Die Deutschen schreien - Florian Coulmas - E-Book

Die Deutschen schreien E-Book

Florian Coulmas

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Beschreibung

Nach zwanzig Jahren in Japan kehrt der Kulturwissenschaftler Florian Coulmas nach Deutschland zurück – und ist entsetzt. In Deutschland hat sich eine ausgesprochen ruppige Form des Zusammenlebens breit gemacht. Überall trifft er auf muffige Kaltschnäuzigkeit, dreisten Grobianismus und aggressive Rechthaberei. Die Deutschen schreien. Oder sie nörgeln. Oder sie belehren. Und niemand weiß mehr sicher, was sich «schickt». Mit Charme und Schwung präsentiert der Autor seine oft umwerfend komischen Beobachtungen: Blitzlichter auf Alltagsszenen im Kindergarten, in der Schule, im Supermarkt, auf der Straße zwischen Fahrradrüpeln und Autoegomanen oder auf deutschen Ämtern. Immer wieder ergibt sich der «Papalagi-Effekt»: Der Blick von außen zeigt uns das Gewohnte im Zerrspiegel. Wir lachen – und werden nachdenklich.

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Seitenzahl: 205

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Florian Coulmas

Die Deutschen schreien

Über Florian Coulmas

Über dieses Buch

Nach zwanzig Jahren in Japan kehrt Florian Coulmas nach Deutschland zurück – und ist entsetzt.

In Deutschland hat sich eine ausgesprochen ruppige Form des Zusammenlebens breit gemacht.

Überall trifft er auf muffige Kaltschnäuzigkeit, dreisten Grobianismus und aggressive Rechthaberei.

Die Deutschen schreien. Oder sie nörgeln. Oder sie belehren. Und niemand weiß mehr sicher, was sich «schickt».

Mit Charme und Schwung präsentiert der Autor seine oft umwerfend komischen Beobachtungen:

Inhaltsübersicht

[Kapitel]UmzugOrdnung und Knie bräunenJetzt reicht’s aberKatholik oder Protestant?VertretungTitelSachlich richtigEine Woche voller SamstageGute Fahrt!Schönen Tag noch!Sayonara

Umzug

Es klingelte an der Tür. Endlich. Wir warteten schon zwei Stunden. «Kann ich mal Ihre Toilette benutzen?», fragte ein unrasierter junger Mann, als ich öffnete. «Ich soll hier abladen», fügte er belehrend hinzu, da ich nicht auf der Stelle den Weg zur Toilette freigab. Er benutzte die Toilette und verschwand wieder nach draußen. Zwei Stunden später ein Anruf: «Wir kommen gegen eins.» Es wurde eins, es wurde zwei. Gegen Viertel nach zwei stand der Lastwagen mit dem Container vor der Tür. «Punkt acht Uhr dreißig sind wir bei Ihnen», hatte es geheißen, als ich den Termin mit dem Spediteur vereinbart hatte. Willkommen in Deutschland.

Der unrasierte Toilettenbenutzer war direkt zum Einsatzort bestellt worden. Er musste aushelfen, denn zwei der übrigen vier Packer, die mit dem Lastwagen kamen, waren Invaliden. Der eine trug seinen rechten Daumen, der andere seinen linken Arm in einer Binde. Was Wunder, dass nach den ersten fünf Kisten begonnen wurde zu stöhnen. Es waren dreihundert Einheiten: Kisten, Möbel und so weiter. Dem Frachtbrief war das unschwer zu entnehmen. Woher rührten die Überraschung und der Missmut, die in ihren Gesichtern standen? Hatte sie niemand gewarnt? Waren sie neu in ihrem Job? Wie viele Arbeitslose gab es doch in Deutschland?

Während der Unrasierte und die Invaliden sich mit Kisten und Möbeln abgaben, fuhr ich mit dem Vorarbeiter zum Lager, um das Auto abzuholen, das auch im Container gestanden hatte, aber zunächst bei der Rampe im Betriebshof abgestellt worden war. Manövriert hatte es offenbar kein sehr geübter Fahrer. An der rechten Seite war das Auto weiß, wo es vorher blau war. Das zu entdecken blieb mir vorbehalten. Sieht man doch, wieso also extra darauf hinweisen? Eigentlich sollte das Auto frei Haus geliefert werden, aber dann wäre es «morgen» oder «übermorgen» geworden. Übermorgen war Freitag, also frühestens Montag. Ich war jetzt froh, dass ich es selber fuhr, nicht nur wegen Montag, auch wegen der Schramme.

Zurück beim Container, waren da gewisse Fortschritte zu konstatieren, auch Schrammen im Treppenhaus. Niemand sagte etwas davon. Saft und Wasser standen reichlich bereit. «Kein Bier?» Willkommen in Deutschland.

Der Versuch, eine Kiste mit dem kleinen Rollwägelchen über die drei Stufen ins Haus zu hieven, scheiterte. Man hörte das Geschirr scheppern. «Ist die aber schwer.» Jetzt kamen die Kisten nur noch in den Flur, nicht wie besprochen in die Zimmer nach oben und unten. Bald fünf Uhr. «Hier, können Sie mal unterschreiben?» Ich erkundigte mich nach den Schrammen im Treppenhaus und am Auto. «Ach so, hier auf der Rückseite. Setzen Sie sich am besten selber mit der Versicherung in Verbindung.»

Froh, nach acht Wochen Leben aus dem Koffer wieder im Besitz unserer Sachen zu sein, waren wir nach dieser Initiation doch etwas geknickt. Dabei hatten wir die Zeit, die zwischen unserer Ankunft und der des Umzugscontainers vergangen war, nicht vertrödelt. Mit offenen Augen und Ohren hatten wir die neue Umgebung inspiziert und begonnen, uns auf sie einzustellen. Ein Schiff von Yokohama nach Bremerhaven ist rund vier Wochen unterwegs, aber mit Verladen, Verpacken, Zollabfertigung hüben und drüben gehen doch fast zwei Monate ins Land, bis die Sachen am Zielort sind. Wir hatten die Flugreise zwar für Ferien unterbrochen, waren aber doch noch gute sechs Wochen vor dem Container angekommen. Zeit genug, um das geistige Klima kennen zu lernen, zumindest oberflächlich. Beim Nachbarn zum Beispiel, Herrn N. Alles Einfamilienhäuser in der Straße, deshalb hat man wirklich Nachbarn. Kinder im Schlepptau, ging ich auf Herrn N. zu, der damit beschäftigt war, seinen Zaun an der Straße zu streichen. Gute Gelegenheit, dachte ich.

«Guten Tag», sagte ich, «wir wollten uns vorstellen. Das sind meine beiden Kinder. Wir ziehen nebenan ein, das haben Sie sicher schon gemerkt. Ich hoffe, wenn der Möbelwagen kommt, gibt es nicht zu viel Lärm. Ich werde Ihnen vorher Bescheid sagen. Auf gute Nachbarschaft!»

«Geht in Ordnung», sagte Herr N. und wandte sich wieder seinem Farbtopf zu. Die Nachbarn auf der anderen Seite des Hauses, zwei betagte Herrschaften, waren verwundert, aber freudig überrascht, als wir in ähnlicher Absicht, wie wir Herrn N. beim Zaunstreichen störten, bei ihnen klingelten. «Dass es so etwas noch gibt!» Wie wir offenbar nicht den Erwartungen unserer Umgebung entsprachen, entsprach die in vielem nicht unseren Erwartungen.

Das ist ja gerade das Interessante beim Umziehen. Es ist eine Lektion in der Möglichkeit des Andersseins. Jeder sollte gelegentlich mal umziehen. Davon, dass das die Wirtschaft kolossal beleben würde, will ich gar nicht reden, obwohl das der Maßstab aller Dinge zu sein scheint. Aber für das zivile Verhalten und die Aufdeckung der eigenen Vorurteile ist ein Umzug Gold wert. Mühsam, gewiss, und zeitraubend ist ein Umzug. Wie viel Kraft es kostet, den Mittelpunkt seines Lebens von einem Ort an einen anderen zu verlegen, weiß nur, wer darin Übung hat. Allein ist das eine Kleinigkeit. In, nach, von Tokyo habe ich das mehrfach getan. Es geht dabei ja hauptsächlich um die Verlegung des Schreibtisches, dessen geographische Lage immer unwichtiger wird, wo man doch ständig mit allen Leuten elektronisch in Kontakt ist. Für Eltern und Kinder aber spielt das ortsfeste soziale Beziehungsnetz eine viel größere Rolle. Steht der Aufwand im Verhältnis zu der Entfernung, die man bei einem Umzug zurücklegt? Vielleicht ein wenig, aber der geographische Abstand ist sicher weniger bedeutsam als der der Gepflogenheiten, der Gewohnheiten, der Routinen. Die Erwartungen, von denen man sich im Alltag leiten lässt, werden nolens volens bewusst gemacht, und man erkennt sehr schnell, dass fast alles, was man für selbstverständlich hält, auch anders sein könnte, ohne dass es weniger selbstverständlich wäre. Bei einem Umzug kriegt man einen Kurs in praktischer Ethnologie gratis dazu.

«Was haben Sie denn erwartet?», fragte wohlmeinend, aber mein Befremden über die Erfahrungen mit der Spedition doch etwas verspottend ein Kollege. «Vielleicht, dass sie mit Glacéhandschuhen kommen? Das sind schließlich Möbelpacker!»

Die Erwartung ist, dass Leute, die den ganzen Tag Kisten schleppen, raubeinige Kerle und nicht gerade zart besaitet sind. Das kann ja gar nicht anders sein, bei dem Job. Aber meistens kann es doch anders sein. Vielleicht hatte ich Glacéhandschuhe erwartet, und das war dann sicher eine deplatzierte Erwartung. Aber, mit Glacéhandschuhen oder ohne, mussten sie denn gleich ausgemachte Grobiane sein? Das zu erwarten oder nicht zu erwarten hängt davon ab, wo man sich befindet.

 

Jetzt befand ich mich in einem Kaff am Niederrhein. Ich könnte auch sagen, und Christiane zum Beispiel würde das sehr freuen: in einem schicken Vorort einer schicken Großstadt am Niederrhein. Das entspräche durchaus der Wahrheit, subjektiv jedenfalls, aus der Sicht derer, die in diesem noblen Vorort wohnen. Also: in einem Kaff (teuren Vorort) am Niederrhein. Mit Kaff will ich nichts anderes andeuten als die Größe des Ortes. Verglichen mit Tokyo ist fast jeder Ort ein Kaff. Frankfurt am Main, ein Kaff. Frankfurt an der Oder, noch viel mehr ein Kaff. Bonn, ein Kaff. Düsseldorf, ein Kaff. In Tokyo habe ich den größeren Teil meines erwachsenen Lebens gelebt. Unsere Kinder sind dort geboren und in die Schule gegangen. Von Tokyo führte der Umzug in das Kaff (den noblen Vorort) am Niederrhein. Eine gewisse Umstellung. Aber das war so gewollt; besser ein Kaff als eine Großstadt, die eben nicht Tokyo ist. Von Tokyo macht man sich im Übrigen ganz falsche Vorstellungen, aber dazu kommen wir noch.

Einstweilen, im Kaff auf meinen Kisten sitzend, ich hätte es nie für möglich gehalten, hatte ich Sehnsucht nach Herrn Kato. Sehr innig war meine Beziehung zu Herrn Kato nicht gewesen, auch nicht sehr lang. Nur zwei- oder dreimal hatte ich ihn gesehen und ein paar Mal am Telefon gesprochen, und doch sehnte ich mich nach ihm. Herr Kato war ein Herr, ein Herr, der es verstand, mir das Vertrauen zu vermitteln, dass mein Umzug in seinen Händen genauso gut aufgehoben war, wie wenn er gar nicht stattfände, wie wenn alles zu Hause in Tokyo bliebe. Sein eigener Hausaltar lag ihm nicht mehr am Herzen. Um den Umzug zu taxieren, kam er zu unserem Haus in Shimotakaido im feinen Anzug und blütenweißen Hemd. Er schrieb alles auf, wir tranken ein Tässchen Kaffee zusammen und wurden uns handelseinig. Ein Mann von Welt. Sicher, verkaufen will jeder. Die Konjunktur war eher schleppend. Alle Spediteure, die Angebote machten, schickten ebenso wohlgesittete wie wohlgekleidete Leute. Aber Herr Kato war nicht nur die Fassade seiner Firma. Was er versprach, war Service, und den kriegten wir, erwartungsgemäß. Es war nicht das erste Mal, dass ich in Japan umzog. Jedes Mal war es so. Herr Kato war nichts Besonderes. Er verkörperte die Erwartungen, die japanische Kunden an Vertreter von Speditionsfirmen stellen.

Es ist doch etwas mehr als Kofferpacken für die Ferien und das Haus sommerfest zu machen, wenn man umzieht. Eher so etwas wie eine Herztransplantation. Da muss vieles koordiniert werden. All die Nervenbahnen, Zu- und Ableitungen, Bindegewebsansätze und was noch alles ein Herz am Schlagen hält, müssen ohne Schaden gekappt werden und auf eine Weise, dass die übrigen Funktionen des Organismus möglichst nicht beeinträchtigt werden. Alles muss im richtigen Moment geschehen. Wenn man Gas und Strom zu früh abstellen lässt, kann man nicht mehr baden. Zu spät ist auch nicht gut, denn dann muss man wieder zurück in das leere Haus, nur um darauf zu warten, dass jemand kommt und die Zähler abliest. Ohne Telefon dazusitzen ist in solchen Situationen besonders hinderlich, was allerdings heute, wo jedes Familienmitglied sein eigenes Handy hat, nicht mehr so bedrohlich ist. In Tokyo kann man Handys mit einem Kontingent vorausbezahlter Einheiten kaufen. Dazu braucht man nicht polizeilich gemeldet zu sein und nicht einmal eine Adresse zu haben und hat dann ein Telefon bis zur letzten Minute. Bis zum Schluss bleibt viel zu tun. Abmeldung bei der Stadtverwaltung, in Schule und Kindergarten; die Benachrichtigung der Post, Kranken- und Feuerversicherung; Banken, Daueraufträge, der Steuerberater, Rentenversicherung, die verschiedenen Arbeitgeber, das Auto. Man merkt plötzlich, was so ein Leben ausmacht, einen Haufen Papier plus zahllose elektronische Spuren. Für Freunde, das große Abschiedsfest und den Verkauf der Erbpacht fühlte sich Herr Kato nicht verantwortlich, für alles andere bot er seine Dienste an, unaufdringliche logistische Unterstützung, die sehr nützlich war. Ab und zu rief er in der Vorphase von sich aus an: Jetzt ist es Zeit, die Stadtwerke zu benachrichtigen. Haben Sie an den Sperrmüll gedacht? Brauchen Sie keine Adapter für Elektrogeräte? Und Ihre Tageszeitung? Was ist mit den Nachbarn? Wissen die, dass da ein großer Lastwagen kommt und den ganzen Tag im Weg steht?

Als es so weit war, kamen seine Leute ein wenig zu früh. Bei den Verkehrsverhältnissen in Tokyo weiß man nie. Sie klingelten und fragten höflich, ob sie schon anfangen oder noch warten sollten. Fünf Packer in sauberen, frisch gebügelten Firmenanzügen, die, als sie einmal begonnen hatten, bis zur Mittagspause ebenso zügig wie behutsam vor sich hin arbeiteten. Nach eineinhalb Tagen waren sie fertig. Nichts war zu Bruch gegangen. Sie machten sauber, verbeugten sich und zogen ab. Ein Trinkgeld hätte sie beleidigt. Sie machten ihre Arbeit, und dafür wurden sie bezahlt. Die Japan Times, für die ich schrieb, gab mir auch kein Trinkgeld. Dem Friseur, dem Taxifahrer, dem Portier, dem Kellner? Niemand kriegt Trinkgeld. Trinkgeld ist gegen die Würde. Nicht, dass es in Japan keine Statusunterschiede gäbe, kein soziales Gefälle. Diese Unterschiede werden aber nicht durch Trinkgeld hervorgehoben. Trinkgeld zerschneidet die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, trennt zwischen Gebern und Empfängern. Auch wenn die Packer weniger Geld haben als ich, verdienen sie doch einen ehrlichen Lohn. Dass sie kein Trinkgeld zu erwarten, sein Ausbleiben oder zu niedriges Ausfallen nicht zu befürchten haben, erlaubt den Tokyoter Packern, ganz anders mit mir umzugehen als den Packern im niederrheinischen Kaff. Ihre Arbeit hat nichts Subalternes. Sie blicken mir gerade ins Gesicht: Sie tun ihre Arbeit, ich meine. Sie stöhnten nicht, obwohl die Kisten in Tokyo nicht leichter waren als am Niederrhein. Bücher, das sollte allen, die sie schreiben und sich gegen ihre nur elektronische Veröffentlichung wehren, ein schlechtes Gewissen bereiten, Bücher sind verheerend für den Rücken. Und bei jeder Kiste die Schuhe wieder anzuziehen, die man vor dem Betreten des Hauses auszog, macht die Schlepperei nicht einfacher. Desgleichen bei den Möbeln. Schuhe aus, Schuhe an. Nicht mit Schuhen ins Haus. Das gilt normalerweise, und auch wenn Umzug ist, werden diese Regeln nicht suspendiert.

Ich sehnte mich nach Herrn Kato und seinen Leuten nicht nur, weil sie so viel angenehmer im Umgang waren als ihre Kollegen am Niederrhein, sondern auch weil sie besser arbeiteten. Auspacken am Zielort fiel aus, weil der Transport mehr als einen halben Tag zu spät kam. Schlechte Planung und schlechte Ausführung. Ein halber Tag, an dem man, außer sich zu sammeln, wenig machen kann, da man ja jede Minute auf den Container wartet – Herr Kato hätte mir das nicht zugemutet. Dieser Gedanke begann sich, zunächst noch ganz leise, in meinem Hinterkopf zu bilden, ließ mich aber nicht wieder los. Immerhin hatten wir ein Telefon. Das war ein kleiner Trost und ein entscheidender Vorteil, wenn man wartet, wie ich inzwischen wusste.

Von welcher Firma wir das Telefon installieren lassen sollten, hatte ich mich vorsorglich erkundigt. Wir brauchten allerlei, Anschlüsse in verschiedenen Zimmern, ISDN, Fax, Internet. Die Deutsche Telekom hatte mir jemand, der was davon versteht, empfohlen. Schön. Geräte gekauft, einen genauen Plan gemacht, für alles, was gebraucht wurde, und einen Termin abgesprochen.

«Donnerstag, ab vierzehn Uhr», sagte der Verkäufer entschlossen.

«Warum nicht um vierzehn Uhr?», fragte ich.

«Eine halbe Stunde Spielraum müssen Sie uns schon lassen», belehrte mich der Mann im T-Punkt-Laden von der Deutschen Telekom. Ja, der Firma, deren Kurse an der Wertpapierbörse damals alle Rekorde brachen. Sehr instruktiv ist das, wenn man verstehen will, wie die Börse funktioniert. Träume und Schäume, Erwartungen und Hoffnungen spiegeln sich in Aktienpreisen, alles andere als handfeste Qualitäten. Der Aktienkurs der Deutschen Telekom hat jedenfalls herzlich wenig damit zu tun, wie gut die Leute vom T-Punkt-Laden darin sind, Telefonanschlüsse zu legen. Donnerstag, neunzehn Uhr, kein Mann von der Deutschen Telekom. Freitag nichts. Wochenende. Montag nichts. Dienstag ein Anruf meinerseits.

«Ja, wir konnten Sie ja nicht erreichen.»

Wie wahr.

«Hat etwas länger gedauert, bei einem anderen Kunden.»

Wieder waren meine japanisch konditionierten Erwartungen so unangemessen, dass sich eine adäquate Reaktion nicht schnell genug einstellte. Zu fragen, wieso die Deutsche Telekom nicht zum nächstmöglichen Termin bei mir vor dem Haus stand, auch auf das Risiko, umsonst zu kommen oder warten zu müssen, war ich zu verblüfft.

 

Aber inzwischen hatte ich ja mein Telefon, war erreichbar für die Mitteilung, dass sich die Lieferung etwas verzögern würde. Das war gut so. Auf diese Weise kam ich nämlich in den Genuss eines Verfahrens, das Sprachlehrer Immersion nennen. Jemanden, der schwimmen lernen soll, ins Wasser schmeißen bedeutet das. Nicht lange warten und alles vorsichtig vorbereiten, erst nur den Zeh ins Wasser stecken, nein, gleich von Anfang an alles von Kopf bis Fuß nur in der zu erlernenden Sprache. So ungefähr ist es bei einem Umzug. Erst mal ein bisschen probeumziehen wäre schön, aber das geht nicht. Überdies kannte ich die Sprache des Zielortes durchaus und dachte zu wissen, was mich erwartete. Verschiedene Bedingungen ihres richtigen Gebrauchs musste ich freilich lernen. Gleich beim Einzug mit der Mitteilung vertraut gemacht zu werden, dass sich die Lieferung etwas verzögern würde, war jedenfalls sehr nützlich, denn für keine andere Botschaft wurde ich in den folgenden Monaten öfter angerufen.

Überhaupt war alles, was Spediteur und Packer zu sagen hatten, höchst aufschlussreich. Obwohl sie in einer Branche arbeiten, deren Lebensinhalt es ist, Grenzen zu überschreiten und anderen dabei behilflich zu sein, offenbaren sie doch in ihrem Verhalten sehr viel von der lokalen Kultur. Ethnographen sollten sich viel mehr mit ihnen beschäftigen. «Kleine Ethnographie der Spedition» oder «Mensch und Spediteur» oder «Spediteure der Welt», das wäre doch eine Studie wert. Nicht die Dichter und Denker, die Tee-Meister und Kabukispieler schaut euch an, sondern die Spediteure hüben und drüben! Nichts gegen Oe Kenzaburo und Günter Grass, aber Herr Kato und Herr Unterschulz stehen ihnen als Exponenten der Kultur nicht nach. Spediteure wissen sehr viel darüber, wie die Menschen leben und was sie für wichtig halten, was für einen Ballast sie von einer Station ihres Lebens zur nächsten mit sich herumschleppen. Wie viele entbehrliche Dinge werden nicht tagtäglich von Speditionen in aller Welt hin und her geschickt! Alles ein Teil unserer fundamental unnomadischen Kultur. Man wandert nicht mehr umher, man nimmt praktisch sein ganzes Haus außer den Außenwänden mit, vertraut es dem Spediteur an und lässt es an einen anderen Ort bringen. Dabei hat man es unvermeidlich an beiden Enden des Umzugs mit Speditionen zu tun, den Dolmetschern des materiellen Hausstands. Da beide mehr oder weniger die gleichen Arbeiten verrichten, nur zum Teil in umgekehrter Reihenfolge, eignen sie sich bestens zum Vergleich. Ein solcher zeigt, dass Ruppigkeit nichts ist, was dem Packersein «an und für sich», wie man in Deutschland sagt, anhaftet. Der Packer an und für sich ist genauso eine Chimäre wie der Mensch an und für sich. Aber die Philosophie des Packerseins muss noch geschrieben werden. (Mit der Ästhetik beschäftigt sich ja schon Christo.)

Dass Packer überall auf der Welt gleich seien, gehört zu den schlimmsten Vorurteilen überhaupt. Wer das glaubt, kann seine gerade begonnene Karriere als Amateurethnologe gleich an den Nagel hängen. Oder Taxifahrer. Oder Müllmänner. Oder Professoren. Die Frage meines Kollegen, was ich denn erwartet hatte, es seien ja schließlich Packer, kriegt, wenn man das beherzigt, eine etwas andere Wendung, die vielleicht manchem unangenehm ist: Was hatte ich denn erwartet, es waren ja schließlich Packer vom Niederrhein? Oder noch schlimmer: Was hatte ich denn erwartet, es waren ja schließlich deutsche Packer? Ich hatte zunächst gar nichts erwartet, jedenfalls nicht überlegtermaßen. Ich wollte nur, dass mein Umzug rasch und ohne Pannen erledigt wurde. Aber unbewussten Annahmen und Regelmäßigkeiten folgt jeder. Sie beinhalten viel von dem, was einer Gesellschaft ihren besonderen Charakter gibt, das, was wir Kultur nennen.

In Japan ist das Einpacken eine Kunst, die jeder Verkäufer erlernt. Die billigsten Gegenstände kann man sich einpacken lassen, bei teuren ist die Verpackung selbst wertvoll. Ein Hemd von Kenzo wird nicht einfach in eine Plastiktüte geschmissen, sondern im Laden so schön verpackt, dass man es zu Hause gar nicht wieder auspacken will. Diese Sorgfalt im Umgang mit dem Objekt erkenne ich noch an den von Herrn Katos Leuten eingepackten Umzugskisten wieder.

Überall sind die Annahmen und Regelmäßigkeiten des Alltagslebens ein wenig anders. Das ist selbstverständlich. Jeder weiß das. Auf der entlegensten Insel und im letzten Tal des Hinterwaldes rechnet man mit nichts mehr, als dass Zugereiste und Feriengäste sich komisch benehmen. Wieso sollten das die Zugereisten und die Feriengäste selber nicht auch wissen? Um einen Kulturschock zu kriegen, muss man schon ziemlich verbohrt sein. Kulturschock ist ein akademisches Wort für «hier gefällt’s mir nicht». So wie Haarfärbemittel, die über die Wirklichkeit hinwegtäuschen, ist es allerdings für manche recht einträglich. Für die nämlich, die ihr Brot mit der Erforschung des Kulturschocks und der Entwicklung oder Verabreichung von Therapien verdienen. Die Kulturschock AG hätte vielleicht sogar auf dem neuen Markt an der Börse Chancen, wie die Deutsche Telekom. Jeder Tourist weiß ja aus dem Fernsehen, wenn nicht gar aus eigener Erfahrung, dass es woanders anders ist. Aber wenn man das Alterität nennt, kann man davon vielleicht einen Kulturschock kriegen oder sich eine goldene Nase verdienen.

Genau genommen, hätte ich also nicht kulturschockiert sein dürfen durch den Umzug. Dass dennoch eine gewisse Bestürzung – wollen wir es Kulturbestürzung oder Kulturschreck nennen? – sich einstellte, ist in mehrfacher Hinsicht den Kindern zu verdanken, ihrer Sensibilität und dem Umstand ihrer Existenz. Ich kannte Deutschland von früher, aber ich war nie in Deutschland Vater gewesen. In Japan war ich nie kulturschockiert. Ich war aus freiem Entschluss dorthin gegangen. Meine Umgebung bot mir keinen Anlass, schockiert zu sein. Außerdem hätte ich das unbillig gefunden. Durfte ich etwas anderes erwarten, als dass ich auf Unvertrautes, manchmal vielleicht auch Unverständliches stieß? Vieles wurde dann vertraut im Laufe der Jahre. Mit den Kindern zusammen und vor allem durch sie wurde ich ein zweites Mal sozialisiert. Sie vor allen Dingen erwarteten und durften erwarten, dass ich mich normal benahm, irgendwie im Einklang jedenfalls mit der Umgebung. Ihretwegen war ich zu Zugeständnissen und Anpassungen bereit, die ich mir solo nie abverlangt hätte.

Nun war ich in die Rückkehrfalle getappt. Gelegentlich war ich in den letzten beiden Jahrzehnten nach Deutschland gekommen, aber nie für den Alltag. Der hatte sich unversehens gehörig verändert, oder ich. Jetzt, beim Umzug nach Deutschland, fehlte der Reiz des Neuen, der es einem so leicht macht, hinter Engstirnigkeit und anderen unerfreulichen Eigenschaften ein Geheimnis zu vermuten, das es sich zu ergründen lohnt, um «die Kultur zu verstehen». Der Kulturbonus löst sich in nichts auf, je besser man sich auskennt. Unvertrautes ist Kultur, Vertrautes schlechte Angewohnheit. Borniertheit, Unflexibilität und Sturheit sind nicht mehr mit dem gnädigen Mäntelchen der Exotik umhüllt, sie sind nur noch Borniertheit, Unflexibilität und Sturheit. Die Blödheit der Kultur überlagert ihr Mysterium. Aus dem neugierigen Beobachter, der Verhaltensformen, die ihm missbehagen, trotzdem mit Toleranz betrachtet, wird deshalb ein ungeduldiger Kritiker: der Fremde zu Hause. Auf Distanz zu gehen ist für ihn viel schwieriger als in der Fremde unter Umständen, wo auch nach langen Jahren die Grundvoraussetzung gilt, dass es vielleicht etwas Aufschlussreiches zu lernen gibt. Das Eingeständnis, zurückgeblieben zu sein, fällt niemandem leicht, am wenigsten denen, die sich damit beschäftigen, andere zu belehren.

Ordnung und Knie bräunen

Wir hatten Glück. Die drängendste Sorge bei einem Umzug sind die Kinder. Wie werden sie sich in der neuen Umgebung zurechtfinden? Wie werden ihnen die neue Schule, der neue Kindergarten gefallen? Werden sie neue Freundschaften schließen? Der nach acht Wochen gefundene Kindergartenplatz war eine Erleichterung, denn der fünfjährigen Tochter fehlten nach eigenem Bekunden Gleichaltrige zum Spielen. Den Tokyoter Freunden schrieb sie Briefe, aber das konnte sie ja nicht den ganzen Tag lang tun. Was sie bisher von Kindergärten wusste, ließ sie ungeduldig auf den Moment warten, wieder in einem zu sein. Der Umzug, das verstand sie, war ein Interim. Danach würden wir zur Normalität zurückkehren, und die hieß für sie Kindergarten.

Die ersten Anläufe waren vergeblich gewesen. Alle Kindergärten in erreichbarer Nähe waren voll. Zwar hat nach dem Gesetz, wie wir herausfanden, jedes Kind ab drei Anspruch auf einen Kindergartenplatz, aber dem Gesetz wird keineswegs überall Genüge getan. Von Müttern, die sich schon pränatal, wenn nicht gar vor der Empfängnis um einen Kindergartenplatz bewarben, hörten wir, von Eltern, die dreißig Kilometer zum Kindergarten fuhren, und andere wenig ermutigende Geschichten. Da konnten wir wirklich von Glück sagen, dass wir nach mehrfachem Vorsprechen bei den Autoritäten doch relativ schnell einen Platz gefunden hatten. Das wurde uns freilich auch bedeutet. Nicht ein Anspruch wurde hier erfüllt, sondern eine Gunst verliehen, die uns zu ewigem Dank verpflichtete. Diesen Eindruck vermittelte der huldvolle Gestus, mit dem die Kindergartenleiterin das Kind unter ihre Fittiche nahm. Ganz blind schien das Glück außerdem nicht gewesen zu sein, als es den freien Kindergartenplatz uns in den Schoß fallen ließ. Betuchtere Eltern, so deuteten andere Eltern an, hatten bessere Chancen, und zwar nicht, weil irgendjemand sie netter fand oder lieber mit ihnen umgehen wollte, sondern weil die Gebühren nach Einkommen gestaffelt sind. Wer den Höchstsatz zahlt, trägt am meisten dazu bei, die Löcher im zu knapp bemessenen Haushalt zu stopfen, und ist deshalb willkommen. Eine soziale Maßnahme völlig pervertiert.