Die Dame mit den grünen Augen - Maurice Leblanc - E-Book

Die Dame mit den grünen Augen E-Book

Leblanc Maurice

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Beschreibung

Lupin ist zurück! Diesmal setzt unser moderner Robin Hood seine Intelligenz und sein Geschick zur Rettung einer "verfolgten Unschuld" ein. Lupin, der Verführer und Gentleman-Gangster der besonderen Art, ist wieder in seinem Element. Während er durch die Straßen von Paris schlendert, folgt Arsène Lupin einem Mann, der wiederum einer englischen Touristin mit blonden Haaren und blauen Augen folgt. Lupins Neugier ist geweckt. Später, in einer Konditorei auf dem Boulevard Haussmann, bemerkt er an einem Tisch eine Dame mit blonden Haaren und auffällig grünen Augen ... Er erkennt nicht gleich die Zusammenhänge. Diesmal riskiert Lupin nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Herzensdame. Auf dem Spiel steht aber auch ein unermessliches Erbe. Schließlich kommt es zum Showdown im Zug nach Monte Carlo. Arsène Lupin gehört zu den interessantesten Geschöpfen der Kriminalliteratur, die man unbedingt einmal kennengelernt haben sollte. Beste Unterhaltung! Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 237

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Maurice Leblanc

Die Dame mit den grünen Augen

Ein Abenteuer mit Arsène Lupin

Maurice Leblanc

Die Dame mit den grünen Augen

Ein Abenteuer mit Arsène Lupin

Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier VerlagHerausgeber: Jürgen Schulze Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2018 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-74-1

null-papier.de/586

Das hier veröffentlichte Werk ist eine kommentierte, überarbeitete und digitalisierte Fassung und unterliegt somit dem Urheberrecht. Verstöße werden juristisch verfolgt. Eine Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Verwertung ohne Genehmigung des Verlages ist ausdrücklich untersagt.

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

I. Die Eng­län­de­rin mit den blau­en Au­gen

II. Fä­den

III. Der Kuss im Dun­keln

IV. Der Ein­bruch in der Vil­la B.

V. Der Neu­fund­län­der

VI. Auf der Ter­ras­se

VII. Höl­le

VIII. Vor­be­rei­tun­gen zum Kamp­fe

IX. Was kommt dort von der Höh’?

X. In­halts­schwe­re Wor­te

XI. Blut

XII. Das Was­ser steigt

XIII. In der Fins­ter­nis

XIV. Der Jung­brun­nen

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I. Die Engländerin mit den blauen Augen

Raoul de Limé­zy spa­zier­te hei­ter über die Bou­le­vards, wie ein glück­li­cher Mensch, der nur um sich zu se­hen braucht, um sich an den be­zau­bern­den Schau­spie­len des Le­bens zu er­freu­en, und am leich­ten Froh­sinn, des­sen Ab­bild Pa­ris an man­chen April­ta­gen ist. Er war mit­tel­groß und hat­te eine schma­le, aber trotz­dem kraft­vol­le Ge­stalt. Man sah ihm kräf­ti­ge Mus­keln und einen macht­voll ge­wölb­ten Brust­kas­ten an. Schnitt und Far­be sei­ner Klei­dung kenn­zeich­ne­ten den Mann, der auf die Wahl der Stof­fe Wert legt.

Gera­de als er am Gym­na­se vor­bei­ging, hat­te er den Ein­druck, dass ein Herr, der ne­ben ihm ging, ei­ner Dame folg­te; der Ein­druck soll­te sich so­gleich be­stä­ti­gen.

Nichts schi­en Raoul ko­mi­scher und be­lus­ti­gen­der als ein Herr, der ei­ner Dame nach­steigt.

Er folg­te also dem Herrn, der der Dame folg­te, und alle drei gin­gen hin­ter­ein­an­der in ge­mes­se­nen Ab­stän­den über die Stra­ße.

Nur ein er­fah­re­ner Mann, wie der Baron Limé­zy, konn­te er­ken­nen, dass der Herr die Dame ver­folg­te, denn der Ver­fol­ger ging äu­ßerst dis­kret zu Wer­ke. Raoul de Limé­zy war eben­so dis­kret und misch­te sich un­auf­fäl­lig un­ter die Men­ge, um die bei­den Men­schen ge­nau ins Auge zu fas­sen.

Von hin­ten ge­se­hen fiel bei dem Herrn un­ter dem Hu­trand die Fort­set­zung ei­nes un­ta­de­li­gen Schei­tels auf, der die schwar­zen, po­ma­di­sier­ten Haa­re bis in den Na­cken teil­te, eben­so un­ta­de­lig war sei­ne Klei­dung, die sei­ne brei­ten Schul­tern und sei­nen Wuchs vor­treff­lich zur Gel­tung kom­men ließ. Von vorn ge­se­hen bot er ein kor­rek­tes Ge­sicht, das einen zart­ro­sa Teint hat­te und mit ei­nem ge­pfleg­ten Bar­te ge­ziert war. Etwa drei­ßig Jah­re alt. Sehr si­che­rer Gang. Ge­wich­tig­keit in al­len Be­we­gun­gen. Trotz­dem et­was ge­wöhn­li­ches Aus­se­hen. Rin­ge an den Fin­gern. Zi­ga­ret­te mit Gold­mund­stück im Mund.

Raoul ging schnel­ler. Die Dame war groß, re­so­lut, von gu­ter Hal­tung und setz­te zwei der­be Füße auf das Pflas­ter, für de­ren An­blick zier­li­che und zar­te Ge­len­ke ent­schä­dig­ten. Das Ge­sicht war sehr schön, herr­li­che blaue Au­gen und schwe­re blon­de Haa­re. Die Vor­über­ge­hen­den blie­ben ste­hen und sa­hen sich um. Sie schi­en der spon­ta­nen Hul­di­gung der Mas­se ge­gen­über gleich­gül­tig zu blei­ben.

Teu­fel, dach­te Raoul, die reins­te Ari­sto­kra­tin! Sie ver­dient Bes­se­res als die­sen Po­ma­den­bur­schen, der ihr nach­steigt! Was mag der nur wol­len? Der ei­fer­süch­ti­ge Ehe­mann? Ein ab­ge­wie­se­ner Be­wer­ber? Oder ein Geck, der ein Aben­teu­er sucht? Das wird es wohl sein. Die­ser Mann sieht mir ganz da­nach aus wie ei­ner, der sein Glück sucht und sich für un­wi­der­steh­lich hält.

Sie über­schritt den Opern­platz, ohne sich um die Mas­se der Fahr­zeu­ge zu küm­mern. Ein Last­wa­gen mit Pfer­den ver­sperr­te den Durch­gang. Sie pack­te die Zü­gel und riss ei­nes der schwe­ren Pfer­de bei­sei­te. Wü­tend sprang der Kut­scher von sei­nem Sitz, nä­her­te sich ihr be­droh­lich und schimpf­te; ein klei­ner, aber wohl­ge­ziel­ter Faust­schlag, den sie ihm ver­setz­te, brach­te ihn mit Na­sen­blu­ten zur Stre­cke.

Ein Po­li­zist nä­her­te sich, um Fest­stel­lun­gen zu ma­chen; sie dreh­te ihm den Rücken und ging in al­ler Ruhe da­von. Auf dem Bou­le­vard Haus­smann be­trat sie eine Kon­di­to­rei, und Raoul sah von wei­tem, dass sie sich an einen Tisch setz­te. Da der Herr, der ihr ge­folgt war, die Kon­di­to­rei nicht be­trat, tat Limé­zy es an sei­ner Stel­le; er setz­te sich so, dass sie ihn nicht be­mer­ken konn­te.

Sie be­stell­te Tee und vier Toasts, die sie mit ih­ren herr­li­chen Zäh­nen zer­malm­te.

Ihre Nach­barn sa­hen sie an. Sie ließ sich nicht stö­ren und be­stell­te sich vier wei­te­re Toasts. Aber eine zwei­te jun­ge Frau, die et­was wei­ter fort saß, er­reg­te eben­falls die Neu­gier­de der Gäs­te. Blond, wie die Eng­län­de­rin, war sie zwar nicht so reich, da­für aber mit de­sto bes­se­rem, echt Pa­ri­ser Ge­schmack an­ge­zo­gen; um sie her­um stan­den drei ärm­lich ge­klei­de­te Kin­der, an die sie Ku­chen und Li­mo­na­de aus­teil­te. Sie moch­te sie wohl vor der Tür auf­ge­trie­ben ha­ben. Und kind­li­cher als die Kin­der, mach­te die Freu­de, die sie be­rei­te­te, ihr of­fen­sicht­li­ches Ver­gnü­gen.

Zwei Din­ge mach­ten auf Raoul so­fort einen star­ken Ein­druck: die glück­li­che und na­tür­li­che Hei­ter­keit ih­res Ant­lit­zes und die star­ke ver­füh­re­ri­sche Kraft zwei­er großer grü­ner Au­gen, die, ja­de­far­ben mit gol­de­nen Strei­fen, den Blick, der ih­nen ein­mal be­geg­net war, nicht wie­der loslie­ßen.

Sol­che Au­gen sind für ge­wöhn­lich son­der­bar, me­lan­cho­lisch oder nach­denk­lich; so moch­te auch der ge­wöhn­li­che Aus­druck die­ser Au­gen sein. Jetzt aber strahl­ten sie vor Le­bens­freu­de, wie das gan­ze Ge­sicht, wie der ma­li­zi­öse Mund, die be­ben­den Na­sen­flü­gel und die Wan­gen mit den Grüb­chen des Lä­chelns.

Höchs­te Freu­de oder tiefs­ter Schmerz, einen Mit­tel­weg gibt es für sol­che Ge­schöp­fe nicht, sag­te sich Raoul, der in sich die plötz­li­che Sehn­sucht auf­stei­gen fühl­te, die­se Freu­de zu be­wir­ken oder die­sen Schmerz zu be­kämp­fen.

Er wand­te sich wie­der der Eng­län­de­rin zu. Sie war wirk­lich schön. Von je­ner macht­vol­len Schön­heit, die aus Gleich­ge­wicht, Eben­maß und Ab­ge­wo­gen­heit be­steht. Aber die Dame mit den grü­nen Au­gen be­zau­ber­te ihn stär­ker.

Trotz sei­nes wach­ge­ru­fe­nen In­ter­es­ses zö­ger­te er, als sie ihre Rech­nung be­zahl­te und mit den drei Kin­dern auf­brach. Soll­te er ihr fol­gen? Oder blei­ben? Wer war stär­ker? Die grü­nen Au­gen? Oder die blau­en?

Er er­hob sich plötz­lich, warf einen Geld­schein auf den Tisch und ging hin­aus. Die grü­nen Au­gen sieg­ten.

Drau­ßen bot sich ihm ein son­der­ba­res Schau­spiel: die Dame mit den grü­nen Au­gen un­ter­hielt sich vor der Tür mit dem Geck, der vor ei­ner hal­b­en Stun­de der Eng­län­de­rin als schüch­ter­ner oder ei­fer­süch­ti­ger Lieb­ha­ber nach­ge­stie­gen war.

Eine von bei­den Sei­ten über­stürzt ge­führ­te Un­ter­hal­tung schi­en schon eher ein Streit zu sein. Man konn­te deut­lich er­ken­nen, dass das jun­ge Mäd­chen wei­ter­ge­hen woll­te und der Herr sie dar­an hin­der­te. Die­ser Tat­be­stand war so deut­lich, dass Raoul im Be­griff war, da­zwi­schen­zu­tre­ten.

Er hat­te kei­ne Zeit mehr dazu. Ein Auto hielt vor der Kon­di­to­rei. Ein Herr stieg aus; als er die Sze­ne auf dem Bür­ger­steig sah, hob er sei­nen Stock und schlug dem Geck den Hut vom Kopf.

Der wich erst be­stürzt zu­rück, dann je­doch stürz­te er sich ohne Rück­sicht auf die Men­schen­mas­sen, die sich be­reits an­sam­mel­ten, auf den Geg­ner:

»Sie sind wohl irr­sin­nig ge­wor­den«, stam­mel­te er.

Der An­grei­fer, der klei­ner und äl­ter war, hob aber­mals den Stock und schrie:

»Ich habe Ih­nen ver­bo­ten, mit die­sem jun­gen Mäd­chen zu spre­chen. Ich bin ihr Va­ter und Sie sind ein Schuft, ich wie­der­ho­le, ein Schuft!«

Bei­de zit­ter­ten vor Hass. Der Geck nahm sich noch ein­mal zu­sam­men und woll­te sich auf sei­nen Geg­ner stür­zen, den das jun­ge Mäd­chen beim Arm pack­te und zum Taxi zu drän­gen ver­such­te. Es ge­lang ihm, sie zu tren­nen und den Stock des Herrn zu pa­cken, da sah er sich plötz­lich von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ei­nem Kop­fe ge­gen­über, der zwi­schen ihm und sei­nem Geg­ner auf­tauch­te, ei­nem un­be­kann­ten son­der­ba­ren Kop­fe, des­sen rech­tes Auge ner­vös blin­zel­te und in des­sen iro­nisch ver­zo­ge­nem Mun­de eine Zi­ga­ret­te hing: es war Raoul, der sich auf­rich­te­te und mit rau­er Stim­me sag­te:

»Darf ich Sie um Feu­er bit­ten?«

Eine wirk­lich un­an­ge­brach­te Bit­te! Was woll­te die­ser auf­dring­li­che Mensch? Der Geck setz­te sich zur Wehr:

»Las­sen Sie mich doch in Ruhe! Ich habe kein Feu­er.«

»Doch, doch, Sie ha­ben ja eben noch ge­raucht«, sag­te der an­de­re.

Da ge­riet der Geck au­ßer sich und ver­such­te, ihn bei­sei­te­zu­sto­ßen. Da ihm das nicht ge­lang und er nicht ein­mal die Arme be­we­gen konn­te, senk­te er den Kopf, um zu se­hen, wel­ches Hin­der­nis sich ihm ge­gen­über­stell­te. Er schi­en ver­wirrt. Die bei­den Hän­de des Herrn um­klam­mer­ten sei­ne Ge­len­ke so fest, dass kei­ne Be­we­gung mög­lich war. Und die­ser auf­dring­li­che Kerl wie­der­hol­te hart­nä­ckig und ein­dring­lich im­mer wie­der:

»Darf ich Sie um Feu­er bit­ten, es ist doch gar nicht recht, mir die­se Bit­te ab­zu­schla­gen.«

Die Leu­te, die her­um­stan­den, lach­ten. Der Geck konn­te nur noch stam­meln:

»Sche­ren Sie sich doch end­lich zum Teu­fel. Sie se­hen doch, dass ich kein Feu­er habe.«

Da schüt­tel­te der an­de­re me­lan­cho­lisch den Kopf:

»Sie sind nicht ge­ra­de höf­lich! Man kann doch ei­nem Men­schen, der freund­lich dar­um bit­tet, Feu­er ge­ben … aber wenn Sie nicht wol­len …«

Und er lo­cker­te sei­ne Um­klam­me­rung. Der Geck eil­te da­von. Aber das Auto war be­reits in vol­ler Fahrt, und sein An­grei­fer und das Fräu­lein mit den grü­nen Au­gen wa­ren vor sei­ner Ver­fol­gung si­cher.

Eine schö­ne Ge­schich­te, sag­te sich Raoul, als er ihn da­von­lau­fen sah. Ich spie­le hier den Don Qui­chot­te zu­guns­ten ei­ner schö­nen Un­be­kann­ten, die sich auf und da­von macht, ohne mir Na­men und Adres­se zu ge­ben. Nun kann ich sie un­mög­lich wie­der­fin­den. Was nun? Da be­schloss er, zur Eng­län­de­rin zu­rück­zu­keh­ren. Sie brach ge­ra­de auf und hat­te dem Zwi­schen­fall si­cher bei­ge­wohnt. Er folg­te ihr.

Raoul be­fand sich in ei­ner je­ner Stun­den, da das Le­ben gleich­sam zwi­schen der Ver­gan­gen­heit und der Zu­kunft in der Schwe­be hängt. Sei­ne Ver­gan­gen­heit war reich an Er­leb­nis­sen. Die Zu­kunft schi­en ähn­lich ver­lau­fen zu sol­len. In der Mit­te: nichts.

Ist man vierund­drei­ßig Jah­re alt, so glaubt man, dass die Frau den Schlüs­sel un­se­res Ge­schickes in der Hand hält. Und da die grü­nen Au­gen er­lo­schen wa­ren, woll­te er sei­nen un­ge­wis­sen Schritt von der Klar­heit der blau­en Au­gen be­stim­men las­sen.

Er be­merk­te, dass auch der Geck sei­ne Rich­tung ge­än­dert und sich wie­der an die Spur des al­ten Wil­des ge­hängt hat­te, so­dass die Marsch­ord­nung der drei wie­der­her­ge­stellt war, ohne dass die Eng­län­de­rin die List ih­rer Ver­fol­ger be­merkt hät­te.

Sie ging lang­sam ih­ren Weg, blieb vor den Schau­fens­tern ste­hen und küm­mer­te sich nicht im ge­rings­ten um die be­wun­dern­den Bli­cke, die sie er­reg­te. So ge­lang­te sie über die Place de la Ma­de­lei­ne und die Rue Roya­le zum Grand Ho­tel Con­cor­dia im Fau­bourg St. Ho­noré. Der Geck mach­te halt, mach­te die üb­li­chen Schrit­te, kauf­te Zi­ga­ret­ten und be­trat dann das Ho­tel; Raoul konn­te se­hen, wie er mit dem Por­tier sprach. Drei Mi­nu­ten spä­ter ging er wie­der fort, und auch Raoul schick­te sich an, den Por­tier nach der jun­gen Eng­län­de­rin zu fra­gen, als die­se selbst durch die Hal­le ging und in ein Auto stieg, in das man be­reits eine klei­ne Hand­ta­sche ge­stellt hat­te. Woll­te sie denn ver­rei­sen?

»Chauf­feur, fah­ren Sie dem Auto nach!« sag­te Raoul, der ein Taxi an­ge­ru­fen hat­te.

Die Eng­län­de­rin mach­te Be­sor­gun­gen und hielt um acht Uhr am Bahn­hof der Li­nie Pa­ris–Ly­on. Sie ging in den War­te­saal und be­stell­te zu es­sen.

Raoul setz­te sich in ei­ni­ger Ent­fer­nung eben­falls in den War­te­saal.

Nach dem Es­sen rauch­te sie zwei Zi­ga­ret­ten, dann traf sie ge­gen ein halb zehn Uhr einen Be­am­ten von Cook, der ihr das Bil­lett und den Ge­päck­schein aus­hän­dig­te. Dann ging sie zum Ex­press­zug, der neun Uhr sechs­und­vier­zig Mi­nu­ten ab­ge­ht.

»Fünf­zig Fran­ken«, sag­te Raoul zu dem Be­am­ten, »wenn Sie mir den Na­men die­ser Dame nen­nen.«

»Lady Ba­ke­field.«

»Wo­hin reist sie?«

»Nach Mon­te Car­lo. Sie ist im Wa­gen Nr. 5.«

Raoul über­leg­te, dann ent­schloss er sich. Die blau­en Au­gen wa­ren al­les wert. Und durch die blau­en Au­gen hat­te er schließ­lich die grü­nen Au­gen ken­nen­ge­lernt, und durch die Eng­län­de­rin konn­te man viel­leicht den Geck wie­der­fin­den und durch ihn zu den grü­nen Au­gen ge­lan­gen.

Er kehr­te um, lös­te ein Bil­lett nach Mon­te Car­lo und stürz­te wie­der auf den Bahn­steig.

Er sah die Eng­län­de­rin auf dem Tritt ei­nes Wa­gens, misch­te sich un­ter die Leu­te und sah sie wie­der durch das Fens­ter im In­nern ei­nes Ab­teils, wie sie sich den Man­tel aus­zog.

Nur we­ni­ge Leu­te be­nutz­ten die­sen Zug, der we­der Schlaf- noch Spei­se­wa­gen hat­te. Raoul be­merk­te nur zwei Her­ren, die im Ab­teil ers­ter Klas­se an der Vor­der­sei­te des Wa­gens Nr. 5 sa­ßen.

Raoul war­te­te bis zur letz­ten Mi­nu­te, dann sprang er auf und be­trat das drit­te Ab­teil, wie je­mand, der ge­ra­de noch in der letz­ten Mi­nu­te sei­nen Zug er­reicht hat­te.

Die Eng­län­de­rin saß al­lein am Fens­ter. Er setz­te sich auf die ge­gen­über­lie­gen­de Sei­te auf den Platz am Gang. Sie hob die Au­gen und be­ob­ach­te­te den Ein­dring­ling, der kei­ner­lei Ge­päck hat­te, und aß ohne die ge­rings­te Er­schüt­te­rung aus ei­ner auf ih­ren Kni­en ste­hen­den Schach­tel mäch­ti­ge Scho­ko­la­den­stücke.

Ein Schaff­ner kam und knips­te die Bil­letts. Raoul hat­te einen flüch­ti­gen Blick in die Zei­tung ge­wor­fen, dann hat­te er die Blät­ter wie­der bei­sei­te­ge­legt. Er war zu ner­vös. Es schi­en ihm viel reiz­vol­ler, sein Aben­teu­er fort­zu­set­zen, und er rück­te einen Platz nä­her an die Eng­län­de­rin her­an. Die­se rühr­te sich nicht. So muss­te Raoul schließ­lich um­ständ­lich be­gin­nen:

»Ver­zei­hen Sie mein in­kor­rek­tes Ver­hal­ten, aber ich muss Sie um die Er­laub­nis bit­ten, Sie von ei­nem über­aus wich­ti­gen Um­stand in Kennt­nis zu set­zen. Darf ich mir ei­ni­ge Wor­te er­lau­ben?«

Sie nahm ein Stück Scho­ko­la­de und ant­wor­te­te kurz, ohne den Kopf zu dre­hen:

»Wenn es sich nur um ei­ni­ge Wor­te han­delt, bit­te.«

»Also hö­ren Sie bit­te, gnä­di­ge Frau …«

Sie un­ter­brach ihn:

»Gnä­di­ges Fräu­lein …«

»Also hö­ren Sie, gnä­di­ges Fräu­lein, ich weiß, dass Sie den gan­zen Tag in höchst ver­däch­ti­ger Wei­se von ei­nem Herrn ver­folgt wor­den sind, der sich vor Ih­nen ver­birgt …«

Sie un­ter­brach Raoul aber­mals:

»Ihr Be­neh­men ist in der Tat son­der­bar. Wie kom­men Sie dazu, die Leu­te zu über­wa­chen, die mich ver­fol­gen?«

»Der Mann schi­en mir eben sehr ver­däch­tig …«

»Ich ken­ne die­sen Mann aber, er hat sich mir vo­ri­ges Jahr vor­stel­len las­sen. Herr Ma­res­cal folgt mir we­nigs­tens von wei­tem und dringt nicht in mein Ab­teil ein!«

Raoul ver­neig­te sich:

»Bra­vo, gnä­di­ges Fräu­lein, ich sage kein Wort mehr.«

»Sie dür­fen auch nichts sa­gen, Sie dür­fen – die­sen Rat gebe ich Ih­nen – an der nächs­ten Sta­ti­on aus­stei­gen!«

»Tut mir un­end­lich leid, aber mei­ne Ge­schäf­te ru­fen mich nach Mon­te Car­lo.«

»Sie ru­fen Sie, seit­dem Sie wis­sen, dass ich nach Mon­te Car­lo rei­se.«

»Nein«, ant­wor­te­te Raoul un­um­wun­den, »seit­dem ich Sie in ei­ner Kon­di­to­rei auf dem Bou­le­vard Haus­smann ge­se­hen habe.«

»Falsch«, lau­te­te die schnel­le Ant­wort. »Ihre Be­wun­de­rung galt ei­gent­lich ei­nem jun­gen Mäd­chen mit herr­li­chen grü­nen Au­gen, und Sie wä­ren ihr auch wei­ter ge­folgt, wenn der ge­sche­he­ne Skan­dal Sie nicht dar­an ge­hin­dert hät­te. So sind Sie mir zu­nächst bis zum Ho­tel Con­cor­dia und dann bis zum War­te­saal ge­folgt.«

Raoul amü­sier­te sich:

»Es schmei­chelt mir, dass Ih­nen kei­ner mei­ner Schrit­te ent­gan­gen ist.«

»Mir ent­geht nichts.«

»Das mer­ke ich. Fehl­te nur noch, dass Sie mei­nen Na­men ken­nen.«

»Raoul de Limé­zy, For­scher, so­eben aus Ti­bet und Zen­trala­si­en zu­rück­ge­kehrt.«

Er konn­te sein Er­stau­nen nicht ver­ber­gen.

»Darf ich fra­gen, wie …«

»Gar nicht so schwer. Da Sie in höchst auf­fäl­li­ger Wei­se mein Ab­teil in letz­ter Mi­nu­te be­tra­ten, hielt ich es für ge­bo­ten, Sie zu be­ob­ach­ten. Sie be­nutz­ten Ihre Vi­si­ten­kar­te, um eine Bro­schü­re auf­zu­schnei­den. Die­se Kar­te konn­te ich le­sen, und ich er­in­ner­te mich an ein In­ter­view mit Raoul de Limé­zy, der ge­ra­de von sei­ner letz­ten Rei­se zu­rück­ge­kehrt war. Höchst ein­fach.«

»Höchst ein­fach, aber dazu muss man ver­dammt schar­fe Au­gen ha­ben.«

»Ich habe aus­ge­zeich­ne­te Au­gen.«

»Trotz­dem ha­ben Sie den Blick nicht von Ih­rer Scho­ko­la­de ge­wandt. Sie sind beim acht­zehn­ten Stück.«

»Ich brau­che nicht zu be­ob­ach­ten, um zu se­hen, und nicht nach­zu­den­ken, um zu er­ra­ten.«

»Um was zu er­ra­ten, wenn ich fra­gen darf?«

»Dass Ihr wah­rer Name gar nicht Raoul de Limé­zy ist.«

»Nicht mög­lich! …«

»Die Buch­sta­ben in Ihrem Hut wä­ren doch sonst nicht ›H. V.‹ … es sei denn, dass Sie den Hut ei­nes Freun­des trü­gen.«

Raoul be­gann, un­ge­dul­dig zu wer­den. Es be­hag­te ihm nicht, dass sein Geg­ner in die­sem Duell stets im Vor­teil war.

»Und was be­deu­tet Ih­rer An­sicht nach die­ses H. und die­ses V.?«

Sie biss in ihr neun­zehn­tes Stück Scho­ko­la­de und sag­te mit dem glei­chen nach­läs­si­gen Ton:

»Die­se bei­den Buch­sta­ben fin­det man ziem­lich sel­ten ver­eint, und mir we­nigs­tens fal­len dann im­mer zwei Na­men ein, de­nen ich ein­mal be­geg­net bin.«

»Darf man fra­gen, wel­che?«

»Ach, das wür­de Sie gar nicht in­ter­es­sie­ren. Den Na­men ken­nen Sie gar nicht. Horace Val­mont …«

»Wer ist denn die­ser Horace Val­mont?«

»Horace Val­mont ist ei­nes der zahl­rei­chen Pseud­ony­me, hin­ter de­nen sich Ar­sè­ne Lu­pin ver­birgt.«

Raoul brach in ein Ge­läch­ter aus:

»Dann wäre ich also Ar­sè­ne Lu­pin?«

Sie pro­tes­tier­te:

»Aber wo­her denn. Ich habe Ih­nen nur ge­sagt, was für eine Erin­ne­rung die Buch­sta­ben in Ihrem Hut in mir er­we­cken! – Im üb­ri­gen –«

Und sie reich­te ihm die Scho­ko­la­den­schach­tel.

»Neh­men Sie doch ein Stück als Ent­schä­di­gung für Ihre Nie­der­la­ge und las­sen Sie mich schla­fen.«

»Aber«, bat er, »wir wer­den doch un­se­re Un­ter­hal­tung nicht hier schon ab­bre­chen?«

»Doch, doch«, sag­te sie, »Neu­gier mag ich nicht …«

»Eine Ba­ke­field dürf­te ge­trost neu­gie­rig sein«, sag­te er ziem­lich ge­wich­tig.

Und er füg­te hin­zu:

»Sie se­hen, gnä­di­ges Fräu­lein, auch ich ken­ne Ihren Na­men.«

»Ja, ja«, sag­te sie, »der Be­am­te von Cook auch.«

»Ich bin be­siegt«, sag­te Raoul, »bei der ers­ten Ge­le­gen­heit wer­de ich mich rä­chen.«

»Ge­le­gen­hei­ten fin­den sich, wenn man sie am we­nigs­ten er­war­tet«, ant­wor­te­te die Eng­län­de­rin, und zum ers­ten Male sah sie ihm mit ih­ren schö­nen blau­en Au­gen ge­ra­de ins Ge­sicht.

»Sie sind nicht nur schön, Sie sind auch ge­heim­nis­voll.«

»Gar nicht ge­heim­nis­voll, ich hei­ße Kon­stan­ze Ba­ke­field. In Mon­te Car­lo tref­fe ich mei­nen Va­ter, den Lord Ba­ke­field, der dort Golf mit mir spie­len will. Au­ßer Golf trei­be ich je­den Sport und schrei­be in den Zei­tun­gen, um selbst­stän­dig Geld zu ver­die­nen und mei­ne Un­ab­hän­gig­keit zu ha­ben, und mein Be­ruf als Jour­na­lis­tin bringt mich mit al­len be­rühm­ten Per­sön­lich­kei­ten zu­sam­men, mit Staats­män­nern, Ge­ne­ra­len, In­dus­trie­ka­pi­tä­nen, Hoch­stap­lern, großen Künst­lern und be­rühm­ten Ein­bre­chern. Auf Wie­der­se­hen!«

Sie zog die bei­den En­den ei­nes Schals über ih­rem Ge­sicht zu­sam­men, lehn­te ih­ren Kopf ge­gen die Leh­ne und streck­te die Bei­ne auf die ge­gen­über­lie­gen­de Bank aus.

Raoul ver­such­te noch ei­ni­ge Wor­te, aber er stand vor ei­ner ver­schlos­se­nen Tür.

Et­was be­trof­fen von sei­nem Aben­teu­er, aber trotz­dem be­zau­bert und vol­ler Hoff­nung lehn­te er schweig­sam in sei­ner Ecke. Nach ei­ner Wei­le setz­te er sich be­que­mer zu­recht und träum­te vor sich hin. Das Le­ben war wun­der­voll. Er war jung, und leicht ver­dien­tes Geld ruh­te in sei­ner Brief­ta­sche. Tau­send neue Plä­ne gin­gen ihm durch den Kopf, und am nächs­ten Mor­gen wür­de er das reiz­vol­le Schau­spiel ge­nie­ßen, die­se hüb­sche jun­ge Frau vor sich er­wa­chen zu se­hen. Er ver­mein­te, ihre blau­en Au­gen zu se­hen, oder wa­ren es plötz­lich grü­ne Au­gen? … Mit ei­nem Lä­cheln auf den Lip­pen schlief er ein.

Die Träu­me ei­nes Men­schen, der ein ru­hi­ges Ge­wis­sen hat und zu sei­nem Ma­gen in gu­ten Be­zie­hun­gen steht, kön­nen selbst von den Er­schüt­te­run­gen ei­nes schnell­fah­ren­den Zu­ges nicht be­ein­träch­tigt wer­den. Raoul schwamm glück­lich in ei­nem Land, das von blau­en und grü­nen Au­gen wim­mel­te, und die Rei­se war so an­ge­nehm, dass er es un­ter­las­sen hat­te, einen klei­nen Teil sei­nes Geis­tes gleich­sam als Schild­wa­che schüt­zend vor sei­nen Schlaf zu stel­len. So hör­te er nicht, dass sich die Tür zum Wa­gen Nr. 4 öff­ne­te, er hör­te auch nicht, dass sich drei mas­kier­te Men­schen nä­her­ten, die lan­ge graue Blu­sen an­hat­ten, und vor sei­nem Ab­teil ste­hen­blie­ben.

Raoul hat­te auch ver­säumt, das Licht ab­zu­blen­den. Hät­te er das ge­tan, so hät­ten die Ban­di­ten es wie­der auf­blen­den müs­sen, und er wäre wahr­schein­lich mit ei­nem Ruck er­wacht.

So aber sah und hör­te er nichts. Ei­ner der Män­ner stand mit dem Re­vol­ver in der Hand im Gan­ge Pos­ten. Die bei­den an­de­ren ver­stän­dig­ten sich durch Zei­chen und zo­gen Tot­schlä­ger aus der Ta­sche. Der ers­te Schlag traf den Rei­sen­den un­ter der De­cke.

Der Be­fehl zum An­griff war lei­se ge­ge­ben wor­den, trotz­dem er­wach­te Raoul und spann­te in­stink­tiv Bei­ne und Arme. Ver­geb­lich. Der Tot­schlä­ger traf sei­ne Stirn; er konn­te ge­ra­de noch füh­len, dass ihn je­mand an der Keh­le pack­te und un­deut­lich se­hen, dass sich eben­falls je­mand auf Miss Ba­ke­field stürz­te.

Dann wur­de es dun­kel, er ver­lor sich im Fins­tern wie ein Mensch, der er­trinkt; es blie­ben nur jene un­zu­sam­men­hän­gen­den Ein­drücke, die spä­ter wie­der an die Ober­flä­che des Be­wusst­seins ge­lan­gen und sich mü­he­voll wie­der zur Wirk­lich­keit zu­sam­men­stel­len las­sen.

Man band und kne­bel­te ihn, wi­ckel­te sei­nen Kopf in einen rau­en Stoff und leer­te sei­ne Brief­ta­sche.

Der an­de­re Geg­ner schi­en mehr Mühe zu ma­chen. Raoul hör­te zu­erst ei­ni­ge un­ter­drück­te Flü­che, dann die un­ver­kenn­ba­ren Geräusche er­bit­ter­ten Rin­gens und dann einen Auf­schrei … den Auf­schrei ei­ner Frau.

»Teu­fel, ist das ein Frau­en­zim­mer!« hör­te man eine Stim­me sa­gen, »das beißt und kratzt! Hast du sie wie­der­er­kannt?«

»Was weiß ich? Das ist doch dei­ne Sa­che.«

»Zu­erst muss ich sie zum Schwei­gen brin­gen!«

Und es schi­en ihm zu ge­lin­gen. Die Schreie wur­den schwä­cher, dann spür­te Raoul, wie auch ihr Wi­der­stand er­lahm­te. Eine drit­te Stim­me aus dem Gang be­fahl lei­se:

»Halt, lasst sie los! Ihr habt sie doch nicht wo­mög­lich ge­tö­tet?«

»Wer weiß! … Auf alle Fäl­le müss­te man sie durch­su­chen.«

»Vor­sicht, zum Teu­fel!«

Die bei­den ver­lie­ßen das Ab­teil. Ein Streit ent­stand im Gang, und Raoul, der lang­sam aus sei­ner Be­täu­bung zu er­wa­chen be­gann, konn­te ei­ni­ge Wor­te auf­schnap­pen.

»Wei­ter … das Ab­teil am Ende des Wa­gens … der Schaff­ner …«

Die drei ent­fern­ten sich in der Rich­tung auf das Ab­teil zu, in dem Raoul bei der Ab­fahrt zwei Rei­sen­de be­merkt hat­te. Raoul ver­such­te, sei­ne Fes­seln zu lo­ckern und durch Be­we­gung mit den Kinn­ba­cken den Kne­bel zu ver­schie­ben. Die Eng­län­de­rin stöhn­te, aber die Lau­te wur­den im­mer schwä­cher. Die Furcht, er könn­te zu spät kom­men, ließ ihn sei­ne An­stren­gung ver­dop­peln. Aber die Stri­cke wa­ren zu fest und zu gut ge­bun­den, je­doch ge­lang es ihm, den Stoff von sei­nem Kopf ab­zu­schüt­teln. Und er sah das jun­ge Mäd­chen auf den Kni­en, mit den Ell­bo­gen auf dem Sitz …

Man hör­te Schüs­se. Die drei Ban­di­ten muss­ten mit den bei­den Rei­sen­den im an­de­ren Ab­teil ins Hand­ge­men­ge ge­kom­men sein, und fast im glei­chen Au­gen­blick rann­te ei­ner der Ban­di­ten mit ei­nem Kof­fer in der Hand am Ab­teil vor­bei.

Seit ein oder zwei Mi­nu­ten fuhr der Zug et­was lang­sa­mer.

Raoul war ver­zwei­felt. Im­mer wie­der ver­such­te er, sei­ne Fes­seln zu lo­ckern, denn mit dem jun­gen Mäd­chen ging eine selt­sa­me Ver­än­de­rung vor sich. Ihr Ge­sicht hat­te Fle­cken wie je­mand, der dem Er­sti­cken nahe ist. Raoul er­kann­te so­fort, dass sie nur noch we­ni­ge Mi­nu­ten zu le­ben hat­te.

Sie neig­te sich vorn­über, und er hör­te, wie sie auf eng­lisch müh­sam rö­chel­te:

»Ich bin ver­lo­ren … Hö­ren Sie …«

Sie hat­te kei­ne Kraft mehr. Auch Raoul hat­te trotz über­mensch­li­cher An­stren­gung kei­ne Aus­sicht mehr, sich recht­zei­tig zu be­frei­en. Es war ent­setz­lich, un­tä­tig die­sem grau­en­haf­ten Tode bei­woh­nen zu müs­sen.

Jetzt kam der zwei­te Mas­kier­te vor­über, er trug eine Hand­ta­sche und einen Re­vol­ver in der Hand. Hin­ter ihm kam der drit­te. Die bei­den Rei­sen­den wa­ren wohl nie­der­ge­macht wor­den, und da der Zug in­fol­ge von Stre­cken­ar­bei­ten – ein Um­stand, den die Ban­di­ten zwei­fel­los ih­rem Plan zu­grun­de ge­legt hat­ten – im­mer lang­sa­mer fuhr, konn­ten die Mör­der in al­ler Ruhe flie­hen.

Zu Raouls großer Über­ra­schung blie­ben sie plötz­lich vor dem Ab­teil ste­hen, als wenn sich ih­nen ein un­über­wind­ba­res Hin­der­nis ent­ge­gen­ge­stellt hät­te. Raoul ver­mu­te­te, dass sich ih­nen ir­gend­je­mand ent­ge­gen­ge­wor­fen habe, viel­leicht der Schaff­ner.

Im glei­chen Au­gen­blick be­gann der Kampf. Der ers­te Ban­dit kam gar nicht dazu, sei­ne Waf­fe zu be­nut­zen. Ein Be­am­ter in Uni­form hat­te ihn an­ge­sprun­gen, und bei­de stürz­ten zu Bo­den, wäh­rend der zwei­te, ein schmäch­ti­ges Kerl­chen mit ei­nem klei­nen Ge­sicht un­ter ei­ner zu großen Müt­ze, an der die schwar­ze Mas­ke be­fes­tigt war, sei­nem Ka­me­ra­den zu Hil­fe eil­te.

Schon muss­te der Schaff­ner nach­ge­ben, denn der klei­ne­re der Ban­di­ten hielt ihm sei­ne Hän­de fest. Der an­de­re konn­te sich er­ho­len und ließ einen Ha­gel von Faust­schlä­gen auf den Kopf des Be­am­ten nie­der­sau­sen.

Da stand der klei­ne­re wie­der auf, im Auf­ste­hen blieb er mit sei­ner Mas­ke hän­gen, die die Müt­ze mit­riss … Mit ei­ner ra­schen Be­we­gung setz­te er die Müt­ze wie­der auf und schob die Mas­ke vors Ge­sicht. Aber Raoul hat­te Zeit ge­habt, die blon­den Haa­re und das be­zau­bern­de, jetzt blei­che und ver­zerr­te Ge­sicht der Un­be­kann­ten mit den grü­nen Au­gen zu er­ken­nen, die er am Nach­mit­tag in der Kon­di­to­rei auf dem Bou­le­vard Haus­smann ge­se­hen hat­te.

Die Tra­gö­die nä­her­te sich ih­rem Ende. Die bei­den Ban­di­ten flo­hen. Raoul ver­folg­te die lang­wie­ri­ge und mü­he­vol­le Ar­beit des Schaff­ners, der schwerat­mend auf den Sitz stieg und die Not­brem­se zog.

Die Eng­län­de­rin lag im Ster­ben. Sie stam­mel­te ei­ni­ge un­zu­sam­men­hän­gen­de Wor­te:

»Bit­te … Neh­men Sie …«

»Was denn?«

»Neh­men Sie … Brust­beu­tel … Pa­pie­re … Schwö­ren Sie …«

Ihr Kopf fiel nach hin­ten, sie war tot.

Der Zug hielt.

II. Fäden

Miss Ba­ke­fields Tod, der Über­fall der drei mas­kier­ten Ban­di­ten, die wahr­schein­li­che Er­mor­dung der bei­den Rei­sen­den, der Ver­lust sei­nes Gel­des – all das las­te­te auf Raouls Geist nicht so stark wie das, was er se­kun­den­lang ge­se­hen hat­te: Die Dame mit den grü­nen Au­gen. Im Schat­ten ei­nes wüs­ten Ver­bre­chens tauch­te die be­zau­bern­de und ver­füh­re­ri­sche Frau auf. Ob­wohl sein Aben­teu­rer­le­ben Schre­cken und Ver­bre­chen ge­nug ge­se­hen und ihn an die tolls­ten Din­ge ge­wöhnt hat­te, ver­wirr­te ihn die­se Tat­sa­che; sei­ne Vor­stel­lungs­kraft ließ ihn im Stich.

Drau­ßen herrsch­te ein wüs­tes Durchein­an­der. Vom na­hen Bahn­hof – es war der Bahn­hof von Beau­court – eil­ten Be­am­te her­zu, hin­ter ih­nen ka­men Stre­cken­ar­bei­ter. Man schrie und man such­te, wo­her die Hil­fe­ru­fe ka­men.

Der Schaff­ner durch­schnitt Raouls Fes­seln, hör­te des­sen Mit­tei­lun­gen an, dann öff­ne­te er das Fens­ter und wink­te den Be­am­ten.

»Hier­her! Hier­her!«

Dann wand­te er sich an Raoul:

»Die jun­ge Dame ist tot, nicht wahr?«

»Ja … er­würgt. Das ist noch nicht al­les … zwei Rei­sen­de am an­de­ren Ende des Wa­gens …«

Sie gin­gen ei­lig den Gang ent­lang. Am Ende, im letz­ten Ab­teil, zwei Lei­chen. Kei­ne Spur von Un­ord­nung. Nichts in den Net­zen. Kei­ne Hand­ta­sche. Kein Pa­ket.

In die­sem Au­gen­blick ver­such­ten die Bahn­hofs­be­am­ten, die Wagen­tür zu öff­nen. Sie war ver­schlos­sen, und Raoul be­griff jetzt, warum die drei Ban­di­ten hat­ten um­keh­ren und durch die ers­te Tür flie­hen müs­sen.

Jetzt stie­gen Leu­te ein, an­de­re ka­men über die Ver­bin­dung, und schon füll­ten sich bei­de Ab­tei­le. Da er­tön­te laut und ge­bie­te­risch eine Stim­me:

»Nichts an­rüh­ren! … Nein, bit­te las­sen Sie den Re­vol­ver lie­gen, wo er lag. Er ist ein über­aus wich­ti­ges Be­weis­stück. Es wäre am bes­ten, dass bei­de Ab­tei­le voll­kom­men ge­räumt wür­den. Der Wa­gen wird ab­ge­hängt, der Zug wird gleich wei­ter­fah­ren, nicht wahr, Herr Bahn­hofs­vor­ste­her?«

Es ge­nügt in Au­gen­bli­cken der Ver­wir­rung, dass ein Mensch sich klar und deut­lich aus­spricht und weiß, was er will, um die er­reg­ten Ge­mü­ter zu be­herr­schen und sei­nem Wil­len zu beu­gen. Und die­ser Mann sprach ru­hig und ein­drucks­voll wie je­mand, der an Ge­hor­sam ge­wöhnt ist.

Raoul sah ihn an und er­kann­te zu sei­nem Er­stau­nen den Mann, der Miss Ba­ke­field ver­folgt und die Dame mit den grü­nen Au­gen an­ge­spro­chen hat­te, mit ei­nem Wort – den po­ma­di­sier­ten Ge­cken, den die Eng­län­de­rin Herrn Ma­res­cal ge­nannt hat­te. Er stand am Ein­gang des Ab­teils, in dem das jun­ge Mäd­chen lag, ver­sperr­te den Ein­drin­gen­den den Weg und dräng­te sie zu den of­fe­nen Tü­ren.

»Herr Bahn­hofs­vor­ste­her«, fuhr er dann fort, »wol­len Sie die Güte ha­ben, das Ran­gie­ren zu über­wa­chen? Set­zen Sie bit­te alle Ihre Be­am­ten ein. Man müss­te auch an den nächs­ten Gen­dar­me­ri­e­pos­ten te­le­fo­nie­ren, einen Arzt kom­men las­sen und den Un­ter­su­chungs­rich­ter in Ro­mil­land be­nach­rich­ti­gen. Es han­delt sich um ein Ver­bre­chen.«

»Um drei«, be­rich­tig­te ihn der Schaff­ner. »Zwei mas­kier­te Män­ner, die mich an­ge­fal­len ha­ben, sind ge­flo­hen.«

»Ich weiß«, sag­te Ma­res­cal, »die Stre­cken­ar­bei­ter ha­ben Schat­ten be­merkt und sich auf die Ver­fol­gung ge­macht. Ober­halb der Bö­schung liegt ein klei­ner Wald. Man ver­sucht, ih­nen längs der Chaus­see den Weg ab­zu­schnei­den. Wenn man sie fängt, wer­den wir es schon er­fah­ren.« Er sprach je­des Wort scharf aus, sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren kurz und ge­bie­te­risch. Raouls Er­stau­nen wuchs, dann je­doch ge­wann er sei­ne gan­ze Kalt­blü­tig­keit wie­der. Was mach­te der Mann hier? Und wie kam er zu sei­nem Auf­tre­ten? Wie oft tre­ten ge­ra­de die Leu­te mit über­trie­be­ner Si­cher­heit auf, die et­was zu ver­ber­gen ha­ben! Raoul konn­te nicht ver­ges­sen, dass Ma­res­cal Miss Ba­ke­field den gan­zen Nach­mit­tag ver­folgt und die Stun­de ih­rer Ab­fahrt er­fragt hat­te. Zwei­fel­los hat­te er sich im Ne­ben­wa­gen be­fun­den – und war der drit­te Ban­dit nicht über die Ver­bin­dung im Ne­ben­wa­gen ver­schwun­den? Und soll­te die­ser drit­te nicht der Mann sein, der jetzt her­um­kom­man­dier­te und die Si­tua­ti­on zu be­herr­schen schi­en?

Der Wa­gen hat­te sich ge­leert. Nur der Schaff­ner war noch zu­rück­ge­blie­ben. Raoul ver­such­te, sich wie­der auf sei­nen Platz zu set­zen. Man hin­der­te ihn dar­an.

»Aber bit­te!« sag­te er, in der fes­ten Über­zeu­gung, dass Ma­res­cal ihn nicht er­kann­te, »wie kom­men Sie denn dazu? Ich saß hier und will wie­der auf mei­nen Platz!«

»Nein«, ant­wor­te­te Ma­res­cal, »der Ort, an dem ein Ver­bre­chen ge­sch­ah, ge­hört den Be­hör­den, und kei­ner darf ihn ohne Er­laub­nis be­tre­ten.«

Der Schaff­ner leg­te sich ins Mit­tel:

»Aber die­ser Herr ist ja auch an­ge­fal­len wor­den und man hat ihn ge­fes­selt und be­raubt.«

»Tut mir leid«, sag­te Ma­res­cal, »aber ich kann die Vor­schrif­ten nicht än­dern.«

»Wel­che Vor­schrif­ten?« frag­te Raoul är­ger­lich.

»Mei­ne Vor­schrif­ten.«

Raoul kreuz­te die Arme:

»Wie kom­men Sie ei­gent­lich dazu, hier An­ord­nun­gen zu tref­fen? Sie kom­man­die­ren uns mit ei­ner Un­ver­schämt­heit, die an­de­re sich viel­leicht ge­fal­len las­sen, ich bin je­doch nicht in der Ver­fas­sung, mich da­mit ab­zu­fin­den.«

Der an­de­re reich­te ihm eine Vi­si­ten­kar­te und sag­te:

»Ro­dol­phe Ma­res­cal, Kom­missar im in­ter­na­tio­na­len Fahn­dungs­dienst, zu­ge­teilt dem Mi­nis­te­ri­um des In­nern.«

Und er füg­te hin­zu:

»Und wenn ich die Lei­tung der Un­ter­su­chung über­nom­men habe, so tue ich es mit dem Ein­ver­ständ­nis des Bahn­hofs­vor­ste­hers, und weil mein be­son­de­rer Auf­trag mich dazu er­mäch­tigt.«