Die Chroniken von Waldsee 1-3: Dämonenblut, Nachtfeuer, Perlmond - Uschi Zietsch - E-Book
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Die Chroniken von Waldsee 1-3: Dämonenblut, Nachtfeuer, Perlmond E-Book

Uschi Zietsch

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Beschreibung

Insgesamt-Auflage in Print, Hörbuch und E-Book bereits über 100.000! "Uschi Zietsch hat hier ein großartiges Fantasy-Abenteuer zu Papier gebracht, dem man sich bereits nach den ersten Seiten nicht mehr entziehen kann. Ihr leb- und bildhafter Erzählstil versetzen den Leser in die beschriebene Welt "Waldsee" und lassen ihn wirklich dabei sein bei Rowarns Abenteuern und denen seiner Gefährten. Jede Szene ist voller Emotionen, besonders die Kämpfe sind so spannend beschrieben, dass die Augen buchstäblich über die Buchseiten rasen." Stephanie Forster, Lies und Lausch Vor langer Zeit wurde ein magisches Artefakt gefunden, das ungeheure Kräfte birgt. Nur der Zwiegespaltene, so heißt es, kann es aktivieren - doch niemand weiß, was dann geschieht. Trotzdem wollen verschiedene Seiten und Völker das Artefakt für sich beanspruchen, und der jahrtausendelange Kampf darum entbrennt. In einer zerstörerischen Schlacht zerbricht das Artefakt in sieben Teile. Sechs Teile werden durch einen Sturm davongewirbelt und finden Hüter. Der siebte Splitter geht verloren. Doch das beendet den Kampf keineswegs, und auch die Suche nach dem Zwiegespaltenen wird fortgesetzt. Wer mag es sein? Wird er die Kräfte zum Guten oder zum Schlechten verwenden? Der zwanzigjährige Rowarn ist im abgeschiedenen Tal Inniu bei Zieheltern, den zentaurenartigen Velerii aufgewachsen. Die Ereignisse überschlagen sich, als Rowarns beschauliche Welt durch grausige Morde an jungen Mädchen erschüttert wird - und zudem aus einem Land jenseits des Gebirges eine Schar Ritter auftaucht, die Rekruten für den Kampf um das Artefakt anwerben will. Rowarns erste Prüfung liegt in der Aufklärung der Mädchenmorde, denn so wie es aussieht, ist er aufgrund seiner Vergangenheit daran beteiligt. Und damit treibt er sich selbst in die Geschichte... Die sehr preisgünstige eBook-Ausgabe enthält keine Grafiken und Anhänge.

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Seitenzahl: 1787

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Uschi Zietsch

Die Chroniken von Waldsee

Trilogie – Gesamtausgabe

»Ein großartiges Fantasy-Abenteuer, dem man sich bereits nach den ersten Seiten nicht mehr entziehen kann.« Lies-und-lausch.de

»Mehr Legenden, Heldenmut und Epos wird man selten finden.« Mediamania.de

Bisher über 60.000 Gesamtauflage als Print, eBook und Hörbuch!

Das große Epos um den jungen Ritter Rowarn und seine Kampfgefährten.

Vor Jahrhunderten zerbrach in einem mörderischen Krieg ein magisches Artefakt in sieben Teile. Nur der Zwiegespaltene, so heißt es, kann das Tabernakel heilen – doch niemand weiß, was dann geschieht.

Wer mag es sein? Wird er die Kräfte zum Guten oder zum schlechten verwenden?

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Über die Autorin

Uschi Zietsch wurde 1961 in München geboren. Sie ist verheiratet und lebt seit Jahren als Schriftstellerin und Verlegerin mit ihrem Mann und vielen Tieren auf einem  kleinen Hof im bayerischen Allgäu.

Ihre erste Veröffentlichung war 1986 der Fantasy-Roman »Sternwolke und Eiszauber« im Heyne-Verlag. Darauf folgten bis heute kontinuierlich weit über hundert Veröffentlichungen in den Bereichen der Science Fiction, Fantasy, Kinderbücher, TV-Serien und vielen mehr. Unter dem Künstlernamen »Susan Schwartz« schrieb sie jahrelang als Teamautorin bei »Perry Rhodan«, »Maddrax« und anderen Heftserien mit. Für die exklusiv bei BS-Editionen (Bertelsmann) erschienenen sehr erfolgreichen und beliebten Urban-Fantasy-Serien »Elfenzeit« und »Schattenlord« zeichnete sie für das gesamte Konzept und die Exposés verantwortlich und schrieb die meisten Romane.

Darüber hinaus gibt Uschi Zietsch Schreibseminare und ist Mit-Verlegerin des Fabylon-Verlags.

2008 erhielt sie den Literaturpreis von amnesty international für ihre Kurzgeschichte »Aische« zum Thema Menschenrechte. 

Als Fantasy-eBooks sind erhältlich:

Drakhim - Die Drachenkrieger (Trilogie Gesamtausgabe)

Die Chroniken von Waldsee Trilogie – Dämonenblut / Nachtfeuer / Perlmond

Nauraka – Volk der Tiefe (Die Chroniken von Waldsee Band 4)

Fyrgar – Volk des Feuers (Die Chroniken von Waldsee Band 5)

Der Stern der Götter (Die Chroniken von Waldsee Prequel)

Eine Kurzgeschichte aus Waldsee: Der wahre Schatz

Sternwolke und Eiszauber (Das Träumende Universum, siehe auch »Chroniken von Waldsee«)

Der Traum der Wintersonne

HADES

Der Alp

Sowie die Kinderbuch-Reihe »Ich erzähl dir was« – aus dem Leben von Jungtieren

Hinweis

Die Trilogie ist auch als aufwändiges Hardcover mit 12 Farbillustrationen und Extras erhältlich (ISBN 978-927071-88-)

Ebenso ist die Trilogie auch als ungekürztes Hörbuch (40,5 Stunden) zum Download erhältlich, sowie in einer limitierten Auflage auf USB-Stick mit Booklet im Shop auf www.fabylon.de.

Impressum:

Cover: Crossvalley Smith

© der eBook-Ausgabe 2012 by fabEbooks

ISBN: 978-3-943570-05-2

Inhalt

Über die Autorin

Impressum

Inhalt

BUCH 1: DÄMONENBLUT

Erster Teil: Inniu

Kapitel 1: Blutspur

Kapitel 2: Der Weiße Falke

Kapitel 3: Letzte der Nauraka

Kapitel 4: Wahrheit und Legende

Kapitel 5: Blutschuld

Kapitel 6: Die Bestien

Zweiter Teil: Reise nach Valia

Kapitel 7: Entscheidungen und Abschiede

Kapitel 8: Der erste Pfad

Kapitel 9: Am Goldenen Pass

Kapitel 10: Die Blutstätte

Kapitel 11: Ennishgar

Kapitel 12: Die Abtrünnigen

Dritter Teil: Kampf um Ardig Hall

Kapitel 13: Der zweite Pfad

Kapitel 14: Der Heermeister

Kapitel 15: Der Unsterbliche

Kapitel 16: Tag des Zorns

Kapitel 17: Der Waldlöwe

Kapitel 18: Die letzte Schlacht

BUCH 2: NACHTFEUER

Vierter Teil: In Dunkelheit

Kapitel 19: Der Graue

Kapitel 20: Die Gefangenen der Splitterkrone

Kapitel 21: Der dritte Pfad

Kapitel 22: Flucht von Sternfall

Kapitel 23: Die Sühne des Verräters

Kapitel 24: Ferlungar

Fünfter Teil: Der Visionenritter

Kapitel 25: Der Weg nach Farnheim

Kapitel 26: Lady Arlyn

Kapitel 27: Wiedersehen

Kapitel 28: Der vierte Pfad

Kapitel 29: Offenbarung I

Kapitel 30: Offenbarung II

Sechster Teil: Der Zwiegespaltene

Kapitel 31: Neue Ziele

Kapitel 32: Aufbruch

Kapitel 33: Heriodon

Kapitel 34: Im Antasa-Tal

Kapitel 35: Das naurakische Erbe

Kapitel 36: Die Lichtlose

BUCH 3: PERLMOND

Siebter Teil: Der fünfte Pfad

Kapitel 37: Rückkehr

Kapitel 38: Von Träumen und Frauen

Kapitel 39: Noïrun

Kapitel 40: Der junge König

Kapitel 41: Die Hoffnung wächst

Kapitel 42: Ein neuer Bund

Achter Teil: Der sechste Pfad

Kapitel 43: Sonne und Mond

Kapitel 44: Die Reise beginnt

Kapitel 45: In Gandur

Kapitel 46: Die zweite Tür

Kapitel 47: Der Preis

Kapitel 48: Die letzte Tür

Neunter Teil: Tabernakel

Kapitel 49: Statuen und Teppiche

Kapitel 50: Der Gorgonier

Kapitel 51: Sturm

Kapitel 52: Der Siebte Splitter

Kapitel 53: Im Licht

Kapitel 54: Der Kranich

Anhänge

BUCH 1

DÄMONENBLUT

ERSTER TEIL

Inniu

Kapitel 1

Blutspur

Rowarn schlief und wusste noch nicht.

Der Morgen zog unschuldig und rein herauf, behutsam tastete der erste Sonnenstrahl über den Horizont und kündigte einen strahlenden Tag an. Die Sterne schwanden im aufdämmernden Licht, und ein zartrosa Streifen breitete sich am Rand der Welt aus. Leises Piepsen drang aus den Büschen, als die Jungvögel erwachten. Ihre Eltern plusterten das Gefieder auf und schüttelten sich, bevor sie sich ausgiebig putzten und auf die anstrengende Futtersuche vorbereiteten. Der letzte Nachtjäger schlich müde in den Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen. Frühnebel kroch über die zartgrünen Wiesen, und tauglänzende Blüten öffneten sich und gaben ihr süß duftendes Inneres der Sonne preis.

Rowarn drehte sich selig lächelnd im Gras um. Anini ..., seufzte er im Traum, der so wirklich schien. Ein Traum, der gestern in der Dämmerung mit dem Fest begonnen hatte.

Die Lobpreisung des wachsenden Korns war voll der Ausgelassenheit und des Frohsinns gewesen. Rowarn hatte sich die ganze Zeit am Rand des Festes gehalten, so nah und doch fern, hatte geschwiegen und sich beinahe unsichtbar gemacht. Es gab nur einen Grund für ihn, hier zu sein, und immer nur hatte er sie angesehen: Anini, Schönste der Stadt, so wurde sie genannt, und so flüsterte Rowarn ihren Namen auch heimlich für sich, kostete jede einzelne Silbe wie einen süßen Honigtropfen. Während die anderen aßen und tranken, während köstliche Düfte seine Nase umschmeichelten, verspürte Rowarn kein Verlangen nach saftigem Braten, gewürzt mit den ersten Frühlingskräutern, nach dampfendem Brot aus dem Holzofen und schwerem Honigbier. Anini war für ihn Nahrung genug, die seine Augen sättigte, und der Magen musste schweigen.

An diesem Abend strahlte sie heller als der Mond, mit kupferrotem, blumenumkränztem Haar und Augen wie Kornblumen, und mit roten Lippen, die entweder fröhlich lachten oder weich küssten – vielleicht einen jungen Verehrer, ab und zu ein rotwangiges Kind. Anini konnte wählerisch sein, mit wem sie tanzte, doch sie erwählte viele während des langen Abends, unter dem Schein der Öllampen und Kerzen in bunten Gläsern, die ein zauberisches Licht verströmten. 

Mit fortschreitender Dunkelheit wechselte die Stimmung zusehends zu trunkener Heiterkeit, viele Gesichter glänzten, Nasenspitzen wurden rot von Bier und Wein. Das neue Frühjahr musste ausgiebig gefeiert werden, damit es eine gute Ernte gab. Und die Vorzeichen waren gut: Das Wetter war klar, die Luft mild und voller Blütenduft. 

Als es allmählich auf Mitternacht zuging, die Musiker erschöpft zu langsameren Weisen übergingen und der Kreis sich lichtete, kam Anini unerwartet auf Rowarn zu, der den ganzen Abend hindurch seinen Platz auf der Bank am Rande des Lichtscheins nicht verlassen hatte. Er konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich zu ihm wollte. Erfreut, aber auch unsicher, sah er ihr entgegen. (War dies noch Traum? Oder schon Erinnerung? Oder ... Wirklichkeit?)

Sie blieb vor ihm stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. »Nun, Rowarn«, begann sie mit strenger Stimme. »Was sitzt du stundenlang hier herum und starrst mich fortwährend an? Missfalle ich dir so sehr?«

Er machte ein erschrockenes Gesicht und schüttelte betreten den Kopf. »G-ganz im Gegenteil, ich, ähm, finde dich w-wunderschön«, brachte er ungelenk heraus.

»So?« Ihre Augen blitzten auf. »Und warum hast du mich dann nie zum Tanzen aufgefordert? Den ganzen Abend habe ich darauf gewartet!«

Er blinzelte überrascht. »Ich hätte nie gewagt ...« Dabei tanzte er gern, er konnte sich sehr geschmeidig und ausdrucksstark im Einklang der Musik bewegen, als wäre es ihm angeboren.

Da lachte sie. »Rowarn, du bist ein Tölpel. Hattest du so viel Angst, ich könnte dich abweisen, dass du es gar nicht erst versuchen wolltest? Du musst noch viel lernen! Du solltest dich mehr in menschlicher Gesellschaft aufhalten, wo du hingehörst, und nicht nur bei deinen hufbeinigen Muhmen. Die haben dich ja mehr wie einen der Ihren aufgezogen, anstatt wie einen Menschen.«

»Es – es tut mir leid«, stammelte er. »Ich wusste nicht, ob ich willkommen bin, nach all dem Schrecklichen, was in letzter Zeit …«

»Sch-scht.« Anini legte ihm einen Finger an den Mund. »Lass die anderen doch reden, sie sind nur neidisch. Und sie fürchten sich vor dem, was sie nicht kennen. Aber ich weiß, dass du ein gutes Herz hast. Ich kann es in deinen Augen sehen.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Dann komm, versäumen wir nicht noch mehr von dieser wundervollen Nacht.«

Er nahm ihre Hand und stand auf. »Aber ... wohin?«, murmelte er verstört, und sie lachte gurrend.

»Sag bloß, du warst noch nie mit einem Mädchen allein bei Nacht draußen?«

»Oh ...« Er begriff, ein wenig spät, aber immerhin. Nein, es war nicht das erste Mal. Da war Rubin gewesen, des Köhlers Tochter. Und ... Malani, die Tochter des Fischers. Das war nicht ungewöhnlich; mit ihnen war er sozusagen aufgewachsen, denn ihre Eltern lebten wie Rowarns Muhmen auf einsamen Höfen abseits von Madin. Eines Tages, als sie entdeckten, dass sie keine Kinder mehr waren, hatten sie unschuldige und scheue Küsse getauscht, und vielleicht auch ein wenig mehr, als sie älter wurden und dazulernten.

Rowarn hätte jedoch nie zu hoffen gewagt, dass ein Stadtmädchen, noch dazu Anini, sich jemals für ihn interessieren würde. Vorsichtig sah er sich um, aber niemand beachtete sie. Aninis Vater hatte den schweren Kopf auf die Tischplatte fallen lassen und schnarchte so fürchterlich, dass die Bäume zitternd ihre Blätter einrollten. Zu Beginn des Festes hatte der eine oder andere Stadtrat Rowarn mit verengten Augen angeblickt, als er sich vorsichtig bis an den Rand herangewagt hatte. Doch als er die ganze Zeit über nur still auf der Bank saß, hatten sie ihn schließlich vergessen.

Die beiden jungen Menschen verließen das Fest und traten Hand in Hand in das nächtliche, vom Mond beschienene Land hinaus. Abseits aller Wege lief Anini über die Hügel, Rowarn immer im Schlepptau. Barfuß schwebte sie über das feuchte, junge Gras, beschwingt und leise kichernd. Schließlich, schon nahe beim Wald, blieb das Mädchen stehen und fasste Rowarn an beiden Händen. Einen langen Moment schaute Anini ihn schweigend, aus glänzenden Augen an. »Wenn du dich nur sehen könntest ...«, wisperte sie fast andächtig.

Das hatten auch Rubin und Malani schon zu ihm gesagt, unabhängig voneinander und in Nächten wie dieser. Und von da an hatten sie ihn am liebsten bei Vollmond draußen getroffen.

Rowarns Augen, klarblau wie ein alter, sehr reiner Gletscher in der Sonne, leuchteten in der Dunkelheit matt wie ein ferner Stern. Seine Haare waren blond wie eine Kornähre im Schnee und so hell, dass er sich des Nachts nicht ungesehen an jemanden heranschleichen könnte. Und seine Haut, so glatt und bleich wie Marmor, schimmerte im Mondlicht wie Perlmutt ...

»Du übertreibst«, unterbrach Rowarn verlegen.

»Kein bisschen«, widersprach Anini schnurrend. »Genau deswegen bin ich mit dir hier.« Sie ließ sich ins Gras fallen, Rowarn mit sich ziehend. Und dann küsste sie ihn ...

Noch immer im Traum gefangen, drehte Rowarn sich erneut und tastete neben sich, wo er Wärme fühlte, die Nähe seiner Liebsten ...

Nein. Dies war kein Traum mehr, angefüllt mit seligen Wonnen.

Kälte war es, eisige Starre, die er fühlte, die seine Finger hinaufkroch, sich rasend schnell in seinem Körper ausbreitete, und Rowarn weckte.

Mit einem erstickten Laut fuhr er hoch, während das letzte Traumbild in ihm zerstob. Noch schlaftrunken betrachtete er seine Hände, die voll Blut waren, und seine Kleidung, und dann wusste er.

Nicht schreien. Nicht schreien! Rowarn biss sich auf die Knöchel, um zurückzudrängen, was aus ihm herauswollte, dieses abgrundtiefe Grauen, gesammelt in einem einzigen Wort, weil es sonst keines gab für das, was er sah.

Nein ...

Anini war tot. Ihre einst so sprühenden Augen starrten milchblau in den heller werdenden Himmel. Das Mieder war in Fetzen, ihre Brust aufgerissen, die Rippen aufgebrochen, das Herz geraubt. Und überall Blut ...

Dies war, was Rowarn sah, was er begriff, aber nicht ... erklären konnte.

Rowarns Augen brannten, der trommelnde Herzschlag sprengte ihm fast die Brust. Ein unterdrücktes Wimmern entrang sich seiner zugeschnürten Kehle. Dann sprang er auf und rannte schluchzend über die Wiese in den Wald hinein.

Rowarn liebte den Wald, seit er laufen konnte. Das Spiel von Licht und Schatten, die Würde der alten Bäume, das huschende, zwitschernde und brummende Leben, heimlich und nur selten zu sehen. Die Luft war hier kühler und reich an Gerüchen, nach Moos und feuchtem Stein, Erde und Pilzen, Honig und Blüten. Wann immer er Kummer hatte, ging er in den Wald und wurde getröstet. Er kannte die Pfade vieler Waldtiere, und sie wussten es zu schätzen, dass er sich wie einer von ihnen verhielt – still und unauffällig.

Doch nicht heute, an diesem Tag des Blutes. Wie ein gedankenloser Städter trampelte und stampfte er den Karrenweg entlang, ohne nach links oder rechts zu blicken. Schließlich schlug er sich blindlings in die Büsche und scheuchte allerlei Getier auf, das zeternd und fauchend weichen musste. Er störte den Hochzeitsgesang der Vögel, stolperte über Wurzeln, unter denen Ameisen und Käfer lebten, und veranstaltete einen solchen Lärm, bis der ganze Wald in Aufruhr war und die Häher schrill pfeifend Alarm schlugen.

Blut! Blut!, hörte Rowarn sie rufen, und sie verfolgten ihn den ganzen Weg entlang, kreuz und quer durch den Wald. Was ist geschehen?

»Ich weiß es nicht!«, schluchzte er mit heiserer Stimme. »Ich habe geschlafen ...«

Und das Blut? Und das Blut?Hände, Kleidung, Gesicht und Haare ...

Rowarn presste sich die Hände auf die Ohren. »Nein! Nein! Nein! O Götter, steht mir bei! Ich war es nicht ... Anini, Anini ... warum wurde dir das angetan ...«

Schließlich konnte er nicht mehr weiter. Rowarn blieb stehen, die Augen blind von Tränen, sein Atem pfiff. Sein Körper war schweißüberströmt, und dazu überall das Blut an ihm, vermischt mit aufgewühlter Erde: Genauso, erinnerte er sich verstört, hatte einst Hegen der Mörder ausgesehen, als er krank am Geist aus dem Wald gebrochen war und wirr stammelnd berichtete, was er seiner Frau angetan hatte.

Rowarn hatte damals trotz allen Abscheus Mitleid mit dem Mann empfunden, der den Grund für seine Tat nicht nennen konnte und wenig später gebrochen starb, noch bevor die Stadtväter über ihn zu Gericht sitzen konnten.

Und nun sah er selbst ganz genauso aus, konnte nicht erklären, was geschehen war, hoffte verzweifelt, dass er unschuldig war. Aber wer würde, wer konnte ihm glauben? Was sollte er tun? Wo sollte er hin?

Nach Hause konnte er jedenfalls nicht. Schon von weitem würden seine Eltern alles riechen: den abscheulichen Gestank nach Blut und Schuld, nach Feigheit und Flucht.

Er hatte alles falsch gemacht. Er hätte gleich in die Stadt zurückkehren müssen, um Aninis Vater zu sagen, dass seine Tochter tot auf der Wiese lag, grausam ermordet. Dann hätte man sie geholt, gesalbt und würdevoll aufgebahrt, und sie würde nicht einsam dort draußen im nassen Gras liegen, an diesem sonnenklaren Morgen.

»Sie hätten mir nicht geglaubt, dass ich unschuldig bin ...«, verteidigte Rowarn sich vor sich selbst. »Sie hätten mich gefangen, gefesselt und wahrscheinlich erschlagen oder erhängt, noch bevor meine Eltern davon erfahren hätten ...«

Am besten machte er sich aus dem Staub, jetzt gleich und für immer. Natürlich würden seine Muhmen voller Kummer sein und vielleicht an ihm zweifeln. Aber er konnte ihnen wenigstens nicht mehr schaden und sie nicht in Verruf oder sogar Gefahr bringen. Irgendwann wäre dies alles vergessen, und sie könnten weiterleben wie zuvor.

Rowarn zuckte zusammen, als er die Richtung wechseln wollte und plötzlich in ein Paar große, braune Augen blickte. Es war ein junger Elenki, ein schmales Böckchen noch, scheu und ängstlich. Er fing gerade an, die ersten, zarten Geweihknospen auszubilden, die hellen Tupfen in seinem Jugendkleid waren kaum mehr zu sehen.

Rowarn schluckte. »Du solltest besser gehen, damit du niemals die Schrecken kennenlernst, die ich schon erlebt habe«, flüsterte er.

Das Böckchen legte den Kopf leicht schief, ohne die Augen von dem  jungen Mann zu wenden. Seine großen, mit flauschigem Fell bewachsenen Ohren gingen vor und zurück.

»Was machst du hier?«, fragte Rowarn verzweifelt. »Hast du nicht gehört, dass die Häher mich bereits schuldig gesprochen haben?«

Der kleine Elenki reichte Rowarn gerade bis an die Hüfte. Einem ausgewachsenen Hirsch könnte er nicht über die Schulter blicken. Das Jungtier versuchte vergeblich, den rechten Hinterlauf hochzuziehen. Es hatte sich im Gestrüpp verheddert und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien.

»Warum bist du so ungeschickt?«, stieß Rowarn hervor. »Hast du nicht aufgepasst, was deine Eltern dir beigebracht haben? Da, nimm meine Witterung auf, ich stinke nach Gewalt und Tod! Begreife, was dich in Gefahr bringt, was du immer meiden musst! Wenn du je erwachsen werden willst, darfst du keinen Fehler machen!«

Der Elenki reckte den Hals und stupste Rowarn leicht an. Die zuckende braune Nase war feucht, die Augen groß und sanft. Dieses junge Wesen glaubte an seine Unschuld. Es vertraute darauf, dass Rowarn ihm helfen würde.

Er ging einen Schritt auf das Böckchen zu, bückte sich und berührte vorsichtig den von Schlingpflanzen gefesselten Lauf. »Halte kurz still«, flüsterte er. »Da hast du wirklich ordentliche Arbeit geleistet ... leichte Beute für jedes Raubtier oder den Jäger ...«

Das Jungtier verharrte, während Rowarn sich abmühte, den Lauf aus dem Gewirr zu befreien. Schließlich zog es den zierlichen Spalthuf mit einem Ruck hoch und war frei.

Rowarn fuhr zusammen, als er in diesem Augenblick ein tiefes Röhren hörte, und dann schob sich der mächtige, geweihtragende Kopf eines ausgewachsenen Elenki durch das Gebüsch. Seine ausladenden Schaufeln mit den tödlichen Spitzen maßen mehr als doppelte Mannslänge. Neben ihm erschien die zierlichere Gestalt einer Hindin, die ein nur wenige Tage altes Kalb an der Seite führte.

Der junge Mann erstarrte. Elenki, vor allem die Hirsche, gehörten zu den gefährlichsten Geschöpfen des Waldes. Sie waren angriffslustig, schnell und tödlich. Nur ein erfahrener, sehr hungriger Panther würde sich jemals an einen ausgewachsenen Bullen heranwagen.

Der junge Bock stieß einen hohen, quäkenden Laut aus, dann sprang er zu seinen Eltern. Ohne Rowarn weiter zu beachten, verschwand die Familie im Gebüsch.

Rowarn stieß den angehaltenen Atem aus und wischte sich übers Gesicht, verschmierte dabei Schweiß, Blut und Dreck. Diese Ablenkung hatte ihn zur Vernunft gebracht, und er war dankbar dafür. Weglaufen war keine Lösung. Er musste herausfinden, was geschehen war, und seinen Eltern ebenso wie den Städtern beweisen, dass er kein Mörder war. »Ja, ich sollte nach Hause gehen«, murmelte er. »Aber zuvor ... muss ich mich wenigstens säubern ...«

Eine Stimme in seinem Inneren drängte ihn weiterhin, stattdessen in die andere Richtung zu laufen, so schnell und so weit er vermochte, bis niemand ihn mehr einholen und er anderswo ein neues Leben beginnen konnte. Aber Rowarn sah immer noch die braunen Augen des jungen Elenki vor sich, die ihm Mut zuzusprechen schienen, und ihn davor warnten, etwas Dummes, Endgültiges zu tun. Die Familie ließ einen niemals im Stich.

Wenn jemand für ihn Verständnis aufbrachte, dann Rowarns Zieheltern. Sie würden alles für ihn tun, obwohl – oder gerade weil – er nicht ihr leiblicher Sohn war. Sie würden wissen, was zu tun war.

Gewiss machten sie sich längst Sorgen, weil er immer noch nicht zu Hause war. Vielleicht hatten sie sogar schon von Aninis Tod erfahren ...

Rowarn sprang auf und schlug den Weg zum See ein, der nicht weit von seinem Zuhause lag. Dort konnte er sich reinigen. Es zog ihn eilig dorthin, nun, da er seine Entscheidung getroffen hatte. Der Wald tröstete ihn stets in seinem Kummer, aber das Wasser bot Schutz. So hatte er es schon immer empfunden.

Im See ruhte eine Reinheit und Klarheit, wie Rowarn sie an Land nie erlebte. Die Beschränkungen, sich nur schwerfällig auf dem Boden fortbewegen zu können, waren aufgehoben. Alles, was dort unten lebte, war viel vertrauter miteinander, und sich noch dazu auf eine einzigartige Weise nahe, wenn nicht vereint. 

Schon als Kind hatte Rowarn viel Zeit im See verbracht. Er konnte schwimmen wie ein Otter und länger als jeder andere Landbewohner unter Wasser ausharren. Doch er hatte nie den Wunsch verspürt, für immer dort zu bleiben, wie Malani eines Frühlingsmorgens scherzhaft bemerkt hatte, als sie blau gefroren die Wärme der Sonne suchte, während Rowarn immer noch planschte.

So wohl er sich im Wasser fühlte, er gehörte doch nicht dorthin. Das war eine seltsame Empfindung, die er nicht erklären konnte, und die ihn stets nur bis zu einer gewissen Grenze gehen ließ, niemals darüber hinaus.

Jetzt aber sehnte er sich danach, einzutauchen und all den Schmutz und die Schuld von sich abzuwaschen, um gereinigt, vielleicht geläutert unter die Augen seiner Zieheltern treten zu können.

Rowarn seufzte, als er endlich den See erreichte. Die Sonne war jetzt voll aufgegangen und übergoss die glitzernde Oberfläche mit silbernem Schein. Ohne zu verharren, sprang Rowarn ins Wasser und tauchte ein. Nach kurzer Unruhe wurde die Oberfläche wieder still und glatt.

Das Wasser färbte sich schwarz.

Sämtliche Ehrenwerten der Stadt, allen voran Aninis Vater, ein grauhaariger, vierschrötiger Mann namens Daru, ließen sich von Pferdewagen nach Weideling bringen, dem Heim der beiden Velerii. Seit langer Zeit lebten Rowarns Zieheltern in Inniu, fern ihrem Volk, als Hüter von Weideling. Ein staubiger Pfad, gerade breit genug für ein Fuhrwerk, zweigte vom gut befestigten Karrenweg ab, der zu den bedeutendsten Handelsstraßen Valias führte.

Schon von weitem war der Zug durch die aufgewirbelte Staubwolke sichtbar, die ihn aufplusternd einhüllte.

Neben Daru saß die weinende Hallim, Aninis Mutter, das Gesicht in einem großen Tuch verborgen. Daru blickte grimmig nach vorn; während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Versteckt hustete er, wenn der Staub seine Kehle zu sehr reizte, und wischte sich gelegentlich die Augen.

Die Haustür von Weideling öffnete sich, als der Zug am Ende des Weges zum Stillstand kam. Daru und Hallim stiegen vom Wagen herab, die zahlreichen Begleiter blieben noch sitzen.

Schattenläufer trat ins helle Licht des Vormittags. Sein dunkles, markantes Gesicht drückte Freundlichkeit aus, und er hob die Hand. »Ich grüße Euch, Daru der Starke, an diesem strahlenden Frühlingstag, nach einem, wie ich hoffe, großen Fest.« Es war die Art der Velerii, derart förmlich und blumig zugleich zu sprechen. Sie hatten für jeden Menschen einen Beinamen.

Jetzt bemerkte Schattenläufer das von Leid und Tränen geschwollene Gesicht Hallims, als er sich ihr zuwandte, und stutzte. Seine breite Stirn legte sich in besorgte Falten. »Ich glaube, ich war zu voreilig mit meinem Gruß. Ich bitte Euch um Verzeihung, Hallim die Kluge. Was ist geschehen?«

»Anini wurde ermordet!«, entfuhr es Daru, und nun verlor auch er die Fassung und brach in Tränen aus. »Unser Sohn Rayem fand sie heute Morgen auf der Wiese, grausam entstellt! Das Herz wurde ihr bei lebendigem Leib aus der Brust gerissen, könnt Ihr Euch das vorstellen? Nur ein Tier kann so etwas Entsetzliches tun!«

Die pechschwarze Mähne Schattenläufers wallte über seinen menschlichen Rücken bis zum Widerrist des Pferdekörpers hinab, als er den Blick wandern ließ und in vorwurfsvolle, wenn nicht anklagende Augen sah. Sein langer Schweif peitschte einmal um seine blauschwarz glänzenden Flanken. Er strich sich den Bart und setzte einen Huf nach vorn. »Nun, ich bin kein Tier«, sagte er ruhig mit tiefer Stimme. In seinen großen dunklen Augen lag nunmehr Trauer.

»Wo ist Rowarn?«, rief Aninis Bruder Rayem vom Wagen herab.

Ein Licht schien aufzuglühen, als Schneemond in diesem Moment an Schattenläufers Seite trat. Ihr Fell schimmerte fast silbrig im Sonnenschein, die seidige Mähne kräuselte sich leicht in der sanften Brise. Schneemonds bernsteinfarbene Augen blitzten. Sie war keineswegs so sanftmütig wie ihr Gemahl. »Auch Rowarn ist kein Tier«, sprach sie mit glockenheller Stimme, aber mit drohendem Nachhall.

»Woher wissen wir das so genau?«, rief jemand, und mehrere Stadtbewohner stimmten dem Einwand lautstark zu. 

Der Stadtälteste, Larkim der Strenge, kletterte steifbeinig vom Wagen und stakste auf einen Stock gestützt auf die Velerii zu. Allerdings hielt er genau wie Daru respektvollen Abstand. Bei allem Zorn vergaßen die Menschen nie, mit wem sie es zu tun hatten. Der Widerrist von Schneemond und Schattenläufer reichte den meisten Menschen bis an die Stirn; mit ihrem menschlichen Oberkörper und dem Haupt überragten sie jeden der Anwesenden um eine halbe Mannslänge. 

»Es mag sein«, sprach der Greis mit erstaunlich kraftvoller, tragender Stimme, »dass Rowarn aussieht wie wir und einer gefälligen Sprache mächtig ist. Aber Ihr scheint zu vergessen, wie unbeherrscht er ist, wie schnell er in blindwütige Raserei gerät! Oder stimmt es nicht, Ondur?« 

Der aufgerufene Junge sprang vom Wagen und zeigte den Velerii die hässliche weiße Narbe an der rechten Halsseite. Nacheinander wurden junge Männer, alle ungefähr in Rowarns Alter, aufgefordert, Narben vorzuzeigen, die Schattenläufers Zögling ihnen zugefügt hatte.

Hallim, die niemals jemandem etwas Böses wünschte, nicht einmal in dieser schrecklichen Stunde, warf allerdings zitternd ein: »Uns ist bekannt, dass Rowarn dies nicht willentlich tut. Etwas anderes ergreift in solchen Momenten Besitz von ihm, denn er ist danach jedes Mal reumütig und zerknirscht, und er gibt sich viel Mühe, damit es nicht zu solchen Ausbrüchen kommt. Aber wie wollt Ihr uns beweisen, dass er es nicht war? Er wurde heute Nacht gesehen, als er zusammen mit Anini das Fest verließ. Er war der Letzte, der meine Tochter ...« Sie schluchzte und konnte für einige Momente nicht weitersprechen. Niemand wagte eine Äußerung, alle warteten schweigend und betreten, die Augen zu Boden gerichtet. Schließlich hatte sie sich so weit gefasst, dass sie fortfahren konnte: »Er war als Letzter mit ihr zusammen. Das ist erwiesen.«

Daru ballte die Hand zur Faust. »Wahrscheinlich hat er sie schänden wollen, und sie setzte sich zur Wehr, sodass er in tollwütige Raserei geriet und ...«

»Ihr sagtet, Anini wurde das Herz herausgerissen «, unterbrach Schneemond mit eisklirrender Stimme. Ihr helles, liebevolles Gesicht war zur weißen Maske erstarrt. »Auf dieselbe Weise wie den drei anderen Mädchen, die wir in den letzten Wochen fanden. Wollt Ihr behaupten, auch dies wäre Rowarns Werk gewesen?«

»Ja!«, schrie Rayem, und einige weitere stimmten aufgestachelt zu. Die Stimmung heizte sich zusehends auf, und der eine oder andere hielt plötzlich ein Messer in der Hand.

Schattenläufers Gesicht verdüsterte sich bei diesem Anblick. Sein Schweif schlug erregt, und er stampfte einmal mit dem Huf auf.

Schneemond starrte zuerst auf Daru, dann auf Hallim hinab. »Ist das wirklich euer aller Meinung?«

Die beiden trauernden Menschen wichen ihrem Blick aus und schwiegen. Fassungslos hob Schneemond den Kopf. »Wisst ihr auch, was ihr da sagt?«, rief sie. Aller Zorn war verflogen, Schmerz und Kummer verzerrten ihre zarten Züge. »Rowarn ist unter euch aufgewachsen. Er hat unsere Lehren empfangen, und vor allem Respekt vor jedem Wesen unter Sonne und Mond. Er ist kaum erwachsen und auf dem besten Wege, sich im Leben zu bewähren! Wie könnt ihr nur annehmen, dass er in der Lage wäre, so grausame Taten zu begehen und gleichzeitig weiterzuleben, als wäre nichts geschehen?« 

Ihr glühender Blick schweifte über die jungen Männer. »Ja, er hat euch Leid zugefügt, und ja, er ist von ungezügeltem Temperament, das ihn manchmal zu heftigen Ausbrüchen verleitet! Aber er hat noch nie jemanden lebensgefährlich verletzt, und oft genug hatte er Gründe, sich gegen euch zur Wehr zu setzen, nicht wahr? Und noch etwas: Wie oft war er für euch da? Hat euch aus der Klemme geholfen? Hat Prügel für eure Taten bezogen, damit ihr ungeschoren davonkommt und er eure Achtung erringt?« 

Sie hob die Arme. »Gewiss, wir haben Rowarn davor gewarnt, sich zu viel mit den Menschen abzugeben. Aber nicht, um euch vor ihm zu beschützen, sondern umgekehrt!«

Schattenläufer fügte an: »Wir wissen wohl, dass wir nur geduldet sind, solange wir in euren Augen von Nutzen sind. Gern nehmt ihr unsere Dienste für Heilung und Schutz in Anspruch, doch hinter verschlossenen Türen sprecht ihr andere Worte, die keineswegs freundlich sind. Und seit wir Rowarn aufnahmen, finden eure wilden Spekulationen kein Ende, und ihr habt ihn nie als einen der Euren in eurer Mitte willkommen geheißen! Aus genau diesem und keinem anderen Grund nehmen wir an keinem eurer Feste teil und halten uns von euch fern! Aber wie soll Rowarn das jemals verstehen, ein junger Mann, der genauso aussieht wie ihr?«

Eine ganze Weile herrschte tiefes Schweigen. Einige blickten nun deutlich verunsichert, andere weiterhin wütend, sogar angriffslustig. Hallim weinte leise und flüsterte den Namen ihrer Tochter, eingebunden in ein Gebet.

Deutlich ruhiger hob Schneemond noch einmal die Hände, aber in friedlicher Geste: »Wir alle sind aufgebracht, weil nun schon das vierte Mädchen auf so schreckliche Weise ermordet wurde. Wir wissen nicht, weshalb, und wer eine solch unvorstellbare Tat begehen könnte. Aber das darf uns den Blick nicht trüben, während wir nach dem Mörder suchen – gemeinsam.«

Daru stieß hervor: »Es begann alles an dem Tag, als der Weiße Falke nicht kam. Es war ein schlechtes Omen, und wir haben es nicht beachtet! Wir hätten dieses Fest niemals ausrichten dürfen, und ich hätte Anini niemals ...« Seine restlichen Worte gingen in Schluchzen unter.

»Ein schlechtes Omen? Gewiss, das mag sein«, sagte Schattenläufer ruhig. »Denn der Weiße Falke kam allein Rowarns wegen. Daru, Ihr seid alt genug, ihr wisst, dass er zum ersten Mal erschien, als unser Ziehsohn sich im ersten Lebensjahr befand. Ihr habt so getan, als gäbe es diese Tradition schon immer, doch das ist falsch. Ihr habt euch etwas zueigen gemacht, das nur für uns von Bedeutung ist.«

Aninis Vater wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch blasser.

»Worte, nur Worte! Es wird Zeit, dass etwas geschieht!«, schrie einer der Stadtväter. »So weit hätte es nie kommen dürfen! Rowarn soll beweisen, dass er es nicht war. Dann werden wir abziehen und unter uns beratschlagen, wie wir unsere Töchter schützen und den Mörder stellen wollen!«

»Wenn er unschuldig ist, warum ist er dann nicht hier?«, schlug Rayem angrifflustig in dieselbe Kerbe.

»Ich bin hier«, erklang in diesem Augenblick Rowarns Stimme, und er trat mutig vor seine Eltern.

Für einen Augenblick herrschte überraschtes, teils verlegenes Schweigen.

Larkim der Strenge maß ihn aus verengten Augen. »Wie viel hast du gehört?«, schnarrte er.

»Genug«, antwortete Rowarn.

Hallim konnte es nicht mehr ertragen. Weinend rannte sie zum Wagen, und Daru half ihr hinauf. Er setzte sich neben sie und hielt sie hilflos im Arm.

Rayem baute sich drohend vor Rowarn auf. »Was hast du mit meiner Schwester gemacht?«

»Ich habe ihr nichts angetan«, antwortete Rowarn. »Ich war auf dem Heimweg, und sie wollte mich unbedingt ein Stück begleiten. Das ist alles.«

»Du lügst«, zischte Rayem mit geballten Fäusten.

»Solange ich wach war und die Augen offen hatte, hat sie gelebt«, erwiderte Rowarn. »Ich weiß nicht, was geschehen ist.«

Als Rayem auf Rowarn losgehen wollte, schlug Larkim ihm mit dem Stock vor die Brust und hielt ihn auf. »Reiß dich zusammen!«, fuhr er den jungen Mann an. »Hat dieser Tag nicht blutig genug begonnen? Sollen die Velerii Recht haben mit ihrem Vorwurf, dass wir zu voreilig sind mit unserem Urteil und sie nur ausnutzen? Willst du uns demütigen?«

»Es ist besser, wenn ihr jetzt geht«, sagte Schneemond langsam und deutlich. »Ihr habt Rowarn gehört, und es gibt keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Und bedenkt eines wohl: Es kann jeder gewesen sein, der nicht beweisen kann, wo er heute Nacht gewesen ist. Also hütet euch vor weiteren Anschuldigungen. Wir werden euch helfen, wenn ihr euch ernsthaft auf die Suche nach dem Mörder macht. Aber jetzt solltet ihr zuerst Anini die letzten Ehren zuteilwerden lassen und ihrer so gedenken, wie es ihr gebührt.«

Die Menschen zögerten. Larkim wandte sich nach einem kurzen Augenduell mit der Velerii um und hob den Stock. »Fahren wir! Die ehrenwerte Schneemond hat recht. Ein anderer Tag der Vergeltung und Sühne wird kommen. Jetzt müssen wir der Lebenden gedenken, die voller Kummer sind, und ihnen helfen, und die Toten ehren.«

Niemand wagte zu widersprechen. Die Angriffslust wich unter Larkims Autorität. Schweigend, ohne die Velerii und Rowarn noch eines Blickes zu würdigen, kehrten die Menschen um und fuhren in ihre Stadt zurück.

»Komm ins Haus«, forderte Schneemond ihren Ziehsohn auf, und Rowarn gehorchte eilig. Unsicher blieb er in der Mitte des Raumes stehen und wagte nicht, zu seiner Mutter hochzublicken.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah funkelnd auf ihn herab. »Was ist letzte Nacht geschehen?«

Rowarn schluckte trocken. »Was ich gesagt habe.«

Gleich darauf fand er sich auf dem Boden wieder und hielt sich die brennende Wange. Für einen Moment fühlte er nur Schmerz und begriff nicht, was geschehen war. Entsetzt schaute er zu Schneemond auf. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte sie ihn geschlagen. Nie zuvor hatte sie auch nur die Hand erhoben. Doch er sah, dass dies nicht allein aus Zorn geschehen war. Angst und Sorge malten sich auf ihren feingemeißelten Zügen.

»Ich habe dich nicht dazu erzogen, zu lügen!«, herrschte sie ihn an. »Wie kannst du es wagen, mir eine solche Schande zu bereiten?«

Rowarns Augen füllten sich mit Tränen. »Weil die Wahrheit nur Schmerzen bereitet«, flüsterte er.

Er brachte sich eilig auf allen vieren vor ihren ausschlagenden Hufen in Sicherheit. »Wir haben dich aufgezogen, Rowarn!«, rief sie schrill. »Willst du alles Lügen strafen, was wir dich je lehrten? Misstraust du uns so sehr, missachtest du uns?«

Er schüttelte stumm den Kopf und erhob sich langsam. Ergeben, gesenkten Hauptes stand er da und erwartete die weitere Strafe.

Schattenläufer trat plötzlich dazwischen und ergriff Schneemonds Schultern. »Beruhige dich, Liebste«, sagte er sanft. »Der Kummer überwältigt dich, und du weißt nicht mehr, was du redest.« Er wandte sich Rowarn zu. »Warte hier, bis wir zurückkommen, Junge. Dann reden wir. Versprichst du mir das?«

Rowarn nickte. »Ich verspreche es«, flüsterte er mit versagender Stimme.

Schattenläufer lächelte ihm kurz zu. Dann schob er Schneemond ohne ersichtliche Kraftanstrengung aus dem Haus. Kurz darauf stoben sie über die Wiese davon, galoppierten den Hügel hinauf und rasten den Kamm entlang. 

Es war nicht das erste Mal, dass Rowarn sie so sah, und auf seltsame Weise tröstete es ihn. Noch nie in seinem jungen Leben hatte er schönere, vollkommenere Gestalten gesehen als diese beiden. Ihre Hufe schienen kaum den Boden zu berühren, die Pferdeleiber glänzten silbrig und blauschwarz. Schneemonds Bluse, im Sonnenlicht verschiedenfarbig schimmernd, flatterte im Wind; darunter trug sie ein mit Kreuzbändern gehaltenes Leibhemd in der Farbe ihrer Mähne. 

Schattenläufer hingegen trug ein schwarzes Hemd mit einer schwarzen Lederweste darüber, die bis auf die Pferdebrust herabreichte. Die Kleidung war wie bei Schneemond auch im Rücken verschnürt, um der Mähne freien Schwung zu lassen. 

Wie Licht und Schatten, in harmonischer Anmut, jagten sie über die Wiesen. Es war schwer zu sagen, wer von beiden schneller wäre. Schattenläufer war schwer und muskulös, Schneemond zierlicher, aber vielleicht ausdauernder.

So verschaffte ihre Art sich bei großer Erregung Luft, denn das Blut der Pferdmenschen war heiß, und sie waren unberechenbar, gefährlich trotz ihrer Sanftmut. Kein Wunder, dass das Volk Velerii genannt wurde, Schnell-wie-der-Wind, und es war auch beinahe so alt wie der erste Wind, der vor Äonen über die Weiten der gerade geborenen Welt gestrichen war, eines der ersten Völker Waldsees, langlebig, weise und voller geheimnisvoller Kräfte.

So, wie Rowarn den Menschen manchmal fremd und unheimlich war, waren ihm seine Zieheltern immer unverständlich geblieben, trotz der aufopfernden Liebe und Offenheit, die sie ihm entgegenbrachten. Er empfand großen Respekt, manchmal auch Ehrfurcht. Er hätte niemals gewagt, ihnen zu widersprechen.

Geduldig, ohne sich zu rühren, wartete der junge Mann, bis seine Muhmen den wilden Lauf beendet hatten und mit schweißnassen Flanken, deutlich gelassener, zu ihm zurückkehrten.

Kapitel 2

Der Weiße Falke

Die Velerii kauerten sich in der ihnen eigenen Eleganz auf die Halbliegen: Der Pferdeleib lag auf einem weichen, ausladenden Samtkissen, der menschliche Oberkörper ruhte an der bequem hochragenden, fein geschwungenen und ebenfalls gepolsterten Lehne. So schliefen sie auch, Kopf an Kopf; Schneemond auf der linken, Schattenläufer auf der rechten Seite.

Rowarn verkroch sich in dem niedrigen, mit demselben Stoff überzogenen, großen Sessel. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Schale mit getrockneten Früchten und Nüssen, aber er rührte nichts an. Der Tag war längst fortgeschritten, seit gestern Nachmittag hatte er nichts mehr gegessen, doch er verspürte keinen Hunger. Sein Magen war wie ein Stein, hart und verkrampft.

»Erzähl uns, was geschehen ist«, forderte sein Ziehvater ihn auf.

Rowarn hatte Vorwürfe erwartet. Es war ihm verboten worden, zum Fest zu gehen, und erst recht, die ganze Nacht fortzubleiben. Oft genug hatten die Muhmen ihn davor gewarnt, in die Stadt zu gehen; vor allem seit dem ersten Mord. »Du bist keiner der Ihren«, hatte Schneemond gesagt. »Ein Schuldiger ist dann schnell gefunden.« 

Niemand hatte bis heute einen Verdacht gegen ihn ausgesprochen, aber Rowarn hatte durchaus gespürt, dass er seit einiger Zeit mit anderen Augen betrachtet wurde. Daher hätte er den Eltern normalerweise gehorcht, aber ... er wollte unbedingt Anini sehen ...

Er schloss die Augen und hörte den Ruf der Häher schrill in seinen Gedanken. Blut! Blut!

Er wusste, dass seine Eltern die Feuchtigkeit des Sees noch an ihm riechen konnten; trotz der kräftigen Frühlingssonne und des schnellen Laufs nach Hause war die Kleidung nicht ganz trocken.

»Sage uns«, fügte Schneemond auch prompt hinzu, als hätte sie seine Gedanken gelesen, »wieso du mit deiner Kleidung in den See springen und dich reinigen musstest, bevor du dich nach Hause und unter unsere Augen wagtest.«

Rowarn rieb sich über das Gesicht. »Das Wasser wurde schwarz, und ich bin fast erstickt«, flüsterte er. »Für einen Moment glaubte ich zu ertrinken, bis endlich das Blut abgewaschen war. Vielleicht bin ich es ja doch gewesen. Denn ich weiß nicht, was geschah ...«

»Der Reihe nach«, unterbrach Schattenläufer. »Sag uns alles, was du weißt, Rowarn. Wir hören dir zu.«

Rowarn seufzte und atmete einmal tief ein und aus. Dann berichtete er, woran er sich erinnerte, ohne etwas auszulassen, auch wenn es ihm schwerfiel und er schließlich einen hochroten Kopf bekam. Aber ihm war ohnehin klar, dass seine Eltern längst durchschauten, was er und Anini in der Nacht getan hatten.

»Dann weiß ich nichts mehr«, kam er schließlich dem schrecklichen Augenblick näher. »Ich erinnere mich, dass ich träumte ... und dann erwachte ich, und ... und ...« Als Rowarn den Moment heraufbeschwor, wo er Anini in ihrem Blut daliegen sah, mit aufgerissener Brust und fehlendem Herzen, war es mit seiner Beherrschung vorbei. Würgend sprang er auf und rannte nach draußen, wo er schluchzend in die Knie sank und das Grauen herausspie. Jetzt endlich, nach all den Stunden der Angst und Verwirrung, entließ er den Schrei, der immer noch in seiner Brust eingesperrt gewesen war. Er schrie mit sich überschlagender Stimme, bis er heiser war, und dann würgte er erneut, doch es war nichts mehr in ihm.

Wimmernd lag er draußen in der Sonne, wo die Vögel lärmend in den Zweigen hüpften und Schmetterlinge gaukelnd tanzten, und hatte das Gefühl zu sterben. Wie konnte die Welt so lieblich und unschuldig sein, so fröhlich und unbeschwert, an diesem Tag, der sein Leben zertrümmert hatte und nichts als Zweifel zurückließ?

Rowarn zuckte zusammen, als er eine zarte Berührung auf der Schulter spürte. Schneemond beugte sich über ihn und hielt ihm eine dampfende Schale hin. »Trink das«, sagte sie sanft.

»Ich ... ich kann nicht«, schniefte er, wischte Rotz und Tränen aus seinem Gesicht und schämte sich. Für alles, was er war, was er getan hatte. Dafür, dass er diesen Ort des Friedens und diesen Tag befleckte wie das Wasser des Sees. Wäre er doch fortgelaufen! Nun war alles nur noch schlimmer geworden. Ich habe es dir doch gesagt, stichelte die Stimme giftig in ihm. Wie kannst du glauben, nach den Lehren der Velerii leben zu können?

»Du musst es trinken«, verlangte seine Mutter. »Oder dein Herz wird so schwarz wie das Wasser: Das war eine Warnung. Lass dir helfen, Sohn.«

Gehorsam trank Rowarn, und tatsächlich brachte er das völlig geschmacklose, heiße Getränk hinunter und behielt es bei sich. Beruhigende Wärme breitete sich in ihm aus und dämpfte Angst und Schmerz. 

Schattenläufer bückte sich und hob ihn auf seine starken Arme, genau wie früher, als Rowarn noch ein Kind gewesen war. Rowarn schämte sich dafür, wagte aber nicht, sich zu rühren. Und ... es war ihm ein Trost, noch immer behütet zu sein. Sacht trug Schattenläufer ihn zurück ins Haus und setzte ihn auf dem Sessel ab. Dann ließ der Pferdmann sich wieder auf seinem Platz nieder, mit Schneemond an der Seite.

Für eine Weile herrschte düstere Stille.

»Und wenn ich es war?«, flüsterte Rowarn schließlich verzagt. »Die Leute haben recht, ich bin unbeherrscht und manchmal blindwütig vor Raserei. Dann bin ich nicht ich selbst und kann mich hinterher kaum erinnern ...«

»Ich kann keine Schuld an dir riechen«, sagte Schneemond.

»Weil ich mir meiner Schuld nicht bewusst bin«, erwiderte der junge Mann. »Aber ich war in der letzten Zeit oft nachts im Land unterwegs. Ich konnte nicht schlafen, und es trieb mich hinaus ... Manchmal erwachte ich an fremden Orten, und ich konnte mich nicht erinnern, wie ich dorthin gekommen war ...«

Leise beharrte seine Muhme: »Das glaube ich niemals.«

Rowarn fuhr sich durch die wirren Haare. »Woher willst du das wissen, ehrwürdige Mutter?«, bemerkte er müde. »Was wisst ihr beide denn schon über mich? Eine Frau brachte mich zu euch, als ich noch ein Säugling war. Und sie starb, bevor sie etwas über meine Herkunft verraten konnte.«

»Mehr können wir dir nicht über deine Vergangenheit verraten«, sagte Schattenläufer ruhig. »Aber wir sehen dein gutes Herz, und deine reine Seele.«

»Womöglich bin ich besessen«, versetzte Rowarn. »Es gibt genug Dunkles in mir, was euch Sorgen macht, ich weiß es genau. Ich merke doch, wie ihr mich manchmal anseht. Wenn ich unbeherrscht bin ... das versteht ihr nicht, genauso wenig wie ich, und ihr könnt es nicht vermeiden. Jetzt bin ich zwanzig Jahre alt und eurer Obhut entwachsen. Wer weiß, was alles erwacht ist in mir!«

Schattenläufer hob eine Hand. »Du bist nicht fortgelaufen, Rowarn, wie es vielleicht ein anderer getan hätte, sondern du bist zu uns gekommen. Das zeigt, dass du unsere Lehren nicht nur empfangen, sondern auch begriffen hast. Und es zeigt uns, du bist unschuldig, und wir werden es beweisen.«

»Aber wie?« Rowarn lehnte sich erschöpft zurück. Die Wirkung des Mittels hatte seinen Kopf erreicht. Bald würde er sich nicht mehr wach halten können.

»Wir werden einen Weg finden«, sagte sein Muhme entschieden. »Wir müssen, denn der Frieden in diesem Tal ist bedroht. Schneemond und ich lassen nicht zu, dass Inniu, das zu unserer Heimat wurde, in die Finsternis eintaucht.«

»Ich wünsche mir, dass es so kommt«, wisperte Rowarn niedergeschlagen. »Und ich danke euch, dass ihr mir immer noch vertraut, obwohl ich euch so viel Kummer bereite. Aber ich traue mir selbst nicht mehr, und ich halte es für möglich, dass ich ... schuldig ...« Sein Kopf sank zur Seite, und er war eingeschlafen, ohne den Satz vollenden zu können.

Die Tage vergingen, und der Frühling schritt voran. Anini war feierlich beigesetzt worden, und Daru hatte an ihrem frisch aufgeworfenen Grab geschworen, den Mörder nicht ungeschoren davonkommen zu lassen.

Die Menschen gingen wie gewohnt ihrer Arbeit nach, doch nachts waren alle Wege und Straßen ausgestorben und still. Niemand durfte mehr ohne offizielle Erlaubnis nach Einbruch der Dunkelheit herumschweifen, und schon gar nicht ohne Begleitung.

Die Stadtväter hatten einen Suchtrupp losgeschickt, um nach Spuren des Täters zu suchen. Die Velerii unterstützten sie dabei wie versprochen. Niemand erhob mehr öffentlich Vorwürfe gegen Rowarn, aber er wusste, dass viele ihn für schuldig hielten und nur auf den geeigneten Moment warteten, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Er blieb der Stadt fern und verließ auch Weideling kaum, weil er sich nur dort sicher fühlte – und weil er befürchtete, ansonsten Dummheiten anzustellen. 

Die meiste Zeit hockte er brütend in seinem Zimmer und grübelte darüber nach, wie er seine Unschuld beweisen konnte. Er beobachtete sich dabei die ganze Zeit selbst, schreckte nachts oft hoch und blickte in den Spiegel, ob er sich noch erkannte. Vielleicht war er wirklich besessen, von der Macht eines Dämons oder einem anderen finsteren Wesen übernommen, und hatte die Tat unwissentlich in fremdem Auftrag ausgeführt. Das sprach ihn natürlich nicht frei von Schuld, aber es würde erklären, warum er sich nicht daran erinnern konnte, was in der Nacht geschehen war. So sehr er sich auch den Kopf zerbrach, es blieb ein schwarzes Loch in seinem Verstand. Es gab nur schöne Erinnerungen, nichts sonst.

Die einzige Hoffnung sah Rowarn schließlich im Weißen Falken.

Schon als kleiner Junge war Rowarn an diesem bestimmten Tag, wenn die Luft zum ersten Mal mild war und einen besonderen Blütenduft mit sich brachte, auf die höchste Erhebung um das Tal von Weideling gestiegen, um dort auf einen großen, alten Borkenbaum zu klettern. Ein Riese aus alter Zeit, schon halb versteinert, aber immer noch belaubt. Die Rinde bot guten Halt, um sich auf den ersten knorrigen Ast zu hangeln. Von dort ging es Ast um Ast hinauf, fast bis in den Himmel, so schien es, in die weit ausladende Krone, von der aus unzählige zierliche Ästchen mit fleischigen, dunkelgrünen Blättern abzweigten. 

Der Baum war so alt, dass er im Herbst nie ganz das Laub verlor, sodass sich im Frühjahr neben jungem Grün oft ein verschrumpeltes, ausgedörrtes Blatt von den Jahren davor hartnäckig an den Zweig klammerte. Die verbliebenen Blätter des Vorjahres waren sogar noch fast lebendig, hauchfein wie Papier. Sie leuchteten rot, gelb und orange im Sonnenlicht, sodass man dem alten Riesen den Namen »der Vielfarbige« verliehen hatte.

Der Ausblick von hier oben reichte bis zum schroffen Gebirge Fûr Garí, »Kalter Fels«, das ganz Inniu wie eine unüberwindbare Mauer umschloss. Rowarn blickte auf das weite Grünland, von vielen mäandernden Bächen durchzogen, und auf den Ackerboden rund um menschliche Siedlungen und Behausungen. Rowarn musste bei seinem Rundblick die lichtempfindlichen Augen beschatten, denn die Sonne stach von einem wolkenlosen Himmel herab, was für ihn je nach Stand peinigend war. Dafür sah er nachts besser als jeder Mensch, sogar als seine Muhmen.

Kleine, schilfbewachsene Weiher und verträumte Seen glitzerten im Frühlingslicht. Obstbäume zogen sich rund um die Felder und bis zu entfernten Hügeln, prall und schwer von Knospen; sie standen kurz vor dem Öffnen. Bald würde die Luft unvergleichlich süß duften, und es würde violette, rote, weiße und gelbe Blütenblätter regnen, wohin man auch ging. Alte, dunkle Wälder und lichte Haine wechselten sich gen Horizont ab, und Karrenwege führten hindurch, deren schlängelnde braune Einschnitte von hier aus gut sichtbar waren.

Nur sehr selten einmal verirrte sich ein Wanderer in dieses abgeschiedene, friedliche Tal, in dem es leidlich fruchtbaren Boden, aber keine Erze oder sonstige Schätze gab. Inniu lag abseits des lebhaften Treibens des Landes Valia, jenseits des Gebirges – einem Reich, das Rowarn lediglich aus Erzählungen kannte. 

Hier im Tal gab es nur wenige menschliche Siedlungen. Die größte von allen war die Stadt Madin, direkt an der Handelsstraße gelegen, in der alle Karrenwege Innius mündeten. Der Markt war stets gut besucht und diente zum gegenseitigen Austausch von Neuigkeiten. Etwa alle fünf Jahre kam außerdem eine Handelskarawane aus Valia, die einem Menschen namens Erun der Erbe gehörte; jeder männliche Nachkomme der Familie, der die Karawane übernahm, erhielt diesen Namen, und das schon seit über eintausend Jahren. Ein uralter Vertrag zwischen den Stadtvätern Madins und der Familie Eruns regelte den Warenaustausch alle fünf Jahre. Ein gutes Geschäft für beide Seiten: Vieh, Pferde, Heilkräuter, Früchte, Mehl und vieles mehr an Nahrungsmitteln aus dem Tal wurde gegen Stoffe, Handwerkszeug, Geschirr und anderes getauscht. Das war der einzige Kontakt nach draußen, ansonsten dämmerte Inniu in träger Idylle friedlich dahin.

Rowarn war immer der Erste gewesen, der den Weißen Falken erblickte. Seinen Platz in dem alten Baumriesen hatte ihm noch nie einer streitig gemacht – weil die Stadtmenschen nicht rechtzeitig erkannten, wann der richtige Tag gekommen war.

Jedes Jahr, so lange Rowarn zurückdenken konnte, war der Vogel von Osten her, mit der aufgehenden Sonne, im Tal erschienen und mit einem pfeifenden Schrei über den knorrigen Vielfarbigen gezogen. Sein Gefieder war schneeweiß, an den Flügeln von schwarzen Tupfen durchzogen. Sein scharfer Falkenschnabel war gelb, die großen, runden Augen dunkel und wild.

Jahr um Jahr hatte Rowarn gehofft, dass sich der majestätische Vogel einmal, wenigstens für ein paar Herzschläge, in seiner Nähe auf einem Ast niederlassen würde. Er fühlte sich diesem Vogel verbunden, und jedes Mal flog ein Stück von seinem Herzen mit ihm, wenn er weiterzog, ohne jemals innegehalten zu haben. Der Weiße Falke kreiste zweimal über Weideling und pfiff hoch und einsam, bevor er über Madin schwebte, und dann tiefer in das Tal hineinflog, bis er in einem großen Bogen Inniu Richtung Osten wieder verließ.

Doch nach dem letzten Winter war der Frühlingsbote nicht erschienen, zum ersten Mal seit neunzehn Jahren, wie Rowarn von seinen Muhmen erfahren hatte. Er selbst beobachtete den Vogel, seit er ein fünfjähriger Grashüpfer gewesen war. Rowarn hatte zuerst an sich gezweifelt und angenommen, er hätte sich im Tag geirrt. Eine Woche lang hatte er deshalb jeden Morgen auf dem Baum ausgeharrt und dem eisigen Wind getrotzt, und platschenden Regengüssen, die noch mit Schnee durchmischt waren. Und mit jedem Tag war seine Sorge gewachsen. Vielleicht war der Weiße Falke zu alt geworden und gestorben? Neunzehn Jahre waren eine lange Zeit. Aber Rowarn konnte sich kaum damit trösten. Er hatte von Anfang an gespürt, dass dies kein normaler Vogel war, sondern ein magisches Wesen, für das andere Gesetze der Sterblichkeit galten.

Und es schien Folgen zu haben. Mit dem Ausbleiben des Weißen Falken endete nämlich der Frieden von Inniu, denn bald darauf geschah der erste Mord. 

Rowarn erinnerte sich, wie schockiert alle gewesen waren. Ein so grauenvolles Verbrechen war noch nie zuvor geschehen. Keiner hatte gewusst, was jetzt zu tun war, wie man damit umzugehen hatte. Gewiss hatte man sich auf die Suche nach dem Täter gemacht … bis das zweite Mädchen auf dieselbe grausame Weise ermordet aufgefunden wurde. Und dann ... das dritte.

Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, wurde das erste Frühlingsfest zur Lobpreisung des wachsenden Korns ausgerufen. Manche glaubten, damit die schlechten Vorzeichen abwenden zu können, und vielleicht auch den Weißen Falken herbeizulocken. Damit alles wieder so würde wie früher.

Tief in seinem Inneren wusste Rowarn, wie sinnlos es war, seinen einsamen Posten zu beziehen und auf den Weißen Falken zu warten. Aber was konnte er sonst tun? Er durfte nicht in die Nähe der Menschen, und seine Muhmen hatten ihm verboten, sich an der Suche zu beteiligen, erst recht etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Im Augenblick gehorchte Rowarn ihnen noch, aber er plante bereits, seine eigenen Nachforschungen anzustellen, wenn die Suche noch länger dauerte und keinen Erfolg brachte.

Denn eines Tages, wenn auch die Menschen die Geduld verloren, würden sie zurückkehren nach Weideling, und diesmal mit Fackeln und Waffen in den Händen, dessen war er sicher.

Also harrte er hier oben auf den Vielfarbigen aus und betete zu den Göttern Waldsees (alle, die ihm einfielen, das konnte nicht schaden), dass der Weiße Falke doch noch eintreffen möge und alles wieder gut würde.

Plötzlich flatterte ein Schwarm Gelbrückiger Korbflechter von einem Schirmbaum auf, und Rowarn hörte weit entfernt Richtung Osten den Häher rufen. Sofort war er alarmiert und blickte sich suchend um. 

Die Korbflechter kehrten auf ihren Baum zurück, aber Rowarn sah zwei Häher aus einer anderen Krone aufsteigen, und dann geriet der östliche Wald selbst in Aufruhr. Krähen flatterten kreischend davon, und er entdeckte heftige Bewegung in den Büschen. Eilige Schatten huschten durch vereinzelte Sonnenstrahlen, und ein paar Ducker überquerten schnell eine Lichtung, um eine Schutzhöhle aufzusuchen, die abseits ihrer Wohnhöhle lag.

Rowarn richtete sich auf und spähte angestrengt hinab. Was ging hier vor? Zeigte sich plötzlich der unbekannte Feind? Gab es neues Unheil?

Und dann brachen sie aus dem Wald hervor, fünfzehn, nein, zwanzig Reiter, in voller Rüstung und schwerer Bewaffnung, die Gesichter von Helmen mit geschlossenen Visieren verdeckt, mit flatternden Fahnen, die in den Rückenbefestigungen steckten. Rowarn sah nur ein Zeichen – den weißen Kopf eines ihm unbekannten Fabeltiers auf blauem Grund.

Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Um den Baum zu verlassen und nach Weideling zu laufen, war es zu spät. Die Reiter würden ihn bemerken und rasch einholen, denn auf dem Weg gab es so gut wie keine Deckung. Also hielt er sich am besten hier oben versteckt und machte sich möglichst unsichtbar, bis die Krieger vorbeigeritten waren. Dann konnte er schleunigst nach Madin laufen und die Menschen dort warnen.

Er verkroch sich tief im Astgewirr, wohin kein Sonnenstrahl mehr gelangte, und atmete so flach und ruhig wie möglich. Rowarn zuckte mit keiner Wimper, als eine fette, schwarze Spinne sich zu ihm herabseilte und seelenruhig anfing, ein Netz zwischen seinen Haaren und dem erhobenen Arm zu spannen.

Die Reiter hatten keine Eile, und es kümmerte sie offensichtlich nicht im mindesten, welchen Aufruhr sie in dem friedlichen Tal verursachten. Einer ritt ein wenig voraus, studierte unterwegs eine Karte und deutete nach vorn. Stolz trabten die gerüsteten Pferde unter Rowarns Baum vorbei und schlugen den Pfad zum Karrenweg nach Weideling ein.

Achtzehn waren schon vorbei, fehlten nur noch zwei Nachzügler, die gemütlich hinterherzottelten. Sie unterhielten sich leise, aber angeregt. Rowarn stockte der Atem, als sie den Vielfarbigen erreichten. Sogar die Spinne hielt in ihrem Netzbau inne; als hätte sie begriffen, wie ernst es war.

Und dann ... parierte einer der Reiter, ein kleiner, aber sehr schwerer Mann, genau unter dem Baum sein Pferd durch und hielt an. Er sog die Luft scharf und geräuschvoll durch die Nasenschlitze des Visiers ein. »Was rieche ich denn da?«, sprach er mit grollender Stimme, in einem für Rowarn seltsam klingenden Akzent. »Mich deucht, in diesem Baum gibt es nicht nur Würmer und Käfer, sondern zudem eine ganz besondere Art von Schädling, der sonst nur in gewissen Gegenden anzutreffen ist!«

»Scheint mir auch so«, stimmte der andere Mann mit leicht rauer Stimme zu. Er hatte überhaupt keinen Akzent, sondern drückte sich sorgfältig betont wie in der Schriftsprache aus, mit weicher, rollender Aussprache.

»Soll ich den Schädling ausräuchern? Wäre doch schade um den schönen Baum.«

Rowarn konnte den Atem nicht mehr lange anhalten. Auf seiner Stirn bildeten sich schon feine Schweißperlen, und die Spinne war von seinem zitternden Arm gefallen und baumelte an einem Seidenfaden herab, mit langen, borstigen Beinen nach einem Zweig hangelnd.

Der größere Mann lachte kurz, meinte jedoch: »Eher wäre es schade um den schönen Baum, wenn du dich darum kümmern würdest.« Dann hob er den Kopf und schien Rowarn direkt anzublicken. »Du solltest besser schleunigst atmen, Junge, wenn du nicht jämmerlich ersticken willst. Und dann komm herunter! Wir haben deinen hellen Schopf schon von weitem leuchten sehen, dein ganzes Versteckspiel war also sinnlos. Keine Sorge, wir kommen in Frieden, auch wenn wir nicht so aussehen.«

Rowarn zögerte. Dann atmete er heftig aus und wieder ein und kletterte langsam den Stamm hinab. »Bisher konnte ich mich immer gut verborgen halten«, sagte er, während er auf dem letzten Ast über den beiden Reitern verhielt.

»Er kann die Hochsprache! Wenngleich auch verunstaltet und mit seltsamer Betonung, aber immerhin!«, rief der Kleinere erfreut.

»Bisher hast du dich wohl nur vor blinden Maulwürfen versteckt«, meinte der größere Mann freundlich und hob die Hand zum Gruß. »Ich wiederhole es: Wir kommen nicht als Feinde. Deshalb würde ich dich liebenswürdigerweise um eine Auskunft bitten, denn natürlich sind wir nicht ohne Grund in dieses schöne, gleichwohl sehr abgeschiedene Tal gereist.«

»Durch unwegsames Gelände, über stürmische und abweisende Gebirgspässe, mit den letzten Winterfrösten, und ohne jeglichen Komfort, wenn ich das mal so bemerken darf«, brummte sein Begleiter. »Ohne ein gemütliches Gasthaus mit weichen Betten und feinen Daunenkissen. Nicht einmal ein Strohlager war in dieser götterverlassenen Gegend zu finden!«

Rowarn sah, dass der Tross inzwischen angehalten hatte und wartete. Er blickte den größeren Mann ruhig an. »Womit kann ich Euch zu Diensten sein, mein Herr?«

Der Krieger öffnete den Helm und nahm ihn ab. Rowarn blickte in das von vielen Erfahrungen geprägte Antlitz eines Mannes von etwa Mitte vierzig. Er hatte richtig vermutet: Dies war kein gebürtiger Bauer, Handwerker oder Händler, und auch nicht ein Söldner oder einfacher Soldat, sondern ein Mann hohen Geblüts und ein Anführer, dessen Befehl man gehorchte. In seine schulterlangen, dunkelblonden Haare schlichen sich vereinzelt graue Fäden, ebenso in den kurz geschnittenen Bart. Seine Augen, so klar wie Glas und so grün wie ein Birkenblatt, lächelten. »Ich bin erfreut über die Gastfreundlichkeit dieses Tales, entsprechend den wenigen Geschichten über Inniu, die man verstreut in Valia findet. Ich bin Noïrun, genannt Fürst Ohneland, denn ich verlor mein Reich vor Jahren, und es gelang mir bisher nicht, es zurückzugewinnen. Und dies hier ...«, er stieß seinen Begleiter an, der sich daraufhin bequemte, ebenfalls den Helm abzunehmen.

»Ich bin Olrig«, übernahm der Kleinere mit polternder Stimme selbst die Vorstellung, »Kriegskönig der Zwerge aus dem Stamm der Kúpir von Valia.« Sein langes, zotteliges Haar war nahezu vollständig ergraut, und sein Gesicht verschwand fast in einem wuchernden dunklen Bart. Zwei stahlblaue Augen stachen unter buschigen Brauen hervor. »Und wenn du dich fragst, mein Junge, warum ein Mann wie ich im fortgeschrittenen Alter von zweihundertachtunddreißig Jahren noch so dumm ist, auf eine Fahrt zu gehen, bei der man sich bestenfalls Gliederreißen und Muskelkrämpfe holt, so lass dir gesagt sein, dass ich keine Wahl hatte. Mein Volk erachtet mich als den Besten in den Belangen der Kriegskunst, und auch, wenn ich darüber nur lachen kann, musste ich dennoch mein Pferd satteln.«

»Stimmt, im Grunde seines Herzens ist er stets ein unbeachteter Poet geblieben, schwatzhaft wie eine Elster und launisch obendrein«, bemerkte der Fürst und lachte. »Und mit wem haben wir die Ehre?«

»Ich bin Rowarn.«

»Rowarn, und ...?«, hakte Olrig nach.

»Nichts weiter. Einfach nur Rowarn.«

Der Zwergenkönig stieß ein schnarrendes Geräusch aus. »Nun denn, Einfach-nur Rowarn Nichts-Weiter, wäre es wohl möglich, dass du uns die Richtung weist?«

Fürst Noïrun schüttelte den Kopf. »Nun ist es aber genug, alter Freund. Es ziemt sich nicht, in fremdem Land derartige Scherze zu treiben. Was soll man denn von uns denken!«

»Nichts Gutes, wie überall«, brummte Olrig.

Noïrun blickte zu Rowarn auf und sagte freundlich: »Wir sind auf der Suche nach Weideling, der Heimstatt zweier bestimmter Velerii, nämlich Schattenläufer und Schneemond.«

»In welcher Angelegenheit?«, fragte Rowarn.

»Holla!«, rief Olrig. »So viel Misstrauen in diesem süß schlummernden Tal, das anscheinend selbst die Wolken meiden, um das Licht nicht zu trüben?«

Rowarn wandte den Kopf ab. »Ihr ahnt ja nicht ...«, flüsterte er.

In den grünen Augen des Fürsten blitzte etwas auf. »Der Kummer trieb dich also hierher an diesen einsamen Ort, ist es so?«

Rowarn fuhr sich durchs Haar und verlagerte leicht seine Sitzhaltung, als wollte er den Baum wieder hinaufklettern. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«

»Richtig. Ich bitte um Verzeihung.« Noïrun lächelte zuvorkommend. »Wir bringen Kunde, die für die Velerii von großem Interesse ist, und leider keine gute. Gleichzeitig sind wir auf der Suche nach Verstärkung. Kurz gesagt: Wir kommen, um Rat und Hilfe zu ersuchen.«

Rowarn betrachtete ihn prüfend. In Gedanken wog er ab, ob er das Risiko eingehen durfte, diese Schar zum Heim seiner Eltern zu führen. Immerhin spürte er keine Gefahr. Und ... die Velerii waren starke und mächtige Geschöpfe. Sie konnten es notfalls mit einer Hundertschaft dieser Soldaten aufnehmen. »Ich werde vorausgehen und Euch anmelden«, meinte er.

Das Lächeln des Fürsten vertiefte sich. »Du kennst sie gut.«

Das konnte er zugeben. »Sie sind meine Muhmen.«

Olrig blinzelte erstaunt. »Und da nennst du Baumäffchen dich ›Nichts-Weiter‹?«, stieß er verblüfft hervor. »Hat man so etwas schon gehört! Junger Rowarn, du musst etwas ganz Besonderes sein!«

»Deine Vorsicht spricht für dich«, sagte Noïrun, »jedoch sind wir leicht in der Lage, dir zu folgen, und könnten dich notfalls mühelos überholen, sobald wir das Ziel erkennen. Ich bitte dich als Mann von Ehre um dein Vertrauen, was dir zugleich eine bequemere Fortbewegungsmöglichkeit böte.«

Rowarn überlegte. Der Fürst hatte in wenigen Augenblicken ihrer Bekanntschaft schon tiefer in seine Seele geblickt als jemals ein Stadtvater von Madin, der ihn von klein auf kannte. Er verspürte tatsächlich Vertrauen zu diesem Mann; mehr, als er je zu einem anderen Menschen empfunden hatte. »Ich werde Euch führen«, stimmte er schließlich zu. »Es ist nicht mehr weit. Ihr hättet es schon in weniger als einer halben Stunde selbst gefunden.«

»Was sagt man dazu«, lächelte der Fürst Ohneland scheinbar überrascht. Rowarn hatte das Gefühl, dass er genau dies schon die ganze Zeit über gewusst hatte.

»Kannst du reiten, Junge?«, fragte Olrig.

»Ihr beliebt wohl zu scherzen, mein Herr.« Rowarn musste lachen, zum ersten Mal seit der verhängnisvollen Nacht. »Wisst Ihr nicht, wer die Velerii sind, die mich aufzogen?«

»Na, dann sitz hinter mir auf, Baumäffchen, und halt dich gut fest!«, lud der Kriegskönig ihn mit ausholender Geste ein.