Die Chroniken von Usha - Der Drachenkönig - Melissa David - E-Book

Die Chroniken von Usha - Der Drachenkönig E-Book

Melissa David

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Beschreibung

Sein Blut und seine Unversehrtheit garantieren ihr Überleben

Einst herrschte der Drache Doron als König über Usha, bis die Magier ihn stürzten, sein Volk versklavten und bis an den Rand der Ausrottung trieben.
Um seinen Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen, willigt er in einen schicksalhaften Pakt mit dem Magierkönig ein: Mit seinem unsterblichen Blut soll er die Königstochter, die unter einem Gendefekt leidet, am Leben erhalten.
Womit jedoch niemand - am wenigsten Doron - gerechnet hat, ist, dass Ellenie mit den Jahren immer mehr der Frau gleicht, die er einst über alles geliebt, doch die ihn schändlich verraten hatte. Als Ellenie ihn um Hilfe bittet, um einer erzwungen Ehe zu entgehen, ist er hin- und hergerissen. Doch dann kommt sie hinter sein großes Geheimnis.
Wie weit kann Doron einer Frau vertrauen, die eine Magierin ist und damit für alles steht, was er hasst? Schafft es Ellenie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich gegen ihren Vater und die mächtigen Magier zu stellen?

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Inhalt

Klappentext

Impressum

Die Chroniken von Usha

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Über die Autorin

Weitere Bücher

Kruento

Klappentext

Sein Blut und seine Unversehrtheit garantieren ihr Überleben

Einst herrschte der Drache Doron als König über Usha, bis die Magier ihn stürzten, sein Volk versklavten und bis an den Rand der Ausrottung trieben.

Um seinen Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen, willigt er in einen schicksalhaften Pakt mit dem Magierkönig ein: Mit seinem unsterblichen Blut soll er die Königstochter, die unter einem Gendefekt leidet, am Leben erhalten.

Womit jedoch niemand – am wenigsten Doron – gerechnet hat, ist, dass Ellenie mit den Jahren immer mehr der Frau gleicht, die er einst über alles geliebt, doch die ihn schändlich verraten hatte.

Als Ellenie ihn um Hilfe bittet, um einer erzwungen Ehe zu entgehen, ist er hin- und hergerissen. Doch dann kommt sie hinter sein großes Geheimnis.

Wie weit kann Doron einer Frau vertrauen, die eine Magierin ist und damit für alles steht, was er hasst? Schafft es Ellenie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich gegen ihren Vater und die mächtigen Magier zu stellen?

Das Buch ist in sich abgeschlossen.

Impressum

E-Book

1. Auflage November 2019

300-346-01

Melissa David

c/o Papyrus Autoren-Club 

Pettenkoferstr. 16-18 

10247 Berlin 

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: [email protected] 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com

Lektorat, Korrektorat:

Gundel Steigenberger

www.lektoratsteigenberger.de

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Chroniken von Usha

Der Drachenkönig

Band 1

von

Melissa David

PROLOG

Doron konnte das Gewitter förmlich schmecken. Es musste in den großen Bergen hängen geblieben sein und entlud sich nun über der Festung Sodaar.

Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie der Regen auf seine Haut prasselte. Es fiel ihm zunehmend schwerer, sich zu erinnern, denn es war viel zu lange her, dass er in einer Regennacht geflogen war. Schmerzlich vermisste er dieses Gefühl, das nur noch einer vagen Erinnerung glich. An den dumpfen Schmerz seiner fehlenden Flügel hatte er sich inzwischen gewöhnt. Er hasste es, doch es war sein steter Begleiter.

In der Zelle nebenan regte sich etwas. Er ahnte, dass auch seine Brüder wach lagen und nicht schlafen konnten. Dabei hätten sie in dieser Nacht ungestörte Ruhe finden können. Kein Gefängniswärter, der sie in die Abflughalle zerrte, keine Störung. Bei Regen flogen die Harpyien nicht. Sie mochten es nicht, wenn ihr Gefieder nass wurde.

Doron lag mit dem Rücken auf der kargen Pritsche, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die kahle Decke. So trostlos wie die Umgebung, so erbärmlich fühlte sich auch sein Leben an – wenn man das noch als solches bezeichnen konnte. Am meisten schmerzte ihn, dass seine Brüder dieses Leben mit ihm teilen mussten. Er selbst mochte es verdient haben, die anderen konnten nichts für seine Dummheit. Einst waren sie viele hundert gewesen, doch nun waren nur noch sieben von ihnen übrig. Dass so viele seines Volkes ihr Leben hatten lassen müssen, schmerzte ihn immer noch zutiefst, und er hätte es verstanden, wenn seine Brüder ihn dafür verabscheuten. Dennoch hatte sich keiner von ihm abgewandt. Er hätte es gespürt, war er doch mit jedem von ihnen geistig verbunden. Sie waren nicht mehr viele. Doch sie hielten treu zu ihm. Zu ihm, dem gefallenen Drachenkönig.

Er schloss die Augen und versuchte seinem Dasein zu entfliehen, flüchtete sich an den Ort, den er nur im Geiste bereisen konnte. Dort, wo sein anderes Ich gefangen war, eingesperrt auf einer anderen Ebene, von der es kein Entkommen gab: Die Augen des Drachen waren geschlossen, öffneten sich jedoch, als er Dorons Anwesenheit spürte. Einst hatte Doron nach Belieben die Gestalt des Drachen annehmen, hatte jederzeit durch den Regen fliegen können. Doch jetzt waren sie körperlich getrennt und nur hier, jenseits der realen Welt, konnte er bei seinem Drachen sein. Dass sie eins gewesen waren, lag lange zurück.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er es nicht über sich gebracht, hierherzukommen. Es hatte zu sehr geschmerzt, zu sehen, was er verloren hatte. Und auch heute noch tat es weh. Er setzte sich neben den riesigen, schwarzen Drachen. Stumm. Sie mussten nicht sprechen, um zu wissen, wie der andere fühlte. Er war ein Drachenwandler. Auch wenn sie körperlich getrennt waren, teilten sie doch Gefühle und Gedanken.

Eine Tür quietschte, ein verhasstes und allzu vertrautes Geräusch. Unwillig kehrte Doron in die reale Welt zurück. Noch immer konnte er den Regen schmecken. Die Harpyien konnten nicht der Grund für die herbeieilenden Wächter sein. Er hörte ihre Schritte und roch den menschlichen Schweiß und ihre Ausdünstungen schon von weitem. Die schwere Eisentür am Ende des Gangs wurde geöffnet. Sechs Wächter betraten den Kerker.

 Doron spürte die Verwunderung seiner Brüder. Was wollten die Wächter?

„Wo ist euer Anführer?“, fragte einer der Wächter, der das Sagen hatte, ungeduldig.

Doron mochte ihn nicht. Er war ein Begnadeter, hatte den Rang eines Magiers knapp verfehlt, und das, was er dadurch an Ansehen einbüßte, machte er durch Brutalität wett.

Stille breitete sich aus. Keiner seiner Brüder würde reden. Was auch immer die Wächter tun würden, sie würden nichts als Schweigen erhalten. Keiner seiner Brüder würde Doron verraten.

„Ich frage dich, wo ist euer Anführer?“, brüllte der Wächter. Er war näher gekommen, eine, maximal zwei Zellen entfernt.

Doron hörte das Zischen der Magiestäbe, die bei Berührung elektrische Impulse durch den Körper jagten. Die Schmerzen waren unerträglich, lähmten den Körper. Durch die Verbindung spürte er, wie Barkley zusammenzuckte. Kein einziger Laut war zu hören. Sie würden ihn weiterquälen. Wieder spürte Doron ein schmerzhaftes Ziehen, ein lächerliches Abbild von dem, was Barkley erdulden musste.

Langsam erhob Doron sich von seiner Pritsche. Er wollte nicht, dass einer seiner Brüder wegen ihm Schmerzen litt.

„Ich bin ihr Anführer“, sagte er ruhig, während er auf die Eisengittertür zuging.

Die Wächter ließen Barkley in Ruhe, kamen zu Dorons Zelle und reihten sich vor ihm auf. Er hatte recht gehabt, sie waren zu sechst. Der gescheiterte Magier trat hervor. Er war der Ranghöchste der Truppe.

„Anführer, dass ich nicht lache“, spottete er. Er war einen halben Kopf kleiner als seine Begleiter und damit überragte Doron ihn um zwei Köpfe. „Du bist nicht mehr als ein Gefangener. Und dazu noch unfähig, mit Magie umzugehen“, spie er angewidert hervor und sah zu ihm auf.

Doron starrte finster auf den Wächter. Es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, doch er unterdrückte den Drang, seine Hand durch das Gitter zu schieben und den Wächter am Kragen zu packen. Er war es nicht wert, sich mit ihm anzulegen. Im Grunde hatte er sogar recht. In Doron steckte so viel Magie wie in einem Stück abgestorbenem Holz. Schließlich waren sie keine Magier, sie waren Drachen.

Als Drachen waren sie über die Berge geflogen, hatten das Land beschützt. Als Drachen hatten sie gegen die Harpyien und die Magier gekämpft. Aber das hatten die Menschen längst vergessen und das war auch gut so. Nun waren sie Krieger und – egal in welcher Gestalt – der Kampf war Teil ihres Lebens. Nur um das Land Usha gegen die Harpyien zu verteidigen, waren Doron und seine Brüder den Magiern noch gut genug: Sie waren die Einzigen, die vermochten, mit den Fluganzügen zu fliegen und deshalb brauchten die Magier sie – ob sie wollten oder nicht. Ein Lächeln legte sich auf Dorons Lippen.

„Der König will dich sehen“, verkündete der Wächter.

Doron kniff die Augen zu zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er musste kurz nachdenken, sich ins Gedächtnis rufen, dass bereits achtundfünfzig Jahre vergangen waren. Seit die Drachen in den Kerker verbannt worden waren, hatte sich keiner der Magierkönige herabgelassen, ihn zu sehen. Weder Hanael, der nach dem Tod von Florenie den Thron bestiegen hatte, noch Yathel, sein Sohn und der derzeitige König. Doron wusste wenig über ihn. Er gehörte den Naturmagiern an und war dem Hörensagen nach eher von sanftem Gemüt. Dennoch traute Doron keinem von ihnen. Er hatte sein Lehrgeld bezahlt. Egal, was der König von ihm wollte, es war ihm egal.

„Und wenn ich ihn nicht sehen möchte?“, fragte er und zog sich demonstrativ in seine Zelle zurück. Er mochte ein Gefangener sein, doch was sie ihm nicht hatten nehmen können, war seine Würde. Kampflos würde er nicht mit ihnen gehen. Auch wenn er wusste, dass er keine Chance hatte.

Die Tür sprang auf und die Wächter kamen mit erhobenen Magiestäben auf ihn zu. Es war sinnlos, sich zu wehren. Einen, vielleicht zwei konnte er abwehren, aber die anderen würden ihn zu Boden ringen. Der erste Magiestab berührte ihn an der Schulter. Doron presste die Lippen fest zusammen, um nicht aufzuschreien, als Feuer in seinen Arm und vom Nacken bis in seinen Kopf schoss. Reflexartig griff er mit der anderen Hand nach der Stelle. Der nächste Stab traf ihn in den Magen. Er keuchte auf und sackte nach vorne. Eine Berührung am linken Oberschenkel und ein weiterer Treffer an der Wade ließen ihn in die Knie gehen. Sein Körper brannte und er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Diesen Zustand hatten die Wächter beabsichtigt. Ein letzter Magiestoß in den Nacken, und Doron verlor fast das Bewusstsein.

Sie hatten einen Nerv getroffen und er nahm seine Umgebung nur noch verschwommen wahr. Wehrlos lag er am Boden, konnte nicht verhindern, dass sie ihm die Arme auf den Rücken drehten und magische Handschellen anlegten. Eine lange Eisenstange wurde unter seinen Armen hindurchgeschoben. Es brauchte zwei Wächter auf jeder Seite, um ihn hochzuheben und davonzutragen.

Dieser lähmende Zustand war schlimmer als der Tod. Es führte ihm seine Unfähigkeit deutlich vor Augen. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er sich wieder regen konnte, wieder Herr über seine Sinne war.

Rücksichtslos zerrten die Wächter ihn durch die Flure. Seine Füße schrammten über den Boden. Zuerst war dieser rau – die Felsenkeller, in denen sich auch der Kerker befand. Dann wurde der Boden glatt. Es war polierter Stein, der die Gänge des Schlosses bedeckte. Doron sah immer noch unscharf, doch er kannte jeden Winkel dieser Festung. Er war in Sodaar geboren und aufgewachsen. Es war sein Zuhause. Alles hatte ihm gehört, bevor die Magier ihm die Krone und alles andere genommen hatten.

Sie zogen ihn unaufhaltsam Richtung Thronsaal. Er mochte zwar körperlich außer Gefecht sein, doch seine anderen Sinne arbeiteten hervorragend. Er konnte die Aufregung der Menschen auf seiner Zunge schmecken. Es roch nach Tod und Krankheit, ein leicht fauliger, beißender Gestank.

Als sie ihn in den Thronsaal gebracht hatten, mischte sich unter die Aufregung grenzenlose Verzweiflung. Auf dem Thron – Dorons Thron – saß König Yathel. Doron brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um sich zu vergewissern, dass der König selbst diesen bitteren Geruch absonderte.

Doron blinzelte, um besser sehen zu können. Flankiert wurde der König von vier Gestalten, seinen Beratern. Diese Magier an der Seite des Königs waren ihm größtenteils unbekannt. Lediglich einen kannte er: Syriel, den Heiler. Der Hohe Magier hatte es sich zu seiner Aufgabe gemacht, auszutesten, wie überlebensfähig Doron und seine Brüder waren. Doron hasste ihn, und wenn er die Chance gehabt hätte, ihm den Kopf abzureißen, hätte er es getan.

Wieder einmal stellte er fest, wie vergänglich doch das Leben der Magier war. Und noch etwas wurde ihm bewusst: Die Magier waren alle zu jung, um den Sturz der Drachen miterlebt zu haben. Vor ihm stand bereits die nächste Generation der Menschen, die alles über die Natur der Drachen und ihren Sturz vergessen hatte.

Wieder blinzelte Doron, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich dann auf den König. Seine Beine trugen ihn immer noch nicht und so hängten die Wächter die Eisenstange in eine Halterung, die es Doron ermöglichte, halbwegs aufrecht zu bleiben. Es fiel Doron schon schwer genug, den Kopf zu heben, und er war dankbar für die aufrechte Haltung.

„Was habt ihr mit ihm gemacht?“, fragte ein dunkelhaariger Magier, der auf der linken Seite des Königs stand. „Ihr solltet ihn herbringen, nicht umbringen.“

„Das nächste Mal kannst du ihn gerne selbst holen, Euricael“, schnaubte der Wächter und funkelte den Magier wütend an.

„Wenn es nach mir ginge, würden wir diese Unterhaltung überhaupt nicht führen“, schnaubte Euricael.

Der König, der mit gesenktem Haupt dasaß, hob die Hand und gebot seinen Magiern zu schweigen. Langsam hob er den Kopf und Doron konnte dem König zum ersten Mal in die Augen blicken. Zumindest glaubte er, dass dieser ihn ansah, denn Dorons Sicht war noch immer verschwommen.

„Bist du der Anführer der gefangenen Krieger?“, fragte König Yathel.

Es strengte Doron an, den Kopf oben zu halten, dennoch wollte er dem König ins Gesicht blicken, wollte wissen, wie dieser auf ihn reagierte. „Ja, das bin ich.“

Spöttisch verzog Syriel das Gesicht. „Ein Anführer eingesperrt im Kerker, gefangen im Exil.“

„Syriel, bitte“, mahnte der König müde.

Doron schluckte. Er spürte die hochkochende Wut, wusste sein aufbrausendes Temperament jedoch zu zügeln. Jahrzehntelange Gefangenschaft hatte ihn das gelehrt.

„Was willst du von mir, König?“, richtete er stattdessen das Wort an Yathel.

Sie mochten ihm zusetzen, aber sie würden ihn nicht brechen. Sein Körper regenerierte sich bereits und seine Sicht wurde wieder schärfer.

Die Augen des Königs waren traurig und leer. Sie waren gerötet, er musste erst kürzlich geweint haben. Was brachte einen Mann wie ihn zum Weinen? Noch immer lag Doron der bittere Geschmack der Verzweiflung auf der Zunge.

„Stimmt es, dass dein Blut jede Krankheit heilen kann?“

In Dorons Kopf arbeitete es. Es ging um eine Krankheit? Aber der König war nicht krank. Er war verzweifelt, aber körperlich kerngesund. Dann erinnerte er sich an den fauligen Geruch, den er gerochen hatte, als sie ihn hergebracht hatten. Tod und Krankheit.

„Mein Blut kann keine Toten aufwecken“, entgegnete Doron ruhig und ließ dabei sein Gegenüber keine Sekunde aus den Augen. Er war ein ausgebildeter Kämpfer, war es gewohnt, auf jede noch so kleine Regung des Feindes zu achten.

„Aber Krankheiten heilen?“, hakte der König nach. Seine Finger klammerten sich fester um die Lehne seines Throns. Ein Thron, auf dem einst Doron gesessen hatte.

Doron ließ sich Zeit mit einer Antwort, wählte seine Worte mit Bedacht. „Unter Umständen. Es kommt auf die Krankheit an und auf mich, ob ich bereit bin, mein Blut zu teilen.“

„Wir schlitzen dir die Kehle auf, dann haben wir dein Blut“, zischte ein Magier, der direkt neben Syriel stand.

Das hatte Syriel bereits versucht und war kläglich gescheitert. Freudlos zog Doron die Mundwinkel nach oben, was ihm einiges an Anstrengung kostete. „Als ob ihr das nicht schon längst versucht hättet.“ Syriel hatte ihn und seine Brüder auf alle erdenklichen Arten verstümmelt. Doch die Drachen waren zäh, kaum zu verletzen und unsterblich. Der Grund war ihr Drachenblut, doch das wussten die Menschen nicht.

Der Magier neben Syriel schnaubte empört. Doch sie wussten es alle. Die Krieger konnten ihren Blutfluss regulieren. Wenn sie sich verletzten, schlossen sich ihre Blutgefäße von selbst. Um richtig zu bluten, mussten sie ihre Körper bewusst davon abhalten, sich zu heilen. Es war beinahe unmöglich, sie umzubringen. Das war auch der Grund, warum Doron und seine Brüder im Kerker saßen. Hätten die alten Magier einen Weg gefunden, sie aus dem Weg zu räumen, hätten sie das getan. Die alten Magier hatten eine solche Angst vor Doron und seinesgleichen gehabt, dass sie sich ausgeschwiegen hatten. Die neue Generation war daher einfach nur unwissend. Doron sollte es recht sein, das war seine Chance.

Um sicherzustellen, dass der König nicht auf dumme Gedanken kam, schob er vorsichtshalber nach. „Sobald mein Herz aufhört zu schlagen, ist auch mein Blut wertlos.“

„Dann ist er für unsere Zwecke nutzlos“, schlussfolgerte der Magier neben Syriel.

Der bittere Geschmack auf Dorons Zunge verstärkte sich. Er konnte die Verzweiflung des Königs kaum noch ertragen. „Ich bin nicht nutzlos, aber meine Hilfe hat ihren Preis.“

Endlich kam Bewegung in den König. Er erhob sich von seinem Thron und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war ein großer Mann, wenn auch nicht so groß wie Doron, der wie alle Drachen in menschlicher Gestalt über zwei Meter maß.

„Was ist der Preis dafür, dass du meiner Tochter das Leben rettest?“

Doron kniff die Augen zusammen. Der bittere Geschmack war verschwunden, der König schöpfte neue Hoffnung. Es ging also um seine Tochter? Doron hatte nichts von dem Nachwuchs im Königshaus gewusst. In den unterirdischen Kerkern und der Abflughalle bekam man kaum etwas vom höfischen Leben mit.

„Ich muss sie zuerst sehen, dann können wir über den Preis verhandeln“, verlangte er.

Das Kribbeln in seinen Fingerspitzen und den Zehen kündigte an, dass er bald wieder Herr über seinen Körper sein würde. Dennoch ließ er sich hängen. So lange die Magier dachten, er wäre gelähmt, sahen sie ihn nicht als Bedrohung an. Auf eine erneute Bekanntschaft mit den Magiestäben konnte er verzichten.

„Holt sie!“, polterte der König und winkte ungeduldig mit der Hand.

Es dauerte nicht lange und eine Frau betrat den Thronsaal. In ihrem Arm lag ein winziges Bündel. Es stank erbärmlich nach Fäulnis. Zum Glück hatte Doron den Magen eines Drachen, sonst hätte er sich augenblicklich übergeben.

König Yathel ging der Frau entgegen und nahm ihr das Kind ab. Langsam kam er näher, hielt es so, dass Doron es sehen konnte.

Dieser erstarrte. Das Kind war winzig. Wie alt mochte es sein? Ein paar Stunden vielleicht? Er schnupperte, versuchte, die Herkunft des Gestanks zu ergründen. Es war ihr Blut. Etwas fehlte und ließ ihren Körper verfallen.

„Was hat sie?“, fragte er leise.

„Der Heiler Lukael meint“, der König wies mit einem Kopfnicken auf einen weiteren Hohen Magier, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte, „dass sie an einer Blutkrankheit leidet. Ihr Blut ist nicht dazu in der Lage, sich selbst zu reinigen. Ihr Körper vergiftet. Keine uns bekannte Magie kann sie heilen.“

Doron starrte das winzige Kind an und presste die Lippen fest aufeinander. Wäre es eine Wunde gewesen, hätte ein wenig von seinem Blut ausgereicht, sie zu schließen. Sein Drachenblut mochte mächtig sein, aber es konnte auch keine Wunder vollbringen. Er würde sie nicht heilen können, zumindest nicht vollständig.

Widersprüchliche Gefühle mochten sich in seinem Gesicht zeigen. Sie war eine Magierin und dafür hasste er sie schon jetzt. Er hasste sie alle. Jeden einzelnen dieser Magier, die einst aus Kikar gekommen waren und denen er die Türen zu seinem Königreich geöffnet hatte. Und was war der Dank dafür gewesen? Sie hatten ihn bestohlen, ihm alles genommen. Er hasste sie, wünschte ihnen allen den Tod.

Er dachte nach. Was wäre dem König das Leben seiner Tochter wert? Was würde der Magierkönig Doron zugestehen, wenn er dieses winzige Wesen rettete? Unmerklich richtete er sich auf. Seine Füße trugen sein Körpergewicht wieder und das minderte den Druck auf seine Schultermuskulatur. In den Oberschenkeln kribbelte es und auch sein Oberkörper fühlte sich nicht mehr ganz so taub an.

„Kannst du ihr helfen?“ Die Stimme des Königs zitterte.

Doron atmete tief durch. „Ja.“

Die Miene des Königs hellte sich auf. „Ich kann dir Gold geben oder Edelsteine. So viel du willst.“

Doron unterdrückte ein Schnauben. Wie kam dieser dumme Mensch nur darauf, dass ihn Gold oder Edelsteine interessierten? Er hatte mehr als genug davon besessen, vermutlich lagen sie noch immer in den Schatzkammern von Sodaar. Aber die Zeiten, in denen Doron materielle Dinge wichtig gewesen waren, waren lange vorbei.

„Wenn ich ihr von meinem Blut gebe, möchte ich das Versprechen, dass weder ich und noch einer meiner Brüder jemals wieder mit einem Magiestab drangsaliert werden.“

Hinter ihm schnappte der Wächter nach Luft. „Aber wenn sie fliehen wollen?“

Doron drehte sich, so weit es mit der Stange am Rücken möglich war, zu den Wächtern um. „Als ob jemals einer von uns versucht hätte zu fliehen. Wir würden nicht gehen, selbst wenn ihr die Türen offen lassen würdet. Wir gehören hierher. Das ist unser Land.“ Er verschwieg bewusst, dass ein Drache niemals seine Heimat verließ und sie deshalb nicht gehen würden. Wenn sie sich einmal für eine Heimat entschieden hatten, blieben sie, egal was geschah, und nur der Tod konnte sie daran hindern, diese Drachentreue zu brechen.

„Keine Magiestäbe mehr“, willigte der König ein.

„Ich will einen mit Magie besiegelten Bund“, forderte Doron. Er wusste, dass das die einzige Möglichkeit war, den König an sein Wort zu binden. Bittere Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass das die einzigen Versprechen waren, an die sich die Magier hielten.

„So soll es sein.“

Doron atmete unmerklich auf. Der erste Etappensieg war errungen.

„Dazu müsst ihr mich losmachen.“ Er wies mit dem Kinn hinter sich, dort wo seine Hände gefesselt waren.

König Yathel hob die Hand und gab einem Wächter den stummen Befehl, die magischen Handschellen zu lösen.

Die Fesseln und der Stab fielen klirrend zu Boden, als Doron die Arme nach vorne nahm und seine schmerzenden Handgelenke massierte. Stück für Stück bekam er die Oberhand über die Situation und das machte die Schmerzen durchaus wett.

Doron nahm sehr wohl wahr, wie die fünf Wächter ihre Magiestäbe erhoben. Sein Mundwinkel zuckte. Der Bund war noch nicht geschlossen.

Der König ließ sich eine Kette aus purem Gold bringen und streckte sie mit einer Hand Doron entgegen, während er mit der anderen das Kind festhielt. „Der Anführer der unsterblichen Krieger wird meiner Tochter von seinem Blut geben“, begann er.

„Einmalig“, brummte Doron. „Ich bin kein beliebig verfügbares Wundermittel.“

Der König nickte. Der weiße Dampf, der sich auf König Yathels Handfläche gebildet hatte, verpuffte. Er schüttelte die Hand aus und die Kettenglieder klirrten leise. Dann begann er abermals.

„Der Anführer der unsterblichen Krieger wird hier und jetzt, einmalig meiner Tochter von seinem Blut geben. Dafür wird niemand, der unter meinem Befehl steht, jemals wieder einen Magiestab gegen ihn oder einen seiner Artgenossen erheben.“ Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu. „Solange sie nicht den Versuch unternehmen, einen Kikar anzugreifen oder zu fliehen.“

Doron grinste. Auch der König hatte eine Einschränkung an den Handel geknüpft. Ihm sollte es recht sein. Doron streckte die Hand aus und legte sie auf die ausgestreckte des Königs. Der weiße Dampf umhüllte ihre Hände, besiegelte den Bund und wurde dann von der Kette eingesaugt.

Aus dem Augenwinkel sah Doron, wie die Wächter ihre Magiestäbe sinken ließen.

Der König trat einen Schritt zurück, hängte sich die Kette um den Hals und blickte Doron auffordernd an. „Erfülle nun deinen Teil der Abmachung“, wies er an.

„Ich brauche einen Dolch“, verlangte Doron. Die Wächter bekamen große Augen, die Berater tuschelten besorgt und der König sah ihn verwirrt an. „Ohne einen Dolch kein Blut, ohne Blut kann ich meinen Teil des Bundes nicht erfüllen.“

„Ein Dolch, bringt mir einen Dolch!“, rief der König und sah sich suchend um.

Einer der Wächter zückte seine Waffe und eilte auf den König zu. Doron genügte die Klinge. Er strich mit dem Finger über das geschärfte Eisen und schnitt sich damit in den Zeigefinger. Er unterdrückte die Selbstheilungskräfte seines Körpers, sah auf die blutende Wunde hinab und trat näher an den König heran. Dann steckte er den blutenden Finger in den Mund des Kindes. Sekundenlang passierte nichts, dann öffnete das Mädchen die Augen und blickte ihn an. Gleichzeitig begann sie zu nuckeln.

Doron erstarrte. Sie hatte klare blaue Augen, dieselbe außergewöhnliche Augenfarbe, die auch Florenie besessen hatte. Ihm wurde kalt. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er an die Frau dachte, die ihn zu Fall gebracht, die ihm alles genommen hatte.

Doron kostete es einiges an Selbstbeherrschung, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Unbewegt fixierte er das winzige Mädchen, das an seinem Finger saugte. Wie sehr er dieses Kind hasste und wie wichtig es doch gleichzeitig für ihn war.

Der faulige Geruch verschwand und Doron sah, wie die gräuliche Haut des Babys eine natürliche, gesunde Farbe annahm. Erst als sie die Augen wieder schloss und aufhörte zu nuckeln, zog er seinen Finger zurück und ließ seinen Körper sich selbst heilen.

„Sie ist gesund“, seufzte der König erleichtert.

Doron lächelte in sich hinein. Die Zeit war gekommen, seine Trumpfkarte auszuspielen. „Das ist sie nicht“, entgegnete er ruhig.

„Was willst du damit sagen?“ König Yathels Miene verfinsterte sich und er wich ängstlich vor Doron zurück. Augenblicklich stellten sich einige der Wächter zwischen den Magierkönig und Doron. Da sie ihre Magiestäbe nicht zücken konnten, hielten sie ihm ihre Schwerter entgegen. Nutzlose Waffen und das wussten sie selbst, wenn er die Angst in ihren Gesichtern richtig deutete.

„Für den Augenblick mag sie gesund sein, aber schon bald wird mein Blut aufgezehrt sein. Da ihr Körper nicht in der Lage ist, Giftstoffe selbst herauszufiltern, wird sie früher oder später sterben.“ Er war ein Drache und sagte immer die Wahrheit und auch wenn die Magier nicht wussten, was er war, spürten sie doch, dass er nicht log. Als ob ihm das Schicksal des Kindes nichts angehen würde – und im Grunde war es ihm auch egal – drehte er sich um.

„Dann braucht sie regelmäßig dein Blut“, schlussfolgerte König Yathel.

Doron unterdrückte ein siegessicheres Lächeln, als er sich langsam wieder umwandte. „Möglich, aber das wird seinen Preis haben.“

„Was forderst du?“

Sie sahen einander an. Doron, der gestürzte Drachenkönig und Yathel, der Magierkönig. Sein Volk, die Kikar, war einst aus seiner ausgebeuteten Heimat geflohen, um in Usha ein besseres Leben zu finden. Denn Magie bedeutete Macht und Magie gab es in der Natur Ushas noch in unbegrenzter Menge. Und Doron hatte bereitwillig geteilt, bis es zu spät gewesen war.

„Ich will einen weiteren magischen Bund“, sagte Doron. „Meine Brüder und ich werden in das Höhlensystem ziehen, dass sich südlich von Sodaar befindet.“

Der Hohe Magier Syriel hustete geräuschvoll. „Wir brauchen sie, um die Harpyien abzuwehren.“

Den Magier ignorierend fuhr Doron fort. „Die Verteidigungsangriffe gegen die Harpyien organisieren wir ab sofort selbst.“ Er und seine Brüder waren weitaus fähigere Strategen als die Magier. Doron blickte direkt Syriel an. „Das Höhlensystem wird die Zentrale. Von dort gibt es einen direkten Zugang in die Abflughalle.“

„Diesen Pakt könnt Ihr unmöglich eingehen, mein König.“ Eifrig schritt Syriel die Stufen des Throns hinunter und kam auf König Yathel zu.

„Ich verstehe deine Bedenken, Syriel. Aber es geht hier um das Leben meiner Tochter.“

„Ich muss Syriel zustimmen und halte es auch für ein zu großes Risiko“, ereiferte sich Euricael.

„Ich bin der König und ich entscheide. Ich werde auf deine Bedingungen eingehen, werde aber ebenfalls welche stellen.“

Doron reckte das Kinn und wartete.

„Meine Tochter hat jederzeit das Recht, dein Blut einzufordern und du wirst es ihr bereitwillig geben, wann immer sie möchte. Sie wird fortan für dich an erster Stelle stehen. Wenn sie bei dir ist, wirst du für ihren Schutz und für ihre Unversehrtheit verantwortlich sein. Sollte einer deiner Krieger ihr zu nahe kommen, werde ich euch alle zurück in den Kerker sperren.“

Doron nickte. Damit konnte er leben.

„Ihr könnt die Harpyienangriffe selbstbestimmt organisieren, aber du wirst ab sofort am Boden bleiben.“

Doron zog eine Augenbraue hoch.

„Ich muss sichergehen, dass du am Leben bleibst.“

Verärgert nickte Doron. Es gab wenig, was den Drachen gefährlich werden konnte. Harpyien konnten es. In den letzten Jahrzehnten waren einige seiner Brüder von den Einsätzen nicht zurückgekehrt. Das war einer der Gründe, warum er die Angriffe selbst organisieren wollte. Er würde alles daran setzen, keinen weiteren Bruder mehr zu verlieren.

„Zu jeder Zeit wird Georgiel, mein oberster Techniker, Zugang zur Zentrale erhalten.“ Der König deutete auf einen älteren Magier, der bisher noch überhaupt nichts gesagt hatte. „Er ist der Anführer meiner Wächter und in letzter Konsequenz für jeden Kampfeinsatz verantwortlich. Er hat das letzte Wort.“

Doron blinzelte. Diese Einschränkung missfiel ihm. Geringschätzig musterte er den Hohen Magier. Er war nicht mehr der Jüngste. Wenn die Bedingung nur an Georgiel geknüpft war, war das Ablaufdatum vorprogrammiert. Ein paar Jahre würden sie mit dieser Einschränkung leben können. Er grinste zufrieden.

„Ist das alles?“, fragte er nach und fürchtete, dass zum Schluss noch ein Zugeständnis folgen würde, das er nicht erfüllen konnte.

Doch König Yathel nickte nur und blickte Doron abwartend an.

„Ich akzeptiere“, knurrte Doron. Er konnte das Stückchen Freiheit, das er sich hart erkämpft hatte, schon beinahe riechen.

König Yathel nickte der Frau zu, die das Baby hergebracht hatte. Sie eilte herbei und nahm es ihm ab.

Der König ließ sich eine goldene Kette reichen. Diesmal benutzte er beide Hände und benötigte sehr viel länger, um die Bedingungen in Wort zu fassen. Wie schon zuvor legte Doron seine Hand auf die des Königs und der weiße Nebel umhüllte ihre Hände, bevor er sich in das Edelmetall zurückzog. Der Bund war geschlossen, nicht mehr rückgängig zu machen.

„Dieser Pakt ist bindend für beide Parteien und ein Bruch – egal auf welcher Seite – wird von meinem Volk mit dem Tod bestraft“, erklärte König Yathel.

Als der König sich die Kette umhänge, stieg ein leiser Zweifel in Doron auf und er hoffte, dass er nicht soeben seine Seele verkauft hatte. Doch auch das hätte er für seine Brüder getan.

KAPITEL 1

Fast zwei Jahrzehnte später

„Bist du noch nicht angezogen?“

Ellenie blickte auf. In der Tür stand Surrida, ihre Zofe, und starrte sie entsetzt an. Zuerst begriff Ellenie ihre Aufregung nicht, dann dämmerte ihr, dass es schon ziemlich spät sein musste. Sie hatte noch etwas Zeit gehabt und es sich auf der Liege aus geflochtenem Moos bequem gemacht. Wenn sie Zeit hatte, hielt Ellenie sich am liebsten in ihrem Zimmer auf und las.

Manchmal – so wie heute – verlor sie dabei jegliches Zeitgefühl.

Sie schmiss die Lesetafel zur Seite, deren Bild augenblicklich erlosch. Auf Ellenies Handfläche erschien das Hologramm einer Sanduhr, der Zeitmesser in Usha. Fassungslos starrte Ellenie die winzigen Sandkörner an und konnte kaum glauben, dass es schon so spät war. Sie sprang auf und die Darstellung verschwand. „Ich muss mich beeilen.“

Surrida war bereits zum Kleiderschrank gegangen und hatte ein dunkelrotes Kleid herausgeholt. Sie waren ein eingespieltes Team. Ellenie drehte sich um, damit ihre Zofe die Verschnürung am Rücken lösen konnte. Das türkise Tageskleid fiel zu Boden und blieb zu Ellenies Füßen liegen. Sie kümmerte sich nicht darum, sondern nahm das Kleid, das Surrida ihr hinhielt. Die Zofe war geübt und schnürte das Kleid in Windeseile zu. Es lag am Oberkörper eng an, hatte einen großen Ausschnitt, bedeckte und betonte jedoch Ellenies eher kleinen Brüste geschickt. Der Rock war weit und aus fließendem Stoff und an den Seiten bis zur Taille geschlitzt.

Ellenie wusste, dass sie mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen und der makellos reinen Haut exakt dem Schönheitsideal ihres Volkes entsprach. Zwar war sie für eine Frau ziemlich groß, aber gleichzeitig schlank wie die meisten Magier.

Auch wenn sie es eilig hatte, setzte Ellenie sich an den Schminktisch, um etwas Farbe auf ihren Lippen zu verteilen. Nicht viel, nur einen Hauch von Dunkelrot. Währenddessen bürstete Surrida ihr das rote Haar und steckte es geschickt nach oben. Ein diamantenes Diadem krönte die Frisur.

„Du siehst wunderbar aus“, stelle Surrida begeistert fest.

Ellenie starrte ihr Spiegelbild an. Sie wollte nicht aufstehen, sich den Pflichten der Königstochter stellen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich für den Rest des Tages einfach in ihrem Zimmer verkrochen und wäre in die fantastischen Welten eingetaucht, die Magier mit kreativer Magie erschufen und die sie bis gerade gelesen hatte. Es ging um gut aussehende Männer, einen Pakt zwischen zwei verfeindeten Häusern und die große Liebe.

Wie sehr wünschte sich Ellenie, eines Tages auch der großen Liebe zu begegnen. Doch sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Als mögliche Thronfolgerin würde sie es sich wahrscheinlich nicht aussuchen können, welcher Magier an ihrer Seite auf dem Thron sitzen würde. Entschieden schob Ellenie diesen Gedanken fort. Noch war es nicht soweit. Noch hatte ihr Vater kein Wort darüber verlauten lassen, dass es an der Zeit war, sich einen Ehemann zu wählen.

Ihr Vater. Sie schluckte, als sie daran dachte, dass sie eigentlich schon zu spät dran war. Es würde ihm missfallen. König Yathel legte großen Wert auf Pünktlichkeit und betonte stets, dies wäre eine unumgängliche Tugend für eine Prinzessin.

Hastig sprang Ellenie auf. „Ich muss los!“, rief sie ihrer Zofe zu und wollte schon aus dem Zimmer stürmen, als ihr einfiel, dass sie keine Schuhe trug. Surrida reichte ihr lächelnd die roten Schlupfschuhe und Ellenie war dankbar für das flache Schuhwerk.

Sie rannte los. Gerade als sie durch einen der langen Flure rannte, war das Horn zu hören. Es signalisierte die Ankunft der Hohen Magier, jener vier Magier, die als Berater und Unterstützer nach dem König die mächtigsten Magier waren. Aus jedem Bereich der Magie – Natur, Kreativität, Heilung und Technik – wurde einer berufen.

Mist.

Ellenie beschleunigte, schlitterte auf dem polierten Steinfußboden um die nächste Ecke und rannte dabei direkt in eine Bedienstete hinein, die einen ganzen Stapel weißer Handtücher trug. Die Niedere konnte nicht mehr schnell genug ausweichen und die Handtücher fielen zu Boden.

Normalerweise hätte Ellenie geholfen, sie aufzuheben, doch sie musste sich beeilen. „Entschuldigung!“, rief sie der Niederen zu, während sie bereits um die nächste Ecke bog.

Zum zweiten Mal war das Hornsignal zu hören. Sie musste unbedingt das Außengelände erreichen, bevor das Horn zum dritten Mal ertönte. Hastig stieß sie eine Seitentür auf, die hinaus in den Garten führte. Mit dieser Abkürzung sparte sie sich ein paar Minuten.

Mit der einen Hand raffte sie ihr Kleid zusammen und hob es an, um noch schneller die vielen Stufen hinunter in den Blumengarten laufen zu können. Ohne sich umzusehen, rannte sie durch die Blütenpracht, die der ganze Stolz ihres Vaters war. Sie sah bereits den Schotterweg, den kürzesten Weg zum Landeplatz. Einst waren dort die großen Drachen gelandet, aber das war lange vor ihrer Geburt gewesen. Seit die Magier nach Usha gekommen waren und das Land von den Bestien befreit hatten, gab es die Ungetüme nicht mehr. Jetzt landeten dort die Flugapparate ihres Volkes und genau so ein Gerät schob sich in diesem Moment über sie hinweg und verdüsterte für einen Moment den Himmel: Eine riesige schimmernde Kugel aus weißem Metall. Der Flugapparat gehört zu den größeren Technik-Objekten und bot Platz für weit über dreißig Passagiere und die dazugehörige Besatzung.

Ellenie hastete weiter. Als sie um die Hausecke bog, sah sie bereits eine lange Reihe Menschen vor sich. Das gesamte Haus Balfalya war versammelt und säumte den Weg vom Landeplatz bis zum Haupthaus. Ellenie schob sich an den Begnadeten vorbei, die in der Nähe der Festung standen. Ihr Platz war am vorderen Ende der Reihe, direkt am Landeplatz.

Der erste Flugapparat war gerade gelandet. Die große Kugel öffnete sich, um die Passagiere aussteigen zu lassen. Ein zweiter Flugapparat flog in diesem Moment über die Festung, drehte sich in der Luft und schwebte dann ebenfalls auf den Landeplatz herab.

Ellenie schlängelte sich an den Wartenden vorbei und nahm gerade noch rechtzeitig ihren Platz an der Spitze der Reihe ein. Sie fing den Blick von Elrael auf, der wenig begeistert über ihr Zuspätkommen war. Er war der Bruder ihrer verstorbenen Mutter und der mächtigste Heiler der Balfalya. Ellenies Vater, König Yathel, hatte ihn zu Ellenies Lehrer auserkoren. Eine Aufgabe, der Elrael gewissenhaft nachkam.

Ellenie wich seinem vorwurfsvollen Blick aus, indem sie sich in Richtung ihres Vaters wandte, der auf den Flugapparat zugegangen war, um die ersten Gäste zu begrüßen.

„Du kommst zu spät“, rügte Avie sie leise. Ihre beste Freundin war die Tochter von Elrael und stand direkt neben ihr.

„Jetzt bin ich ja da.“

Eine hochgewachsene Frau mit wunderschönen, langen blonden Haaren, die ihr bis zu den Kniekehlen reichten, gehüllt in ein rot-goldenes Kleid, verließ als Erste den Flugapparat. Es war Chadosie, die dem Haus Ravashy vorstand. Als einziges weibliches Mitglied der Hohen Magier war sie die einflussreichste Frau in ganz Usha. An ihrer Seite befand sich ihr Ehemann Thraoel, ein eher unscheinbarer Mann, der sich stets im Hintergrund hielt. Das Paar hatte selbst keine Kinder, dennoch war das Haus Ravashy ein gesegnetes Haus, was Nachwuchs betraf. Das demonstrierte sie gerne und so befand sie sich nicht nur in Gesellschaft von männlichen und weiblichen Magiern und Begnadeten, sondern auch einer ganzen Schar Kinder. Ehrfürchtig verbeugten sich alle vor König Yathel und schritten dann an den Spalierstehenden vorbei auf die Festung zu.

Inzwischen war der zweite Flugapparat gelandet. Daraus stieg die Familie Alquer. Euricael war der Älteste der Hohen Magier. Mit seinen weit über sechzig Jahren war er schon zu Ellenies Geburt im Dienst gewesen und es war eine Frage der Zeit, bis er sich zur Ruhe setzte. Seine Haare waren so weiß wie die Blätter Ullalas, dem Lieblingsbaum von Ellenies Vater. Für einen Magier war Euricael ziemlich klein. Er trug ein weißes Unterkleid und darüber einen goldenen Umhang.

Direkt hinter Euricael schritt sein ältester Sohn Rayel. Gerüchten zufolge würde er bald in die Fußstapfen seines Vaters treten und als Hoher Magier seinen Platz am Königshof einnehmen.

Obwohl Ellenie nur ein paar Jahre jünger war als Rayel, hatte sie ihn erst bei Euricaels letztem offiziellen Besuch auf Sodaar kennengelernt und beschlossen, dass sie ihm, soweit es möglich war, aus dem Weg gehen würde. Der junge Magier mochte als Ausnahmetalent gelten, doch da war etwas Düsteres, das ihn umgab. Sie hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Im Gegensatz zu seinem Vater war Rayel stets komplett in Schwarz gekleidet. Dazu die pechschwarzen Haare, die sich kaum von seinem Umhang abhoben. Er war wirklich unheimlich.

Rayel verbeugte sich tief vor König Yathel und ging dann weiter. Dabei ließ er gelangweilt seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, bis er Ellenie entdeckte. Sie wollte den Blick abwenden, zwang sich aber, genau das nicht zu tun. Sie hatte keine Angst vor Rayel. Sie war die Königstochter und musste sich vor niemandem fürchten.

Hinter Rayel drängten sich weitere seiner Familienmitglieder, woraufhin er schließlich seinen Blick abwandte und weiterschritt. Die Familie Alquer war mit Abstand die größte und damit einflussreichste Familie in Usha. Kein anderes Haus vereinte so viele begabte Magier aus allen vier Bereichen der Magie.

„Sieht er nicht ungemein gut aus?“, flüsterte Avie aufgeregt in Ellenies Ohr.

„Wer? Rayel?“, fragte diese entsetzt und zweifelte für einen Moment am Sehvermögen ihrer Freundin.

„Nein!“, stieß Avie erschrocken hervor. „Ich rede von Sophirael.“

Der dunkelblonde Magier war etwa in demselben Alter wie Avie und Ellenie und bereits einige Male in Euricaels Begleitung auf Sodaar gewesen.

Wissend grinste Ellenie.

„Sieht er nicht unheimlich gut aus?“

Ellenie verdrehte die Augen. „Du wirst in den nächsten Tagen sicher noch genug Gelegenheiten haben, ihn anzuhimmeln.“

„Vielleicht macht er mir einen Antrag.“ Avie überlegte kurz und fügte dann hinzu: „Aber dann müsste ich vermutlich von Sodaar fortgehen. Vielleicht sollte ich mir einen anderen Magier aussuchen.“

„Du hast immerhin die Chance, von hier fortzugehen“, sagte Ellenie und konnte den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht ganz verbergen.

„Eines Tages wirst du Königin.“

Die Beklemmung, die in Ellenie aufstieg, raubte ihr für einen kurzen Moment den Atem. Eines Tages würde sie vielleicht Königin sein – oder auch nicht. Es war auf jeden Fall noch ein weiter Weg bis an die Spitze des Königreichs Sodaar. Nur weil sie die Tochter des Königs war, hieß das nicht, dass sie als Nächste den Thron besteigen würde. Es würde zwar jemand aus ihrer Familie werden, aber wer letztendlich von der Göttin Balfalya mit der nötigen Stärke ausgestattet wurde, um den streng regulierten magischen Wettstreit zu gewinnen, konnte niemand vorhersehen. Ellenies heilerische Fähigkeiten waren nicht schlecht und Elrael betonte in letzter Zeit sehr häufig, wie mächtig sie geworden war. Dennoch spürte sie, dass ihr Lehrer ihr noch immer weit überlegen war.

Ein kleinerer Flugapparat flog über ihren Kopf hinweg und setzte sanft auf dem Landeplatz neben den großen Apparaten auf. Ein einzelner Mann stieg aus. Es war Mirael, seit Georgiels Abdankung vor einigen Jahren der Hohe Magier der Technik und Oberhaupt der Familie Rawner. Er war nach dem König wohl der mächtigste Magier in Usha und ein begabter Techniker. Viele Techniker gehörten seinem Haus an, ebenso wie die meisten Wächter.

Mirael war ein paar Zentimeter kleiner als Ellenie, besaß aber als durchtrainierter Wächter eine beeindruckende Figur. Im Gegensatz zu den anderen Hohen Magiern trug er keine wallenden Gewänder, sondern einen enganliegenden schwarzen Kampfanzug aus Kalginit, einem extrem leichten und strapazierfähigen Edelmetall, das in den kargen Felsklüften des Nachbarlandes Aspain abgebaut wurde. Den Anzug hatte Mirael selbst entworfen, genauso wie unzählige andere magische Gegenstände, die Magiern, Begnadeten und Niederen gleichermaßen das Leben leichter machten. Untypisch für einen einfachen Wächter, die normalerweise ihr Haar kurz trugen, besaß Mirael schulterlanges schwarz-grau meliertes Haar. Sein purpurfarbener Umhang und die nicht zu verachtende Anzahl an goldenen Ketten, die um seinen Hals hingen, ließen seine Position erahnen.

Er grüßte den König, wie es sich gebot, und schritt durch die Menge, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen.

„Der flößt mir Angst ein“, flüsterte Avie.

„Wer?“

„Mirael. Er ist so unnahbar.“

Ellenie dachte über die Worte ihrer Freundin nach. Unnahbar war nicht das richtige Wort, um ihn zu beschreiben. Mirael war machtbesessen, kompromisslos und wortkarg. Obwohl er schon jenseits der vierzig war, war er unverheiratet. Dabei hatte es mehr als eine willige Frau gegeben, die liebend gern den Platz an seiner Seite eingenommen hätte.

Wieder warf ein Flugapparat seinen Schatten über den Landeplatz und senkte sich langsam zu Boden. Der letzte Hohe Magier traf ein. Es war Karael, der Heiler. Ellenie fand ihn unheimlich interessant, was vermutlich daran lag, dass er denselben Magiebereich beherrschte wie sie. Wann immer es ihr möglich war, beobachtete sie ihn heimlich, und sie wünschte sich schon seit Jahren, ihn nach Tisada begleiten zu dürfen, dem Ort, an dem sich sein Haus Orazea niedergelassen hatte. Doch ihr Vater hatte ihr den Wunsch nie erfüllt und nur angemerkt, alles was sie wissen müsse, könne ihr auch Elrael beibringen.

Karael hatte blondes Haupthaar, die Haarspitzen leuchteten in einem hellen Rot. Das Besondere an ihm waren jedoch nicht seine Haare, sondern die Farbe seiner Augen, die in einem ungewöhnlichen Violett schimmerten. Er trug ein goldenes Gewand und dazu einen Haarreif mit dem Symbol der Göttin Orazea.

Etliche Magier und Begnadete begleiteten ihn. Karael selbst hatte keine Frau, aber eine ganze Menge Verwandte, die sich um ihn scharten. Mit ernster Miene ging er durch die Menge, nickte flüchtig nach links und rechts, ohne jemanden konkret zu begrüßen.

Als der letzte Gast König Yathel begrüßt hatte, schloss der König sich dem Zug an, der in die Festung strömte. Nachdem er an Ellenie vorbeigeschritten war, durfte auch sie sich dem Zug anschließen.

Avie und ihr Vater Elrael mussten noch einen Moment warten, ehe sie sich mit den anderen aus dem Hause Balfalya ebenfalls zurück in die Festung begeben durften.

Fünf Mos lagen vor ihnen. Fünf Tage, an denen geruht wurde. Statt Arbeit würde es jede Menge Unterhaltung geben. Vereinzelte Veranstaltungen am Tag, und rauschende Tanzfeste am Abend. Ellenie war der Kunst sehr zugetan und freute sich auf ein unterhaltsames Programm. Auf die Feste am Abend, auf denen vorwiegend getanzt und diskutiert wurde, hätte sie getrost verzichten können. Sie konnte sich schönere Dinge vorstellen, als die vorzeigbare Königstochter zu spielen. Viel lieber hätte sie diese Zeit mit Lesen verbracht. Nur zu gerne versank sie in die Welten, die kreative Magier erschufen und auf Lesetafeln bannten.

Kaum hatte Ellenie die Festung erreicht, bog sie in einen der seitlichen Flure ab und eilte zurück in ihre Gemächer. Ihre Anwesenheit war nun nicht mehr zwingend erforderlich. Die Gäste wurden auf ihre Zimmer gebracht und man würde sich erst wieder zum Abendessen treffen.

Ellenie freute sich, vor den Abendverpflichtungen noch etwas Zeit zum Lesen zu haben und die wunderbare Geschichte zweier verliebter Magier in sich aufsaugen zu können.

* * *

Im Gegensatz zur Begrüßungsveranstaltung hatte Ellenie diesmal die Zeit im Blick. Von den zwölf Sandfarben, die die Tageszeit unterteilten, hatte sie zwei Farben für den Besuch bei Doron eingeplant. Seit ihrem fünften Lebensjahr ging sie allein zu der Felsenhöhle, in der die Krieger lebten. Davor hatte ihre Amme sie regelmäßig alle zwei Tage hingebracht. Die Existenz der Krieger wurde in der Festung Sodaar totgeschwiegen. Nur wenn die Harpyien angriffen, besann man sich auf sie. Ellenie hatte nie verstanden, warum die Krieger so gefürchtet waren. Sie lebten in der alten Drachenhöhle, einem Höhlensystem in dem angeblich einst Drachen zu Hause gewesen waren. Diese dunklen Höhlen wären auch nicht Ellenies bevorzugter Wohnort gewesen, aber von der Dunkelheit einmal abgesehen, waren die Besuche dort weder furchteinflößend noch beängstigend.

Allerdings waren die Krieger riesige Männer, die die meisten Magier um mindestens einen Kopf überragten. Auch von ihrem Körperbau her waren sie kräftiger als die feingliedrigen Menschen. In jeder Bewegung der Krieger konnte man unterdrückte Kraft erkennen. Sie waren den Magiern eindeutig körperlich überlegen. Ellenie fand das faszinierend, aber viele Magier fürchteten sich genau deshalb vor ihnen. Die Krieger gingen Ellenie in der Regel aus dem Weg, lediglich Doron kannte sie näher, aber auch er war äußerst schweigsam. Ihr Eindruck war, dass sie sich nicht allzu sehr für die Menschen interessierten, während die Menschen allein beim Anblick der Krieger bleich wurden.

Ellenie wusste, dass sie es ihrem Vater zu verdanken hatte, dass sie noch am Leben war. Er hatte mit Doron eine Vereinbarung geschlossen, die es ihr ermöglichte, am Leben zu bleiben. Sie bekam sein Blut. Und was bekam Doron?

Einmal hatte sie es gewagt, ihren Vater danach zu fragen. König Yathel war ein ruhiger, besonnener Mann, doch als sie den Namen des Kriegers aussprach, verfinsterte sich seine Miene und er wurde sehr einsilbig. Daraufhin wagte sie es nicht mehr, ihn danach zu fragen.

Es wussten nicht viele Magier von diesem Arrangement. Von den Hohen Magiern, die bei Ellenies Geburt im Amt gewesen waren, war nur noch Euricael am Leben. Auf Sodaar wussten auch nur wenige Bedienstete Bescheid. Einmal hatte sie Dorons Namen in Surridas Anwesenheit erwähnt und ihre Zofe hatte panisch eine Schale fallen lassen. Deshalb hatte Ellenie beschlossen, es wäre besser, wenn sie nicht mehr darüber sprach.

Es war ein warmer Tag. Ein angenehmes Lüftchen wehte über die Wiese hinter der Festung. Ellenie verweilte etwas länger zwischen den wunderbar duftenden Blumen und sah einem Dreckkäfer zu, der seines Weges ging. Die farbenfrohen Blüten zu berühren und die Insekten über ihre Hand laufen zu lassen, erfüllte sie mit einer ungewöhnlichen Ruhe. Tief in ihr steckte doch eine Naturverbundene, auch wenn sie nicht die magischen Fähigkeiten ihres Vaters geerbt hatte. Stattdessen waren die Gene ihrer Mutter dominant hervorgetreten und Ellenie beherrschte die Fähigkeit der Heilung.

Einst hatten die Götter gewettet, wer den schönsten Magier erschaffen konnte. Daraufhin erschuf einer die Heiler, ein anderer die Techniker, ein weiterer die Kreativen und noch einer die Naturliebenden. Und sie gaben diesen Götterkindern den Auftrag, über die Magier zu wachen. Diese erschufen die Familien und beschenkten sie mit den Fähigkeiten der Götter. Und so erwählte sich jedes Haus einen Schutzgott, in Ellenies Fall die Göttin Balfalya, die für Krieg, Ernte, aber auch Krankheiten und Strafen zuständig war. Aber die Gaben der Götter waren vielfältig und so wurde bei jedem neuen Magierkind mit Spannung erwartet, welche Fähigkeiten es in sich trug.

Langsam näherte sich Ellenie der Drachenhöhle, als sie auf einem Findling halb versteckt hinter einem Stachelnussbusch einen jungen Mann sitzen sah. Neugierig ging sie auf ihn zu und erkannte einen der Krieger. Sie wusste kaum etwas über ihn, hatte ihn aber schon öfter gesehen. Im Gegensatz zu den anderen Kriegern sah er um einiges jünger aus.

Als er Ellenie sah, sprang er auf und ließ etwas fallen.

„Ich wollte dich nicht erschrecken“, beeilte sich Ellenie zu versichern.

Er wich noch einen Schritt zurück, brachte mehr Abstand zwischen sie.

Ellenie sah eine abgeknickte Pflanze, die er in den Händen gehalten hatte und die zu Boden gefallen war. Sie bückte sich und hob sie auf.

„Hast du sie gepflückt?“, fragte sie und konnte den vorwurfsvollen Ton nicht ganz verbergen. Die Fingerblume, die ihren Namen dank der Assoziation ihrer Blütenblätter mit Fingern erhalten hatte, war keine Nutzpflanze, sondern sie war nur zur Zierde da. Ellenie empfand es als Verbrechen, der Pflanze das Leben zu rauben, um sich einen kurzen Moment an ihrer Schönheit zu erfreuen, ehe sie verwelkte und starb.

„Nein!“, stieß der junge Krieger da barsch hervor.

„Wenn mein Vater hier wäre, könnte er die Blume retten“, sagte Ellenie. Sie bedauerte, nicht in der Lage zu sein, der Pflanze neue Wurzeln wachsen zu lassen.

Als sie aufblickte, sah sie, dass der junge Krieger sie entsetzt anstarrte, als hätte er ein Verbrechen begangen.

„Ist er in der Nähe?“, fragte er beinahe ängstlich.

Sie spürte die Abwehr, die ihr Gegenüber ihr entgegenbrachte und die Panik, die die Erwähnung ihres Vater ausgelöst hatte.

Sie bedauerte, was ihre gedankenlosen Worte bei dem jungen Krieger angerichtet hatten. „Nein.“ Ellenie schüttelte den Kopf. „Er ist in der Festung. Wir haben viele Gäste, da hat er keine Zeit, die Natur zu genießen.“

Der junge Mann entspannte sich merklich. Ellenie setzte sich auf den Findling und genoss den Ausblick auf die herrliche Blumenwiese.

„Ich bin Ellenie“, stellte sie sich vor, ohne ihn anzublicken.

„Ich weiß.“ Er stand immer noch reglos da, starrte sie jedoch mit großen Augen an.

Warum hatten sie sich bisher nie unterhalten? Er wirkte nicht furchteinflößend, wie die anderen Krieger, eher wie ein Watschelhuhn, das seine Mutter verloren hatte und nun nicht wusste, wohin.

Aufmunternd lächelte Ellenie ihm zu. „Du kannst dich gerne neben mich setzen.“ Sie wies auf den Platz neben sich.

„Du bist eine Magierin.“

„Na und?“ Sie lächelte ihn weiterhin an.

Zögerlich kam der junge Mann näher und ließ sich vorsichtig mit einem gewissen Abstand zu ihr auf dem Felsen nieder.

„Wie heißt du?“ fragte Ellenie, nachdem er es immer noch nicht für nötig befunden hatte, sich vorzustellen.

„Jadoch.“

„Ein ungewöhnlicher Name“, stellte sie fest. Die Namen der männlichen Magier endeten auf -„el“. Auch Männernamen mit der Endungen -„im“ oder -„an“ waren ihr geläufig. Der Name passte jedoch in keine der ihr bekannten Kategorien, ebenso wenig wie Dorons. 

„Es ist wirklich schön hier“, sagte Ellenie und hoffte, die Stimmung ein wenig aufzulockern. „Die Blumen riechen wundervoll.“

„Hm ...“

Ellenie schielte zu ihm hinüber. „Findest du nicht?“

„Du riechst gut und du stinkst gleichzeitig.“

Unmerklich verspannte sie sich. Sie hatte sich am Morgen gewaschen, es war unmöglich, dass sie stank.

„Nein, so meinte ich das nicht“, versicherte Jadoch ihr hastig. „Du riechst wirklich sehr gut, aber …“

Jetzt war ihre Neugier geweckt und sie blickte den jungen Krieger fragend an. „Aber?“, hakte sie nach, als er nicht weitersprach.

„Du riechst krank.“

Sie hatte nicht gewusst, dass man ihre Krankheit riechen konnte. „Du kannst das riechen?“

„Wir riechen sehr gut.“

Er musste ihr nicht sagen, dass er von den Kriegern sprach. Sie waren anders als die Magier, anders als die Niederen. Sprachlos starrte sie Jadoch an. Wenn alle Krieger eine so feine Nase hatten, dann konnte auch Doron ihre Krankheit riechen. Es war ihr unendlich peinlich. „Das wusste ich nicht.“ Sie versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen.

„Da gibt es wohl eine Menge ...“, murmelte Jadoch mehr zu sich selbst, als zu ihr, doch Ellenie hatte ihn verstanden.

„Zum Beispiel?“

Abwehrend zuckte er mit den Schultern.

Es stimmte. Sie wusste so wenig über ihn und seine Art, obwohl sie Doron alle zwei Tage aufsuchte. Stets gingen ihr die Krieger aus dem Weg. Sie wollte gerade einen erneuten Versuch starten, mehr aus Jadoch herauszukitzeln, als das Aufheulen einer Sirene sie unterbrach.

Sie sprangen beide auf und starrten alarmiert nach oben. Sie wurden angegriffen. Ausgerechnet jetzt, in den Tagen der Mos. Hastig sah Ellenie sich um. Sie mussten schnellstmöglich einen sicheren Unterschlupf finden, bevor die Harpyien Sodaar erreichten. Auf der Wiese wären sie ein leichtes Ziel. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Harpyien sie hier erwischten.

 Panisch sah Ellenie sich um. Was war der kürzeste Weg zu einem sicheren Versteck?

„Komm mit!“, drängte Jadoch sie, ergriff ungefragt ihre Hand und zog sie ungeduldig mit sich.

Panik keimte in Ellenie auf. Harpyien waren die schrecklichsten Kreaturen, die man sich vorstellen konnte. Sie kamen aus dem Nichts herangeschossen und schlugen ihre Zähne in jeden, der nicht rechtzeitig fliehen konnte. Mit ihren Klauen griffen sie sich ihre Opfer und verschleppten sie nach Aspain, wo sie angeblich versklavt wurden. Oder auch Schlimmeres mit ihnen geschah. Genau konnte das niemand sagen, denn es war noch nie jemand von dort zurückgekehrt. 

Rücksichtslos zog Jadoch Ellenie über die Wiese. Sie rannte, so schnell sie konnte. Hier auf dem offenen Feld waren sie eine leichte Beute. Jadoch wäre ohne sie viel schneller gewesen. Als Krieger besaß er durch das regelmäßige Training eine gute Kondition. Im Gegensatz zu Ellenie, die das Gefühl hatte, ihre Lungen würden jeden Moment kollabieren. Doch der Krieger ließ weder Ellenies Hand los noch wich er von ihrer Seite. Es war nicht mehr weit, bald hätten sie die Drachenhöhle erreicht.

Über ihren Köpfen surrte es, und als Ellenie den Kopf hob, erkannte sie einen der Krieger im Fluganzug. Wo sie waren, waren die Harpyien in der Regel nicht weit. Seine Waffe, einen Magiestab, hielt er einsatzbereit.

„Schneller!“, trieb Jadoch sie an.

Ellenie stolperte und einzig und allein Jadochs Griff verdankte sie es, dass sie nicht zu Boden fiel. Sie fing sich auf und rannte weiter, das Brennen in ihren Lungen ignorierend.

Das markerschütternde Kreischen einer Harpyie war zu hören. Ellenie wagte nicht, sich umzudrehen, wollte die Angreifer nicht sehen. Nur noch wenige Schritte, dann waren sie in Sicherheit.

„Wir haben die Höhle gleich erreicht“, spornte Jadoch sie noch einmal an.

Etwas zischte über ihre Köpfe hinweg. In letzter Sekunde zog der junge Krieger Ellenie mit einem kräftigen Ruck in die Höhle. Zitternd drückte Ellenie sich gegen die kahle Felswand und schloss die Augen. Sie war am Leben.

„Hier bist du in Sicherheit“, erklärte Jadoch. Dabei schien er nicht einmal ein klein wenig außer Atem zu sein.

Ellenie dagegen keuchte immer noch heftig. „Danke“, stieß sie atemlos hervor.

Wie aus dem Nichts tauchte im Laufschritt ein grauhaariger Krieger auf, dicht gefolgt von Doron. Der Grauhaarige lief an ihnen vorbei, Doron dagegen verlangsamte sein Tempo.

„Wo bist du gewesen?“, schnauzte er Jadoch an. Dorons Blick fiel auf Ellenie und seine Miene verdüsterte sich. Sich unwohl fühlend, sah sie zu Jadoch hinüber, der ertappt den Kopf senkte.

„Schau, dass du in die Abflughalle kommst“, schickte Doron den Krieger fort.

Jadoch nickte und rannte hastig davon.

Ellenies Puls begann sich langsam wieder zu normalisieren und sie wollte gerade ansetzen, Doron zu erklären, dass sie Jadoch ihr Leben verdankte, als er sie unterbrach: „Du kannst in meinem Zimmer warten!“, knurrte er und machte sich dann in das Innere der Höhle davon.

Ellenie blieb verdutzt stehen und starrte ihm hinterher. So ein Benehmen war sie nicht gewöhnt. Sie war die Königstochter, sie ließ man nicht einfach stehen. Doron hatte im Moment mit Sicherheit Wichtigeres zu tun, als sich um sie zu kümmern, schließlich musste er seine Leute organisieren. Dennoch verunsicherte sie sein Verhalten. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie sprachen kaum miteinander, das war schon immer so gewesen, und Ellenie hatte das Gefühl, er hielt mit Absicht einen gewissen Abstand zu ihr. Aber gleichzeitig, wenn sie von ihm trank, war er ihr so unsagbar nahe und dann war er sanft, beinahe zärtlich. In seiner Nähe fühlte sie sich beschützt.

Sie atmete tief durch und ging zu der Tür, hinter der Dorons Zimmer lag. Die Holztür befand sich ein Stück tiefer in der Drachenhöhle. Die Räumlichkeiten waren ihr vertraut. Es war der einzige Raum, den sie in dieser unterirdischen Höhle je betreten hatte.

Vom Eingang der Höhle her hörte sie das Geschrei der Harpyien und war dankbar, hier unten in Sicherheit zu sein. Langsam ging sie weiter hinein und öffnete die Tür zu Dorons Zimmer. Mit einer einfachen Handbewegung entzündete sie die Fackeln an den Wänden. Hier unten gab es keine Fenster und Ellenie fragte sich, warum es keine magischen Lichter gab. Es wäre so viel einfacher gewesen, als immer die Feuerfackeln entzünden zu müssen. Ihr als Magierin fiel es nicht schwer, diese zu entzünden, aber sie hatte gesehen, wie lange Doron brauchte, um die fünf Fackeln an den Wänden in Brand zu stecken. Auch wenn die Krieger selbst keine Magie besaßen, waren die Wandlichter so konzipiert, dass selbst Niedere, Personen ohne einen Funken Magie, diese entzünden konnten. Abgesehen davon, dass es praktischer gewesen wäre, hätten magische Lichter auch mehr Helligkeit in die dunklen Gewölbe gebracht.

Ellenie sah sich um. Alles war wie gewohnt. Kein Luxus, die Einrichtung war karg, ein massives Holzbett mit weißen Bettlaken, eine Truhe und eine Kommode, die Ellenie bis zu den Hüften reichte.

---ENDE DER LESEPROBE---