Die Dame mit der bemalten Hand - Christine Wunnicke - E-Book

Die Dame mit der bemalten Hand E-Book

Christine Wunnicke

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Beschreibung

Bombay, 1764. Indien stand nicht auf dem Reiseplan und Elephanta, diese struppige Insel voller Schlangen und Ziegen, schon gar nicht. Carsten Niebuhr aus dem Bremischen ist hier ­gestrandet, obwohl er doch in Arabien sein sollte. Ebenso Meister Musa, persischer Astro­labienbauer aus Jaipur, obwohl er doch in Mekka sein ­wollte. Man spricht leidlich Arabisch miteinander, genug, um die paar Tage bis zu ihrer Rettung gemeinsam herumzubringen. Um sich öst-westlich misszuverstehen und freundlich über Stern­bilder zu streiten. Es könnte übrigens alles auch ein Fieber­traum gewesen sein. Doch das steht in den Sternen. "Wunnicke ist eine große, unterschätzte ­Romanautorin." Sigrid Löffler, Deutschlandfunk Kultur

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ChristineWunnickeDie Damemit derbemaltenHand

Roman

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Über den Autor

I

Panvel – Manbai, A. H. 1177 / A. D. 1764

Musa al-Lahuri musste das Echtheitszertifikat seines Astrolabiums in drei Ausfertigungen unterzeichnen. Drei große, schöne Schriftstücke hatte der Kunde erstellen und feierlich ausbreiten lassen, auf einem Tisch unter einem Baldachin in seinem Garten, der ihm, wie alle seine Reichtümer, sehr am Herzen zu liegen schien. Nun hielt er Meister Musa unter mancherlei Reden das Schreibrohr hin. Der Astronom unterdrückte ein Seufzen und zeichnete dreimal mit vollem Namen, Ustad Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri.

Das Haus des Kunden lag an der alten Handelsroute, in einer freudlosen Gegend zwischen Panvel-Markt und Panvel-Hafen. Große Magazine gehörten dazu und eine portugiesische Kirche, die er zugekauft hatte und worin er nun ebenfalls Waren lagerte, Indigo, Opium, Leinwand, Meister Musa hatte es alles erfahren und längst wieder vergessen. Um das Astrolabium zu bringen, war er gestern eigens von Manbai herübergekommen, wo er logierte, und hatte schon eine Nacht hier verbracht. Stundenlang, bei immerhin gutem Essen, hatte der Kunde, der ebenfalls Perser war, mit seinem Haus, seinem Leben, seinem Geschick, seiner Güte, seinen Kindern und seinen Waren geprahlt und deren Marktwert detailliert. Dann hatte er um den Preis des Astrolabiums zu feilschen begonnen, obwohl der Verkauf schon brieflich fixiert war und es längst nichts mehr zu feilschen gab. Dabei hatte er Meister Musa erst kreuz und quer durchs Haus geführt, um dessen Schönheiten vorzuzeigen, und schließlich dauernd durch diesen Garten, der hoch ummauert und etwas verfehlt in der hässlichen Gegend stand. An einem gekachelten Bächlein hatte er ihn entlanggeführt, zwischen Rosen und duftendem Eibisch, unter Vogelkäfigen auf schlank kannelierten Säulen immer im Kreis herum. Die Wege waren nass. Auch der Baldachin war nass und Dampf hatte sich darunter entwickelt. Dass es außerhalb der Saison geregnet hatte – ›gegen die Astronomie‹, wie er wichtig erklärte, Meister Musa zum Tort –, schien den Kunden so zu verwirren, dass er keine Konsequenzen daraus zu ziehen vermochte und störrisch im Nassen verweilte.

Geschrei und Gehämmer drang von den Magazinen herüber. Vielleicht bekam die Kirche ein neues Dach. Meister Musa blickte hinauf in die blaue Wölbung des Baldachins und in den Dampf, der den Kopf des Kunden umschwebte. Viele Gewänder trug dieser Kunde, eines über dem anderen, eine Jadespange im Turban, in den Ohren Rubine, und strahlte viel Frohsinn aus. Mit einer Verneigung gab ihm Musa das Schreibrohr zurück.

Das Echtheitszertifikat war ein sinnloses Dokument. Einen Papierwisch konnte man jederzeit austauschen. Musa signierte seine Instrumente grundsätzlich im Messing. Aus allem, was gut und teuer war, aus Ebenholz, Silber und Elfenbein und ein wenig chinesischem Lack, hatte der Kunde einen Ständer für das Astrolabium anfertigen lassen, der ebenso sinnlos war wie das Zertifikat. Es war ein kleines Scheibenastrolab, das in eine Hand passte, und wenn es auf einem Ständer aufgebockt stand, konnte man es nicht benutzen. Doch der Kunde würde es ohnehin nicht benutzen. Der Kunde verstand nichts vom Himmel und nichts von der Mathematik. Dieser mühsame Kunde, dachte Musa, konnte bestenfalls den Mond von der Sonne und die Nacht vom Tag unterscheiden und vielleicht selbst das nicht immer. Er sammelte Astrolabien, um damit anzugeben. Mit einem Original von Musa al-Lahuri konnte man hervorragend angeben, selbst wenn es nur dumm auf einem Ständer stand. Seine Astrolabien waren begehrt. Ein einziger Verkauf finanzierte einen schönen Teil seiner Reise, von Jaipur bis Manbai und übers Meer und in die heiligen Städte.

Stundenlang hatte der Kunde das Astrolabium von einem Diener hinter sich hertragen lassen, der es mit einem Tüchlein auf dem Ständer festhielt; durchs Haus, durch den Garten und schließlich unter den feuchten Baldachin. Nun war es endlich das seine und stand auf seinem Tisch. Er sprach ein Dichterwort, das Himmelszelt zu einem zarten Bild geronnen, et cetera. Wie oft hatte al-Lahuri das schon gehört. Er verneigte sich wieder.

Neue Diener erschienen. Sie brachten nicht etwa das Geld, sondern Früchte in großen Schalen und in englischen Gläschen englischen Magenlikör. Der Kunde redete klug über Engländer, mit denen er wohl Handel trieb, setzte viele Höflichkeiten hinzu und dann das Wort »Alhidade«. Das wiederholte er mehrfach, ohne dazugehörigen Satz. Er beugte sich sogar zu Meister Musa herüber und raunte beschwörend »Alhidade«, die Lippen fast an seinem Ohr.

»Jawohl«, sagte Musa. »Die ist hinten.«

Zum ersten Mal seit seiner Abreise verspürte er eine gewisse Sehnsucht nach Jaipur. Dort hätte niemand gewagt, dauernd ›Alhidade‹ zu ihm zu sagen, in einer solch törichten und unverbundenen Weise. Es war ein wenig, als ob man ›Sohle, Sohle‹ zu einem Schuhmacher sagte. Wahrscheinlich war ›Alhidade‹ das einzige Wort aus dem Bereich der Wissenschaften, das der Kunde kannte; deshalb wollte er diese Saat wohl unbedingt auswerfen und vielleicht ein ganzes Gespräch daraus ziehen. Er nahm dem Diener das Tüchlein weg, das dieser zum Anfassen des Astrolabiums benutzt hatte, fasste es selbst damit an, hielt es seinem Schöpfer vor die Nase und rief noch einmal: »Alhidade!«

Musa al-Lahuri verabscheute es, wenn man ihm Dinge vor die Nase hielt. Seit einer Weile konnte er nicht mehr scharf erkennen, was sich zu nahe vor seinen Augen befand. Er ging auf die fünfzig zu. Er wusste, dass Menschen in seinem Alter in der Nähe unscharf zu sehen begannen. Dies war nicht einmal eine Krankheit, die eines Arztes bedurfte, sondern nur eine kleine und ganz unpersönliche Strafe Gottes, die jeden traf und mit der jeder wohl oder übel seinen Frieden machte. Doch nicht jeder schmiedete die besten Astrolabien von Hindustan. Meister Musa nahm sich das Recht, gekränkt zu sein.

Er hielt das Instrument halbnah vor sein Gesicht, nicht so nahe, dass es völlig verschwamm, und nicht so weit weg, dass der Kunde hätte bemerken können, dass hier jemand mit langem Arm auf kleine Dinge guckte, wie es die Greise tun. Er betrachtete das Astrolab mit Wehmut. Es war schön gelungen und landete im Haus eines Tölpels. Musa drehte es um, legte den Zeigefinger auf die Idade und stellte sie so, dass sie das Schattenquadrat schnitt.

»Wollt Ihr etwa die Höhe der Sonne über dem Horizont bestimmen«, sagte er milde, »so bewegt Ihr die Idade, bis durch beide Absehen hindurch ein Sonnenstrahl auf Eure Hand fällt, und lest die Gradteilung ab. Nun dreht Ihr das Astrolab, sucht die Position der Sonne auf dem Tierkreis und stellt die Spinne dieserart, dass die Sonne auf dem Mukantara der gemessenen Höhe steht. Beachtet deren Teilung in je sechs Grad pro Kreis. Zur Nacht verfahrt Ihr ähnlich: Ihr sucht die Höhen zweier Sterne, wie sie die Spinne zeigt, und stellt sie auf die Höhen der Sterne, wie Eure Augen sie sehen. Nun nehmt Ihr mit dem Zeiger an der Hajrah die Zeit. Dreht die Sonne auf der Spinne. Bringt sie in Deckung mit dem östlichen Horizont. Nun wisst Ihr, wann die Sonne aufgeht, die wahrhaftige Sonne des Himmels, und kennt die Länge des wahrhaftigen Tages. Was sich von selbst versteht.«

Schweigen hing über dem Pavillon. Ein Wassertropfen fiel aus dem indigoblauen Zenit auf den Tisch. Der Verwalter des Kunden erschien und brachte endlich das Geld. Meister Musa verspürte das Bedürfnis, sämtliche Anwendungen des Astrolabiums zu erläutern, selbst wenn es zehn Stunden dauerte. Er drehte es in der Hand, ließ den Zeiger über der Spinne kreisen und holte tief Luft. Der Kunde zog ein wenig den Kopf ein.

»So Gott will«, sagte Musa.

Mit seinem Diener ging er zum Fluss hinunter, der ebenfalls Panvel hieß, bestieg das Schiff, das dort auf ihn wartete, und machte sich auf den Rückweg nach Manbai.

Es war ein miserables kleines Schiff, nicht besser als das gestrige. Mit seinem schiefen, dreieckigen Segel sah es aus wie schon halb gekentert, und auch der Mann, dem es gehörte, und die Burschen, die diesem dienten, erweckten wenig Vertrauen. Der Panvel war verschlickt und versandet, die Ufer ausgeschwemmt, das Wasser braun. Während sich das Schiff durch allerlei Unrat kämpfte, jammerte der Schiffer in der Straßensprache von Manbai, wahrscheinlich über fehlenden Wind oder nach mehr Bezahlung. Vielleicht war es auch die Straßensprache von Panvel. Jeder Flecken von Hindustan hatte eine andere Sprache. Selbst Meister Musa konnte nicht alle lernen. »Ist rasche Landung erzielt, wird Belohnung des Schiffsherrn erfolgen«, skandierte er unwirsch auf Sanskrit. Der Schiffer warf ihm ehrfürchtige Blicke zu. Wahrscheinlich verstand er kein Wort und dachte, sein Fahrgast habe gebetet.

Meister Musa stellte sich in den Bug, möglichst weit weg vom Segel. Das Schiff quälte sich gen Meer. Im Treibgut hing ein Ziegenkadaver, an dem ein schwarzer Vogel fraß. Einen Moment lang dachte Musa, dass es waghalsig sei, mit all dem Geld des Kunden in der Welt herumzuflottieren. Gott sei Dank trug er Dolch und Säbel, und Malik, sein Diener, war ein kräftiger Bursche. Er musste sich plötzlich vorstellen, wie ihn der Besitzer des Schiffes hinterrücks überfiele, wie er ihn sofort und mit Freude erstäche und dieserart selbst zum Besitzer des Schiffes würde. Wie er die Leiche des Schurken über Bord würfe und fortan auf dessen kläglichem Kahn, unter falschem Namen und vielleicht als Inder verkleidet, Jahr um Jahr die sieben Inseln umschiffte und ein Piratenleben führte, fern von seiner Heimat, seiner Familie und seinem Beruf.

Seit sein Augenlicht zu ermatten begann – und zuweilen sah er sich schon blind um Hilfe keifen wie ein Greis, auf dessen baldigen Tod jeder hofft –, suchten ihn öfter Trugbilder heim. Im Observatorium des Fürsten von Jaipur berechnete und beobachtete er seit Jahrzehnten die Gestirne. Seit Jahrzehnten klafften Lücken zwischen Beobachtetem und Berechnetem, die nicht zu schließen waren, so viel man auch neu berechnen und beobachten mochte. Einst hatte er damit gehadert. Einst hatten ihm diese Lücken den Schlaf geraubt. Nun schlief er so lange, wie man ihn eben ließ, und kritzelte dazwischen die Tagestabellen für alle Gestirne, wie man sie eben sah. Und schmiedete Astrolabien fürs liebe Geld. Und so ging das Leben dahin. Man wurde immer dicker und müder. Es war kein Wunder, wenn das Gemüt nach Abwechslung schrie.

Al-Lahuri lächelte, nachsichtig mit sich selbst. Bald wäre er in Arabien. Dort fände er Sinn. In Arabien, so hieß es, sei all der Sinn zuhause, der Sinn des Himmels und der Erde, Gottes Sinn und der Menschensinn und der Sinn aller Dinge. Nicht zum ersten Mal sagte er im Kopf das Wort ›Sinn‹ her, auf Persisch, Arabisch, Griechisch, Lateinisch und in der Straßensprache von Jaipur, und dann dachte er ›Sinn‹ auf Sanskrit, alle zwanzig Wörter, die im Sanskrit vielleicht ›Sinn‹ bedeuteten, oder vielleicht auch ›Unsinn‹; Sanskrit war eine seltsame Sprache. Er rief nach seinem Diener, und dass dieser nicht wieder ins Segel fallen solle wie gestern, in seiner endlosen Tölpelei.

Er erinnerte sich an den Morgen in Jaipur, da er den Entschluss gefasst hatte, zu reisen. Wie ein Licht seinen Geist berührte, wie er Malik packte und rannte, den langen Basar hinunter mit fliegendem Mantel und durchs Sambhar-Tor in die Freiheit. So erinnerte er es gerne. Der Wahrheit entsprach es nicht. Monatelang hatte er mit dem Hof verhandelt, bis man ihm Urlaub gab. Ein halbes Jahr lang hatte er mit der Familie gestritten, mit seinen Frauen Zubayda und Gohar, mit seinen Söhnen und seinem Schwiegersohn, mit seiner älteren Tochter, die in Arabien nichts als den Tod sah, heulte und auf schreckliche Weise poetisch wurde, bis man ihn endlich gewähren ließ. Eine Woche lang hatte er Malik getröstet, der sich nach und nach in ein solches Grauen vor Arabien gesteigert hatte, dass er davon Durchfall bekam. Ein mehrtägiges Abschiedsfest war gefolgt, an dem jeder Perser von Jaipur teilnahm und Geschichten von Arabien erzählte, die er von anderen Persern gehört hatte. Schließlich hatten auch die Inder Wind von der Sache bekommen und verstanden, dass er über Manbai zu reisen gedachte. Sie hatten Briefe zu schreiben begonnen, die Meister Musa mitnehmen sollte, Familienbriefe, Geschäftsbriefe, Wissenschaftsbriefe, Briefe von Brahmane zu Brahmane. Seine jüngere Tochter Nayyirah, die sich alles erlauben konnte, hatte eine lange, befremdliche Liste arabischer Schätze erarbeitet, die er kaufen oder finden und ihr mitbringen sollte. Ein Sandsturm hatte die Abreise verhindert. Dann hatten die Brahmanen die Abreise verhindert, weil ihre Briefe nicht fertig waren. Gohar hatte sie zu verhindern versucht, weil ihr alles plötzlich zu teuer erschien. Der elende Portugiese, der seit Jahrzehnten im Observatorium vegetierte, hatte ebenfalls einen Brief verfasst, an einen Portugiesen, der einst in Arabien gewesen war und möglicherweise noch lebte. Weitere Sandstürme hatten die Abreise verhindert. Nayyirah trug Papier in ihr Geheimversteck, um eine zweite Liste zu beginnen. Zubayda und Gohar bereiteten ein zweites Abschiedsfest vor. Da war er aufgebrochen mit dem jammernden Malik und gereist und gereist, in vielen Karawanen, auf vielen verschiedenen Reittieren, von denen jedes auf seine Art unbequem war, unter großen Entbehrungen und Lästigkeiten, bis er eines Tages Manbai erreicht hatte. Hier galt es nun Zeit totzuschlagen und Geld zu verdienen. Das Schiff nach Dschidda lief erst in mehreren Wochen aus.

Malik begaffte das Meer. Schaute ihm Musa zu lange beim Staunen zu, begann er selbst zu staunen und all der Wirrwarr in Maliks Kopf sprang über. Das gefiel ihm nicht. Er zwang sich, an das mit Wimpeln besteckte Lustboot im Palastteich des Fürsten von Jaipur zu denken, das keinesfalls staunenswert war.

Es war fast windstill. Man kam kaum voran. Meister Musa bestimmte die Zeit, als ließe sich die Sache dadurch beschleunigen. Dafür nahm er das Astrolabium, das er an einer Kette um den Hals trug; ein altes Stück seines Vaters, das dem Vergleich mit seinen eigenen Werken nicht standhielt, das er indes immer noch gerne benutzte. Um die tote Zeit gut zu verwenden, hockte er sich hin und zerlegte es. Trug man es zu lange um den Hals, wurde es speckig und klemmte. Mit dem Daumennagel schraubte er das Pferd von der Nadel, nahm Zeiger und Spinne ab, löste alle Lauhat aus der Umm und die Umm von der Idade und begann mit dem Schnupftuch alles sorgsam zu putzen. Bald schrie er nach seinem Augenglas. Jede Lauha sah aus wie die andere. Es war würdelos und beschämend.

Malik brachte das Augenglas. Daheim in Jaipur lagen noch fünf weitere. Meister Musa hatte viel Aufhebens um die Anschaffung von Augengläsern gemacht. Alle waren unscharf und trübe. Eines verzerrte das Bild so sehr, dass Schrift abwechselnd wie ein Strich und wie ein Knäuel aussah, je nachdem, wie man es hielt. Drei hatten doppelte Linsen, davon war eines gestielt, das zweite auf die Nase zu kneifen, das dritte um die Ohren zu haken; drei waren schlichtweg Lupen, eine aus trübem Glas und zwei aus trübem Quarz. Auch jenes, das Malik in seinem Beutel bereithielt, hatte eine quarzene Linse, und leider war es das beste. Im fernen Kalkutta, so der Verkäufer in Jaipur, hatte ein frommer Mann es gefertigt. Das Messing von Fassung und Griff war überaus figürlich gestaltet. Der Elefantengott hielt die Linse im Rüssel und streckte sie dem Benutzer frech entgegen, als wollte er sagen, du Maulwurf, du brauchst mich. An seine fetten Flanken schmiegten sich noch zwei nackende Himmelsnymphen. Der ganze Griff war ein Gewirr von Leibern. Man konnte kaum die Hand um das wulstige Machwerk schließen. Musa al-Lahuri sichtete seufzend die Lauhat, ordnete sie in die Umm, schraubte das Instrument zusammen, hängte es sich wieder um den Hals und steckte das Augenglas angewidert zurück in Maliks Beutel.

Das Schiff dümpelte zwischen Panvel-Hafen und der Insel Gharapuri, die den Blick nach Manbai verdeckte. Der Schiffer lamentierte ein wenig, dann legte er sich in den spärlichen Schatten des Segels zum Schlafen. Seine Burschen schliefen schon längst.

»Großmächtiger Ruderschlag im präzisen Jetzt!«, schrie Meister Musa. Er versuchte seinem Sanskrit einen marathischen Tonfall zu geben, doch der Schiffer verstand ihn nicht. Musa trommelte mit den Fingern auf der Reling. Das Dümpeln des Schiffes schlug sich ihm auf den Magen. »Hör auf zu zappeln!«, schrie er Malik an. Malik begann vor Schreck zu zappeln.

Und plötzlich war es Musa zufrieden. Wem nützte die Eile, all die sinnlose Eile? Ein Leben lang, so schien es ihm, war er ständig gerannt, zeternd und zankend, von Kunde zu Kunde, von Geschäft zu Geschäft, zum alten Fürsten und zum jungen Fürsten, auf betriebsamen Wegen zwischen Mauerquadrant und Azimut-Yantra, während Mond und Sonne ungerührt durch den Tierkreis rückten, immer nur gerannt und gerannt.

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte in den Himmel. Dann schaute er nach Gharapuri hinüber. Die Insel war borstig und grau, von Gestrüpp überwuchert, dazwischen ein paar Sauerdattel- und Mangobäume. Palmen, deren nutzloseste Sorte, streckten lange, triste Wurzeln ins Meer. Kein Haus, kein Mensch war zu sehen. Ein Affe kreischte, ein zwitscherndes, helles Kreischen, viel zu laut, viel zu lang, viel zu wichtig in der dunstigen Stille. Niemand rannte auf Gharapuri umher. Niemand, so schien es, hatte dort etwas zu schaffen. Leer und grau schwamm ein wenig Land im Meer zwischen Panvel und Manbai. In seiner neuen philosophischen Stimmung fand Musa das liebenswert.

Er wollte anlegen und warten, bis Wind kam, oder bis die Gezeiten wechselten. Er wollte den Strand mit freundlicher Ruhe betrachten, vielleicht ein paar Steine nach Affen werfen, er wollte Schatten suchen und essen, was in Maliks Essenskorb übrig war, und danach mit zufriedenem Magen auf dem Festland ein wenig schlafen. »Gott ist mit dem Geduldigen«, sagte Musa zu Malik, und auf Sanskrit zum Schiffer: »Die Scholle befahren mit geschwindem Gang«, was der Schiffer sofort verstand.

Das Boot hatte kaum Tiefgang. Einer der Burschen stakte mit einer Stange und sie glitten fast auf den Strand.

Das meiste im Essenskorb war verdorben. Meister Musa musste sich mit ein wenig Rettich in Essig begnügen. Auch das Bewerfen der Affen befriedigte nicht. Sie waren wendiger als die Affen von Jaipur. »Wind?«, fragte Musa den Schiffer. Der Schiffer zeigte auf die Sonne und dann, mit trauriger Miene, nach Westen. »Abend? Abend? Abend?«, fragte Musa in mehreren Sprachen. Seine Stimme wurde schon wieder lauter. Der Schiffer legte die Hände zusammen und verneigte sich. Malik starrte entgeistert die Affen an, als habe er noch nie Affen gesehen. Eine Ziege erschien. Sie blickte sich um und verschwand wieder im Gestrüpp. Malik gaffte ihr hinterher, als habe Gott soeben die Ziegen geschaffen, nur um ihn zu erstaunen. Er löste eine Muschelschale aus dem Sand, hob sie dicht an die Augen, roch daran und befingerte sie versonnen. Und da schrie schon wieder ein Affe. Und da kam schon wieder die Ziege mit ihrem blöden Ziegengesicht. Und Musas Geduld war am Ende.

Er steckte Wasser, Augenglas und den letzten Sirupkuchen ein, nahm seinen Stock und stand auf. Es musste hier etwas geben, das besser war als dieser Strand. Ein Haus mit Menschen darin. Einen Ziegenhirten zur Ziege. Eine portugiesische Kirche. Einen Piratenschatz. Zumindest eine Aussicht. Gharapuri wölbte sich wie ein Schildkrötenpanzer, in der Mitte leicht eingekerbt. Dort oben, wenn man hinaufstieg, wäre man wenigstens oben und könnte hinunterblicken. Man könnte über die Lagune blicken. Das wäre vielleicht unterhaltsam. Eine Art Weg teilte vom Strand her das graue Gestrüpp. Dorthin brach er auf mit schnellem Schritt, den entgeisterten Malik auf den Fersen. Er wollte ihn nicht auf den Fersen haben. »Bleib beim Schiff«, herrschte er ihn an, »pass auf, dass es nicht wegfährt!« Er duldete keine Widerrede. Und bald waren Maliks Gejammer und das Gekreisch der Affen in der Ferne verhallt.

Der Weg wurde schmäler und schmäler und zunehmend unsichtbar. Meister Musa wollte keinen besseren suchen. Er wollte bergauf durchs Dickicht. Mit seinem Stock, einem schön geschnitzten Handstock aus Birkenholz, schlug er ins Gestrüpp. Es wuchs nicht nur aus der Erde, es verflocht und verfilzte sich auch von Baum zu Baum. Er schimpfte vor sich hin. Für den Kundenbesuch in Panvel hatte er seine besten Stiefel angezogen und nun verdarb er sie sich. Das Gestrüpp krallte sich in seinen Mantel. Ein schlaffes Gewächs, das von einem Baum herabhing, wickelte sich ihm feucht um den Turban. Auch hier hatte es wohl geregnet, gegen die Astronomie. Etwas Kleines, Klebriges heftete sich an seine Hand. Dabei war es sehr still. Es war so still im Gestrüpp der Insel Gharapuri, dass er sich unwohl zu fühlen begann.

Musa al-Lahuri, der den größten Teil seines Lebens in Jaipur zugebracht hatte, einer ordentlichen und äußerst modernen Stadt, hörte auf zu schimpfen und trat etwas leiser auf. Er wusste nicht, was diese Wälder bewohnte. Menschen schienen es nicht zu sein. Vielleicht schlief nahebei ein Tiger. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Der Astronom aus Jaipur hatte keine Ahnung, was im Wildwuchs der Inseln vor Manbai möglicherweise alles schlief. Seinen Birkenholzstock trug er nun vorsichtig vor sich her. Die Langeweile machte Besorgnis Platz. Besorgnis verwandelte sich allmählich in Spannung. Er erinnerte sich an all die Geschichten, welche die Inder über Gestrüppe und Wälder erzählten. Sie gingen selten gut aus, zumindest nicht nach Musas Verständnis. Was die Inder unter Gutem und Schlechtem verstanden, war unpräzise und rätselhaft. Inder, die in den Wald gingen, um dort auf indische Art ihre Sünden zu büßen, verwandelten sich in Dämonen. Darauf kamen all ihre Götter hervor und verwandelten sich in Dämonen und Menschen. Sie verwandelten sich auch in sich gegenseitig, in schwindelerregender Weise. Niemand kehrte aus Wäldern und Gestrüppen zurück, wie er dort hineingegangen war, in den Geschichten der Inder.

Der Schweiß lief al-Lahuri in die Augen, über die Wangen und in den Bart. Bis vor kurzem hatte er den Schnauzbart der Jungen getragen. Jetzt trug er den Vollbart der Alten. Er ärgerte sich, dass er schwitzte, nur weil es ein wenig bergauf ging.

Hinter zwei Mangobäumen kam eine erbärmliche Hütte zum Vorschein. Dahinter duckten sich zwei, drei weitere Hütten. Sie waren mit dem Erdreich verwachsen, als hätte dieses sie ausgebrütet und sie seien erst halb geschlüpft. Keine Menschenseele war zu erblicken. Er hielt sich rechts, umrundete die verlassene oder schlafende Siedlung und stieg weiter den Berg hinauf.

Das Gestrüpp wurde dichter und dichter. Sehnsuchtsvoll dachte er an den langen Basar von Jaipur. Sechs Elefanten, so hatte der Fürst bei der Planung bestimmt, mussten nebeneinander darauf einhergehen können, ohne sich zu berühren. Auch hatte er rechte Winkel für alle Straßen verfügt und krumme Kurven verboten. Die ganze Welt, dachte al-Lahuri, sollte den Vorschriften des alten Fürsten von Jaipur gehorchen. Da fuhr er jäh zurück.

Der Kopf einer Ziege war plötzlich vor ihm aufgetaucht und glotzte ihn an. Er schien zwischen Blättern im Nichts zu hängen; erst allmählich kam die ganze Ziege zum Vorschein. Sie trat geradewegs aus dem Berg hervor. Eine zweite Ziege drängte ihr nach. Darunter rannte ein kleines Tier, zu schnell, um es bestimmen zu können, und schoss ins Gebüsch. Etwas flatterte, hoch oben, in spitzblättrigen Zweigen. Dann spuckte der Berg eine Schlange aus. Sie kringelte sich im Geäst, glitt zu Boden, richtete den Kopf auf und spreizte die Haube.

»Pest und Hundeaas!«, schrie Musa. Er hob den Stock und schlug zu und verfehlte und schlug ein zweites Mal zu und schlug in ein leeres Gestrüpp. Zweige brachen. Blätter flogen. Die Schlange war fort. Die Ziegen waren ebenfalls fort. Der Berg hatte alles wieder eingesaugt, was er zuvor ausgespien hatte. Vorsichtig näherte er sich dem schwarzen Loch, das halb verborgen hinter Blättern und Astwerk in der Flanke der Insel klaffte.

Es ging dort sehr tief hinein: ein Höhlengang, mit altem Gemäuer befestigt. Er war schwarz wie die Nacht, doch in der Ferne wurde es wieder hell. Etwas trabte und etwas knisterte und etwas quiekte und alles war voller Vogeldreck. Meister Musa steckte Kopf und Stock neugierig tief in den Stollen, doch seine Beine wollten nicht mit. Er klopfte mit dem Stock ans Gemäuer. Es klang hohl. Er lächelte über seine eigene Feigheit. Dann ging er hinein.

Der Gang war feucht und erdig. Er tastete mit dem Stock wie ein Blinder. Allerlei Gestrüpp wuchs auch hier, oder es war totes Gestrüpp, das Tiere hereingezerrt hatten. Knatternd flog etwas auf, ein Vogel, eine Fledermaus, dann war es wieder still wie das Grab. Es wurde kühler, wärmer, kühler. Die Helligkeit am Ende des Tunnels war fort. Etwas schnaufte. Musa drehte sich um. Auch hinter ihm war alles schwarz. Etwas kollerte. Vielleicht war Mauerwerk heruntergebrochen. Vielleicht hatte es beide Eingänge gleichzeitig versperrt. Die Stockspitze sank in etwas Weiches ein, dann klackte sie wieder auf Stein. Er strauchelte. Er versuchte zu rennen. Gestein, Gestrüpp, Ziegen, Vögel, Affen, Fledermäuse, Nasses, Weiches, Hartes, Borstiges, Glitschiges blockierte seinen Weg, und da war Licht, ein großer Luftzug kam ihm entgegen, er stolperte über eine Schwelle und war befreit.