Die Damen vom Pariser Platz - Joan Weng - E-Book
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Die Damen vom Pariser Platz E-Book

Joan Weng

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Beschreibung

Das Versprechen ewiger Jugend. Berlin, 1926. Schluss mit dem Langweilertum! Gretchen nimmt Reißaus vor der Provinz und zieht nach Berlin. Im namenhaften Schönheitssalon der Madame Bross wird sie von der Nachtclubsängerin Isis als Tippfräulein für ihre Memoiren eingestellt. Manch ein übles Gerücht kursiert über ihre neue Chefin, doch Gretchen mag den Räuberpistolen nicht recht glauben. Wer jedoch hat Isis die Narbe zugefügt, die ihre linke Gesichtshälfte entstellt? Kopfüber stürzt Gretchen sich in das glamouröse Leben der Großstadt und fühlt sich ausgerechnet zu dem Verlobten ihrer besten Freundin hingezogen. Aber dann ist da ja auch noch der unnahbare Erik … „Joan Weng erweckt das Berlin der Goldenen Zwanziger zu neuem Leben.“ Stuttgarter Zeitung

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Seitenzahl: 268

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Über das Buch

Berlin, 1926. Der Schönheitssalon der Madame Bross am Pariser Platz 13 ist nicht irgendeiner, es ist der Schönheitssalon der Hauptstadt schlechthin. Hier geben sich nur die feinsten Damen die Klinke in die manikürte Hand. Da passt sie selbst so gar nicht hinein, findet Gretchen, die frisch vom Land nach Berlin gezogen ist und ausgerechnet hier eine Arbeit finden soll. Umso erstaunter ist sie, als sie von der geheimnisvollen Nachtclubsängerin Isis als Tippfräulein angestellt wird. Doch wenn Gretchen ihrer Vermieterin Glauben schenkt, die allerlei Schauergeschichten über ihre neue Chefin zu kennen meint, sollte sie sich besser vor ihr in Acht nehmen. Zwischen Automatenbüfetts, Cafés und Kabarett ist jedoch nichts, wie es zunächst scheint, und dann verliebt Gretchen sich auch noch in den Falschen.  

Über Joan Weng

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Joan Weng

Die Damen vom Pariser Platz

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Motto

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Nachwort

Glossar

Danksagung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Berlin

März 1926

Für A.W. zum Geburtstag

1. Kapitel

Sie sehen bezaubernd aus! Wann sehen wir uns wieder?

So stand es in schwungvoller pinker Schrift auf einem cremeweißen Visitenkärtchen, daneben die Adresse: Helen Bross – Schönheitsbehandlungen aller Arten, Pariser Platz 13, Berlin. Und darunter ein Feldchen, in welches jemand Montag, 7:30, 22. März geschmiert hatte. Montag, der 22. März, das Verheißungsdatum.

Wie hatte Gretchen erst die Tage, schließlich im Zug dann Stunden und Minuten, bis zu diesem Tag gezählt.

Und je näher die dampfende Lok Berlin kam, desto heller war es draußen geworden – das war Gretchen sehr sinnbildlich erschienen, nur jetzt, jetzt war sie zu früh.

In ihren gebraucht gekauften, leider deutlich zu großen Schnallenschuhen stand sie nun hier, vor der prächtigen Jahrhundertwendefassade des Pariser Platz 13 und war zu früh. Ein trotz aller Schnörkel sehr dickes Gitter versperrte die Tür. Gretchen bemühte sich, dies nicht auch sehr sinnbildlich zu finden.

Eine zittrige Sorge begann in ihr aufzusteigen.

Bestimmt war die Stelle längst vergeben, man hatte nur vergessen, es ihr zu sagen! Gretchen gehörte zu den Menschen, die von anderen gerne vergessen wurden.

Wenn sie sich denn die Mühe machten, sie überhaupt zu bemerken.

»Verzeihung, Fräuleinchen. Ich habe Sie nicht gesehen.« Ein einäugiger Straßenkehrer mit Brandnarben auf Hals und Wangen machte eine entschuldigende Geste mit seinem Reisigbesen, fegte aber weiterhin seinen Kehricht in Gretchens Richtung – vermutlich hatte selbst er ihre Anwesenheit schon wieder vergessen?

Ein gleichmäßiges, schabendes Geräusch, seltsam still lag Berlin im kühlen Morgenlicht. Ein Dienstmädchen in dicken Strümpfen und einem abgetragenen Gummipaletot eilte gesenkten Blicks vorbei, auf der Straße zockelte ein Milchmann müde mit seinem leeren Wagen, der breithufige Gaul schien im Gehen eingenickt. Zwei Männer in identischen schwarzen Ledermänteln und derben Schnürstiefeln wechselten ein paar grüßende Worte mit einem Schutzmann.

Der lachte und zündete sich eine Zigarette an.

Ein mächtiger roter Kater beäugte Gretchen im Heranschlendern, sprang dann auf das Treppengeländer neben ihr, von dort ohne größere Mühe auf einen Sims im ersten Stock.

Da blieb er sitzen und miaute zweimal.

Er klang beleidigt, auf eine missgelaunte Weise fordernd, und das Fenster wurde auch fast umgehend geöffnet. Eine glückliche Stimme rief: »Mein Liebling! Da bist du ja, du süßer Rumtreiber. Hast du Hunger? Bestimmt hast du Hunger! Komm nur rein, mon petit!«

Kaffeeduft begleitete die Worte und Gretchen spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenkrampfte. Seit dem Butterbrot im Zug hatte sie nichts mehr gegessen. Das war aber auch besser so, Essen machte nur dick, und dick sein, das war von vorgestern. Obwohl, die Kaiserin Kleopatra – erwiesenermaßen von vorvorgestern – war ja auch schlank gewesen. Gretchen unterdrückte einen Seufzer.

Über ihr klagte indessen eine verschlafen klingende Männerstimme: »Wenn sich das Vieh nach drei verbummelten Nächten heimbequemt, heißt es: Oh, mon petit! Hast du Hunger, mein Schnauzbärtchen? Und wenn ich einmal zehn Minuten nach Sperrstunde …«

Das Fenster knallte zu, die Morgenluft war den Katzenbesitzern sicher noch zu kalt, auch Gretchen trat fröstelnd von einem Fuß auf den anderen.

Inzwischen war sie nicht mehr zu früh, ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie inzwischen vielmehr zu spät war. Doch die kettengesicherte Tür war noch immer verschlossen. Was sollte sie nur tun? Sie konnte doch jetzt nicht einfach unverrichteter Dinge wieder gehen?

Was sollte sie dann Henni sagen? Henni, ihrer besten Freundin, der sie die Stelle, die mögliche Stelle, überhaupt erst verdankte. Hilfe suchend sah Gretchen sich um, vielleicht gab es einen Hintereingang? Den gab es sogar mit Sicherheit, nur konnte sie den nicht finden, den hatte sie schon vor zwanzig Minuten nicht gefunden. Und was hätte ihr der auch bringen sollen? Der war ja bestimmt auch zu.

Ratlos blickte Gretchen ihr Spiegelbild in der großen Fensterfront neben der verschlossenen Tür an. Rosa und weiße Schiebevorhänge verbargen das Innere vor neugierigen Augen. Das Dahinter, das war das Reich der Madame Bross, Berlins größter und vermutlich exklusivster Schönheitssalon.

Eintritt nur für Damen!, erklärte ein diskretes Schild, es waren dieselben pinken Buchstaben wie auf dem Visitenkärtchen, das Henni Gretchen geschickt hatte. Ganz bestimmt war die Stellung schon vergeben – jedes junge Mädchen der Republik hätte doch beide Seidenstrumpfbeine dafür gegeben, hier in diesem Tempel der ewigen Jugend arbeiten zu dürfen. Und doch hatte Henni ihr am Freitag geschrieben, sie habe ihr diese Position verschafft, nur schnell müsse Gretchen sein. Wahrscheinlich war sie aber eben nicht schnell genug gewesen?

Um was für eine Position es sich handelte, das hatte Henni zu erwähnen vergessen, das musste nichts heißen, so war ihre beste Freundin eben. Oh, ganz bestimmt hatte Henni in ihrer Wirrköpfigkeit ein falsches Datum notiert und nun war die Chance vertan.

In diesem Moment kam ein junges Dienstmädchen um die Ecke, die Haare unter einem roten Kopftuch verborgen und einen Eimer voll schwappenden Wassers in der Hand. Es musterte Gretchen mit einem halb abschätzigen, halb desinteressierten Blick und begann ohne weitere Umschweife, die riesige Fensterfront des Salons mit verdünntem Essig zu putzen.

Gretchen schluckte trocken, nahm all ihren Mut zusammen und dann sagte sie: »Verzeihung, ich habe einen Termin bei Fräulein Bross. Vielleicht können Sie mir helfen?«

»Ihre Nase glänzt! Bitte mattieren Sie sich.« Das Empfangsfräulein streckte ihr eine kleine Elfenbeindose und eine Puderquaste entgegen. »Bevor ich Sie zu Madame Bross führe, möchte ich Ihnen ein paar grundsätzliche Benimmregeln näherbringen. Madame Bross ist eine Künstlerin ihres Fachs und als solche sehr sensibel.«

Gretchen nickte und bemühte sich um einen verständigen, abgeklärten Gesichtsausdruck – in Wahrheit jedoch klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Es war nicht nur die Aussicht, jeden Moment der legendären Madame Bross, der Eisgöttin Berlins, vorgestellt zu werden, es war die ganze Umgebung des Schönheitssalons. All der auf Hochglanz polierte Marmor, all das verschnörkelte Messing. Dazu der seltsame, nahezu betäubende Geruch nach Rosenöl, aber da verbarg sich noch etwas. Etwas verwesend Süßliches, eine Spur von Formalin?

Und die Empfangsdame erst, schön wie aus einem Magazin, eine Haut wie Milch und lackschwarz glänzendes, eng an den Kopf frisiertes Haar. »Zuallererst«, fuhr das schneewittchenhafte Geschöpf fort, »zuallererst mattieren Sie Ihre Nase. Der Anblick von Fettglanz ist Madame Bross unerträglich. Außerdem kehren Sie Madame niemals den Rücken zu und sprechen nur, wenn Sie gefragt werden. Sie selbst stellen keine Fragen und eines noch: Erwähnen Sie niemals Elizabeth Arden. Unter keinen Umständen, haben wir uns verstanden?«

Gretchen trug eine dicke Schicht Puder auf und nickte. Beinahe hätte sie die Hacken zusammengeschlagen und mit einem schneidigen Jawohl! geantwortet.

»Gut, dann nehmen Sie dort Platz.« Mit ihrem schönen weißen Finger deutete Schneewittchen auf einen pink bespannten Seidensessel, nickte einem hinter den Tresen getretenen Fräulein zu und gab dann einem Boy in Uniform das Zeichen, die Eingangstür zu öffnen.

Gretchen setzte sich indessen. Der Stuhl war sehr unbequem und hart, aber besser als stehen war es allemal. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, was das für eine geheimnisvolle Stelle war, für die die große Madame Bross jemanden suchte? Ausdrücklich jemanden vom Land.

Sie spürte, wie ihre frisch gestärkte Bluse unter den Armen begann, klamm zu werden. Da war er wieder, der hässliche Gedanke: Was, wenn sie die Stellung nicht bekam? Und sie wieder zurück musste? Zurück zu dem Gerede der Leute? Zurück in das miefige Schreibbüro, vier Tippfräulein, Rücken an Rücken?

Nein, ganz sicher nicht!

Fehlerfrei tippen, das konnte Gretchen. Beim Gedanken an all die Rechnungen für Sporttrikotagen, Zahnbehandlungen oder Dachziegel, die sie im letzten halben Jahr in die Maschine gehackt hatte, da wurde ihr ganz schwindelig. Nicht ein einziges Mal hatte sich ein Kunde beschwert, da war sie eine absolute Ausnahme im Schreibbüro gewesen.

Als sie Herrn Dr. Sonnentau erklärte, das Tippen sei wie eine lateinische Übersetzung, man müsse sich voll und ganz darauf konzentrieren, dann gehe es wie von selbst, da hatte er sogar Interesse für die lateinische Sprache geheuchelt. Ne, also dahin ging sie ganz sicher nie wieder zurück!

Der Telefonapparat auf dem Tresen summte in einem fort, aber obwohl das Fräulein direkt daneben saß, nahm es nicht ab. Es arrangierte einen Strauß pinker und weißer Rosen und auch es selbst war ganz in Pink und Weiß. Obwohl es schöner als manches Mannequin war, wirkte es doch so farblich abgestimmt fast ein wenig unscheinbar – vermutlich, damit die Kundinnen nicht gleich eingeschüchtert wurden?

Über der Farblichabgestimmten hing eine Uhr, aber nur mit Zeigern, ohne Zahlen, die musste man sich denken. Ob das billiger gewesen war?

Auf dem Marmortischchen vor Gretchen lag ein in rosa Leder geschlagenes, dünnes Buch: Die Helen Bross Methode. Das hätte Gretchen eigentlich gerne angesehen, aber leider war sie ziemlich kurzsichtig und ihre Brille würde sie hier, in diesem Schönheitstempel, bestimmt nicht aufsetzen. Das auf der ersten cremeweißen Seite prunkende Versprechen, das war allerdings groß genug gesetzt, das konnte sie auch so lesen: Schönheit ist machbar! Auch für Sie!, und daneben die Fotografie einer Frau – eine so aberwitzig schöne Blondine, Gretchen glaubte erst, das Bild irgendeiner Filmschauspielerin zu betrachten.

Mit Filmen kannte sie sich nicht besonders gut aus, was offen gestanden ziemlich peinlich war für ein Mädchen von heute. Sie war auch keine gute Tänzerin, was glücklicherweise bisher noch niemand gemerkt hatte, weil unglücklicherweise bisher noch niemand sie zum Schwofen hatte ausführen wollen. Peinlich, peinlich, peinlich.

Viel ausgemacht hatte ihr das bisher nicht, warum auch? Bis zu jenem Schicksalstag im Dezember vergangenen Jahres, da war ihr das alles ganz egal gewesen.

Der Würfel war geworfen worden und er war vom Tisch gefallen.

Selbst die Dame auf der Fotografie schien sie unter ihren schweren Wimpern hervor missbilligend anzublicken. Es war im Übrigen keine Schauspielerin, sondern Helen Bross, die Inhaberin des Helen Bross’ Salons, das stand nämlich unter dem Bild – dankenswerterweise sehr groß geschrieben.

Und dann stand da noch etwas, eine 47, eingerahmt in kleine Klammern, die sahen seltsam kokett aus, diese Klämmerchen um die 47. Was wollte die 47 einem sagen? Das Alter konnte es nicht sein, die Dame auf dem Bild war bestimmt höchstens 25.

Ob es eine alte Aufnahme war – die Statuen des Kaisers Augustus hatten ihn ja auch bis ins hohe Alter als jungen Mann gezeigt? Gretchen schüttelte sich, aber nur innerlich.

Das musste aufhören, niemand fand junge Frauen attraktiv, die ständig Vergleiche zur antiken Geschichte zogen. Und Attraktivität war doch schließlich das, worauf es ankam! Schönheit war machbar – auch für Gretchen!

Das farblich abgestimmte Fräulein hielt Kaiser Nero vermutlich für einen entfernten Verwandten des abgedankten Wilhelm II., und Kleopatra war für die nur eine Operette. Oder eine Pflegebehandlung – die bot der Salon dem rosa Buch zufolge nämlich an. Bad in frischer Ziegenmilch, eine Wohltat für die nervöse Haut der Großstädterin.

Hände 25 Pfennig, Hände und Füße 45 Pfennig, Ganzkörper 100 Pfennig. Preise waren das! Oder waren das am Ende gar keine Pfennig, sondern Mark? Hoffentlich durfte man die Milch wenigstens hinterher trinken.

Auf der Straße hielt ein Automobil, und schon sprang der uniformierte Boy heran, öffnete die Wagentür, half der Fahrerin beim Aussteigen, führte sie in den Salon. Die hereinkommende Blondine trug ein pfirsichfarbenes Jerseykleid und mit eleganter Lässigkeit einen grauen Fuchs über der Schulter.

»Frau Baronin von Withmansthal! Welche Freude! Hatten Sie eine angenehme Reise?«, begrüßte das Empfangsfräulein, woraufhin die Dame sehr tief seufzte: »Nein, es war ganz grauenhaft. Ich bin vollkommen erschöpft. Ich werde Wochen, wenn nicht Monate brauchen, um mich von den Strapazen zu erholen. Dieses ganze Kairo wimmelt nur so von Ägyptern!«

Die Dame schauderte angewidert, und das Empfangsfräulein nickte verständnisvoll, riet dann: »Fräulein Louisa wird Ihnen bestimmt helfen können. Ich werde schon einmal die Kamillenkompresse bereiten lassen. Terry, führe die Baronin doch solange bitte schon einmal in die Nummer eins.«

Einen Moment lang öffnete sich die Tür mit dem Schild: Behandlungsräume. Zutritt nur nach Aufforderung! Das Plätschern von Wasser war zu hören, dann schloss sich die Tür abermals mit einem satten Schmatzen.

Das war also die Baronin von Withmansthal? Gretchen schüttelte innerlich den Kopf, das passte gar nicht!

Den Baron Otto von Withmansthal, den kannte Gretchen nämlich dem Namen nach, der schrieb für Klio – Beiträge zur Alten Geschichte und seine Rezensionen waren stets gleichermaßen geistreich wie spitzzüngig amüsant. Dass dieser ganz offensichtlich umfassend gebildete Mensch mit so einem Magazinblondchen verheiratet sein sollte?

Das farblich passende Fräulein schien weit von derartigen Überlegungen entfernt, es flüsterte in seinen Telefonapparat, dann aber, vielleicht nach einer Viertelstunde, stand es plötzlich, ohne weiter ersichtlichen Grund, auf. »Madame Bross erwartet Sie.«

Und begleitete diese Worte mit dem abermaligen Hinstrecken einer Puderdose.

Der schmale, dämmrige Flur roch nach Seife, Tabakqualm und einer Vielzahl von Parfüms. Zwei stark geschminkte Fräulein in cremeweißen, pink gesäumten Krankenschwesterkitteln lümmelten undamenhaft an die Wand gelehnt, teilten sich eine Zigarette und begafften Gretchen neugierig – zumindest kam es Gretchen so vor, ohne Brille sah sie in dem schlecht beleuchteten, fensterlosen Gang bedauerlich wenig. Ein weiteres Fräulein, mit unnatürlich rot leuchtendem Haar, hockte auf einem Stapel Holzkisten, wedelte hektisch seine frisch lackierten Hände durch die Luft. »Dat is wohl die hoffnungsvolle Spezialkraft? Die wievielte? Sollen wir wetten? Ick sag, in fünf Minuten is se wieder raus.« Dabei tat sie, als halte sie Gretchen für taub. Die anderen schienen diese Annahme zu teilen, jedenfalls kicherten sie gleichermaßen ungeniert.

Und mit diesem boshaften Geräusch im Ohr trat Gretchen nach raschem Klopfen in das Zimmer mit der Aufschrift: Privat.

Modische Leere umfing sie – in Pink und Cremeweiß, natürlich. Auf dem Boden lag ein hochfloriger, offensichtlich gerade frisch aufgebürsteter Teppich und das war eigentlich auch das einzige irgendwie Weiche im ganzen Raum, sonst nur Stahl, Glas und klare Linien. An Wand und Decke ein überraschend eckiges Jugendstilornament und selbst die zwischen den Fenstern stehende Dame schien mit ihren überlangen Gliedern der Laune eines Fin-de-Siècle-Künstlers entsprungen. Das war die Dame von der Fotografie, das war Helen Bross.

»Madame, die Spezialkraft«, erklärte der Boy und Helen Bross nickte, eine Bewegung, die sie enorme Kraft und Überwindung zu kosten schien. »Parfait«, sagte sie und auch ihre Stimme klang seltsam träge, ein bisschen, als wäre sie eben erst aus dem Schlaf gerissen worden. Der Boy verschwand, zumindest hörte Gretchen hinter sich das Klicken einer sich schließenden Tür. Was kam jetzt? Sollte sie ihre Zeugnisse vorzeigen?

Hoffentlich nicht, oder hoffentlich sah man nicht zu genau hin, denn das letzte, das nach dem Reifezeugnis und dem Abschluss des Sekretärinnenkurses, das vom Schreibbüro Dr. Sonnentaus, das fehlte nämlich.

»Sie sind also Tippfräulein?«, stellte plötzlich eine andere, deutlich kräftigere Stimme fest. Gretchen drehte sich um, neben der Tür stand noch eine Dame, sehr elegant, lilienschmal unter einem riesenhaften, azurblau abgesetzten Chinchillapelz und mit einem gleichfalls azurblauen, dicht verschleierten Hütchen. Auf dem Arm trug sie einen winzigen, ziemlich haarlosen Hund mit einem Seidenhalsband, azurblau, was auch sonst? Ein bisschen ermüdend war dieses ewige farbliche Einerlei ja schon.

»Bestimmt können Sie fehlerfrei tippen, Sie sehen zumindest so aus«, stellte die Verschleierte fest und es klang mehr nach Beleidigung denn Anerkennung.

Gretchen nickte, und die Dame nickte auch.

»Was unterscheidet Sie von den Hunderten von Tippfräulein dieser grässlichen Stadt? Können Sie irgendetwas? Jonglieren? Maultrommel spielen?«

»Latein!«, platzte es aus Gretchen heraus und seltsamerweise wusste sie sofort, dass das die richtige Antwort war. »Ich kann Latein und Altgriechisch. Außerdem leidlich Hebräisch. Mein Vater war Lehrer für alte Sprachen.«

»Latein?« Die verschleierte Dame klopfte sich eine Zigarette in eine überlange Spitze, wandte sich an Madame Bross. »Hast du schon einmal jemanden getroffen, der Latein konnte?«

Die Eisgöttin schüttelte matt den Kopf und mit einem Gesichtsausdruck, als wagte sie nach langem Zögern einen Kopfsprung vom Dreimeterbrett, ergänzte sie: »Ich hatte einmal einen Tischherren, der kam aus Rom. Grauenhaft langweiliger Mensch. Es war auch noch auf der Überfahrt nach Neu-York. Ich habe es keine zwei Abende ausgehalten, ich habe nur noch in meiner Kabine diniert.«

Die verschleierte Dame lachte auf kehlige Weise und stellte dann fest: »Also Latein, das finde ich wirklich ganz reizend. Das ist so … so … nostalgisch.«

Das haarlose Hündchen kläffte zustimmend und Gretchen senkte den Blick in Richtung Marmorboden und Schuhe aus zweiter Hand. Sie wusste nicht recht, ob sie sich verspottet fühlen sollte. Die verschleierte Dame fuhr indessen nachdenklich fort: »Peter kann Latein. Und Altgriechisch.«

»Peter kann auch Chinesisch und Mandarin, wenn es nach ihm geht.« Ungeduldig schnipste Madame Bross mit den Fingern, ergänzte in genervtem Ton: »Und ein begnadeter Musiker ist er obendrein. Spielt Grammophon wie ein junger Gott!«

»Nein, im Ernst. Er kann Latein. Er hat doch Abitur. Das stimmt wirklich, ich habe sein Zeugnis gesehen.« Seltsam heftig stieß die Verschleierte diese Worte hervor. Es schien ihr viel an den Sprachkenntnissen jenes Mannes zu liegen, doch Madame Bross reagierte nur mit einer spöttisch gehobenen Augenbraue, worauf die Verschleierte sich abermals an Gretchen wandte: »Warum möchten Sie nach Berlin? Sie sind doch nicht aus Berlin, oder?« Und nachdem sie dies durch Nicken bejaht hatte, forschte die Dame weiter: »Was ist Ihr großer Traum? Möchten Sie zum Film?«

Später sollte Gretchen oft denken, dass alles ganz anders gekommen wäre, ihr ganzes Leben sich anders entwickelt hätte, hätte sie in diesem Moment gelogen. Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, bei derartigen Fragen zu lügen. Schließlich wollte sie endlich sein wie alle anderen, endlich einmal dazugehören. Sie wollte nicht länger das komische Gretchen sein – von den anderen Mädchen im Schreibbüro als eingebildet gemieden, von den jungen Männern der Kleinstadt als vertrocknete Jungfer, als Hosenweib belächelt. Sie wollte nicht länger das Gretchen sein, das samstagabends ihren kranken Großvater pflegte und nicht an die Erbschaft zu denken wagte – die Erbschaft, die dann auch nie kam.

Und sie hatte den Mund schon geöffnet, um Begeisterung für Kintopp, Conrad Veidt, den Bäumer und die ganze Bande zu heucheln, aber dann hörte sie sich sagen: »Nein, ich mach mir nichts aus Kino. Ich möchte Geld sparen und dann studieren. Latein und Altgriechisch.«

Der Rubikon war überschritten, aber Gretchen hatte es nicht gemerkt, denn die noch immer namenlose Dame mit dem verschleierten Gesicht nickte nur knapp. Es wäre Gretchen selbst mit Brille nicht möglich gewesen zu sehen, ob ihr diese Antwort gefiel, doch plötzlich sagte sie: »Wenn Sie Mumm haben und einen feuchten Furz auf die Meinung der guten Gesellschaft geben, dann kommen Sie morgen, Schlag elf ins Kempinski und bringen Sie Ihre Schreibmaschine mit. Ich zahle den üblichen Anschlagssatz, plus wöchentlich eine Mark Verpflegungszuschuss. Aber sagen Sie später nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

Nun war es an Gretchen zu nicken, ganz langsam und bedächtig. Bekam sie die Stelle? Einfach so? Das konnte doch nicht alles gewesen sein? Wo blieb beispielsweise das Testdiktat? Wo die Zeugnisprüfung? Und wofür sollte sie Mumm brauchen? Vor was sollte sie gewarnt worden sein?

Plötzlich, und das einfach so, hatte sie eine Stelle in Berlin – und nicht in irgendeinem muffigen Schreibbüro mit grabschendem Chef und Blick auf einen Friedhof. Ganz egal, was sie für diese seltsame Dame tippen sollte, es konnte schlicht nicht langweiliger sein, als die Rechnungen über Goldkronen des Dentisten aus der Blücherstraße. Und besser bezahlt war es obendrein. Vor Aufregung und Freude begann Gretchens Herz wie wild zu klopfen und die Hitze stieg ihr in die Wangen – bestimmt glänzte sie trotz des Puders schon wieder. Ganz schnell wollte sie nun gehen, nicht, dass die verschleierte Dame es sich am Ende noch anders überlegte. Nur musste sie aufpassen, beim Verlassen des Zimmers nicht in den zu weiten Schuhen zu stolpern und der Länge nach hinzuschlagen. Und der Eisgöttin nicht den Rücken zuzukehren, nicht vergessen!

Sie hatte die Stelle! Eine Stelle in Berlin!

Doch gerade, als sie die Tür öffnen wollte, hörte sie die rauchige Stimme der verschleierten Dame erneut: »Eines noch.«

Was denn noch? Sie hatte ihr doch zugesagt! Hatte Gretchens Haut womöglich so geglänzt, dass die Freundin der Madame, von Ekel erfüllt, jetzt doch lieber jemand anderes wollte?

Gretchen drehte sich zögernd um, und dann sah sie es.

»Ich hab ein kleines Schönheitsgeheimnis, wie alle Damen vom Pariser Platz.«

Gretchen musste nach Luft japsen, ein Gefühl wie eine Ohrfeige, heftig und unerwartet.

Die Dame hatte den Schleier zurückgeschlagen. Die linke Hälfte des Gesichts war vollkommen von Brandnarben entstellt, die olivfarbene Haut wie geschmolzen, doch die rechte Hälfte, wie zum Hohn, fast schon überirdisch schön. Angesichts Gretchens Schreckens kräuselte ein hämisches Lachen die vollen, scharlachrot geschminkten Lippen und mit dunkler Stimme sagte die Dame: »Hüten Sie sich vor den Männern, Kindchen. Hüten Sie sich.«

2. Kapitel

»Das war Isis, die Königin des Nils. Sie ist die Sensation der Saison. Was für ein unverschämtes Topglück du hast! Für die würde ich sogar umsonst tippen, wenn ich nur tippen könnte. Die hat Beziehungen und kennt nur die feinsten Leute. Und ins Kempinski? Da hat die bestimmt keine Rumpelkammer gemietet.«

Henni seufzte tief und voller Selbstmitleid. Und dann gleich noch einmal angesichts der langen Schlange vor dem vollkommen überfüllten Automatenbüfett am Leipziger Platz. Besonders vor den Glaskästen mit Backwaren vom Vortag und Schrippen zweiter Wahl schien großes Gedränge, die Schlange der Hungrigen reichte bis weit auf die Straße. Handwerker in sommerlichen Hemdsärmeln und mit unternehmungslustig in den Nacken geschobenen Hüten standen neben solchen in fettglänzenden Lederjacken und warteten geduldig, musterten mit zufriedenem Kennerblick über ihre Stumpen und Selbstgedrehten hinweg die Kniekehlen der Ladenmädchen. Niedrige Angestellte und kleine Beamte in ihren vom Unterfüttern schon etwas kurz gewordenen, mit Ellenbogenschonern besetzten Mänteln hielten würdevoll Abstand, fühlten sich der gierigen Menge offensichtlich überlegen – zumindest intellektuell, wenn schon nicht pekuniär.

Gretchen wollte sich gerade klaglos hinten einreihen, da zog die Freundin sie vorbei, vorbei an den aus dem Fenster verkauften Kartoffelpuffern und an den sich bereits in Position boxenden Elendshorden vor der Bäckerei Frech – Mit gültigem Kriegsversehrtennachweis 10 Prozent auf sämtliche Backwaren! Wochentags ab 14 Uhr! Familien bevorzugt.

»Wo gehen wir denn hin?«, erkundigte Gretchen sich etwas atemlos und angesichts ihres stolzen Vermögens von fünfzig Mark auch leicht furchtsam. »Ich hab eigentlich gar keinen Hunger«, log sie. »Ich brauch kein Mittagessen.«

»Dummes Gänschen!«, kommentierte Henni, wobei sie mit weitausholenden, selbstsicheren Schritten voranstöckelte. Sie schien seit ihrem letzten Treffen nicht nur fünf Kilo leichter, sie wirkte auch größer. Und blonder! Und wie elegant die Freundin war, ganz in Gehwolf und Seidenrock, auf den ersten Blick hatte Gretchen sie gar nicht erkannt. In ihren Briefen hatte Henni nie geschrieben, was sie eigentlich in Berlin arbeitete – ihre Stellung als Dienstmädchen bei diesem Fabrikbesitzer, die hatte sie schon nach zwei Wochen hingeschmissen. Wenn Gretchen sie jetzt so sah, konnte sie sich auch gar nicht mehr vorstellen, dass Henni jemals mit Staubwedel und Wischtuch zugange gewesen sein sollte. Vielmehr sah sie aus, als hätte sie selbst ein Dienstmädchen oder auch zwei.

»Wir lunchen selbstverständlich«, erklärte Henni und während Gretchen noch das Wort »lunchen« bewunderte, fuhr die Freundin schon fort: »Mach dir bitte keine Gedanken, du bist natürlich eingeladen.«

»Danke, aber das ist nicht nötig«, stammelte Gretchen und für einen Moment fühlte sie sich ihrer alten Kindheitsfreundin seltsam fremd. Aber das waren nur die plötzlich so zauberhaft blonden Haare und das schöne, magere Gesicht mit den Schatten, wo einst runde Wangen gewesen waren. »Ich kann wirklich gut selbst zahlen, ich hab ja Arbeit und ein bisschen Gespartes. Es ist nur, weil ich doch noch ein Zimmer in einer Pension nehmen und …«

Gretchen verstummte mitten im Satz. Sie standen vor der imposanten Jahrhundertwendefassade Wertheims.

Rechter Hand zeugte ein riesiges Baugerüst von der für die nächsten Jahre geplanten Erweiterung des Großkaufhauses – wie man selbst in der Provinz wusste, abermals nach Entwürfen des berühmten Architekturprofessors Alfred Messel, einem engen Freund der Wertheims. Im prächtigen, fünf Stockwerke hohen Gebäude ging der Verkaufsbetrieb indessen ungehindert weiter.

Rechts wie links über dem Haupteingang prangten vier Meter hohe Schilder. In auf gelbem Grund leuchtenden Rot riet das eine: Besuchen Sie unsere Konfitüreabteilung! Noch nie war Naschen so günstig!, während das andere Extrapreise auf Sportartikel! versprach.

Die Schaufenster der steinernen Vorhalle jedoch standen aktuell ganz im Zeichen der Sonderwaren. Da gab es ein Fenster mit einer einzelnen, vor weißem Seidenstoff ruhenden japanischen Lackvase, direkt daneben flimmerten dem Betrachter vor lauter kleinen, bunten Blumen bald die Augen – die Libertyabteilung. Wieder ein Fenster weiter gab man sich mit Eichenholzvertäfelung und großkarierten Stoffbahnen ganz bieder – die Volkskunstabteilung.

Stundenlang hätte Gretchen die Schaufenster betrachten können, doch Henni zog sie weiter. Schon standen sie unter dem gläsernen Kuppeldach der Empfangshalle, fast direkt vor dem Sockel der überlebensgroßen Statue einer Einkäuferin. Das Schnattern von Kundinnen, Ladenfräulein und Verkäufern, das Klappern von dezent verborgenen Kassen, das Trommeln tausender Füße überwältigte Gretchen ebenso wie die Unzahl an angebotenen Dingen, an Gerüchen, an Farben. Dass es so etwas gab!

»Wir gehen in die Fruchtkonditorei! Wir werden erwartet«, bestimmte Henni und zog sie in Richtung eines Schildes mit der Aufschrift »Reisebüro«.

Wen würden sie denn treffen? Und was mochte ein Reisebüro nur sein? Gretchen kam nicht dazu, darüber nachzudenken, schon war sie in einem in Nussbaumholz gehaltenen Lichthof voller seidig glänzender Orientteppiche und wurde von der Freundin dann an einem Springbrunnen vorbeibugsiert.

Wie köstlich es hier überall roch! Ganz Berlin schien zu duften: Nach neuen Kleidern, nach fabrikneuen Stoffen, nach französischen Parfums und englischen Rasierwässern, nach auf Hochglanz poliertem Leder und feiner Seide, nach Möbelwachs und kandiertem Zucker, nach Reichtum und sorglos flanierten Stunden. Sie liebte Berlin jetzt schon.

»Da wären wir«, bemerkte Henni plötzlich und führte Gretchen an einem freundlich lächelnden Portier vorbei – überhaupt lächelten hier alle, zumindest die vom Personal. So konnte man sie ganz gut von den ernsten Kundinnen unterscheiden.

»Such dir aus, was du möchtest. Du bist wie gesagt eingeladen.« Mit diesen lässig über die Schulter gesprochenen Worten führte Henni sie an den eleganten, in rotes Kirschholz gefassten Glasschaukästen vorbei. Erneut begann Gretchens Herz vor Aufregung rasch zu schlagen – es war, als wäre sie unverhofft in eine ihrer Phantasien aus den Hungerwintern gestolpert.

Hier gab es wirklich alles: kandierte Orangen, Äpfel, Birnen, gelierten Ingwer, Ananas in Likör und trotz des noch jungen Jahres Erdbeeren – mit Vanilleeis, in Zucker, im Brandteig oder auch ganz schlicht mit Schlagrahm. Für den verwöhnten Gaumen gab es mexikanische Chilis im weißen oder schwarzen Schokoladenmantel und für Eilige einen messingglänzenden Automaten, an dem man sich für 10 Pfennig selbst ein Tütchen mit Rosinen oder Datteln befüllen konnte.

»Das Paradies der Damen«, flüsterte Gretchen leise und musste trotz all der herrlichen Großartigkeit um sich herum plötzlich mit einem kleinen Sehnsuchtsschmerz an die Bibliothek ihres Vaters denken. Émile Zolas Das Paradies der Damen, Dumas Musketiere oder eben Mommsens Werke – wie viele glückliche, trostvolle Stunden sie dort verlesen hatte. Fast vermisste sie schon die gelehrige Stille, den Geruch nach Papier, Staub und Tinte. Sie schüttelte sich entschieden. Das würde nun ganz anders werden. Schluss mit dem Langweilertum!

Und ganz im Sinne ihrer neuen Abenteuerlust bestellte sie bei dem Fräulein an der Kuchentheke nicht ihren geliebten Erdbeerkuchen, obwohl der wirklich gut aussah. Nein, für das neue Gretchen sollte es Tarte au Citron sein, mindestens.

»Hier wird natürlich serviert«, belehrte Henni sie und führte sie durch den vollen Raum an einen Tisch direkt an der den Leipziger Platz überblickenden Fensterfront. An diesem aber saßen schon zwei junge Herren, die sich nun erhoben, und erst jetzt fiel Gretchen wieder ein, dass Henni ja gesagt hatte, man würde sie erwarten. Der eine war eher wenig eindrucksvoll, sommersprossig, braunlockig, im abgewetzten Pullunder unter dem gleichfalls nicht neuen Sakko.

Aber der andere!

Gretchens Herz setze einen Moment aus.

Dunkelblond und überschlank, mit fiebrig glänzenden, fast schwarzen Augen und schmalen, langgliedrigen Händen, die er ihr nun entgegenstreckte. »Da kommen Sie also endlich! Wenn Sie auch nur ahnten, wie viel Henni uns schon von Ihnen erzählt hat. Selbstverständlich nur das Bezauberndste! Regelrecht den Mund wässrig hat sie uns gemacht. Ich habe die Stunden gezählt!«

»Fred scherzt«, wandte Henni ein, die nicht recht zu wissen schien, ob sie stolz auf ihren Bekannten sein sollte oder ein bisschen pikiert ob dessen melodramatischen Überschwangs.

»Nein, Henni Darling. Ich scherze nicht! Ich scherze nur bei ernsten Themen, und schöne Frauen sind doch eher ein bisschen albern.« Er legte seine blasse Stirn in kunstvolle, ganz gerade Falten und verneigte sich dann mit vollendeter Eleganz. »Ich darf uns vorstellen? Das ist mein bester Freund, und ich gebe es offen zu, mein großzügigster Mäzen und Förderer: Stoffel. Sein Nachname ist absolut unaussprechlich und tut nichts zu Sache, wenn Ihnen sein Herr Papa auch bestimmt aus dem politischen Teil der Tageszeitung bekannt wäre. Und mein Name wird Ihnen wohl noch nie begegnet sein, aber ich bin wild entschlossen, dass Sie ihn bald kennen. Sie und die ganze Republik. Frédéric George, zu Ihren Diensten.«

Die letzten Worte begleitete er mit einem spöttischen in den Nacken Werfen seines Haarschopfs, so dass Gretchen nicht sagen konnte, ob er scherzte oder im Ernst sprach.

»Freunde sagen einfach Fred zu mir. Und wir werden doch bestimmt gute Freunde.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und Gretchen nickte, stumm und hingerissen.

»Ganz bestimmt werdet ihr das. Es wäre doch ein Jammer, wenn sich mein Bräutigam und meine Brautjungfer nicht verstünden.« Und mit diesen Worten setzte sich Henni auf den ihr von Stoffel zurecht gerückten Stuhl, begann mit kleinen, manierlichen Bissen ihren Kuchen zu essen.

»Oh, dann ganz, ganz herzlichen Glückwunsch zur Verlobung. Ich wusste ja gar nicht …«, stammelte Gretchen und würgte ihre Enttäuschung mit einem Stück trockenen Kuchens runter. Was war sie doch für eine dumme Gans! Und entschlossen ergänzte sie: »Ich freue mich sehr für euch!«

»Ach, das ist doch ein alter Hut.« Fred winkte gelangweilt ab. »Zumal Sie mich ja überhaupt nicht kennen, und ich kann Ihnen versichern, ich bin der Alptraum jeder Schwiegermutter. Ich habe Henni angefleht, sie möge Stoffel heiraten.«