Die Kultur Japans - Florian Coulmas - E-Book

Die Kultur Japans E-Book

Florian Coulmas

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Beschreibung

Ausgehend von der doppelten Frage, was an der japanischen Kultur genuin japanisch und was kulturell bedingt ist, zeigt Florian Coulmas, was die heutige japanische Kultur von anderen unterscheidet, und verdeutlicht, was unter Kultur zu verstehen ist.
Er zeigt zum Beispiel das Verhalten im Alltag und die sozialen Beziehungen (Umgangsformen, Verwandtschaft usw.); Werte und Überzeugungen (vor allem religiöser Art); Institutionen wie den Jahreszyklus, die Schule oder die Firma; schließlich Formen materieller Kultur (u.a. Kleidung und Mode, Behausung und Architektur, Essen und Ästhetik). Das Augenmerk richtet sich dabei hauptsächlich auf solche Eigenheiten der japanischen Kultur, die sich als relativ beständig erwiesen haben und in verschiedenen Epochen in Erscheinung treten. Die Analyse des geistigen Hintergrunds kultureller Traditionen ermöglicht es somit, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Formen der ästhetischen Gestaltung zu verstehen, die auch dem hypermodernen Japan von heute einen ganz eigenen, unverwechselbaren Platz in der zunehmend globalisierten Welt erhalten haben.

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Florian Coulmas

DIE KULTUR JAPANS

Tradition und Moderne

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 

 

Zum Buch

Ausgehend von der doppelten Frage, was an der japanischen Kultur genuin japanisch und was kulturell bedingt ist, zeigt Florian Coulmas, was die heutige japanische Kultur von anderen unterscheidet, und verdeutlicht, was unter Kultur zu verstehen ist: das Verhalten im Alltag und die sozialen Beziehungen (Umgangsformen, Verwandtschaft usw.); Werte und Überzeugungen (vor allem religiöser Art); Institutionen wie der Jahreszyklus, die Schule oder die Firma; schließlich Formen materieller Kultur (u.a. Kleidung und Mode, Behausung und Architektur, Essen und Ästhetik). Das Augenmerk richtet sich dabei hauptsächlich auf solche Eigenheiten der japanischen Kultur, die sich als relativ beständig erwiesen haben und in verschiedenen Epochen in Erscheinung treten. Die Analyse des geistigen Hintergrunds kultureller Traditionen ermöglicht es somit, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Formen der ästhetischen Gestaltung zu verstehen, die auch dem hypermodernen Japan von heute einen ganz eigenen, unverwechselbaren Platz in der zunehmend globalisierten Welt erhalten haben.

Über den Autor

Florian Coulmas, geb. 1949, ist Senior-Professor für Japanische Gesellschaft am IN-EAST Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Von 2004 bis 2014 war er Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Die Gesellschaft Japans (2007), Hiroshima (2010), ders./J. Stalpers: Fukushima (2011), Die 101 wichtigsten Fragen: Japan 22014).

Inhalt

Dank

Vorwort zur vierten Auflage

Zeichen und Orientierungen

ERSTER TEILVerhalten und soziale Beziehungen

1. Übergangsriten

2. Verwandtschaft

3. Etikette

4. Gaben

ZWEITER TEILWerte und Überzeugungen

5. Der Shintoismus: Japans älteste Religion

6. Der Buddhismus

7. Der Konfuzianismus

8. Christentum und neue Religionen

DRITTER TEILInstitutionen (Kultur und Struktur)

9. Der Jahreszyklus

10. Die Schule

11. Die Firma

VIERTER TEILMaterielle Kultur

12. Der beschriebene Körper

13. Kleidung und Mode

14. Behausung und Architektur

15. Geschmack

16. Die Künste

ANHANG

Anmerkungen und weiterführende Literatur

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Eine Auswahl kulturell bedeutsamer Daten

Epochen der japanischen Kulturgeschichte

Namenregister

Sachregister

Dank

Die Arbeit an diesem Buch hat mir große Freude gemacht, da ich dabei in den Genuss vielfältiger Unterstützung kam. Dafür möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Meine Studenten an der Gerhard Mercator Universität Duisburg, die es nun nicht mehr gibt, haben geduldig der Vorlesung zugehört, aus der Teile des Buchs hervorgegangen sind. Yuko Sugita, Yuka Ando, Toshi Yamada und Patrick Heinrich haben mir bei mancher Recherche geholfen. Hiroshi Shoji verdanke ich mehrere Aufenthalte am Staatlichen Museum für Ethnologie in Osaka. Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat meinen Aufenthalt am Centre of Asian and Pacific Studies der Seikei Universität in Tokyo im Herbst 2001 großzügig unterstützt, und die Stiftung Mercator hat die Übersetzung zweier Kapitel des Buchs aus dem Englischen gefördert. Christina Aigner hat bei der Erstellung des Registers geholfen, und Kornelia Apholz hat mit viel Ausdauer die Fertigung des Manuskripts besorgt. Die freundliche und sachkundige Betreuung im Lektorat durch Dr. Andreas Wirthensohn sorgte dafür, dass die Zusammenarbeit mit dem Verlag nicht nur reibungslos, sondern sehr angenehm war.

Mai 2003

F. C.

Vorwort zur vierten Auflage

Diese vierte Auflage weist gegenüber der vorigen nur wenige Veränderungen auf, aber genug, um ein Prinzip zu unterstreichen, das schon der ursprünglichen Konzeption des Buches zugrunde lag: Da Kulturen anpassungsfähige Systeme sind, gilt es ihre Essentialisierung und Verdinglichung zu vermeiden. Selbst in der kurzen Zeit seit Erscheinen der ersten Auflage sind Dinge geschehen, die das bestätigen. Ein Beispiel betrifft die Hautbemalung, die ich in der ersten Auflage mit Bezug nur auf Japan als Mode bezeichnete. Die Tätowierungswelle, die inzwischen die westliche Welt überschwemmt hat, zeichnete sich noch nicht einmal am Horizont ab. Eine Mode fürwahr. Ein zweites Ereignis von kulturellem Interesse ist die Thronbesteigung von Kaiser Naruhito, die aus 2019 im japanischen Kalender ein Doppeljahr machte, Heisei 30, bis April und Reiwa 1, von Mai bis Dezember. Da Zeitmessung eine wichtige Kulturtechnik ist, erforderte das einige Anpassungen, die uns zeigen, dass Kultur nichts Statisches ist.

Wittlaer im August 2019

F. C.

Der Mensch ist nicht, was er nun einmal ist, sondern er ist offen. Er kennt nicht eine Lösung, nicht eine Verwirklichung als die allein richtige.

Karl Jaspers

Zeichen und Orientierungen

Standpunkte

Es ist kurz vor zehn Uhr. Eine kleine Schar hauptsächlich von Hausfrauen und einigen älteren Herren wartet geduldig in der Eingangshalle. Über den Rand meiner Zeitung kann ich durch die geschlossenen Glastüren einige letzte Vorbereitungen beobachten. Damen in makellosen Kostümen mit eleganten Halstüchern eilen geschäftig, doch nicht ohne Würde hin und her, polieren ein letztes Mal an einer Vitrine, rücken einen Punktscheinwerfer zurecht, stellen ein Firmenschild auf. Während der große Zeiger der Wanduhr auf die Zwölf zugeht, versammeln sich die Damen rasch im Hauptgang, wobei jede ihren Platz so einnimmt, dass sie auf beiden Seiten lange Reihen bilden, ein Spalier. Ein rascher Anwesenheitsappell des Etagenmanagers, und die Ehrenwache ist fertig, um die Pilger in den heiligen Hallen Isetans zu empfangen. Um Punkt zehn Uhr werden die Türen geöffnet, die Kunden streben zu den Fahrstühlen an der Rückwand des Erdgeschosses und gehen dabei durch die Phalanx des Verkaufspersonals hindurch, ohne ein ersichtliches Zeichen, es wahrzunehmen. Irasshaimase, irasshaimase, «bitte treten Sie näher», sagen die Angestellten einstimmig mit einer tiefen Verbeugung. Ein Tag in einem großen Tempel der Konsumkultur in Tokyos Einkaufsviertel Shinjuku hat begonnen.

Im Idealfall würde ein Buch, das in die japanische Kultur einführt, mit dem Identifizieren einiger kultureller Ereignisse beginnen, der Ladenöffnung in einem Kaufhaus zum Beispiel, einer Hochzeit oder einer Beerdigung, einem Baseballspiel, einer Teezeremonie, einer Katastrophenschutzübung oder einer Untersuchung im Krankenhaus. Diese würde man dann so detailliert beschreiben, wie es notwendig erscheint, und schließlich erklären, was genau beschrieben wurde. Wie wunderbar einfach unsere Arbeit wäre! Zu einfach, wie wir wissen, wenn wir uns mit etwas so Komplexem wie Kultur befassen. Denn bei Kultur geht es immer um Bedeutung, und Bedeutung wird meist durch andere als optische Zeichen übermittelt. Aber konzentrieren wir uns einen Moment auf die zahlreichen kulturellen Gegenstände, die sichtbar sind. Um zu sehen, brauchen wir Augen, und unsere Augen haben bestimmte Eigenschaften, ganz zu schweigen von dem Standpunkt, von dem aus wir vor Ort die Ereignisse beobachten, die uns interessieren. Sicher wäre meine Beschreibung des Erdgeschosses von Isetan zwischen zwei Minuten vor zehn und Punkt zehn ganz anders, wenn ich innerhalb der Glastür gewesen wäre, hinter einer der Verkaufstheken, vielleicht in eine der unaufdringlichen Uniformen des Kaufhauses gekleidet. Nehmen wir an, das Beobachten der Szene sei meine vorsätzliche Absicht gewesen und nicht ein beiläufiger Blick, während ich Zeitung las, um die Zeit totzuschlagen. Ich hätte viele andere Dinge bemerkt, die von außen betrachtet nur den allgemeinen Eindruck verstärken, ohne wirklich ins Bewusstsein zu treten. In welchem Winkel müssen die Füße stehen, wo gehören die Hände hin, worauf richtet sich der Blick beim Entbieten des Morgengrußes? Die Grußformel, wenngleich normales Japanisch, hat eine wahrnehmbare Isetan-Nuance, was sie von Mitsukoshi, Takashimaya, Seibu und anderen Kaufhäusern unterscheidet. Wie stellt man sicher, den richtigen Ton zu treffen? Oder nehmen wir an, ich würde die Ladenöffnungszeremonie auf einem Videobildschirm irgendwo in einem Kontrollraum tief im Innern des Gebäudes verfolgen. Wieder wären die Details des Bildes anders, und meine Aufmerksamkeit würde von anderen Dingen in Anspruch genommen. Wie können wir sicher sein, dass unser Standpunkt gut gewählt ist und wir das betrachten, worauf es wirklich ankommt?

Mehr als ein Jahrhundert lang haben Anthropologen hart daran gearbeitet, diese Unsicherheiten zu überwinden, indem sie versuchten, den Betrachter aus dem Bild zu schieben. Technische Innovationen waren dabei sehr hilfreich. Neue Maschinen ermöglichten das Aufzeichnen und Reproduzieren von Ton und Bild für wiederholte Untersuchungen. Als an der Schwelle des 20. Jahrhunderts die Filmkamera aufkam, begrüßte man sie freudig als eine revolutionäre Technologie, die uns endlich von unseren eigenen Unzulänglichkeiten wie Gedächtnislücken, begrenzter Aufmerksamkeitsspanne und bloßer Schlampigkeit befreite. Endlich waren wir in der Lage, die Welt so zu erfassen, wie sie «wirklich» war. Also schulterten die auf Objektivität bedachten Ethnologen bei der Feldforschung noch mehr technisch ausgeklügelte Apparate, Kameras und Tonaufnahmegeräte.

Seitdem sind bei der Überbrückung von Raum und Zeit große Fortschritte gemacht worden. Als Isabella Bird 1878[1] auf «unerforschten Pfaden in Japan» umherwanderte, sah sie Dinge, die kein anderer westlicher Beobachter in Jahren gesehen hatte und wahrscheinlich je sehen sollte. Es dauerte lange, bis ihr Reisebericht in Buchform erschien. Der zeitliche Abstand zwischen ihren Beobachtungen und der Veröffentlichung machte es praktisch unmöglich, ihren Bericht zu bestätigen oder anzufechten. Das Reisen zu Pferd an entlegene Orte erforderte aufwendige Vorbereitungen, beträchtliche Mittel und die Bereitschaft, viele Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Birds Beschreibung der Ainu vor Ort überprüft werden würde, war gleich Null. Ihren Lesern blieb nichts anderes übrig, als den Bericht für bare Münze zu nehmen und allenfalls mit Berichten anderer Reisender zu vergleichen, die zu anderen Zeiten andere Orte besucht hatten. In gewisser Weise war, was sie ihren zeitgenössischen Lesern präsentierte, bereits Geschichte, wie für uns.

Heute können die Ethnologen ihre Befunde augenblicklich ihren Kollegen in der ganzen Welt mitteilen. Sie können, noch während sie sich auf einer entlegenen Insel der Bonins befinden, ihre Ton- und Bildaufzeichnungen digitalisieren und anderen Forschern in Melbourne, Paris und Bonn schicken, ihnen zeigen, was sie entdeckt haben, und vielleicht um Rat fragen, wie sie weiter verfahren sollen. Tatsächlich kann ein Forscher, anstatt auf die auch als Ogasawara-Inseln bekannten Bonins zu reisen, die man bis heute nur per Boot erreicht, aber auch eine «Exkursion» in das Staatliche Museum für Ethnologie in Senri, Osaka, unternehmen und dort ein paar Monate mit der Analyse einiger der zahlreichen Aufzeichnungen aus dessen hervorragender Sammlung verbringen.

Zweifellos sind die technischen Forschungsgeräte und -methoden heute ausgereifter als im 19. Jahrhundert, in dem die Kulturanthropologie als «Kind des westlichen Imperialismus»[2] aufkam und die Beschreibung anderer Menschen und deren Kulturen auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen begann. Vom Beobachter unabhängige Aufzeichnungen erschienen verlässlicher als mit Stift und Papier festgehaltene Sinneswahrnehmungen. Die eigenen Beobachtungen überprüfen zu können, indem man Kollegen am Forschungsprozess teilhaben lässt, vermindert gewiss das Risiko, dass sie bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung überholt sind.

Leider sind diese beiden vermeintlichen Verbesserungen der ethnografischen Methode kaum mehr als Wunschdenken. Das Grundproblem des Ethnologen ist unverändert. Kulturen wurzeln in Geschichte und jede Beschreibung ist lediglich ein Schnappschuss. Während Trägheit, Konservatismus und Pfadabhängigkeit Stabilität suggerieren und bis zu einem gewissen Grade unterstützen, gibt es nichts, was die Veränderung einer Kultur oder eines ihrer Teilbereiche grundsätzlich verhindert. Selbst während der Ethnologe seine Beobachtungen anstellt, kann das geschehen. Daher ist jedes erworbene Wissen darüber, wie Menschen ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen, wie sie auf die materiellen Probleme ihres Daseins reagieren und wie sie ihren Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen sprachlich Ausdruck verleihen, immer in Gefahr, veraltet zu sein. Und ein vom Beobachter unabhängiges Aufzeichnen gibt es nicht und wird es so lange nicht geben, wie die Forschung von Menschen durchgeführt wird. Wenn wir, um zu verstehen, was wir sehen, über die Eigenschaften unserer Augen nachdenken müssen, erfordern Videokameras ein ebensolches Maß an Vorsicht. Eine Fotografie ist nicht wesentlich näher an der «wirklichen Sache» als eine Zeichnung. Man kann durchaus die Meinung vertreten, sie sei viel weiter entfernt, da sie ein ganzes Arsenal technischer Medien zwischen den Betrachter und den Gegenstand der Betrachtung stellt.

Der Ryōanji, ein berühmter Tempel in Kyoto, ist bekannt für seinen Steingarten aus dem 16. Jahrhundert. An drei Seiten von einer Rauputzmauer umgeben, gibt es außer etwas Moos keinerlei Pflanzen in ihm. Fünfzehn Steinbrocken unterschiedlicher Form und Größe liegen auf einem Bett aus weißem Kies, das jeden Tag geharkt wird. Aus welchem Blickwinkel man den Garten auch betrachtet, nie sind mehr als vierzehn der Steine zu sehen. Mindestens einer ist immer dem Blick entzogen, ganz gleich, wo der Betrachter steht (es sei denn, er oder sie oder eine Fernbedienungskamera schwebt in einem Hubschrauber über dem Garten). Dennoch: Was wäre einfacher, als ein paar Steine zu beschreiben?! Sie bewegen sich nicht, noch sprechen sie miteinander oder mit uns. Sie haben keine Eltern und unterhalten auch keine komplexen sozialen Beziehungen mit anderen Steinen. Sie haben keine Religion, keine traditionellen Bräuche und führen keine Rituale aus. Sie sind bloß da. Doch selbst wenn wir uns darauf beschränken, das Vorhandene aufzuzeichnen und uns aller Erklärungsversuche enthalten, weshalb es da ist und was, wenn überhaupt etwas, die Steine und der Kies bedeuten, geraten wir in Schwierigkeiten. Es hat einfach keinen Sinn, uns selbst aus dem Bild herauszunehmen. Der Steingarten des Ryōanji ist auf dem Weg zur Erforschung der Kultur ein guter Orientierungspunkt, denn er erinnert uns an die Grenzen der eigenen Beobachtung, und sorgfältiges Beobachten ist lediglich der Anfang der Untersuchung.

Abb. 1: Der Steingarten des Ryōanji in Kyoto (Teilansicht)

Tatsachen sind schwer fassbar. Unablässig jagt der Ethnologe ihnen hinterher und kommt doch zwangsläufig zu spät, um ihrer habhaft zu werden. Erfahrung und Beobachtung werden durch vorgefasste Meinungen, Erwartungen und blinde Flecken in unseren Augen gefiltert. Sobald wir mit unserer Beschreibungsarbeit beginnen, fügen wir unweigerlich eine Schicht redaktioneller Verzerrung hinzu. Was, wenn der Vorgang, der uns wie ein Flaschenzertrümmerungstest vorkam, sich als Schiffstaufe erweist? Erst im Nachhinein, «after the fact»[3], können wir aus Beobachtungen Beschreibungen machen und aus jenen Erklärungen ableiten. Doch ist unsere Beschreibung nie ein Beschreiben reiner Tatsachen. Wir können nicht wirklich sicher sein, dass die Sprache der Aufgabe gewachsen ist. Schlimmer noch, unsere Sprache ist kein neutraleres Instrument als das Auge oder die Kamera.

Übersetzung

Die Alltagssprache begünstigt bestimmte Verfahren, Realität zu zergliedern, von denen wir nicht a priori wissen, ob sie dem Objekt unserer Beschreibung gerecht werden können. Jede Sprache ist tendenziös, da die Sprache das beste Instrument ist, das wir haben, um Sinn zu stiften, und jede einzelne Sprache die Spuren aller vorangegangenen Versuche, dies zu tun, mit sich trägt. Das bindet uns keineswegs die Hände und bestimmt auch nicht unsere Art zu denken, wie die Nachfolger Wilhelm von Humboldts[4] und Benjamin Lee Whorfs[5], der Leitfiguren des linguistischen Relativismus und Determinismus, uns glauben machen möchten. Dennoch kann man nicht als selbstverständlich voraussetzen, dass unsere Sprache ein treues Medium für die Beschreibung sozialer Ereignisse in einer fremden Gesellschaft ist. Doch ohne Worte geht es nicht, und alle Worte gehören zu einer bestimmten Sprache.

Ein Problem, das keine ethnografische Beschreibung ignorieren darf, ist die Übersetzung. In gewisser Weise ist ethnografische Beschreibung Übersetzung, das heißt ein Versuch, den Sinn eines «Textes», den wir nicht auf Anhieb verstehen, weil er in einer unbekannten Sprache verfasst ist, zu erschließen. Die Kategorien, die in einer Sprache lexikalischen Ausdruck gefunden haben, sind nicht unbedingt die gleichen wie die einer anderen. Das ist das tägliche Brot des Übersetzers, mitunter eine immense Schwierigkeit, aber doch kein unüberwindliches Hindernis, das «wirkliches» Übersetzen unmöglich macht. Übersetzung ist möglich. Gegenteilige Behauptungen laufen auf ein Verleugnen der Einheit der menschlichen Sprache hinaus und mehr noch, angesichts der Bedeutung von Sprache für das, was uns von anderen Lebewesen unterscheidet, auf ein Verleugnen der Einheit der menschlichen Gattung. Alle Sprachen sind menschliche Sprachen und bauen auf demselben Grundstoff auf. Auch wenn es dazu einer beträchtlichen Anstrengung, solider Fachkenntnisse und stilistischer Wendigkeit bedarf, kann alles, was in einer Sprache ausgedrückt werden kann, auch in jeder anderen Sprache Ausdruck finden.

Es gibt keinen Grund, das Gegenteil zu glauben. Dennoch ist die Vorstellung, es sei unmöglich, einen Text wahrheitsgetreu von einer Sprache in eine andere zu übertragen und von daher auch eine fremde Kultur richtig zu verstehen, weit verbreitet, besonders wo es um sehr andersartige, zu anderen Zeiten an weit entlegenen Orten gesprochene Sprachen geht, oder wo die Forscher «ihre» Kultur für introvertiert und isoliert halten. Dank Yanagita Kunio, dem Vater der japanischen Volkskunde und Ethnografie, war diese Ansicht in Japan lange Zeit beinahe allgemeingültig. Yanagita dachte, dass «das subtile innere Funktionieren der Einheimischen»[6] für Außenseiter unzugänglich sei und daher «die Untersuchung des psychologischen Bereiches nicht von Fremden vorgenommen werden kann».[7] Dieser Skeptizismus in Bezug auf die Möglichkeit, in die immateriellen Aspekte einer fremden Kultur einzudringen, wurde von einigen bekannten Linguisten wie Kindaichi Haruhiko[8] und Suzuki Takao[9] aufgegriffen, die behaupteten, als «geschlossene Sprache» könne Japanisch kaum oder gar nicht von Fremden verstanden werden.

Dieser Argumentationsstrang hat seine historischen Gründe und ideologischen Wurzeln in der langen Periode von Japans relativer Isolierung während der Edo-Zeit. Das seit deren Ende enorm produktive Übersetzungswesen Japans widerlegt ihn jedoch und demonstriert auf überzeugende Weise, dass er auf einem falschen Verständnis der grundlegenden Funktion der Sprache, nämlich der Kommunikation, beruht. Sprachliche Kommunikation ermöglicht es uns, anderen etwas mitzuteilen, was sie nicht schon deshalb wissen, weil sie unseren Erfahrungshintergrund, unser Wissen über die Welt etc. teilen. Der Genius der menschlichen Sprache liegt darin, dass sie uns befähigt, neue Dinge zu sagen, Ideen auszudrücken, die uns nie zuvor in den Sinn kamen, und anderen mitzuteilen, was sie vorher noch nicht wussten. So etwa können wir biografische Inschriften in ägyptischen Gräbern verstehen, obwohl heute niemand Ägyptisch spricht und trotz der großen zeitlichen Distanz, die uns von den Verfassern trennt. Möglich ist das, weil die Texte in einer menschlichen Sprache geschrieben wurden, die der Kommunikation dient. Wenn ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund eine Vorbedingung für sprachliche Kommunikation wäre, könnten wir niemals irgendeinen Sprechakt verstehen, da nicht einmal eineiige Zwillinge denselben Erfahrungshintergrund teilen. Sprachliche Kommunikation bedeutet das Überbrücken der unvermeidlichen Kluft, die jedes Individuum von jedem anderen trennt. Können wir aber jemals sicher sein, dass unsere Adressaten das, was wir gesagt haben, genau so verstehen wie wir? Das können wir nicht, aber die Frage ist müßig. Wir müssen uns damit begnügen zu wissen, dass sie verstanden haben, das heißt, dass sie durch das, was wir sagen, ihr Wissen über die Welt erweitert und das Gesagte in ihre persönliche Kosmologie, die sich wahrscheinlich von der unseren unterscheidet, aufgenommen haben. Sprache beinhaltet beides, das Universale und das Besondere. Ersteres bildet die gemeinsame Basis, die gewährleistet, dass Letzteres nicht unzugänglich wird.

Innen und außen

Zu dem Problem, wie die japanische Sprache mit der japanischen Kultur in Beziehung steht, werde ich weiter unten anhand einiger spezifischer Beispiele zurückkehren. Hier soll es genügen, meinen Standpunkt deutlich zu machen. Wenn ich irgendeiner Form des sprachlichen oder sonstwie gearteten Relativismus anhinge, würde ich dieses Buch nicht schreiben. Weshalb ein Buch schreiben über etwas, von dem man nicht hoffen kann, es verstehen oder anderen mitteilen zu können?! In jeder Sprache gibt es für jeden Ausdruck eine Alternative, was bedeutet, dass Sprachen eher offene als hermetische Systeme sind. Ansonsten wäre jede Veränderung unmöglich. Aber sie ist möglich, da allen Sprachen das Potenzial innewohnt, über unendlich viele Arten von Ereignissen zu kommunizieren, und daher können sie an veränderte Kommunikationsbedürfnisse ihrer Sprecher angepasst werden. Was für die Sprache gilt, lässt sich auf die Kultur ausweiten. Ein kulturelles Ereignis bedeutet für mich als Beobachter nicht das Gleiche wie für ein Mitglied der Gemeinschaft, das daran teilnimmt, woraus jedoch nicht folgt, dass das Ereignis für mich überhaupt nichts bedeutet. Und es folgt daraus auch nicht, dass das, was es für den Beteiligten bedeutet, interessanter wäre als was es für den Beobachter bedeutet. Sicher können Missverständnisse auftreten, doch gibt es keine hinreichenden Beweise für die Annahme, das Sprechen derselben Sprache oder die Zugehörigkeit zu derselben Kultur könne gegen dieses Risiko schützen oder es auch nur wesentlich verringern.

Die Annahme, eine Kultur sei nur von innen und in ihren eigenen Begriffen verständlich, führt ins Leere, bestreitet sie doch a priori die Möglichkeit eines aus einer Außenperspektive erlangten wirklichen Verständnisses. Dabei können nur von einem externen Standpunkt aus Verhaltensweisen, Sitten und Gebräuche, Werte, soziale Systeme, Lebensstile, religiöse Praktiken und Sprachen erfolgreich miteinander verglichen werden. Wie nachfolgend deutlich werden wird, bedeutet das nicht, dass wir uns beim Beschreiben und Analysieren einer Kultur ausschließlich auf eine Außenperspektive verlassen sollten. Doch ist es ohne Vergleich unmöglich, in Erfahrung zu bringen, was spezifisch für eine bestimmte Kultur und was ein generisches Merkmal von Kultur als solcher ist. Viel von dem, was Anthropologen und Soziologen unter dem Begriff ‹Kultur› zusammenfassen, verkörpert die Möglichkeit des Andersseins, das heißt Merkmale und Muster des sozialen Lebens, die nicht durch Naturzwänge diktiert sind. Ihren Mitgliedern erscheinen viele Aspekte einer gegebenen Kultur als natürlich. Die Idee, dass bestimmte Vorstellungen willkürlich sind und gewisse Handlungen ebenso gut anders ausgeführt werden könnten, ist ihnen fremd. Von einem losgelösten Standpunkt aus ist es einfacher zu sehen, wie kontingent diese kulturellen Eigenschaften sind. Daher sind Vergleiche essenziell wichtig, um unter der verfestigten Gewohnheit das Veränderliche freizulegen.

Die Wichtigkeit einer vergleichenden Perspektive ist auf vielen Gebieten offensichtlich, etwa in der Soziologie, der Psychologie, der Religionswissenschaft, der Rechtswissenschaft und der Linguistik, um nur einige zu nennen. Wir müssen bei den Einsichten all dieser Disziplinen Anleihen machen, da uns in der Kulturwissenschaft keine andere Wahl bleibt als breite Darstellungen anzustreben. Was Raymond Williams über die Kultursoziologie sagte, trifft umso mehr auf ethnografische Beschreibungen bestimmter Kulturen zu: «Es ist die Bedingung jeder adäquaten Kultursoziologie, dass sie sowohl prinzipiell als auch praktisch für jede mögliche Spur offen ist.»[10] Das bedeutet freilich nicht, dass jede Spur gleich wertvoll wäre oder jede Disziplin außerhalb ihres Bereiches gleich viel zu bieten hätte. Die Linguistik, noch immer die theoretisch am weitesten entwickelte Humanwissenschaft, verbindet auf einzigartige Weise methodisch wie auch in ihrer Theorie externe und interne Perspektiven und dient daher nach wie vor vielen Ethnologen als Modell. Zwei Ebenen gilt es zu unterscheiden, die des Sammelns empirischer Daten und die des Ordnens der Daten. Diese Unterteilung ist allen Gebieten der empirischen Forschung gemeinsam.

Betrachten wir zunächst das Problem des Datensammelns. Sprache ist hoch komplex. Viele Aspekte der Struktur und Verwendung einer gegebenen Sprache befinden sich im Wesentlichen außerhalb der Reichweite eines außenstehenden Beobachters. Der Linguist, der die Sprache nicht fließend spricht, kann nicht viel zu ihrer Beschreibung beitragen, ohne sich auf das Urteil von Muttersprachlern zu berufen. Vieles hängt von der Qualität der Partnerschaft zwischen dem Linguisten und dem Informanten ab. Ersterer steuert die erforderlichen analytischen Werkzeuge bei, Letzterer die perfekte Beherrschung der Sprache. Selbstverständlich kann ein Muttersprachler auch ein Linguist sein. Tatsächlich erforschen viele Linguisten meistens ihre eigene Sprache, wogegen gar nichts einzuwenden ist. Andererseits braucht ein guter Informant nicht unbedingt ein Muttersprachler zu sein. Eine der Muttersprache gleichkommende Sprachkompetenz kann später im Leben erworben werden[11], wiewohl es hilfreich ist, inmitten derer zu leben, die die Sprache im täglichen Umgang verwenden. Wichtig indes ist, die verschiedenen erforderlichen Wissensarten, die des Linguisten und die des Informanten, zu unterscheiden und sich bewusst zu sein, dass beide voneinander getrennt bleiben müssen. Es gibt keinen Grund, weshalb ein Sprachwissenschaftler nicht über beide Fähigkeiten verfügen sollte, doch muss er oder sie darauf achten, nicht den qualitativen Unterschied zwischen dem losgelösten analytischen Wissen des Forschers und dem impliziten, intuitiven Wissen des Informanten zu verwischen.

Etisch und emisch

Beim Ordnen und Analysieren der Daten verwenden viele Ethnologen ein aus der Linguistik übernommenes Begriffspaar: etisch und emisch. Diese Begriffe entstammen zwei Untergebieten der Phonologie. Phonetik im engen Wortsinn befasst sich mit den physischen Eigenschaften von Sprachlauten, das heißt dem Ort und der Art ihrer Artikulation. Man nennt sie phonetische Merkmale. Phonetische Merkmale sind unabhängig von jeder Einzelsprache, da sie Laute als physiologische Ereignisse beschreiben. Ein bilabialer Nasal – der Laut, für den in der deutschen Orthografie der Buchstabe m steht – ist in jeder Sprache ein bilabialer Nasal. ‹Bilabial› und ‹Nasal› sind beschreibende Begriffe, die sich auf den menschlichen Körper, nicht auf eine Sprache beziehen. Die Aussprache dieses Lautes nimmt beide Lippen, den Artikulationsort, in Anspruch und erfordert als Artikulationsart den Austritt der Luft durch die Nase. Diese beiden Merkmale bringen das phonetische Segment [m] hervor, unabhängig von der Einzelsprache.

Doch weisen nicht alle Sprachen einem bilabialen Nasal und allen übrigen Sprachlauten dieselben Funktionen zu, die sie im Deutschen haben. Das ist eine der offensichtlichsten Tatsachen, die Sprachen voneinander unterscheiden. Wohlgemerkt haben wir nun unsere Perspektive geändert. Wir sprechen nicht mehr von sprachneutralen phonetischen Merkmalen, sondern von Merkmalen, die in einer bestimmten Sprache relevant sind. Das Deutsche unterscheidet drei nasale Laute, die schriftlich mit den Buchstaben m, n und nk oder ng dargestellt werden. Wenn wir ein Wortpaar wie Sinn und sing betrachten, ist klar, dass nur ihr Auslaut sie unterscheidet. Diese beiden Laute gelten daher im Deutschen als unterschiedlich. In anderen Sprachen kann dieser Unterschied irrelevant sein. Im Japanischen, um ein anderes Beispiel zu nennen, macht es keinen Unterschied, ob man ringo oder lingo sagt, beides sind mögliche Aussprachen des Wortes, das ‹Apfel› bedeutet. Dasselbe gilt für das deutsche Lehnwort arubaito oder jedes Wort, das einen l/r-ähnlichen Laut beinhaltet. Dies bedeutet nicht, dass japanische Lippen und Zungen nicht in der Lage sind, l und r auszusprechen, sondern vielmehr, dass der Unterschied zwischen den beiden, der Deutschsprechern so natürlich erscheint, in der japanischen Sprache bedeutungslos ist, so dass seine Sprecher ihn gewöhnlich nicht bemerken. Einige sagen arubaito, andere alubaito, doch gilt beides als ein und dasselbe Wort. Der von außen beobachtende Phonetiker kann den Unterschied hören und beschreiben, während der Muttersprachler ihn deswegen nicht beachtet, weil er bedeutungslos ist.

Um den Unterschied zwischen beiden Standpunkten zu systematisieren, verwenden die Linguisten den Begriff ‹Phonem›. Phonemik – daher emisch – ist die Lehre von den Lautsystemen einzelner Sprachen. Was ein Phonem ist und was nicht, kann nur für eine gegebene Sprache bestimmt werden. Ein Phonem ist ein Phonem der Sprache X. Es lässt sich am besten beschreiben als eine Kategorie von Lauten, welche die Sprecher einer Sprache von allen anderen Phonemen ihrer Sprache unterscheiden. Es ist die Aufgabe des Linguisten, die phonetischen Unterschiede herauszufinden, auf die es im phonemischen System der betreffenden Sprache ankommt.

Die Stärke der Phonemtheorie liegt darin, dass sie die komplexe Beziehung zwischen der Verwendung von Lauten als Medium für die Artikulation von Sprache und der Formung einzelner Lautsysteme erfasst, wobei sie auf umfassende und bedeutungsvolle Weise das Universelle und das Besondere, Biologie und Kultur miteinander in Beziehung setzt. Dies ist deshalb möglich, weil alle Laute, die der menschliche Sprechapparat hervorzubringen vermag, auf eine kleine Menge binärer Merkmale reduziert werden können. Die Lautsysteme aller Sprachen bauen auf diesen und nur diesen Kategorien auf. Die Unterschiede rühren aus der jeweils verschiedenen Auswahl und jeweils anderen Kombinationen. Wenn die charakteristischen Eigenschaften des Phonemsystems einer Sprache herausgearbeitet sind, werden gewisse Voraussagen möglich. Sobald man beispielsweise weiß, dass [l] und [r] im Japanischen ein einziges Phonem bilden, lässt sich voraussagen, dass es japanischen Muttersprachlern schwer fällt, diese Unterscheidung im Deutschen oder in anderen Sprachen vorzunehmen, in denen beide gesonderte Phoneme sind. Darüber hinaus liefert die Theorie eine Erklärung für die empirische Beobachtung, dass dies tatsächlich der Fall ist. Japanische Deutschschüler neigen dazu, l und r sowohl mündlich als auch schriftlich miteinander zu verwechseln, weil das Lautsystem ihrer Muttersprache sie gelehrt hat, diesen Unterschied nicht zu beachten.

Metaphern und Nudeln

Der theoretische Reiz und die Schärfe der Unterscheidung etisch/emisch in der Phonologie haben die Anthropologen dazu gebracht, sie auf die Analyse anderer, nichtsprachlicher Aspekte von Kultur anzuwenden. Diese Versuche waren nicht sehr erfolgreich, hauptsächlich deswegen, weil andere Untersuchungsgegenstände nicht so klar umrissen sind wie die Sprache. Phonemsysteme sind zwar hoch komplex, aber sie sind sozusagen auf einen einzigen Bereich beschränkt, nämlich auf Sprechlaute und die Weisen, wie sie strukturiert werden können. Andere Aspekte menschlichen Handelns und Wissens lassen sich nicht ohne weiteres auf ein Raster binärer Merkmale und Kombinationsregeln zurückführen. Auf der Verhaltensebene ist es nicht gelungen, emische und etische Einheiten zu identifizieren, die so klar definiert und so klar aufeinander bezogen sind wie phonemische und phonetische Merkmale. Und doch ist die Unterscheidung von emisch und etisch in der Anthropologie nützlich und weit verbreitet, wenn auch etwas metaphorisch. Eher als etische und emische Einheiten des Verhaltens und Denkens haben etische und emische Modi des Klassifizierens und Analysierens von Ereignissen und Handlungsweisen in der anthropologischen Betrachtungsweise des menschlichen Soziallebens einen Platz gefunden.

Was mit einigem Erfolg aus der Linguistik auf die Untersuchung anderer kultureller Ereignisse übertragen wurde, ist die systematische Unterscheidung der beiden oben erörterten Standpunkte. Im etischen Modus verwenden die Forscher Begriffe und Kategorien, die der Sprache der Theorie eigen und von der untersuchten Gemeinschaft unabhängig sind. Ob diese Begriffe und Kategorien und die sie verwendende Beschreibung angemessen sind, wird letzten Endes von den Forschern selbst beurteilt. Im Gegensatz dazu erhebt die emische Perspektive den teilnehmenden Informanten in die Position des obersten Richters über die in der Beschreibung verwendeten Kategorien und Begriffe. Ziel einer emischen Beschreibung ist das Freilegen der Kategorien, die für Mitglieder einer Kulturgemeinschaft bedeutsam sind, die sie verwenden, um ihr Leben zu organisieren, und an die sie ihr Verhalten anpassen. Essgewohnheiten sind ein gutes Beispiel dafür.

Nudeln sind, wie jeder außenstehende Beobachter leicht feststellen kann, ein wichtiger Bestandteil der japanischen Ernährung. Viele Restaurants sind auf Nudelgerichte spezialisiert. In jedem Supermarkt wird eine große Vielfalt von Nudeln verkauft: Makkaroni, Ramen, Soba, Somen, Spaghetti, Spinatnudeln, Udon und andere mehr. Trotz der offenkundigen Ähnlichkeit dieser Artikel, was ihre Form, die Bestandteile, den Nährwert und die Herstellung betrifft, ist eine solche Liste im kulinarischen Universum Japans wenig sinnvoll. Nicht weil sie unvollständig ist, sondern weil sie Kategorien durcheinanderbringt. Eine derartige Liste würden Ethnologen etwa in Warenverzeichnissen von Läden oder Großhändlern nirgends finden. Auch im Supermarkt würden sie diese Artikel nicht alle zusammen auf einem Regal antreffen. Stattdessen stünde Ramen auf einem Regal mit anderen chinesischen Lebensmitteln, Makkaroni und Spaghetti hätten ihren Platz auf einem Regal mit italienischen oder westlichen Produkten, und der Rest fände sich in einer einheimischen japanischen Abteilung. Niemand würde im Traum daran denken, Udon mit Tomatensoße und Parmesan zu essen (obgleich das Überschreiten von Kategorien in umgekehrter Richtung möglich ist: Wafū-Spaghetti oder japanische Spaghetti mit Dorschrogen und getrocknetem Seetang sind ein weit verbreitetes Gericht). Soba mit Gabel und Löffel zu essen ist barbarisch; Spaghetti so zu essen ist hingegen unanstößig. ‹Nudeln› sind mithin im Japanischen keine bedeutungsvolle Kategorie. Menrui, die dem am nächsten kommende Übersetzung, würde – unbeschadet ihres chinesischen Ursprungs – weder Spaghetti noch andere italienische Pasta mit einschließen. Auf der emischen Ebene ist eine grundlegende Unterscheidung bei der Kategorisierung von Lebensmitteln ihre japanische bzw. nichtjapanische Herkunft, selbst wenn das nichtjapanische Produkt in Japan hergestellt wird, wie etwa japanische Spaghetti oder ein japanisches Produkt aus importierten Rohstoffen, wie fast alles Tofu. Wenn man es jedoch auf der etischen Ebene mit einem langen, fadenähnlichen Nahrungsmittel zu tun hat, das aus verschiedenen Arten von Mehl hergestellt wird, scheint diese Unterscheidung nur den Blick auf eine Verallgemeinerung zu verstellen, und Verallgemeinerungen sind schließlich das, was wissenschaftliche Beschreibung anstrebt.

Daraus jedoch zu folgern, eine etische Beschreibung sei wertvoller als eine emische, wäre genauso verkehrt wie der umgekehrte Schluss. Für die Analyse des sozialen Lebens ist es notwendig, etische Kategorien zu verwenden, vorzugsweise Kategorien, die im Rahmen einer Theorie wohl definiert sind. Damit wir jedoch nicht übersehen, worauf es für die Mitglieder der Kulturgemeinschaft ankommt, müssen diese Kategorien an ihren emischen Kategorien und Regeln überprüft werden. Nicht immer ist der Unterschied zwischen beiden offensichtlich, oft gibt es darüber, wie die Welt beschaffen ist, weitgehende Übereinstimmung, aber nicht immer. Die Kategorien beider Ebenen können sich also decken oder auch nicht, doch selbst wo sie übereinstimmen, gehören sie verschiedenen Ordnungen an und stellen verschiedene Arten von Wissen dar. Wenn man sich für Ernährungsgewohnheiten interessiert, genauer gesagt für Rezepte, wie man verschiedene Sorten Mehl für den menschlichen Verzehr zubereitet, ist die Etik von Nudeln relevant. Wenn es jedoch um die japanische Esskultur geht, muss man versuchen, die Emik des Ordnungssystems der Nahrungsmittel zu verstehen, wobei sich herausstellt, dass Letzteres sich auf verschiedene Produkte und nicht nur auf Nudeln bezieht. Dies bedeutet nicht, dass die Etik von Nudeln im japanischen Kontext irrelevant wäre, doch reicht sie nicht, um zu verstehen, wie die Japaner Nudeln wahrnehmen, ganz zu schweigen von irgendeiner Hypothese darüber, wie sie andere Dinge wahrnehmen. Die Rekonstruktion der emischen Kategorisierung aber kann eine solche Perspektive eröffnen.

Zeichen

Ich werde die Unterscheidung von etisch und emisch verwenden, wo immer sie verspricht, Licht auf japanische Klassifikationen, Formen sozialer Beziehungen und kulturelle Ereignisse zu werfen. Wie ich dargelegt habe, erleichtert dieser Ansatz den Vergleich, indem er auf systematische Weise externe und interne Kategorien aufeinander bezieht, was insofern nützlich ist, als dieses Buch erhellen soll, was an der japanischen Kultur kulturell und was japanisch ist. Auf beiden Ebenen manifestiert sich Kultur als ein Zeichensystem. Weil es, wie eingangs bemerkt, bei Kultur immer um Bedeutung geht, wird sie oft als Zeichensystem definiert. Doch wird Kultur auch auf viele andere Weisen definiert: in Bezug auf Gebräuche und Verhaltensroutinen; in Bezug darauf, was als authentische Tradition anerkannt wird; in Bezug auf Werte und Religionen, auf Dinge, die dem Leben von Mitgliedern der Gemeinschaft einen Sinn geben; in Bezug auf das, was die Mitglieder durch Instruktion und Überlieferung lernen im Gegensatz zu dem, was ihnen biologisch vererbt wird. Solche Definitionen von Kultur verdienen es, ernst genommen zu werden. Sie alle erfassen verschiedene Aspekte von Kultur. Um sie zu integrieren, ist es meiner Überzeugung nach notwendig, sich sowohl auf externe als auch auf interne Information zu stützen, auf die Sicht von außerhalb und von innerhalb der Glastür.

Um noch einmal zu unserem ersten Beispiel zurückzukehren, würden wir uns im etischen Modus auf diejenigen Aspekte der morgendlichen Geschäftsöffnung von Isetan konzentrieren, die für einen Vergleich taugen und vielleicht zu erklären versuchen, was für Zeichen wir erkennen, die sich auf Hierarchie und Disziplin, Status und Rolle, Geschlecht und womöglich bestimmte ästhetische Kategorien beziehen. Diese Kategorien können als ein symbolisches System gedacht werden, das sich aus einer Anzahl von Zeichen zusammensetzt, die etwas bedeuten und mit ähnlichen Zeichensystemen vergleichbar sind, etwa mit Kaufhäusern in Rom, Berlin und Moskau. Im emischen Modus wären wir eher an den Merkmalen interessiert, die man kennen muss, um bei Isetan ein guter Verkäufer sein zu können. Dazu würden viele Details gehören, die für das, was allgemein zum Verkäufersein gehört, wenig relevant sind, während sie entscheidende Unterschiede zwischen Isetan, Mitsukoshi, Takashimaya etc. offenlegen würden. Diese Merkmale weichen auf systematische Weise von denen anderer japanischer Kaufhäuser ab, so wie bestimmte phonetische Merkmale systematisch von einem Dialekt einer Sprache zum anderen variieren. Gleichzeitig beziehen sich diese Merkmale auf andere Zeichensysteme, indem sie japanische Vorstellungen von zwischenmenschlichen Beziehungen, Stil und Professionalität enthalten. Eine sorgfältige Analyse der Emik einer Geschäftsöffnung wird gewisse Ähnlichkeiten mit Ereignissen ganz anderer Bereiche wie beispielsweise der Schule offenbaren, was ein Hinweis darauf ist, dass sie Teil eines größeren Systems sind, eines Systems, in dem die Unterscheidungen und Regeln vom Standpunkt des Mitglieds aus betrachtet sinnvoll und real sind.

Im Sinne zweier komplementärer Wissensmodi werden uns Emik und Etik als Orientierung dienen. Doch sollen sie hier nicht als ein starres Paradigma verwendet werden, das uns zwingt, Aspekte der japanischen Kultur zu ignorieren, die sich nicht ohne weiteres für eine Analyse im Rahmen dieser beiden aufeinander bezogenen Begriffe eignen. Kultur umfasst zu viele Aspekte des menschlichen Lebens, als dass sich alles einem einzigen Prinzip unterordnen ließe. Kultur ist kein Gebilde oder eine Sammlung von Gebilden, die für den Zweck einer Untersuchung isoliert werden können. Im hier gegebenen Kontext wird Kultur nicht als ein abgesonderter Schauplatz behandelt, sondern vielmehr als ein Gewebe, das im Hintergrund vielfältiger sozialer Schauplätze erkennbar ist, die gewöhnlich um ihrer selbst willen untersucht werden: grundlegende ontologische Vorstellungen, grundlegende Definitionen des Selbst[12], soziale Beziehungen, Erziehung, Religion, Geschäftswelt, Regierung, Recht, Kunst und Handwerk, um nur die offenkundigsten zu nennen. Diese Vielfalt steht der methodologischen Einheitlichkeit im Wege.

Ferner gilt es festzuhalten, dass heute niemand, der einen Überblick über die japanische Kultur anbietet, Neuland betritt. Die Japaner sind kein exotisches Volk, über das man wenig weiß. Im Gegenteil hat das über ein ganzes Jahrhundert hinweg von japanischen und westlichen Wissenschaftlern zusammengetragene Wissen Japan zu einer der bestuntersuchten Kulturen gemacht. Wir verfügen über umfangreiche Kenntnisse von den grundlegenden Weltanschauungen, Verhaltensmustern, Institutionen, Denkweisen und allen erdenklichen Facetten der traditionellen und modernen Gesellschaft. Nicht Mangel an Detailkenntnissen, sondern eine sachkundige und sinnvolle Auswahl ist die größte Herausforderung für den Entwurf eines Gesamtbildes. Was diejenigen Forscher in den Sozialwissenschaften, die ein aktives Interesse an Japan unterhalten, miteinander verbindet, ist nicht ein einziges theoretisches Paradigma, sondern der Gegenstand ihrer Forschung. Anstatt das Fehlen methodologischer Konsistenz zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, sollten wir anerkennen, dass das Beharren auf einer einzigen Forschungsstrategie zu einer Art von Reduktionismus führen muss, der lähmend und kontraproduktiv ist.

Dessen eingedenk bietet dieses Buch eine Beschreibung der japanischen Kultur, die sich auf die mannigfaltigen Erscheinungen der Gegenwart konzentriert und dabei ihre Genese und den weiteren historischen Hintergrund im Blick behält. Die im Folgenden behandelten Themen sind in vier Abschnitte unterteilt, wenngleich einige von ihnen wiederholt aufgegriffen werden und sich einer leichten Einordnung entziehen. Die Abschnitte sind (1) Verhalten und soziale Beziehungen, (2) Werte und Überzeugungen, (3) Institutionen und (4) materielle Kultur. Die vielfältigen Berührungspunkte und Überschneidungen sollen dadurch nicht aus dem Blick rücken. Ein Abakus z.B. ist ein Artefakt und als solches in Teil IV über die materielle Kultur zu behandeln. Sein Gebrauch wird in der Schule, einer Institution (Teil III) erlernt, die u.a. durch bestimmte Formen des Verhaltens und soziale Beziehungen (Teil I) charakterisiert ist und, wie auch das Rechnen mit dem Abakus selber, mit bestimmten Wertvorstellungen (Teil II) verknüpft ist. Die Einteilung in vier Teile wird also nicht vorgenommen, um die Bereiche völlig unabhängig voneinander zu behandeln, sondern um einen Gesichtswinkel zu finden, der ihre Wechselwirkungen erkennen lässt. Eben dieser Gesichtswinkel ist es, den wir hier japanische Kultur nennen.

ERSTER TEILVerhalten und soziale Beziehungen

 

Kultur ist soziale Übereinkunft. Überall auf der Welt müssen die Menschen ihren Grundbedürfnissen nach Nahrung, Obdach und Fortpflanzung gerecht werden, doch tun sie dies auf viele verschiedene Weisen. Selbst wo die natürlichen Bedingungen, das Klima und die physische Umwelt ähnlich sind, haben verschiedene Gruppen von Menschen für die gleichen Probleme äußerst unterschiedliche Lösungen gefunden. Diese Lösungen machen die Verhaltensaspekte von Kultur aus. Viele Verhaltensweisen werden von Überkommenem geformt, Sitten, die von der Tradition geprägt sind. Japan gilt gemeinhin als stark traditionsgebunden. Ebenso weit verbreitet ist das Staunen über den verblüffenden Gegensatz zwischen Modernität und Tradition, den man in Japan antrifft. Ist Japan traditioneller als etwa Großbritannien? In Ermangelung eines objektiven Maßstabs lässt sich das schwer sagen, wenn wir nicht in die Fallgrube der unkritischen Fortschrittsgläubigkeit stolpern wollen, wo Unterschiede zwischen Kulturen auf eine lineare Zeitachse projiziert werden, an deren Ende der «moderne Westen» steht, während alle übrigen Kulturen mehr oder weniger traditionsgebunden sind.[1] Die historische und anthropologische Forschung der letzten beiden Jahrzehnte richtet sich zu einem guten Teil darauf, den Erfindungscharakter von Traditionen offenzulegen.[2] Nicht alle Sitten wurden über einen langen Zeitraum hinweg befolgt, obgleich sie oft damit begründet werden, dass sie angeblich Tradition verkörpern. Die hohe Wertschätzung von Konventionen ist charakteristisch für die japanische Kultur, was ein Grund dafür sein mag, dass Japan oft als traditionell dargestellt wird. In vielen westlichen Gesellschaften steht man der Konventionalität eher ablehnend gegenüber, weil ihr der Ruch des Unoriginellen, des Abgedroschenen, des Klischees anhaftet. In Japan ist das nicht so. Durch allgemein respektierte Regeln gewähren standardisierte Verhaltensweisen die Sicherheit kultivierten Auftretens. Die augenfällige Neigung, Konventionen zu respektieren, hat manche Beobachter dazu veranlasst, das Leben in Japan als in hohem Maße konformistisch und angepasst zu beschreiben. Einigen Soziologen zufolge werden die kulturellen Ideale Harmonie und Konsensus von den Mächtigen ideologisch ausgenutzt, um die Massen zu Konformität zu zwingen und sie so besser kontrollieren zu können. In westlichen Gesellschaften hingegen gilt es als positive Eigenschaft, sich von der Masse abzuheben.

Eine weitere, sowohl von japanischen als auch von westlichen Psychologen viel diskutierte Folge des Festhaltens an Konventionen und des Anpassungsdrucks der Gruppe ist, dass die Japaner angeblich bereit sind, auf individuelle Selbstverwirklichung zu verzichten. Das starke Ego, das in westlichen Gesellschaften gefördert wird, fehle ihnen, und stattdessen hätten sie, so das Schlagwort Minami Hiroshis, ein «Gruppen-Ego».[3] Innerhalb eines repressiven Sozialsystems mangele es den Menschen an Gelegenheiten, sich als Individuen durchzusetzen, da sie ihr Selbst einer Gruppe überantworteten.

Eine solche Sicht ist simplistisch und daher falsch. Sie lässt uns übersehen, dass, wie Robert Smith prägnant formulierte, «die Japaner der Entwicklung der Menschen zu sozialen Wesen höchste Bedeutung beimessen».[4] Die Tatsache, dass bestimmte, kulturelle Züge manifestierende Verhaltensweisen einerseits als konformistisch und als Mangel an Individualität dargestellt werden können und andererseits als Mittel der Herstellung sozialer Harmonie, lässt vermuten, dass diese Darstellungen eher emischer als etischer Natur sind. Der Soziologe Eshun Hamaguchi erinnert zu Recht daran, dass «die Vorstellung, Menschen seien unabhängige und keinerlei Zwängen unterstehende ‹Individuen›, ihren Ursprung im Westen hat».[5] Daher sollten wir uns davor hüten, diesen Gedanken für universell zu halten, wenn wir Kulturen außerhalb seines Entstehungskontexts beschreiben. Ist Konformismus also ein emischer Begriff? Vielleicht; sicherlich beinhaltet er westliche Ideen über das Leben als soziale Wesen und Individuen. Ein englisch-japanisches Standardwörterbuch erklärt ihn so: «das Befolgen sozialer Regeln, Gebräuche etc. (gewöhnlich negativ).» Die Ergänzung in Parenthese ist aufschlussreich, und zwar weniger im Hinblick darauf, was sie über das englische Wort aussagt, sondern weil sie für den japanischen Benutzer des Wörterbuchs offensichtlich notwendig ist. Es gibt keinen entsprechenden japanischen Begriff mit demselben negativen Beiklang. Mit Konvention und Brauch werden nicht Eigenschaften wie unpersönlich und farblos assoziiert, sondern Anstand und Takt. Das Alltagsverhalten in Japan wirkt auf westliche Beobachter oft förmlich oder gar steif. Aber was dem Betrachtenden steif erscheint, braucht nicht unbedingt für den Beteiligten so zu sein.

Auch bedeutet eine allgemein positive Haltung gegenüber Ordnung, Konformität und Harmonieorientierung nicht, dass es keine Nonkonformität gäbe. Die japanische Gesellschaft ist genauso differenziert wie jede andere Gesellschaft dieser Größe. Es gibt ein enorm vielfältiges Nebeneinander von Gruppen mit grundverschiedenen Lebensstilen und Wertorientierungen. Die Mannigfaltigkeit der regionalen Zugehörigkeiten, der Berufe, der Altersgruppen, der sprachlichen Identitäten und Bildungshintergründe ist so groß, dass die Einheit betont werden muss. Insbesondere die Kulturproduktion weist eine unendliche Vielfalt auf, und ihre erfindungsreichen Protagonisten sind alles andere als konventionsgebundene Konformisten. Innerhalb der Japanwissenschaft befasst sich ein breites Spektrum von Literatur ausschließlich mit abweichendem Verhalten, Konflikt und anderen Manifestationen von Exzentrizität und Disharmonie.[6] Das Schwimmen gegen den Strom wird sogar geschätzt, vielleicht weil es vergleichsweise selten ist. Die japanische Literatur ist voller Helden, die infolge misslicher Umstände gezwungen sind, gegen Konventionen zu verstoßen, wobei ihr von Aufrichtigkeit (makoto) und einem reinen Herzen geleitetes Handeln dem Publikum Bewunderung abverlangt. Gleichwohl sind nur wenige Menschen Helden, die meisten bevorzugen die Sicherheit der ausgetretenen Pfade.

Dieser Teil des Buches befasst sich mit den ausgetretenen Pfaden der japanischen Kultur, wie sie sich im Verhalten und den sozialen Beziehungen manifestiert. Da es nicht möglich ist, alle kulturell interessanten Verhaltensweisen und sozialen Beziehungen zu behandeln, wurden hier vier Aspekte ausgewählt. Als erstes werden wir eine Reihe von Bräuchen untersuchen, die mit dem Lebenszyklus von (normalen, nicht von heroischen) Menschen verbunden sind, um sodann die Verwandtschaft als kulturelles Erbe, als soziales Subsystem und als Metapher für nicht blutsverwandte Beziehungen zu beschreiben. Die Familie fungiert, worauf häufig hingewiesen wird, sowohl real als auch ideologisch als eine wichtige Einheit der japanischen Gesellschaft. Verwandtschaft handelt davon, wie die Familie definiert wird, wie biologische Beziehungen kulturell ausgeformt werden, wie Grenzen zwischen innen und außen, zwischen legitimen und illegitimen Beziehungen gezogen werden. Verwandtschaftsgruppen bilden den Kern der japanischen Sozialstruktur, und ihre interne Organisation dient als Bezugssystem für Verhalten und symbolisches Handeln generell.

Drittens werden wir einen Verhaltensaspekt untersuchen, der aus oben angedeuteten Gründen eine gesonderte Betrachtung rechtfertigt: die Etikette. Die Japaner haben einen ausgeprägten Sinn für Umgangsformen, was, wie wir sehen werden, mehr als eine bloße Formsache ist. Hierbei spielt wiederum die Sprache eine besondere Rolle, weil die Regeln der verbalen Etikette am ausdrücklichsten kodifziert sind und erlernt werden. Jede Sprache kann Formalität und Intimität, Solidarität und Macht ausdrücken, doch gehört das Japanische zu denjenigen Sprachen, die es nicht nur ermöglichen, die eigenen Äußerungen entsprechend zu nuancieren, sondern es schwer machen, diese Dimensionen zu ignorieren. Sprache ist ein Mittel des Austauschs,[7] und die verbale Kommunikation ist ein unablässiges Geben und Nehmen in mehr als einem oberflächlichen Sinn. Für das Japanische gilt dies in besonderem Maße, da die Struktur des Gebens und Nehmens in die Grammatik eingebaut ist, anstatt nur im Sprachgebrauch zum Ausdruck zu gelangen.

Für die Regulierung sozialer Beziehungen ist zwar die Sprache von überragender Bedeutung, aber es gibt auch andere Mittel des symbolischen und materiellen Austauschs, die verwandte Funktionen erfüllen. Japan hat eine hoch entwickelte Geschenkkultur. Das Schenken unterliegt sehr detaillierten Regeln, welche die zugrunde liegenden ökonomischen Beziehungen in eine kulturelle Form kleiden und so als Vehikel der Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts dienen. Da es eng mit sozialem Verhalten und Etikette verbunden ist, wird es im letzten Kapitel dieses Teils behandelt.

1Übergangsriten

Das Leben in Japan wird von Sitten und Bräuchen strukturiert. Einander überschneidende Zyklen von Ritualen, Zeremonien, Feiern und Gedenkanlässen bilden einen Rhythmus, der natürliche Zyklen akzentuiert und gestaltet. Sitten und Bräuche können in diesem Sinne als kulturelle Zeit im Gegensatz zur natürlichen Zeit verstanden werden. Dabei sind zwei Arten von Zyklen zu unterscheiden: solche, die sich auf sozial definierte Ereignisfolgen beziehen, und solche, die den individuellen Lebenszyklus betreffen. Erstere beinhalten den Zyklus der mit den Jahreszeiten verbundenen Ereignisse sowie den sechzigteiligen Zyklus der zwölf Tiere des Tierkreises und der fünf Elemente, die in Ostasien seit alters her zum Aufzählen von Jahren und Tagen verwendet werden. Letztere unterteilen die individuelle Lebenszeit in bedeutungsvolle Abschnitte wie Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter. Darüber hinaus gibt es Bräuche für unregelmäßige Ereignisse, die gemäß traditionellen Vorgaben gestaltet werden wie etwa Grundsteinlegungen, Eröffnungs- und Aufnahmezeremonien, der Beginn von Wahlkampagnen oder Siegerehrungen sowie andere seltene Ereignisse wie die Inthronisierung eines neuen Kaisers 2019. Der Jahreszyklus wird an späterer Stelle als Beispiel einer kulturellen Institution mit regulativen Funktionen erörtert. Dieses Kapitel konzentriert sich auf die kulturelle Einteilung des Individuallebens in einzelne Abschnitte. Die sozialen Interpretationen der Übergänge zwischen diesen Phasen sind als Übergangsriten bekannt. Tradierte Bräuche geben ihnen eine feste Form.

Geburt

Das menschliche Leben beginnt als Bestätigung der Kultur. Schon der Gebärakt ist kulturell, da den Müttern beigebracht wird, wie sie sich unter diesen Umständen verhalten sollen, anstatt dem natürlichen Prozess freien Lauf zu lassen. Schon bevor ein neues Leben eine eigene körperliche Existenz erlangt, während der ganzen Schwangerschaft, ist die Kultur präsent. Oft beten Frauen für eine leichte Geburt (anzan kigan), und Amulette für schmerzfreie Wehen und ein gesundes Kind gehören in Shintō-Schreinen und buddhistischen Tempeln zu den meistverkauften Talismanen. Diese omamori sind Papierzettel mit dem Namen einer Gottheit, den schwangere Frauen in einem kleinen seidenen Umschlag bei sich tragen oder auf den Shintō-Familienaltar (kamidana) legen. Im fünften Schwangerschaftsmonat führen noch immer viele Frauen die überkommene Zeremonie des Schärpebindens, obi iwai aus. Hierbei erhält die Frau von ihren Eltern ein besonderes Stück Stoff, das ihre zukünftige Hebamme ihr um die Taille bindet, um für eine sichere Entbindung zu beten. Diese Zeremonie sollte im Tierkreiszyklus am Tag des Hundes stattfinden[1], da Hunde, wie man glaubt, keinen Wehenschmerz erleiden.

Wenn das Kind geboren ist, beginnt eine Reihe von Ritualen, die es zu einem Mitglied der Familie und der Gesellschaft insgesamt machen. Die Übertragung kultureller Verfahrensweisen von einer Generation auf die nächste beginnt ganz am Anfang, mit der Geburt des Kindes. Heute ist die Kindersterblichkeit Japans die weltweit niedrigste, was jedoch nicht immer so war. Es gibt dabei eine klare Korrelation zwischen dem Wachstum des Bruttosozialproduktes und dem Rückgang der Kindersterblichkeit. In früheren Zeiten, bevor Japan in die Liga der entwickelten Industrieländer aufstieg, war die Gefahr, während der ersten Monate nach der Geburt zu sterben, sowohl für das Kind als auch für die Mutter weitaus größer. Emischer ausgedrückt hatten Säuglinge ein schwaches und prekäres Leben, das jederzeit erlöschen konnte. Überkommene Überzeugungen und Rituale, von denen viele noch heute gepflegt werden, zeugen von dieser Unsicherheit. Wenn ein Kind geboren wird, ist eine Geburtsgottheit, ubugami, zugegen, um den gefährlichen Übergang in diese Welt zu überwachen. Dann wird das Neugeborene von einem Ahnengeist durchdrungen, der unsterblich ist. Sowie der Geist in den Körper eingeht, stößt das Kind seinen ersten Schrei, ubugoe, hervor und wird zum Menschen. Folglich ist der Körper der vorübergehende Wohnsitz des Geistes eines Ahnen, und am Anfang ist die Verbindung zwischen beiden schwach. Der Geist kann sich leicht vom Körper des Säuglings zurückziehen und so das junge Leben beenden. Daher ist es notwendig, die Bindung des Geistes an das Kind zu festigen, zu welchem Zweck verschiedene Rituale durchgeführt werden.

Aufgrund der engen Verbindung mit dem Tod haben sich um die Geburt herum verschiedene Tabus entwickelt. Bei vielen Tabus geht es um das Vermeiden «roter und schwarzer Verunreinigungen» (aka fujō und kuro fujō), die mit Blut beziehungsweise dem Tod verbunden sind. Durch diese Tabus wurde verdeutlicht, dass eine Geburt nicht nur eine private, sondern auch eine soziale Angelegenheit war. In einigen Teilen Japans war es üblich, Wöchnerinnen in Gebärhütten (ubuya) unterzubringen, um andere vor einer Ansteckung mit ihrer «roten Verunreinigung» zu schützen. Auch während der Mensis wurden die Frauen manchmal in ubuya oder andere getrennte Unterkünfte abgesondert. Das Essen, das in einer ubuya untergebrachte Mütter erhielten, wurde an einem von der Küche des Hauses getrennten Ort zubereitet. In Dörfern, wo es eine Geburt gegeben hatte, durften sich die Mitglieder des Haushalts oder sogar des ganzen Dorfes nicht dem Schrein nähern und zwei oder drei Tage lang sollte nicht im Freien gearbeitet werden. Etisch gedeutet, erfolgte die Absonderung aus hygienischen Gründen, um die Gefahr des Kindbettfiebers oder anderer Infektionen zu mindern.

Die Rituale in Zusammenhang mit dem Neugeborenen beginnen, sobald die Mutter wieder auf den Beinen ist. Mikka iwai, die Feier des dritten Tages, bietet die Gelegenheit für mehrere «Premieren» wie etwa das erste Bad (ubuyu), den ersten Haarschnitt (ubugesori) und die ersten Kleider (ubugi), richtige Kleider, die Ärmel haben und das Baby enger mit der Gemeinschaft verbinden. Auch die Zeremonie der Namengebung (meimei) wird zwischen dem dritten und dem vierzehnten Tag durchgeführt.

Namengebung

Dieses Ereignis ist für den Säugling ein wichtiger Schritt hin zum Erwerb einer sozialen Existenz. Obwohl die Wahl eines glücklichen Namens, der zu dem Einzelnen passt, individuelle Aspekte hat, ist die Namengebung immer ein sozialer Akt von großer symbolischer Bedeutung gewesen. Traditionell galten Namen als bedeutungsvolle Merkmale ihrer Träger und waren daher von Tabus umgeben. Jemandes Namen zu kennen bedeutete, Macht über ihn zu haben. Ein Edikt aus dem Jahr 774 u. Z. verbietet die Verwendung derzeitiger und früherer Kaisernamen. Selbst Namen, die phonetisch denen von Kaisern oder Gottheiten ähnelten, waren verboten. Personennamen erlangten eine geheiligte Qualität. In vielen Zusammenhängen herrscht noch heute eine Abneigung gegen die Verwendung von Namen, man bevorzugt für die Anrede Titel und Verwandtschaftsbezeichnungen.*