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Die Rolle der öffentlichen Universitäten in unseren demokratischen Gemeinwesen hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Nicht nur sollen sie sich in der extrem kompetitiven globalen Spitzenforschung behaupten und unter Einsatz digitaler Werkzeuge eine diverse Studierendenschaft auf die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte vorbereiten. Sie sollen über ihre Transferaktivitäten lokale Start-up-Ökosysteme aufbauen, die langfristig für Wohlstand und Lebensqualität sorgen. Und schließlich müssen sie sich vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen schwierigen Fragen hinsichtlich Rede- und Meinungsfreiheit auf dem Campus zuwenden. All dies, während die Haushalte der Universitäten stagnieren, unabhängig davon, ob sie sich – wie in Deutschland – fast ausschließlich aus Steuergeldern finanzieren oder – wie in vielen anderen Ländern – mit durchaus berechtigten Protesten gegen absurd hohe Studiengebühren konfrontiert sehen. Der seit vielen Jahren als Universitätspräsident tätige Autor greift diese Entwicklungen auf und macht konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung der Institution öffentliche Universität.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Rolle der öffentlichen Universitäten in unseren demokratischen Gemeinwesen hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Nicht nur sollen sie sich in der extrem kompetitiven globalen Spitzenforschung behaupten und unter Einsatz digitaler Werkzeuge eine diverse Studierendenschaft auf die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte vorbereiten. Sie sollen über ihre Transferaktivitäten lokale Start-up-Ökosysteme aufbauen, die langfristig für Wohlstand und Lebensqualität sorgen. Und schließlich müssen sie sich vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen schwierigen Fragen hinsichtlich Rede- und Meinungsfreiheit auf dem Campus zuwenden. All dies, während die Haushalte der Universitäten stagnieren, unabhängig davon, ob sie sich – wie in Deutschland – fast ausschließlich aus Steuergeldern finanzieren oder – wie in vielen anderen Ländern – mit durchaus berechtigten Protesten gegen absurd hohe Studiengebühren konfrontiert sehen. Der seit vielen Jahren als Universitätspräsident tätige Autor greift diese Entwicklungen auf und macht konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung der Institution öffentliche Universität.
Oliver Günther, geboren 1961, ist Wirtschaftsingenieur und Informatiker. Nach seiner Promotion in Berkeley war er viele Jahre Professor für Wirtschaftsinformatik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2012 ist er Präsident der Universität Potsdam.
PASSAGEN WISSENSCHAFT UND BILDUNG
Oliver Günther
Gefahr für die Demokratie oder Garantin des Gemeinwohls?
12 Thesen zur Zukunft unserer Hochschulen
Passagen Verlag
Deutsche Erstausgabe
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-7092-5088-4 (ePub)
ISBN 978-3-7092-0627-0
© 2025 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Grafisches Konzept: Ecke Bonk
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Passagen Verlag Ges. m. b. H.
Walfischgasse 15, A-1010 Wien
http://www.passagen.at
1 Einleitung
2 Universität und Demokratie
2.1 Die Universität als Ort der Persönlichkeitsbildung
2.2 Die Universität als Ort des öffentlichen Dienstes
2.3 Die Universität als Ort der Freiheit
2.4 Die Universität als Ort der Toleranz
3 Herausforderungen universitärer Lehre
3.1 Lehren aus Bologna
3.2 Anwendungsorientierung in der Lehre
3.3 Digitalisierung und KI in der Lehre
3.4 Studentisches Leben
3.5 Heterogenität und Diversität
3.6 Lehrkräftebildung und Bildungsforschung
3.7 Fort- und Weiterbildung
4 Universitäten als Orte der Spitzenforschung
4.1 Rankings und Exzellenz
4.2 KI als forschungsunterstützende Technologie
4.3 Institutionalisierte Kooperation als universitäres Strukturmodell
4.4 Warum promovieren wir?
4.5 Forschung und Transfer
5 Strukturfragen
5.1 Universitäten versus HAWs: Studierendenzahlen und die Rolle des Kapazitätsrechts
5.2 Ist die Dichotomie Universität versus HAW noch sachgerecht?
5.3 Von der Promotion zur Professur
5.4 Tarifvertrag Wissenschaft?
5.5 Tenure-Track nachhaltig
5.6 Von den USA lernen? Eine persönliche Betrachtung
5.7 Ein Plädoyer für das Lehrstuhlsystem
5.8 Dekan versus Dean
5.9 Die Rolle der Hochschulleitung
5.10 Hochschulbau und (Ent-)Bürokratisierung
6 Zwölf Thesen
Anmerkungen
Anhänge
Index
Universitäten weltweit sind nach Jahren politischer Zurückhaltung wieder Plattformen des gesellschaftlichen Diskurses geworden. Wurden sie dabei Brutstätten von Extremisten? Oder sind sie nicht gerade in dieser Rolle Garantinnen des Gemeinwohls, als offene Räume, in denen Meinungen sich im Kontext von akademischer Forschung und Lehre behaupten müssen?
Kritik an Universitäten ist nicht neu. Bereits in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, als in Deutschland lediglich vier bis fünf Prozent eines Geburtsjahrgangs studierten, gab es Befürchtungen einer vermeintlichen „Vermassung“ der bis dahin im positiven Sinne als elitäre Einrichtungen wahrgenommenen Hochschulen. Kaum jemand hätte sich damals vorstellen können, dass einmal mehr als die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium aufnehmen würde. Andererseits sprach der Pädagoge Georg Picht1 1964 von einem „Bildungsnotstand“, weil die Studierendenzahlen immer noch zu gering und die Unterrichtsbedingungen zu schlecht seien. Seit Mitte der 60er-Jahre wuchs zudem die Kritik an der „Ordinarienuniversität“, die bis dahin die deutsche Hochschullandschaft prägte. Die Proteste gipfelten in der Studentenbewegung von 1968 und ihren Forderungen nach mehr Demokratie und Mitbestimmung. Viele konservative Zeitgenossen2 sahen in ihr allerdings eher eine Gefahr für die Demokratie. Denn waren die progressiven Hochschulen nicht auch der Hort der Systemkritik; der Schoß, aus dem Terroristen wie Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin hervorgingen, die allesamt auch noch von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert worden waren?3
In der Bundesrepublik wurden auf der Grundlage von Empfehlungen des 1965 von Bund und Ländern eingerichteten Deutschen Bildungsrats strukturelle Reformen eingeleitet, was zu weitreichenden Veränderungen führte. Fachhochschulen wurden gegründet, die Universitäten auch breiteren Schichten der Bevölkerung zugänglich. Dennoch fällte Peter Glotz 19964 das Urteil, die deutschen Hochschulen seien „im Kern verrottet“ – eine Behauptung, die sich nicht nur auf die schon damals kritisch überalterte Bausubstanz der Hochschulen bezog. Notwendig, so Glotz, seien Flexibilisierung und Selbstregulierung, leistungsgebundene Mittelzuteilung, Hochschulautonomie („staatliche Aufsicht statt staatlicher Kontrolle“) sowie eine stärkere Kommunikation innerhalb der Hochschulen und im Dialog mit der Öffentlichkeit. Studiengebühren hielt Glotz ebenfalls für geboten.
Der langjährige Oldenburger Universitätspräsident Michael Daxner klagt in seiner im selben Jahr erschienenen Schrift Ist die Uni noch zu retten?5 ebenfalls über die Missstände:
Mitte der siebziger Jahre gab es an deutschen Hochschulen etwa 800.000 Studenten. Heute sind es mehr als doppelt so viele, ohne dass sich an der Zahl der Lehrenden oder der Ausstattung der Universitäten Nennenswertes geändert hätte. Die BAföG-Debatte, das hilflose Nachdenken der Hochschulrektoren über Studiengebühren, die Frage nach der Qualität der Lehre, die allgemeine Unterfinanzierung: All dies verunsichert künftige Studienanfänger und ihre Eltern.
Heute – Stand 2025 – gibt es in Deutschland knapp drei Millionen Studierende.
Im Jahr 2000 knüpfte Detlef Müller-Böling mit seinem Buch Die entfesselte Hochschule6 an diese Überlegungen an. Seine Kernforderung lautete, die Hochschule „aus den selbst auferlegten Denkblockaden der Hochschulmitglieder ebenso heraus[zu]führen […] wie aus den kleinteiligen Kontrollen und Regulierungen des Staates“. Die Hochschulen sollten „autonomer“, „wettbewerblicher“ und „profilierter“ werden.
Zu diesem Zeitpunkt hatten 29 europäische Minister in Bologna bereits eine Hochschulreform auf den Weg gebracht, die auf eine europaweite Vereinheitlichung von Studiengängen und -abschlüssen abzielte. Wesentliche Elemente des 1999 angestoßenen „Bologna-Prozesses“ waren die europaweite Einführung eines Bachelor-/Master-Systems, das die in Deutschland bis dahin dominierenden Diplom- und Magisterabschlüsse ablösen sollte, ein einheitliches „European Credit Transfer System“ (ECTS) mit dem Ziel, die internationale Mobilität der Studierenden zu fördern, und eine stärker auf Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt (employability) abzielende Ausrichtung universitärer Studiengänge (wie sie bis dahin vor allem mit den Fachhochschulen assoziiert war).
Das vorliegende Buch zieht eine Bilanz dessen, was seither geleistet wurde – und dies ist nicht wenig. Es hebt zudem auf neue gesellschaftliche Herausforderungen ab, denen die Hochschulen bisher nur eingeschränkt gerecht werden. Eine Studienanfängerquote von über 50 Prozent eines Jahrgangs und ein steigender Anteil internationaler Studierender hat viel für sich – gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität, Internationalität und Diversität unseres gesellschaftlichen und professionellen Umfelds. Dies bedarf neuer Lehr- und Lernparadigmen, die berücksichtigen, dass einerseits Erstsemester Probleme etwa mit dem kleinen Einmaleins und der Rechtschreibung haben, andererseits leistungsfähige Studierende keinesfalls unterfordert werden dürfen. Die Steigerung der Zahl an Abiturienten und Studienanfängern wäre eine gefährliche Sackgasse, wenn sie mit Leistungsverfall einherginge. Dies würde zu einer Überakademisierung auf niedrigem Niveau führen, möglicherweise verbunden mit anschließender Arbeitslosigkeit und einem gleichzeitigen Mangel an Fachkräften in vielen Bereichen.
Um dies zu vermeiden, muss auch das duale System einer parallelen Ausbildung in Betrieb und Berufsschule erhalten werden, das weiterhin knapp 40 Prozent der jungen Menschen erfolgreich absolvieren. Deren Berufswege, die ja hinsichtlich Lebenseinkommen und ‑zufriedenheit mit der „Akademikerlaufbahn“ durchaus mithalten können, müssen zudem in der öffentlichen Wahrnehmung aufgewertet werden, damit niemand sie als Bildungsgänge zweiter Klasse wahrnimmt. Gelänge dies nicht, würden noch mehr Jugendliche zum Abitur und zu einem Studium verführt werden, für das sie nicht qualifiziert sind und das ihnen auch keine Erfüllung bietet. Diverse OECD-Studien, die in ihrem Ländervergleich von Bildungssystemen nur auf die Maximierung der Quote von Hochschulabsolventen abheben, dürfen hierbei nicht zu falschen Schlussfolgerungen verleiten.
Hochschule ist nicht gleich Hochschule, und Hochschulen lassen sich auch nicht einfach in zwei Kategorien einteilen, wie es in Deutschland immer noch geschieht. Vielmehr besteht eine enorme Vielfalt von Hochschulen, denen eine Dichotomie von Universitäten einerseits und Fachhochschulen beziehungsweise Hochschulen für Angewandte Wissenschaften7 andererseits nicht gerecht wird. Ohne eine unangebrachte Hierarchisierung zu insinuieren, muss es in einem Gemeinwesen Hochschulen mit unterschiedlichen Profilen und Anforderungen geben, die den vielfältigen beruflichen Erfordernissen und den verschiedenen Profilen und Begabungen der Studienanfänger Rechnung tragen. Ich plädiere deshalb für die Abschaffung der Dichotomie Universitäten versus HAWs und stattdessen für die Positionierung, Profilierung und Finanzierung der Hochschulen entlang eines breiten Spektrums, an dessen einem – dem praxisorientierten – Ende die dualen Studiengänge und Hochschulen stehen, am anderen Ende die forschungsorientierten Spitzenuniversitäten, an denen Hochbegabte ausgebildet werden, um im Kontakt mit internationaler Spitzenforschung zu studieren und – für den Fall ihres Verbleibs in der Wissenschaft – später auch selbst Spitzenforschung zu betreiben.
An den Universitäten ist eine derartige Spitzenstellung nur über qualitativ höchstwertige Leistungen erreichbar, die sowohl von den Professoren als auch von den Studierenden erbracht werden müssen. Dies muss bei den inzwischen so populären Hochschulverträgen zwischen Ministerien und Hochschulen eine größere Rolle spielen. Nicht Quantität, wie die Anzahl der Studierenden oder gar der Promotionen, darf Kriterium für die finanzielle Ausstattung sein. Im Mittelpunkt der Beurteilung müssen vielmehr die Qualität der Forschung, der Lehre und des Wissens- und Technologietransfers stehen. Außerdem muss sichergestellt sein, dass Hochschulverträge auch eingehalten werden und nicht – wie 2025 in Berlin – bei Haushaltsproblemen einfach wieder gekündigt werden.
Letztlich dürfen aber auch die Gymnasien und vergleichbare Einrichtungen nicht aus der Pflicht entlassen werden, ihre Schülerinnen und Schüler so auszubilden, dass sie in der Lage sind, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Jegliche weitere Absenkung des Leistungsniveaus (und parallel hierzu eine weitere Steigerung der durchschnittlichen Abiturnote) führt in die Irre. Als Leiter einer Universität mit mehr als 20.000 Studierenden, unter ihnen viele Lehramtsstudierende, sind mir die einschlägigen Probleme mit grundlegenden Bildungsdefiziten und Kenntnislücken beim Hochschulzugang sehr wohl bewusst. Wir Universitäten können diese Defizite aber nicht beheben. Die Probleme müssen vielmehr im Bereich der Schulen und Bildungsministerien gelöst werden – gerne in enger Zusammenarbeit mit den Universitäten, die für das Lehramt ausbilden.
Die teils stark übertriebene Bürokratisierung der öffentlichen Abläufe ging an den Hochschulen nicht vorüber; sie hat sie sogar besonders hart getroffen. So hat die Hochschulautonomie – entgegen den Forderungen von Glotz und Müller-Böling – in den letzten Jahren eher noch gelitten, anstatt gefördert zu werden. Verantwortlich dafür war nicht nur ein oftmals überhöhtes Sendungsbewusstsein der zuständigen Ministerien, sondern auch – insbesondere im Hochschulbau – eine allgemeine, von der EU-Bürokratie noch beförderte Sklerotisierung der Verwaltungsabläufe. Viel Bürokratisierung ist aber auch hausgemacht. Wenn Reisekostenabrechnungen immer noch in Papierform, womöglich mit Durchschlägen, eingereicht werden müssen und deren Bearbeitung mehrere Monate in Anspruch nimmt, ist dies einer Verwaltung mit Effizienzanspruch schlicht unwürdig.
Auch die Internationalisierung der Hochschulen leidet unter bürokratischen Hindernissen, wobei hier politische Entwicklungen eine wichtige Rolle spielen. Die intensiv geführte Debatte um Zuwanderung wirkt sich hier direkt aus, denn die visaerteilenden Botschaften und Konsulate sind ebenso wie die Ausländerbehörden der Kommunen von politischem Einfluss nicht frei. Wir verlieren immer wieder hochqualifizierte Studienbewerber, weil die Wartezeit auf das Visum zu lang ist, weil heftige finanzielle Garantien gefordert werden, für die Bewerbern das Geld fehlt, oder weil Studienbewerber von der deutschen Bürokratie bereits überfordert werden, bevor sie einen Fuß auf deutschen Boden setzen. Viele dieser jungen Menschen könnten hier erfolgreich studieren, wenn diese Hürden nicht bestünden. Sie könnten sich integrieren und die deutsche Gesellschaft auf ihre Weise bereichern. Dass dies in allzu vielen Fällen an vermeidbaren Hürden scheitert, ist höchst bedauerlich.
Dies ist nicht der einzige Bereich, in dem sich die aktuellen politischen Herausforderungen auf den Campi dieser Welt widerspiegeln. Die Frage der Rolle der Universitäten in unserem demokratischen Gemeinwesen stellt sich immer wieder neu. Inwieweit müssen sich Universitäten auch in einem freien Land wie Deutschland dem Regierungswillen fügen, wenn es zum Beispiel um die Zusammenarbeit mit Russland oder China geht? Wie weit reicht die Hochschulautonomie? Sind unsere Universitäten womöglich schon wieder Brutstätten demokratiefeindlicher Elemente, wie es ihnen in den 60er- und 70er-Jahren nicht nur von konservativen Beobachtern attestiert wurde? Sind Universitäten der richtige Ort, um über die schwierige Lage im Nahen Osten zu diskutieren, wenn dies nur unter Polizeieinsatz möglich ist? Und dürfen auch radikale Populisten an Hochschulen das Wort ergreifen?
Der kontrovers diskutierte Terminus woke8 spielt in dieser Debatte eine nicht unerhebliche Rolle – laut Wikipedia ein „seit den späten 2010er Jahren verstärkt verwendeter Begriff, der eine erhöhte Sensibilisierung für soziale Ungerechtigkeiten und Formen des Rassismus beschreibt. Aktivistisches oder militantes Eintreten für den Schutz von Minderheiten kann damit einhergehen.“ Gerade diese Form von Aktivismus, die wir auf universitären Campi weltweit beobachten, wird vor allem von konservativen und rechtspopulistischen Beobachtern zunehmend als Gefahr für die Demokratie gesehen: vor allem, wenn sie sich auch noch in einer übertriebenen cancel culture manifestiert, die Studierenden Inhalte vorenthalten will, weil sie von Teilen der Gesellschaft als diskriminierend im weiteren Sinne wahrgenommen werden. Da werden durchaus Erinnerungen an die späten 60er-Jahre wach, wenngleich unter veränderten Vorzeichen.
So sieht die britische Publizistin Joanna Williams woke als elitäre Bewegung, die eine ernsthafte Bedrohung für Demokratie und Toleranz darstellt.9 Andere fühlen sich an stalinistische und neomarxistische Übergriffe erinnert.10 Die 2024 gewählte US-Regierung hat gleich nach ihrer Wahl deutlich gemacht, dass sie Universitäten als ideologische Brutstätten und unpatriotisches Feindesland ansieht, und die Kürzung von Fördermitteln und Studiendarlehen durchgesetzt.11 Auch die amerikanische Journalistin Batya Ungar-Sargon sieht wokeness in den Medien als Gefahr für die Demokratie an,12 der Australier Carl Rhodes befürchtet Ähnliches für einen woken Kapitalismus.13 In Europa sind ähnliche Stimmen zu vernehmen. Der EU-Ökonom Thierry Vissol14 fragt sich, wie die an den Hochschulen zu beobachtende wokeness und cancel culture unsere Demokratie gefährden. Und die SPIEGEL-Bestsellerautoren Peter Köpf und Zana Ramdani15 sehen moralisierende Minderheiten am Werk, die unsere Demokratie bedrohen.
Diese Kritik und dieses Unverständnis gegenüber der an Universitäten üblichen Diskussionskultur, die von Strömungen wie der #MeToo-Bewegung oder dem Postkolonialismus, von der Migrationsfrage, von Genderdebatten sowie von stark emotional besetzten Konflikten wie dem Krieg im Nahen Osten nachhaltig geprägt wird, ist nicht mehr auf konservative und rechtspopulistische Kreise beschränkt. Auch Bürgerinnen und Bürger, die sich eher der Mitte oder dem linken Spektrum zuordnen würden, blicken mit Sorge und Skepsis auf einen scheinbaren Zwang zur gendersensitiven Sprache und auf eine potenzielle Radikalisierung an unseren öffentlichen Universitäten. Aber sind Universitäten wirklich eine Gefahr für die liberale Demokratie europäisch-angelsächsischer Prägung? Oder sind sie nicht ganz im Gegenteil Garantinnen des Gemeinwohls, indem sie durch ihre offene Diskussionskultur die kommenden Generationen auf die Bewältigung komplexer gesellschaftlicher Probleme vorbereiten und so unsere Demokratie erst wirklich resilient machen?
Wie auch immer man diese Fragen beantwortet, so darf es doch nicht zu einer generellen Verteufelung der Institution der öffentlichen Universität kommen. Genau dies scheint aber die Strategie mancher Populisten vor allem aus dem rechten Spektrum zu sein. Die Tel Aviv University warnte Ende 2024 zu Recht:16 „All over the world, we witness the systematic vilification and targeting of academic institutions by populist regimes who either brand academics as ‚liberal elites‘ or turn our institutions into tools of state propaganda.“
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ziehen sich vor dem Hintergrund dieser Angriffe aus dem öffentlichen Diskurs zurück. Warum sollte man sich auch derartigen Anfeindungen aussetzen, physischer wie digitaler Natur? Zumal man eh keinen direkten politischen Einfluss zu haben glaubt und entspannter leben kann, wenn man sich auf den Austausch mit den vertrauten Kollegen auf den einschlägigen Konferenzen beschränkt.
Mir scheint dies nicht der richtige Weg zu sein, da dies den Populisten und Demagogen erst recht die Kommunikationshoheit und die öffentliche Bühne überlassen würde. Zur gesellschaftlichen Verantwortung öffentlicher Universitäten und ihrer Präsidentinnen und Professoren gehört auch die Teilnahme an den brennenden Diskursen dieser Welt. Peter Salovey, der frühere Präsident der Yale University, hat dies 2024 prägnant zusammengefasst:17 „I am concerned that not speaking on contemporary world affairs is an abdication of leadership responsibilities.“ Zustimmung kam auch vom Präsidenten der University of Illinois, Timothy Killeen, der Universitäten vor dem Hintergrund der schwierigen Weltlage in der Verantwortung sieht, „intellectual globalization“ zu betreiben.18
Mich beschäftigen die in diesem Buch angesprochenen Fragen schon seit vielen Jahrzehnten, genauer gesagt: seit meinem Studium in den frühen 80er-Jahren. Aufgrund einer großzügigen Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes konnte ich in Deutschland und den USA studieren. Nach vier Jahren und einem Diplom an der Universität Karlsruhe (heute: Karlsruher Institut für Technologie – KIT) ging es 1984 an die University of California at Berkeley, wo ich ein Masterstudium absolvierte und anschließend promovierte. Vor meiner Rückkehr nach Deutschland war ich 1988/1989 noch ein Jahr als assistant professor (Tenure-Track) an der University of California at Santa Barbara tätig.
Die Erfahrungen diesseits wie jenseits des Atlantiks haben meine Sicht auf Hochschulen wesentlich geprägt. Besonders intensiv habe ich mich mit den hier angesprochenen Fragen in den nunmehr fast zwanzig Jahren befasst, die ich im Hochschulmanagement tätig bin. Hieraus resultierten zahlreiche Essays und Zeitungsartikel, die in die vorliegende Darstellung eingeflossen sind; eine Aufstellung findet sich im Anhang. Dank gebührt meinen Gesprächspartnern für ihre Impulse und meinen Koautoren für ihr Einverständnis, die gemeinsamen Einsichten in dieser Form zu veröffentlichen.
Ein großer Dank gilt Peter-André Alt, Joachim Dudenhausen, Markus Flik, Hanfried Helmchen, Christoph Markschies, Sönke Neitzel, Thomas Sattelberger, Sibylle Schmerbach und ganz besonders Manfred Görtemaker für ihre sehr wertvollen Hinweise, sowie meinem Büro in Potsdam, das es mir ermöglicht, nicht nur zu „managen“, sondern gelegentlich auch zu lesen, zu schreiben und zu denken.
Ein ganz persönlicher Dank gilt schließlich meinen Freunden und meiner Familie – insbesondere Sushmitha, Juliette und Amélie – dafür, dass sie das Leben lebenswert machen.
Potsdam, im März 2025
Oliver Günther
Laut einer ARD-Umfrage aus dem Jahr 2023 halten rund 85 Prozent der befragten Deutschen die Demokratie für eine gute Regierungsform; viele würden sie sogar als die beste uns bekannte bezeichnen. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt1 sagt: Demokratie garantiert die Grundwerte der Freiheit – Grundwerte, die viele Menschen schätzen. Sie ist das einzige System, das die Redefreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, den freien Austausch von Ideen und die Freizügigkeit schützt.
Gleichwohl: Die Demokratie ist nicht perfekt und sie ist ständig in Gefahr. Die nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen haben diese Gefahr bisher nie so intensiv erleben müssen, wie sie spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine wahrgenommen wird. Heute wissen wir, dass auch in gefestigten demokratischen Gemeinwesen gar nichts selbstverständlich ist, und dass wir für die Demokratie und ihre Resilienz immer wieder aktiv eintreten müssen.
Was die konkreten Herausforderungen angeht, so scheint unsere aktuelle soziale Situation kein hinreichender Grund für die Gefährdung der Demokratie. Natürlich gibt es Armut und sozial Schwache, aber das war in den letzten Jahrzehnten mindestens in vergleichbarem Umfang der Fall. Die Bedrohungen von außen sind nicht wesentlich dramatischer, als wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. So war zum Beispiel in den frühen 60er-Jahren die Kubakrise als einer der Höhepunkte des Kalten Krieges ein großes Thema. Der Klimakrise kommt eine Sonderrolle zu; aber ähnlich intensiv wahrgenommene Schreckensszenarien gab es auch im letzten Jahrhundert, so die Angst vor dem Atomkrieg.
Insofern stellt sich die berechtigte Frage: Was ist jetzt eigentlich anders? Zwei Veränderungen fallen unmittelbar ins Auge: Erstens hat die Heterogenität in unserer Gesellschaft zugenommen. Der Gini-Koeffizient, eine wichtige Maßzahl für die Einkommensungleichheit, ist seit den 90er-Jahren stetig im Steigen begriffen. Die Einwanderungswellen der letzten Jahre haben zu einer stärkeren Heterogenität geführt, was Herkunft, Sprachkompetenz, Kultur und Religion angeht. Zweitens haben die sozialen Medien eine Kommunikationskultur geschaffen, die für die Demokratie einerseits gut ist, weil sie den offenen Austausch ermöglicht, die aber auch neue Gefahrenpotenziale birgt. Die oft emotional aufgeladene und mit persönlichen Angriffen garnierte X-, Facebook-, TikTok- oder Instagram-Kultur kann die Demokratie, wie die letzten Jahre auf schmerzhafte Weise gezeigt haben, schnell und tiefgreifend gefährden. In der Verbindung dieser beiden Veränderungen liegt eine beträchtliche Sprengkraft, wie der Ton der geführten Debatten täglich zeigt.
Aber was hat das mit den Universitäten zu tun? In den letzten Jahren sind die Erwartungen an Hochschulen gestiegen, zur Festigung der Demokratie und zur Demokratiebildung beizutragen. Das ist gut so, denn die Wissenschaft spielt eine zentrale Rolle bei der Sicherung der Demokratie. Die sozialen Medien haben auch hier allerdings zu einer gewissen Verunsicherung beigetragen. So hat zum Beispiel die Bedrohung durch das Coronavirus dazu geführt, dass sich die Politik und auch viele Bürgerinnen und Bürger an die Wissenschaft gewandt und um Rat gefragt haben. Das war schmeichelhaft, hat aber zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Verantwortung geführt, die weite Teile der Wissenschaft so nicht gewohnt waren. Im Zuge dieser Debatte wurde vielen Bürgern deutlich: Auch die Wissenschaft weiß nicht immer alles. Wir wissen zwar, dass die Erde rund und der Mond ein Satellit der Erde ist, aber was das Coronavirus mit uns Menschen macht und wie es sich verbreitet, wussten wir am Anfang der Pandemie eben nicht so genau. Das haben viele Bürgerinnen und Bürger dann auch irgendwann gemerkt.
Natürlich hat die Wissenschaft nicht auf alle Fragen absolut sichere Antworten. Es gibt vielmehr viele Bereiche, wo es Mehrheits- und Minderheitsmeinungen sowie Diskussionen gibt: nämlich genau da, wo Forschung stattfindet, also an den Grenzen des gesicherten Wissens. Für Wissenschaftler ist dies völlig normal, aber in der Öffentlichkeit wird der streitbare Diskurs oft fehlinterpretiert und nicht verstanden. Dieser kommunikativen Herausforderung müssen wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler uns stellen, denn nur so kann es gelingen, die Wissenschaft – ganz im Sinne der Aufklärung – weiterhin als Autorität gelten zu lassen. Dass dieser Anspruch nicht so einfach aufrecht zu erhalten ist, haben zahlreiche Wissenschaftler in letzter Zeit spüren müssen.
Insgesamt ist dies in der Rückschau gar nicht so schlecht gelungen. Die Wissenschaft hat sich gut geschlagen. Gleichwohl ist es nach wie vor wichtig, der Öffentlichkeit immer wieder zu vermitteln, worum es der Wissenschaft und den Hochschulen geht beziehungsweise gehen muss: Dem Gemeinwohl zu dienen. Die Frage ist: Wie erreichen wir Wissenschaftler das am besten?
Hochschulen waren in der Geschichte oft Vorreiterinnen bei der Durchsetzung demokratischer Strukturen, so zum Beispiel 1968, als Studierendenaufstände in den USA, in Deutschland und in vielen anderen Ländern Missstände deutlich machten und Reformen auslösten. Dies wirkte auch nach innen: Es kam zu einer signifikanten Demokratisierung der Hochschulstrukturen. Das heißt, dass analog zur Demokratisierung des Gemeinwesens jede und jeder Hochschulangehörige wählen darf und wählen soll, und dass über diese demokratische Wahlen Mandatsträger bestimmt werden, die dann wiederum Entscheidungskompetenz innehaben. Zu beachten ist – und dies wird gerade an Universitäten gerne vergessen: Demokratie ist meist repräsentativ (oder auch: indirekt), was bedeutet, dass die Wähler nicht über jeden einzelnen Punkt selbst abstimmen, sondern dass die gewählten Volksvertreter Entscheidungen treffen, die für alle gelten.
So ist es auch an der Hochschule, wobei das Prinzip der Repräsentativität im universitären Tagesgeschäft, wie gesagt, immer wieder infrage gestellt wird. Es wird hinterfragt, wieso Entscheidungen auf diese und jene Art getroffen wurden und wieso nicht alle mit einbezogen wurden. Die Antwort ist oft ganz einfach, auch wenn sie in der konkreten Situation manche frustriert: Die Präsidentin, der Rektor oder die Dekanin wurde genau zu dem Zweck gewählt, die Frage, um die es gerade geht, zu entscheiden.
Universitäten sind zumindest in Deutschland demokratisch organisiert, aber nicht basisdemokratisch. Alle paar Jahre werden die Gremien und ihre Repräsentanten in geheimer und freier Wahl neu gewählt. Dies unterscheidet die deutschen Hochschulen von Hochschulen in vielen anderen Ländern, in denen demokratische Strukturen wenig bis gar nicht ausgeprägt sind und stattdessen die Politik oder Aufsichtsräte mit Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen die wesentlichen Entscheidungen treffen. Der größte Schwachpunkt der hochschulischen Demokratien in Deutschland ist die geringe Wahlbeteiligung bei den Studierenden. Aber das ist ein Thema für sich.
Heutzutage haben Hochschulen eine ganz besondere Gelegenheit und Verantwortung, gesellschaftlich wirksam zu werden. Jenseits ihrer klassischen Aufgaben in Forschung und Lehre haben öffentliche Hochschulen einen Transferauftrag. Dieser Auftrag umfasst beileibe nicht nur den klassischen Technologietransfer und die Förderung von Start-up-Ökosystemen. Transfer bedeutet in einer weiter gesteckten Definition jegliche Wirkung in die Gesellschaft hinein. Dazu gehören die Aus- und Weiterbildung ebenso wie die Nutzung der Universität als Plattform für den gesellschaftlichen, auch politischen Austausch. Um sich in gesellschaftliche Diskussionen einzubringen, muss die öffentliche Universität den engen Kontakt mit der Bürgergesellschaft pflegen. Sie muss ein intellektueller Brennpunkt für derartige Diskussionen sein und insofern gleichermaßen ein Ort der Persönlichkeitsbildung, der Diversität, der Freiheit und der Toleranz.
Angefangen mit der Bologna-Reform und gefolgt insbesondere von der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder sowie der Einführung der Tenure-Track-Juniorprofessur hat die deutsche Hochschullandschaft in den letzten Jahren einen tiefgreifenden Wandel vollzogen. Einen Wandel zum Besseren, so die Kernthese dieses Buchs. Gleichwohl gibt es noch viel zu tun. Aber warum? Was ist das Ziel möglicher weiterer Hochschulreformen? Und wozu sind öffentliche Hochschulen eigentlich da?
In diesem Buch wird die Förderung des Gemeinwohls als zentrale Triebfeder öffentlicher Hochschulen unterstellt. Dies wirft natürlich allerhand Fragen auf. Wer definiert denn, was dem Gemeinwohl förderlich ist? Was bedeutet das für die Hochschulen? Und wie werden diese Fragen in den klassischen Tätigkeitsfeldern einer Hochschule – Lehre, Forschung und Transfer – reflektiert? Passen unsere Organisationsstrukturen zu diesen hehren Zielsetzungen?
Insofern ist trotz der grosso modo gelungenen Reformen der letzten Jahre noch viel zu tun, um den Herausforderungen an die öffentliche Universität gerecht zu werden. Eine öffentliche Universität wird immer auch unbequem sein, aber sie wird bei sachgerechter Ausgestaltung der Rahmenbedingungen keine Gefahr für die Demokratie darstellen. Vielmehr wird sie als Garantin des Gemeinwohls wirken.
Der Blick auf die globale Situation kann derzeit entmutigend sein. Die aktuellen politischen Krisen bewegen die Hochschulen bis ins Mark – zuletzt der Angriff der Hamas auf Israel und die Folgen für den gesamten Nahen Osten; die Zunahme antisemitischer und rechtsextremer Aktivitäten, auch hier in Deutschland; oder natürlich Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Um Menschenfängern und Populisten etwas entgegensetzen zu können, braucht es starke Persönlichkeiten, die nicht in Meinungsblasen kleben bleiben, sondern sich komplexe Fakten aneignen und diese in kontroversen Debatten vertreten können. Dies erfordert Zivilcourage, aber auch Toleranz gegenüber anderen Meinungen sowie die Fähigkeit zur Differenzierung und zum Umgang mit Diversität. Denn Freiheit ist ja insbesondere die Freiheit der Anderen.
Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, wie wenig selbstverständlich diese Eigenschaften sind, wenn es einmal etwas unbequemer auf der Welt wird. Selbst traditionell als seriös eingestufte Medien neigen schnell zu Polarisierung und Dramatisierung, um im Geschrei noch gehört zu werden, um Leser zum Schritt über die Bezahlschranke zu bewegen und noch ein paar mehr Klicks zu generieren. Die von der Presse zu früheren Zeiten gepflegte Trennung von Berichterstattung und Meinungsäußerung gilt schon längst nicht mehr. Differenzierte Standpunkte werden als Akademikerarroganz abgetan, ohne dass von den lautesten Schreiern – wie am Beispiel des Gazastreifens zu beobachten war – konkrete Problemlösungen zu vernehmen sind.
Natürlich sind die klassischen demokratischen Werte wie Liberalität und Offenheit gerade auch in bisher gut funktionierenden Demokratien nicht erst seit Kurzem bedroht. Wir haben in den letzten Jahren nachdenklich stimmende Entwicklungen in Italien gesehen, in den USA, in Großbritannien, ganz zu schweigen von der Türkei, Polen und Ungarn. Aber auch in Deutschland gilt es, wachsam zu bleiben und die Vielfalt weiter zu fördern. Damit ist nicht nur ethnische und religiöse Vielfalt gemeint, sondern vor allem die Meinungsvielfalt. Gerade als „links“ eingestellter Mensch muss man bereit sein, sich „rechte“ Meinungen, die einem nicht gefallen, anzuhören und darüber zu diskutieren – genauso natürlich umgekehrt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber zunehmend in Vergessenheit zu geraten scheint.
Zu in diesem Sinne starken Persönlichkeiten wollen wir öffentliche Universitäten unsere Studierenden ausbilden. Verantwortung der Hochschulen muss sein, ihre Studierenden aus ihren Meinungsblasen zu befreien und ihnen immer wieder zu vermitteln, dass die Welt komplex ist und es gesunder Selbstreflexion bedarf, um die richtige Mischung zwischen Differenzierung und Positionierung zu finden. Wissenschaftsbasierte Fakten helfen dabei, auch wenn die aktuelle Forschung, wie bereits angesprochen, stets durch unterschiedliche, oft konfligierende Hypothesen geprägt ist. Dass die Forschung vielstimmig ist, darf freilich nicht als Beliebigkeit interpretiert werden. Ihr Erfolg äußert sich ja gerade darin, dass sich unter unterschiedlichen Hypothesen eine oder einige wenige herausschälen, die von der großen Mehrheit der Forscherinnen und Forscher mitgetragen werden. Und der daraus resultierende Stand der Erkenntnis sollte das sein, was von der Politik, aber auch von uns als verantwortlich handelnden Individuen als Entscheidungsgrundlage genutzt wird. Etwas Besseres haben wir nämlich nicht.
An der University of California at Berkeley gibt es seit einigen Jahren die interdisziplinäre Vorlesung „Sense & Sensibility & Science“,2 die zeigt, wie man mit dieser Komplexität umgehen kann. Kritisches Nachfragen als Leitthema beim Verarbeiten der Vielstimmigkeit, das Unterscheiden von Korrelation und Kausalität, das Verstehen von Wahrscheinlichkeiten – all das hilft beim Bewältigen von Komplexität, aber auch bei dem so wichtigen Umgang mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Ethnien, Religionen und sexueller Orientierungen.
Kaum ein Ort ist so von Diversität und unterschiedlichen Wertesystemen geprägt wie ein universitärer Campus. Das bringt Herausforderungen mit sich, aber es schafft auch Trainingsräume, in denen man sich als Studierender zurechtfinden muss, es erzeugt Erfahrungen, die einen auf das Leben außerhalb der Universität vorbereiten. Unter diesen Prämissen ist die Präsenzuniversität ein Modell für kommende Generationen; und das übrigens nicht nur für junge Menschen. Universitäten sollten sich durchaus noch stärker für die Fort- und Weiterbildung älterer Jahrgänge öffnen. Mit Zertifikaten und Mikrograden sowie kreativen Finanzierungsmodellen, auch unter Berücksichtigung von Public-private-Partnerships, ist das Instrumentarium für eine solche Öffnung vorhanden.
Sind denn wenigstens die viel gerühmten amerikanischen Spitzenuniversitäten eine Art Schmelztiegel? Oder trennen sich die Wege der Studierenden dort nicht schon früh entlang politischer Präferenzen sowie sozialem und ethnischem Hintergrund? In den USA ist das Spektrum an Hochschulen bekanntlich viel breiter, als wir es in Deutschland kennen. Das fängt an bei den berühmten Forschungsuniversitäten wie Berkeley, Harvard oder Stanford. Dort hat die Diversität in den vergangenen Jahren durch viele Einwanderer insbesondere aus China und Indien sogar noch zugenommen. Aber auch dort ist das Klima der Toleranz zunehmend von extrem rechten und linken Strömungen bedroht. Am anderen Ende der Hochschullandschaft findet man community colleges in der Provinz, religiöse oder private Hochschulen von teilweise sehr bescheidenem akademischem Anspruch – Hochschulen, die keineswegs so divers sind, wie man es sich wünschen würde.
Als Universitätspräsident fragt man sich jeden Tag: Was können Hochschulen zur Lösung der gravierenden Probleme der Gegenwart beitragen? Ihre finanziellen und personellen Ressourcen sind begrenzt. Aber sie verfügen über die Macht des Wortes und des Geistes. Durch ihre Lehre stellen sie sicher, dass zukünftige Generationen mit komplexen Herausforderungen reflektiert umgehen können – dank der Diskurskultur und der Fähigkeit zur kritischen Analyse, die sie während ihres Studiums gelernt haben. Und es ist eine unserer vornehmsten Aufgaben als Hochschulleiter, den Studierenden Optimismus zu vermitteln, ihnen Geschichte beizubringen, sie zu lehren, dass es Alternativen zu Gewalt und Populismus gibt, und ihnen so den Weg in eine bessere Zukunft zu weisen.
Maria-Sibylla Lotter betonte 20243 noch einmal die Bedeutung des wissenschaftlichen Diskurses für die demokratische Gesellschaft. Er sei „durch ein Interesse an der Wahrheit geleitet […], das sich nicht politischen Vorgaben unterwirft oder ideologisch manipulieren lässt“. Lotter beschreibt, wie es in den letzten Jahrzehnten vermehrt Bestrebungen auch in demokratischen Gesellschaften gegeben habe, „der freien Forschung und Diskussion auch zu politisch umstrittenen Themen Grenzen zu setzen“. Sie führt diese Tendenzen unter anderem auf die zunehmende Verbreitung von Smartphones und den sozialen Medien zurück. Beides ermögliche es, Inhalte aus den Hörsälen in die breite Öffentlichkeit zu tragen, Kampagnen zu befeuern und Skandale geradezu herbeizuführen. Mindestens ebenso wichtig sei aber die Motivation mancher Protagonisten, durch Einschränkungen der Redefreiheit als vulnerabel wahrgenommenen Gruppen Schutz zu bieten und so vermeintlich Gerechtigkeit walten zu lassen. Lotter hält zu Recht dagegen: „Nur wenn wir die Gerechtigkeit […] in den Wissenschaften nicht über die Wahrheit stellen, werden wir sie auf Dauer fördern können.“
Wichtige Themen im Kontext der Persönlichkeitsbildung sind des Weiteren Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Also: Wie kann der Zugang zu den Bildungseinrichtungen offener gestaltet werden, unabhängig vom sozialen Hintergrund, und wie können die jungen Menschen, wenn sie dann an den Hochschulen sind, noch besser gefördert werden, sodass uns Potenziale nicht verloren gehen?
In den letzten Jahrzehnten ist man in vielen Ländern diesbezüglich gut vorangekommen. Was Teile der Politik im Zuge der Bildungsreformdebatten in den 60er-, 70er- und 80er Jahren gefordert haben, ist in gewisser Weise Wirklichkeit geworden: In Deutschland haben alle jungen Menschen die Möglichkeit, weiterführende Schulen zu besuchen. Die schwere Zugänglichkeit von Gymnasien, die für das 20. Jahrhundert noch typisch war, ist in der Fläche verschwunden. Es gibt breite Zugangsmöglichkeiten, die sich in Richtung Hochschule fortsetzen. Das Ergebnis ist, dass aktuell (2025) in Deutschland etwa 55 Prozent eines Jahrgangs ein Studium aufnehmen.
Das ändert nichts daran, dass Schulen Wert auf die Vermittlung bestimmter inhaltlicher Kompetenzen legen müssen und den Schülerinnen und Schülern deren Erwerb gelingen muss. Hier ist noch viel zu tun, denn, wie bereits angesprochen, sehen sich die Hochschulen alljährlich mit Abiturienten konfrontiert, die Probleme mit fundamentalen Kulturtechniken wie dem Rechnen und Schreiben haben. Chancengleichheit ist wichtig, alle sollten Zugang zu allen Bildungsangeboten haben, die es gibt – also weiterführende Schulen, duale Berufsausbildung, duales Studium, HAWs und Universitäten. Zugleich müssen sich dann aber auch alle in dem komplexeren Gefüge zurechtfinden und die jeweils eingeforderten Leistungen erbringen. Hier müssen wir Hochschulen noch besser werden, was Information und Beratung über die jeweiligen Bildungsangebote und ihre spezifischen Voraussetzungen und Anforderungen angeht.
Zur Chancengleichheit gehören schließlich Organisationsformen – governance mechanisms –, welche Machtmissbrauch weitestgehend erschweren. Berichte über Diskriminierungserfahrungen nehmen insbesondere bei Doktoranden und Postdoktoranden zu. Hier sind die Hochschulleitungen gefragt, Strukturen zu schaffen und zu verstärken, welche Machtmissbrauch vorbeugen und gegebenenfalls zügig ahnden. Des Weiteren muss es selbstverständlich sein, Gleichstellung in den zentralen und dezentralen Organisationsstrukturen zu verankern, auch in symbiotischer Verbindung mit der Förderung und Unterstützung von Diversität.
Das klingt einfach, ist es in der akademischen Realität aber ganz und gar nicht. So ist bei Vorwürfen des Machtmissbrauchs oder auch des sexuellen Missbrauchs an der Hochschule ja zunächst zu klären, welche Maßnahmen zu treffen sind, bis die Gerichte sich der Angelegenheit annehmen. Letzteres kann bekanntlich lange dauern. Hochschulleitungen können hier vor allem mit dem Hausrecht arbeiten und angemessene Sanktionen wie Hausverbote verhängen. Aber was ist angemessen, wenn – wie so oft – Aussage gegen Aussage steht? Einerseits ist das mutmaßliche Opfer vor weiteren Übergriffen zu schützen, andererseits gilt gegenüber dem mutmaßlichen Täter die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankerte Unschuldsvermutung. Insofern reicht es für den Nachweis des Missbrauchs auch nicht aus, dass sich das mutmaßliche Opfer missbraucht fühlt – wie es von Opfervertretern gelegentlich gefordert wird. Dies entspräche einer unzulässigen Vorverurteilung. Vielmehr muss ein rechtswidriges Handeln des mutmaßlichen Täters plausibel gemacht werden. Da Hochschulen nicht als ermittelnde Behörden tätig werden und sich auch nicht als Nebengericht gerieren dürfen, zeigt sich hier das Dilemma sehr deutlich. Es bedarf viel Fingerspitzengefühls und einer vertieften Betrachtung jedes Einzelfalls durch die Hochschulleitung, um hier allen Parteien einigermaßen gerecht zu werden.
Öffentliche Hochschulen sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie übernehmen Verantwortung dafür, dass die für sie eingesetzten Steuermittel eine gute Verwendung finden. Und sie müssen immer wieder deutlich machen, dass diese Steuermittel eine Investition in eine Zukunft darstellen, in der die kommenden Generationen ein glückliches und erfülltes Leben führen können – so, wie es den meisten von uns vergönnt war.
Jetzt werden viele sagen: Klar, das ist doch selbstverständlich! Aber das stimmt nicht. So manche, die heute Verantwortung tragen, haben gar keine so guten Erinnerungen an ihre Zeit in unseren Hochschulen. Sie haben zu Zeiten studiert, in denen überfüllte Hörsäle, mangelhafte Didaktik und schlechte Betreuungsverhältnisse an der Tagesordnung waren. Auch in vielen dieser Punkte sind wir Hochschulen deutlich besser geworden. Von der internationalen Sichtbarkeit und Forschungsstärke gar nicht zu reden. Diesen Weg müssen öffentliche Universitäten weiter beschreiten – weil es dem Gemeinwohl dient.
Hilfreich ist dabei, an die Bedeutung des Terminus „öffentlicher Dienst“ zu erinnern. Er bedeutet nicht etwa, wie so manche zu glauben scheinen, Dienst in der Öffentlichkeit. Sondern Dienst für die Öffentlichkeit, für das Gemeinwohl.
Im Dienst für das Gemeinwohl ist, was die öffentlichen Universitäten angeht, zum einen die Forschung weiter zu stärken. Mit ihrer Forschung leisten Universitäten einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Probleme der Welt – nicht nur durch ihre Leistungen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, sondern auch durch wichtige Entwicklungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften, kurz: quer durch alle Fächer hindurch. Wir haben in Mainz mit BioNTech gesehen, was aus hochschulischer Forschung und ihrer klugen Förderung – hier durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – werden kann.4 Viele Universitäten betreiben genau diese Art von Spitzenforschung, welche wiederum den Nährboden für florierende Start-up-Ökosysteme und den Transfer in die Gesellschaft bildet.