöhnlich dunkel – ein Blau, das schon fast schwarz aussah. Wenn man diesen Himmel ansah, wunderte man sich, dass es überhaupt Licht gab.

»Merkwürdiges Wetter hier«, sagte Digory. »Ich frage mich, ob wir mitten in ein Gewitter geraten sind oder in eine Sonnenfinsternis.«

»Mir gefällt es hier nicht«, wiederholte Polly.

Ohne recht zu wissen warum, unterhielten sie sich nur flüsternd. Und obwohl es keinen Grund gab, warum sie sich nach dem Sprung immer noch an den Händen halten sollten, ließen sie nicht los.

Die Mauern rings um den Innenhof ragten sehr hoch hinauf. Sie hatten viele große Fenster, Fenster ohne Glas, durch die man nichts als finstere Schwärze sah. Weiter unten gab es große Säulenbögen mit klaffenden schwarzen Öffnungen wie die Einmündungen von Eisenbahntunneln. Es war ziemlich kalt.