Die Dornen der Rose - Joanna Bourne - E-Book

Die Dornen der Rose E-Book

Joanna Bourne

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Beschreibung

Die einzige Person, der sie ihr Leben anvertrauen kann, ist der Mann, der niemandem traut.

Frankreich, 1794. Die Revolution hat die ganze Gesellschaft auf den Kopf gestellt. Die schöne Französin Marguerite de Fleurignac schmuggelt Aristokraten außer Landes. Sie begegnet dem attraktiven britischen Spion William Doyle, der eigentlich nach ihrem Vater sucht, mit dem er noch eine Rechnung offen hat. Gemeinsam machen sie sich auf den gefährlichen Weg nach England. Dabei wollen sie sich vor allem eins nicht eingestehen: die Gefühle, die sich zwischen ihnen entwickeln ...

Joanna Bourne entführt ihre Leserinnen und Leser in düstere Gassen und Tavernen, wo Spione sich treffen und Gefahr und Leidenschaft Hand in Hand gehen.

Band 1: Die Geliebte des Spions
Band 2: Eine riskante Affäre
Band 3: Die Dornen der Rose

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Inhalt

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Über dieses Buch

Titel

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Über dieses Buch

Frankreich, 1794. Die Revolution hat die ganze Gesellschaft auf den Kopf gestellt. Die schöne Französin Marguerite de Fleurignac schmuggelt Aristokraten außer Landes. Sie begegnet dem attraktiven britischen Spion William Doyle, der eigentlich nach ihrem Vater sucht, mit dem er noch eine Rechnung offen hat. Gemeinsam machen sie sich auf den gefährlichen Weg nach England. Dabei wollen sie sich vor allem eins nicht eingestehen: die Gefühle, die sich zwischen ihnen entwickeln …

JOANNA BOURNE

Die Dornen der Rose

Aus dem amerikanischen Englisch von Firouzeh Akhavan-Zandjani

1

»Du hast nichts Törichtes getan«, erklärte sie, »sondern einfach nur Pech gehabt. Das Ergebnis ist allerdings dasselbe.«

Das Kaninchen erwiderte nichts. Es lag auf der Seite und keuchte. Das Entsetzen, das es erfüllte, entströmte seinem bebenden Leib wie Kaskaden einem Brunnen.

Ihre Schlinge lag um seinen Hals. Sie hatte es mit einem Band aus roter Seide gefangen, das sie aus von einem Kleid abgerissenen Stoffstreifen geflochten hatte. Es konnte nicht fliehen. Es wand sich noch nicht einmal, als es den Tod durchs Gebüsch auf sich zukommen hörte. Verständig, wie es war, hatte es aufgegeben.

»Die Parallelen zu meiner eigenen Situation sind eindeutig. Sie gefallen mir nicht.« Marguerite de Fleurignac setzte sich hin und zog den Rock über den Knien glatt. Sie spürte das glatte, scharfkantige Gras an ihren nackten Knöcheln. Hinter ihr erhoben sich die Überreste des Châteaus. Sie mied den Blick in diese Richtung, so gut das möglich war. »Du musst wissen, dass ich am Verhungern bin. Nicht wie in irgendwelchen Geschichten … voller Haltung und mit Anmut. Ich verliere fast den Verstand vor Hunger. Ich kratze Haferkörner aus Futtertrögen und sammle Beeren. Ich grabe Wurzeln aus und nage in meiner Höhle unter der Brücke an ihnen. All das liegt mir schwer im Magen. Ich will dir die unappetitlichen Details ersparen.«

Der starre Blick des Kaninchens ging an ihr vorbei.

»Das Leben ist nicht so, wie es einem in Märchen vorgegaukelt wird. Keine verzauberten Vögel, die auf Dächern landen und Botschaften überbringen. Du bietest mir im Tausch gegen dein Leben nicht die Erfüllung dreier Wünsche an. Kein Prinz kommt auf seinem weißen Ross herbeigeeilt, um mich zu retten.«

Das Fell des Kaninchens war braun und setzte sich aus vielerlei Schattierungen zusammen. Das Deckhaar war dunkler als das flaumige Unterfell. In den Ohren war es fast schon samtig, in einem hellen Cremeton, und sie konnte die rosige Haut hindurchschimmern sehen. Die Augen des Kaninchens waren von kurzen, dickeren Haaren umrahmt. Es hatte Wimpern. Sie hatte nicht gewusst, dass Kaninchen Wimpern besaßen.

Abgrundtiefes Entsetzen schlug ihr entgegen.

Es war ein Fehler gewesen, das Kaninchen so genau zu betrachten. Sie hätte nicht mit ihm reden dürfen.

Als sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen war, hatte der alte Mathieu, der Jagdaufseher, sie immer bei seinen Streifzügen durch diese Wälder mitgenommen. Er hatte Schlingen ausgelegt, eine Menge Kaninchen gefangen und sie in einem großen Lederbeutel verstaut, um sie nach Hause zu tragen.

Er war schon seit fünfzehn Jahren tot. In den letzten Wochen seiner Krankheit hatte sie ihn täglich in seiner dreckigen, kleinen Hütte am Fluss besucht und ihn mit dem besten Brandy aus den Kellergewölben des Châteaus versorgt, um seinen Schmerz zu lindern.

Onkel Arnault, der damalige Marquis, hatte geschimpft und Befehle erteilt, die sie alle ignoriert hatte. »Du verwöhnst die Bauern. Du machst Schoßhündchen aus ihnen.« Papa hatte auf die schädliche Wirkung von Alkohol auf die menschlichen Körpersäfte hingewiesen. Sie sollte dem Mann lieber Seewasser und Rübenmus bringen, hatte er gesagt. Cousin Victor war ihr nachgeschlichen, hatte sie hingeschubst, den Korb ausgekippt und alles kaputt gemacht, was sich darin befunden hatte.

Onkel Arnault war schon lange tot – sein letztes politisches Streitgespräch hatte er mit der Guillotine geführt. Papa war jetzt der neue Marquis, sofern der Titel überhaupt noch eine Bedeutung hatte. Victor hatte sich der radikalsten revolutionären Gruppierung angeschlossen: den Jakobinern. Die Fässer mit dem Brandy waren blau auflodernd in die Luft gegangen, als das Feuer sich seinen Weg bis hinunter in den Weinkeller gesucht hatte. Es hatte niemanden weiter interessiert, dass sie einem sterbenden Mann Brandy gebracht hatte.

Die Söhne des alten Mathieu hatten zu dem rasenden Pöbel gehört, der gekommen war, um das Château niederzubrennen. Sie hatte sie im Fackelschein bei den anderen auf dem Rasen stehen sehen.

Unter dem Fell, an der Kehle des Kaninchens, war ganz schwach der Puls zu erkennen. Dieses Flattern in der Halsgrube, nicht größer als ein Sou, war das einzige Lebenszeichen.

»Ich denke mir Geschichten aus und verhalte mich darin immer außerordentlich heldenhaft. Aber als die Männer gekommen sind, um mir den Garaus zu machen, hab ich mich wie ein Kaninchen aus dem Staub gemacht, wenn du mir den Vergleich erlaubst.« Sie wischte sich die Regentropfen aus dem Gesicht. Ihr Unterarm war voller Sand und roch nach zertretenem Gras und Schweiß. Und Rauch. »Du bist von meinen Problemen sicher schon über die Maßen gelangweilt. Das eigene Unglück ist immer von höchster Bedeutung. Das Unglück anderer weniger.«

Dicht über ihr hingen Wolken, deren Farbe an langsam verheilende blaue Flecken erinnerte. Ein paar spitze Regentropfen fielen ihr auf das Gesicht, als sie hinaufblickte. Sogar so weit vom Château entfernt hatten sich kleine schwarze Rußpartikel auf die Blätter der Bäume gelegt. Die Regentropfen vermengten sich mit dem Ruß.

»Hier ist die Geschichte, wenn du sie denn lesen willst.« Sie fing ein paar Tropfen mit der Hand auf. »Dies«, sie nahm einen schwarzen Fleck mit dem Zeigefinger auf, »stammt von den Vorhängen im Blauen Salon, als sie in Flammen aufgingen. Und das hier«, ein anderes Aschehäufchen, »war eine Seite von einem Buch aus der Bibliothek. Ein mathematischer Text. Das hier …« Sie nahm etwas Asche von ihrem Unterarm. »Das ist der Punkt von einem Satzende in einem meiner Notizbücher. Es war die einzige Abschrift einer alten Sage der Menschheit. Die gibt es nun nicht mehr.«

Sie ließ die Tropfen weiterströmen. Sie war sehr müde. Die ganze Nacht war sie auf gewesen, zwei Nächte hintereinander, in denen sie die letzte Ladung Spatzen in Sicherheit gebracht hatte. Sie hatte drei Männer, drei Frauen und ein Kind durch die dunklen Felder zur verlassenen Mühle, der letzten Zwischenstation, geführt. Bis zur Ankunft vom Sohn des Reihers, der für ihren Weitertransport verantwortlich war, hatte sie ausgeharrt. Dann war sie den langen Weg zurückgetrottet. Denn Krähe – der vorsichtige, verlässliche Krähe, der nie ein Treffen verpasst hatte – war noch nicht eingetroffen. Er verspätete sich, und sie machte sich Sorgen.

Die Spatzen hatten sich ziemlich ausgiebig darüber beschwert, dass sie kein Essen für sie hatte. Keiner hatte sich danach erkundigt, was ihr während des Brands des Châteaus widerfahren war.

Sie würden nach London gehen, diese Spatzen, und allen erzählen, wie tapfer sie gewesen wären und welchen Gefahren sie sich bei ihrer Flucht aus Frankreich ausgesetzt hätten. Keiner von ihnen würde vom Mut des jungen Sohns des Reihers reden, der nachts allein unterwegs war, um sie weiterzuführen. Oder von Jeanne, Codename Zaunkönig, die ihr Leben aufs Spiel setzte, um sie aus Paris zu schleusen. Oder Fischreiher und Feldlerche und all den anderen, bei denen sie unterwegs Unterschlupf gefunden hatten. Für die Spatzen war das alles selbstverständlich.

Sie zitterte. Doch das geschah ihr nur recht. Wieso saß sie auch bei diesem Nieselregen auf dem Boden und unterhielt sich mit einem Kaninchen? »Ich werde dir sagen, was ich tun sollte. Ich sollte mit deinem – ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich mich so krass ausdrücke –, mit deinem Kadaver tief in den Wald hineingehen, ein Feuer anzünden, dich auf einen Spieß stecken und rösten. Dann sollte ich mich im Dunkel der Nacht in Richtung Paris auf den Weg machen.« Sie rieb sich die Arme, doch dadurch wurden sie kein bisschen wärmer. »Krähe ist sehr gewitzt. Ich sollte ihn sich um seine eigenen Spatzen kümmern lassen und die anderen warnen.«

Die Furcht des Kaninchens war wie das Kreischen von Eisen auf einem Mahlstein. Abgrundtiefes Entsetzen.

Im Rücken spürte sie den Wind, der aus der Richtung des Châteaus kam und widerlich nach Rauch und irgendwie metallisch roch. »Erwarte kein Mitleid, Bürger Kaninchen. Ich habe kein Herz. Das war das Erste, was ich aufgegessen habe, als ich Hunger bekam.«

Das Kaninchen zuckte nicht einmal, als sie es anfasste, doch unter dem Fell spürte sie sein Zittern. Das Messer in ihrer Tasche war schärfer als noch vor vier Tagen, als es noch das friedliche Leben eines Brieföffners geführt hatte. Sie zwängte einen Finger unter die Seidenschnur, die das Kaninchen hielt. »Statt vernünftig zu sein, werde ich auf trockenen Körnern rumkauen, die mir nicht bekommen werden, und dich freilassen.« Sie schnitt das rote Band durch.«Du wirst nicht dankbar sein. Das weiß ich. Du wirst heute Nacht mit mindestens hundert Kaninchen zurückkommen und die Brücke, unter der ich sitze, in Brand stecken.«

Es rührte sich nicht.

»Geh schon, geh. Du ärgerst mich, wie du so dort liegst. Geh, ehe ich meine Meinung ändere und dich doch noch mit Lauch und Brunnenkresse gewürzt verspeise.«

Das Kaninchen zitterte am ganzen Körper und kam auf die Beine. Es schleppte sich durchs graubraune Gras in einen Abflussgraben. Die Furcht, die es ausgestrahlt hatte, verschwand mit ihm.

Es war eine Erleichterung, ihr nicht mehr ausgesetzt zu sein. »Mir wäre bestimmt schlecht geworden, wenn ich etwas gegessen hätte, das so viel Angst hat.«

2

Ihr war ein bisschen schwindelig, deshalb blieb sie noch ein Weilchen sitzen und betrachtete die Furche, die das Kaninchen bei seinem Verschwinden durchs Gras gezogen hatte. Sie fragte sich, ob es wohl ein hohes Alter erreichen und das Oberhaupt einer großen Familie mit Enkelkindern auf dem Schoß werden würde oder umgehend von einem Fuchs verspeist wurde.

Dann glitten plötzlich Stimmen wie Nattern durch das monotone Rauschen des Regens. Männerstimmen.

Sie raffte ihre Röcke und rannte los.

Die Zeit reichte nicht, um es noch bis zum Wald zu schaffen. Sie rannte aufs Château zu. Auf dem langen Weg durch den Blumengarten haschten Lavendel, Fingerhut und Ringelblumen nach ihr. Die Kieselsteine knirschten unter ihren Holzpantinen. Sie machte Lärm. Zu viel Lärm.

Das waren keine Männer aus dem Dorf, die über den rückwärtigen Weg kamen. Männer aus Voisemont würden nicht so spät am Tag bei Regen herkommen. Sie würden besseres Wetter abwarten, um das Château zu plündern. Sie würden mit quietschenden Karren anrücken, die man schon aus hundert Metern Entfernung hörte. Der Bote von Krähe würde, wenn er sie denn aufsuchen wollte, leise sein.

Sie rannte über den Hof zur offen stehenden Stalltür und schlüpfte hinein. Ihre Holzschuhe klapperten auf der Stallgasse, als sie an den Boxen vorbeiging, deren Fenster alle geöffnet waren und das trübe Grau von draußen hereinließen. Kein Wiehern ertönte und auch kein Hufgeklapper. Nur das trockene Rascheln der Schwalben, die unter den Sparren nisteten, war zu hören. Unter dem hohen Dach des Stalls herrschte gähnende Leere. Mit den Pferden war auch die Seele daraus entwichen.

Die praktisch denkenden Dörfler waren gekommen und hatten mit gierigem Blick alles in Augenschein genommen. Nichts, was noch irgendeinen Wert gehabt hätte, war zurückgeblieben: weder Decken noch das kleinste Stück eines Reithalfters, Zügels oder geflochtenen Seils. Nicht ein Fitzelchen gegerbten Leders war noch da. Sie hatten sogar die Futtertröge in Säcke entleert und den Hafer weggeschafft, sodass nur noch ein kümmerlicher Rest übrig geblieben war. Die Hühner in Voisemont würden diesen Sommer gut zu essen haben.

An der letzten Box blieb sie neben der Leiter stehen, die zum Heuboden hinaufführte. Sie stand tief im Schatten bis zu den Knöcheln im Stroh. Alle Läden waren offen und schwangen im leichten Wind knarrend hin und her. Die Feuchtigkeit, die sich auf den Brettern gesammelt hatte, bildete Tropfen. Es hätte nur drei Minuten gedauert, sie alle zu schließen, aber keiner hatte sich die Mühe gemacht. Vielleicht gehörte es ja zu den Prinzipien der Revolution, dass gutes Stroh im Regen vergammeln sollte.

Der ganze Hof war von hier aus zu überblicken. Sie würde sich überzeugen, dass es nicht der Bote von Krähe war. Dann würde sie sich durch die Hintertür davonmachen und die Plünderer sich selbst überlassen.

Draußen im Hof konnte sie das tiefe Brummen einer schweren Person von einer leichteren, höheren Stimme unterscheiden. Mindestens zwei Männer also.

Möglicherweise waren es Durchreisende auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen für die Nacht. Vielleicht auch Philosophen oder Gelehrte, fahrende Ritter, Pilger, verkleidete Helden oder Bänkelsänger. Oder aber echte Edelleute, die – voll fürstlichen Wohlwollens – danach strebten, Gutes zu vollbringen.

Mittlerweile war sie skeptisch, was Wohlwollen anging.

Die vereinzelt und planlos fallenden Regentropfen ließen die hohen Büsche am Wegesrand verschwimmen. Dann traten die beiden in ihr Blickfeld. Ein großer Mann in der Kleidung eines wohlhabenden Händlers, jedoch so braungebrannt wie ein Bauer, stapfte voraus. Sein Dienstjunge hinkte hinterher, da er seine liebe Not mit einem Paar Eseln hatte.

Der Große blieb mit dem Rücken zu ihr in der Mitte des Platzes stehen und legte den Kopf in den Nacken, um die schwarz-grau gestreifte Fassade des Châteaus zu betrachten. Gewiss war er kein eleganter Herr, aber auch kein heruntergekommener Vagabund. Seine Kleidung bestand aus festem Stoff und war zweckmäßig: ein schlichter Mantel und hohe Stiefel, genau das Richtige für strapaziöse Reisen. Die Hände steckten schwer und regungslos im Bund seiner Hose. Breitbeinig stand er da und verströmte nachdenkliche Ruhe.

Er hätte ein Soldat sein können, der den Blick über die eingenommene Stadt schweifen ließ, die er dem Erdboden gleichmachen wollte. Oder ein Bauunternehmer, der die Reste einer römischen Villa begutachtete und das Gewicht der Marmorblöcke abschätzte, die er wegzuschaffen und zu verkaufen gedachte. Während sie ihn beobachtete, zog er den Hut vom Kopf und klatschte damit gegen den Oberschenkel – eine Geste, die große Entschlossenheit ausstrahlte. Ein Ausdruck gewaltiger Kraft, die er ohne Probleme im Griff hatte.

Das gefällt mir ganz und gar nicht.

Er trug nichts, an dem sie ihn als Boten von Krähe hätte ausmachen können. Ein rotes Band mit einem Knoten oder irgendein Stück verknoteten roten Stoffs hätte schon genügt. Er war lediglich ein fremder Eindringling, der für sie ohne Bedeutung war.

Ihr habt hier nichts zu suchen. Verschwindet.

Das tat er natürlich nicht. Er setzte seinen Hut wieder auf, zog ihn tief ins Gesicht und schlug den Mantelkragen hoch. Dann drehte er sich langsam um, wobei sein Blick über Meierei und Wagenschuppen glitt. Aus dieser Entfernung konnte sie seine Gesichtszüge nicht erkennen. Im trüben Grau des Tageslichts war sein Gesicht mit den hohen flachen Wangenknochen, dem von Bartstoppeln verdunkelten Kinn und der ausgeprägten Nase nur zu erahnen. Sein Haar war braun und hing ihm zottig bis in den Nacken.

Wäre er einem Märchen entsprungen, dann als Riese und nicht als Prinz. Riesen waren gefährlicher als Prinzen.

Das hatte man nun davon, wenn man wie feuchtes Moos an den Steinen des Châteaus klebte. Sie hatte sich nicht aufgemacht, um den Gefahren auf der Straße nach Paris zu trotzen, und so war die Gefahr jetzt zu ihr gekommen und hatte sie bis vor ihre eigene Tür verfolgt. Sie war wie der Mann, der in seinem verzweifelten Bestreben, dem Tode zu entrinnen, den ganzen Weg von Bagdad bis nach Samarkand gerannt war. Am Ende hatte der Tod ihn trotzdem ereilt, weil sein Schicksal es so gewollt hatte.

Der Fremde drehte eine Runde um die Nebengebäude. Als er den Stall erreichte, schien er sie einen Moment lang direkt anzusehen. Die Intensität seines Blickes raubte ihr den Atem. Wohl wissend, dass man sie nicht sehen konnte, dass die Schatten sie verhüllten, verharrte sie in absoluter Regungslosigkeit.

Sein aufmerksamer Blick wanderte weiter. Zur Steinmauer, hinter der sich der Garten mit dem Fischteich verbarg. Zu dessen hoher, offen stehender Gittertür. Zu den Gemüsepflanzen des dahinterliegenden Gartens, dessen Tor ebenfalls offen stand. Vielleicht gab es beim Pöbel und unter Plünderern ja irgendein ungeschriebenes Gesetz, dass man Türen nicht hinter sich schloss.

Unter einem endlosen Schwall von Flüchen band der Dienstjunge die Esel an einen Pfosten. Ein verräterischer Wind trug die Worte zu ihr. »Eselshaxen in Butter. Esel en croûte. Eselsuppe. Ihr wartet hier einfach.«

Er sprach mit dem Akzent der Gascogne. Außerdem sah er mit den dunklen Haaren und der glatten, dunklen Haut Südfrankreichs aus wie jemand, der von dort stammte. Ein Diener, der meilenweit weg von zu Hause war.

Da Herr und Diener mit ihren eigenen Anliegen beschäftigt waren, könnte sie sich durch die Hintertür aus dem Stall Richtung Gartenhaus stehlen, indem sie so tat, als wäre sie etwas, dem Beachtung zu schenken sich nicht lohnte. Ein Igel vielleicht. Sie könnte aber auch einfach abwarten. Vielleicht würden die beiden, sobald sie endlich damit fertig waren, das Château anzustarren, sich trollen und nach einem wärmenden Feuer und trockenen, bequemen Betten im Dorf Ausschau halten. Sie könnte aber auch auf den Heuboden klettern und sie von da aus beobachten. Denn es bestand ja immer noch die Möglichkeit, dass die beiden sich durch eine der Parolen zu erkennen gaben.

Sie könnte aber auch weiterhin einfach wie ein Trottel dastehen. Die Möglichkeiten, die in ihrem Innern miteinander fochten, hätten ein ganzes Schlachtfeld füllen können.

»Hier liegen überall Glasscherben herum«, sagte der Große. »Pass auf deine Füße auf. Und lass die Esel draußen.« Eine bretonische Stimme. Dieser Mann stammte aus der ältesten, der am wenigsten kultivierten Provinz Frankreichs.

Er machte sich nicht daran, die Ruinen zu durchstöbern, sondern dachte gründlich über das nach, was er da sah. Sie legte keinen Wert auf die Begegnung mit einem Mann, den mehr als nur Plünderungsabsichten hergeführt hatten.

William Doyle, britischer Spion, stand im französischen Regen und dachte über Zerstörung nach.

Decorum und Dulce scheuten vor dem Tor und weigerten sich mit angelegten Ohren, auch nur einen Huf auf die losen Kiesel im Hof zu setzen. Der Brandgeruch missfiel ihnen. Vielleicht witterten sie Tod. Auf alle Fälle etwas, das sie nicht mochten.

Schlau wie Katzen, diese Biester. Der Junge hatte sie noch nicht zu schätzen gelernt.

Nirgends waren sterbliche Überreste zu sehen. Ebenso wenig hingen Leichen wie reifes Obst an den Bäumen. Dennoch war es möglich, dass in irgendeiner Ecke jemand lag. Tot.

Dulce machte einen langen Hals, um Hawker zu beißen. Und verfehlte ihn um Haaresbreite. Der Junge wurde immer flinker.

»Modernder Bastard eines …«, fluchte Hawker, während er sich mit einem Sprung zur Seite rettete, »sodomitischen Affen.«

Das hat er von mir gelernt. Ich bin ja ein glänzendes Vorbild für die Jugend. Der Junge war zu ihm gekommen, als er nur wenige Worte Französisch sprechen konnte. Allmählich erweiterte William den Wortschatz des Burschen.

Die Esel waren so etwas wie eine gründliche Lektion darin, wie man Probleme löste, die sich weder in Grund und Boden reden ließen noch erstochen werden durften. Manchmal machte es richtig Spaß, den Jungen auszubilden.

Hawker riss mit einem letzten kräftigen Ruck an den Zügeln, wobei er den Eindruck erweckte, als wüsste er, was er tat, was seinem Schauspieltalent zu verdanken war. »Ich werde eure Eingeweide einkochen und gottverdammten Eselsleim daraus machen.«

»Wenn du dein Plauderstündchen mit dem Viehzeug beendet hast, könnten wir uns hier vielleicht ein bisschen umsehen. Du übernimmst den hinteren Garten und gehst bis zu dem Schuppen da. Dann guckst du dir die Westseite an.« Mit der Hand gab er Richtung und Radius an und drückte so das Gesagte in Gebärdensprache aus. Bei der nächsten Gelegenheit würde nicht mehr als die Geste nötig sein. Hawker lernte gleich beim ersten Mal.

Der Junge blieb stets auf dem nassen Gras, wo man seine Schritte nicht hörte, und in der Deckung der Buchsbaumhecke, wobei er auf seine Erfahrungen aus dem Stadtleben zurückgriff, obwohl er allmählich anfing, sich wie ein Landmensch zu bewegen.

Château de Fleurignac gehörte ihnen. Keine radikalen Jakobiner, die mit offiziellen Dokumenten wedelten. Keine Dienstboten, die mit klappernden Eimern Wasser aus dem Brunnen schöpften oder in der Küche Geschirr zerbrachen. Keine Hühner, die einem unter die Füße kamen. Keine Pferde im Stall. Nicht einmal ein Hund ließ sich blicken, um mit Passanten eine lebhafte Diskussion über Mein und Dein zu führen.

Kein Hinweis auf den verrückten, alten Marquis de Fleurignac oder seine Tochter.

In der Schenke in Voisemont wurde erzählt, der Alte habe sich aus dem Staub gemacht, ehe die Jakobiner ihn hatten festnehmen und nach Paris aufs Schafott schaffen können. Er sei in einer vierspännigen Kutsche davongefahren, die Taschen voller Juwelen. Dass man ihn auf dem Weg nach Norden gesehen hätte, wo er sich den gegen Frankreich marschierenden Armeen anzuschließen gedachte.

Andere wiederum behaupteten, eine der aus Helden und Narren gebildeten Bruderschaften, die die Revolution ablehnten und Aristokraten retteten, hätte ihn verschwinden lassen. Versteckt im doppelten Boden eines Wagens sei er auf dem Weg zur Küste, wobei er kräftig durchgeschüttelt werde.

Und dann gab es da noch diejenigen, die eifrig behaupteten, der Marquis sei im Feuer eingeschlossen worden. Oh ja. Mit eigenen Augen hätten sie gesehen, wie er wie eine Fackel brennend gegen die Fenster gehämmert habe, um zu entkommen. Er liege begraben unter einer mannshohen Schicht aus Asche, ein Vermögen aus Gold in seinen verkohlten knochigen Fäusten. Man müsse ihn nur noch ausgraben.

Er selbst war der Ansicht, dass de Fleurignac niemals im Château gewesen war. De Fleurignac war ein Stadtmensch. Er hatte sich dorthin begeben, wo er sich sicher fühlte. Paris. Dort würde er ihn und seine verfluchte Liste finden.

De Fleurignacs Tochter hingegen war hier gewesen. In der Schenke war man sich ausnahmslos darüber einig, dass sie sich im Haus befunden hatte, als die Jakobiner kamen. Niemand äußerte Vermutungen, was aus ihr geworden war. Alle tauschten nur verstohlene Blicke aus. Das, worüber die Leute nicht sprachen, war immer besonders interessant.

Er sah sich um, während er in Gedanken schon seinen Bericht verfasste.

Château de Fleurignac war so groß wie das Haus seines Vaters, Bengeat Court. Es war auch so alt wie Bengeat. Sechzehntes Jahrhundert. Erbaut aus dem hiesigen Granit, über den sie von der Küste bis hier gestolpert waren. Das Dach hatte sich hier und da durchgebogen, als die Hölzer nachgaben, und zierte die Ruine mit einem grauen Buckel. Jedes Fenster war mit einer schwarzen Rußschicht überzogen.

Sie haben diesen Ort wirklich gründlich abgefackelt, das muss man sagen.

Aus den Nischen im oberen Bereich des Gebäudes waren Statuen herausgekippt. Bruchstücke einer steinernen Hand, die eine Schriftrolle hielt, lagen vor seinen Füßen. Die abgebrochene Marmorzeile dort drüben stellte die Falte einer Toga dar. Ein Werk der Spätantike. Römisch, nicht gallorömisch. Kaiser und Poeten, von den Bauern aus Voisemont-en-Auge krachend zu Fall gebracht. Ein trauriges Ende, weit entfernt von der Sonne Italiens.

Die marmornen Nymphenstatuen in den akkurat angelegten Gärten waren systematisch geköpft worden. Was in Frankreich gerade in Mode war … das Köpfen.

Hawker wand sich durch die im Hof liegenden Trümmer, indem er seine Füße mit Bedacht geschickt dazwischensetzte. »Wie nennt man … dieses lange Tier?« Mit der Hand beschrieb er eine Welle. »Auf dem Boden. Mit Fell. Dieses böse.«

Wahrscheinlich dachte er an ein Wiesel. »Belette.«

»Das meinte ich. Ich werde ihnen Wiesel in ihre langen, pelzigen Eselsohren stecken. Die werden dann an ihrem Hirn knabbern.«

»Was ungemein helfen dürfte.«

»Ich will, dass sie einen langsamen Tod erleiden, damit ich es in aller Ruhe genießen kann. In den Gärten ist niemand, weder tot noch lebendig. Das ganze Gras ist von Karren und Pferden aufgewühlt. Vier verschiedene Karren, um Ihrer Frage zuvorzukommen. Und nirgends gibt es noch etwas, das sich zu stehlen lohnt.« Abschätzig musterte er die zerbrochenen Stühle, die beschmutzten Seidenstoffe und die zerstörten Gemälde. »Ich will Ihnen meine Expertenmeinung verraten. Man kann einen Ort plündern oder ihn bis auf die Grundmauern niederbrennen. Aber beides gleichzeitig zu versuchen, ist ein Fehler.«

»Dann hat da wohl jemand schlecht geplant. Siehst du das? Da oben?« Geschmolzenes und abgekühltes Blei hing in dicken schwarzen Eiszapfen vom Dach.

»Das ist … ähm …« Hawker rieb sich die Stirn, als er angestrengt über das französische Wort nachdachte. »Blei.«

»Richtig. Blei. Das ist ungefähr die drittwichtigste Sache hier und daher interessant für mich. Warum wohl?«

Hawker hatte keine Ahnung. Und er hasste es, etwas nicht zu wissen. »Weil es Sie an die Bleisoldaten erinnert, mit denen Sie als Hosenmatz gespielt haben?«

Sehr witzig. »Blei ist knapp in Frankreich. Das da dürften drei – vielleicht dreieinhalb – Tonnen sein. Sie werden es abschlagen und zu Munition für die Republik verarbeiten. Irgendwann demnächst werden wir diesem Blei auf irgendeinem Schlachtfeld auszuweichen haben.«

Kalte Augen starrten ihn aus einem ungerührten Gesicht an. »Sie vielleicht. Ich nicht. Nur Dummköpfe krepieren auf Schlachtfeldern.«

Du bist kein bisschen patriotisch, Junge. Doch wenn man bedenkt, aus welchem Höllenloch in London du kommst, kann ich mir auch keinen Grund vorstellen, warum es anders sein sollte. »Ich wäre vorsichtig mit solchen Äußerungen. Die Götter haben Sinn für Humor. Und zwar einen ziemlich merkwürdigen. Wir lagern heute Nacht hier.«

Was die Nebengebäude betraf, hatte das Feuer Partei ergriffen. Die Meierei war unversehrt, die Remise vollständig abgebrannt. Die Kutschen hatte man nach draußen gezogen, umgekippt und in Brand gesteckt. Bis auf den Holzrahmen und herabbaumelnde Lederriemen war nichts mehr von ihnen übrig. Den Stall hatte man nicht angerührt.

Wenn sein Vater auf ihn böse gewesen war oder seine Brüder randaliert hatten, hatte er auf Bengeat die Nacht im Stall verbracht. Doch hier, in feindlichem Land, verspürte er nur wenig Lust, in einem geschlossenen Raum zu schlafen. Da war die Orangerie schon besser. »Da rein.«

Die Orangerie war nun, da das Dach hier und da offen war, dem Wind ausgesetzt. Alle Fenster waren eingeschlagen, die Orangenbäumchen zertrampelt, die Pflanzgefäße umgekippt. Die Treibhausgewächse hatten sie in Grund und Boden gestampft. Der Fliesenboden war mit glitzerndem Glas übersät, das an den Wänden in Haufen lag und noch in zwölf Metern Entfernung zu finden war.

Er verschaffte sich einen Überblick über das Gelände. Offenes Terrain zu drei Seiten. Durch die großen, scheibenlosen Fenster würde er Besucher sehen, und er würde sie hören, wenn sie auf Glas traten. Er hasste es, wenn man sich an ihn anpirschte.

Hawker folgte ihm, unter seinen Füßen klirrte das Glas. »Die Jungs in dem stinkenden kleinen Dorf da haben jahrelang auf diese Gelegenheit gewartet.«

»Ach ja?«

»Sie haben davon geträumt. Sie haben in ihren primitiven Hütten im Dorf gehockt, bei geschlossenen Fensterläden und während der Wind durch sämtliche Ritzen zog. Und dann haben sie an das ganze feine Kraut hier drinnen gedacht, das warm und glücklich hinter Glas verhätschelt wurde. Während sie da unten im Dunkeln bibbern mussten, haben die hier oben Blumen gezüchtet.«

»Damit hat man jedenfalls aufgeräumt. Keine Blumen mehr.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Hawker sich bückte, einen Stein aufhob, ausholte und warf. Mit einem feinen, silbrig klingenden Misston ging Glas zu Bruch. Die heldenhaften Revolutionäre von Voisemont hatten eine Scheibe übersehen. Nun war die Zerstörung komplett.

»Ich hätte kein Auge zugetan, hätte ich gewusst, dass noch ein Fenster übrig ist«, erklärte Hawker.

»Musst du sonst noch etwas kaputt machen, um es hier drinnen gemütlich zu finden?«

»Das langt.« Der Junge stocherte in den Scherben eines Tontopfes, wo jemand eine Orchidee mit allem Drum und Dran auseinandergenommen hatte. »Sie haben diesen Ort gehasst. Mehr als das große Haus. Es überrascht mich, dass sie ihn nicht Stein für Stein auseinandergenommen haben.«

»Vielleicht tun sie das noch. Es ist ja noch Zeit.« Da ist ganz schön viel Hass in dir, was? Doch du bist es wert, dass man wenigstens versucht, dich zu retten, wenn du solche Dinge wahrnimmst. »Bring die Tiere in den Gemüsegarten. Wenn sie sich dabei auch nur ein Stückchen Glas in die Hufe treten, lasse ich es dich mit den Zähnen wieder herausholen. Und bring etwas Stroh her. Wir werden es auf dem Boden ausbreiten. Warum sollen wir diese Nacht nicht schön weich liegen?«

»Stroh. Ich liebe Luxus.«

Plötzlich schossen drei Schwalben aus dem Giebel am Ende des Stalles. Hätte er gerade in die andere Richtung geschaut, wäre es ihm entgangen.

Vermutlich hatte es nichts zu bedeuten. Vögel erschreckten sich bei jeder auch noch so kleinen Gelegenheit. Doch ihm sträubten sich die Nackenhaare. Und auch die Esel waren unruhig. Irgendwer beobachtet uns.

»Was?« Die Hand des Jungen schwebte über dem Messer, das in seinem Hosenbund verborgen war.

»Dreh dich nicht um.«

»Wo sind sie?«

»Im Stall. Ganz hinten links. Du bewegst dich langsam aus der Schusslinie. Kümmere dich um unsere vierbeinigen Brüder.«

»Ihre Brüder vielleicht. Nicht meine.« Er gab ein geschmeidiges Achselzucken für potenzielle Zuschauer zum Besten – eine verdammt ausdrucksvolle französische Schulter entwickelte er da – und schlenderte pfeifend von dannen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Der Junge war der geborene Schauspieler. Trotzdem würde er ihn zum Spion ausbilden. Falls er ihn nicht vorher umbringen musste.

Er schlenderte zu der fast zwei Meter hohen Steinmauer, die den Gemüsegarten einfasste, und machte sich an seiner Hose zu schaffen, wie ein Mann auf der Suche nach einer guten Stelle zum Pinkeln. Als sich ein recht üppiger Buchsbaum zwischen ihm und dem Stall befand, schwang er sich über die Mauer, wo er auf der anderen Seite in einem Kräuterbeet landete.

Und dabei Basilikum zermalmte. Jetzt würde er nach Basilikum riechen und sich jedermann weithin ankündigen. Sei’s drum. Geduckt eilte er an der Mauer entlang und blieb dabei stets auf dem Erdboden, um nicht gehört zu werden. Noch zehn Meter, dann war er auf der Höhe des Stalls. Er sprang wieder zurück über die Mauer. Kein Wachposten. Alles ruhig. Keine Menschenseele.

Das Gefühl, dass drinnen jemand lauerte, wurde stärker.

Die Hintertür zur Sattelkammer stand offen. Er pirschte sich voran, auf der Jagd nach dem, was auch immer ihn da drinnen erwartete.

3

Sie wusste, wie man sich ruhig verhielt. Das war die erste Tatsache von Bedeutung, die Doyle über sie erfuhr. Sie stand so beherrscht und geduldig da, dass sie förmlich unsichtbar war. Die meisten Menschen konnten nicht einmal zwei Minuten stillstehen, ohne herumzuzappeln.

Die Frau stand im Schatten unter dem Heuboden vor dem Fenster, wo sich ihre Silhouette abzeichnete, und beobachtete den Hof. Geistergleich glitten die Atemzüge in ihren Körper und wieder hinaus. Ihr Gesicht war von ihm abgewandt. Sie trug die ländliche Kleidung einer höheren Dienerin oder einer Bauersfrau. Dunkelblauer Rock, weiße Schürze. Um ihre Schultern lag ein schlichtes Leinentuch. An den Füßen trug sie Holzschuhe. Das Haar war aus dem Gesicht genommen und zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis tief über den Rücken hing und am Ende von einem Stück leuchtend rotem Stoff zusammengehalten wurde. Die Arme waren eng vor der Brust gekreuzt, einer über dem anderen, und gaben ihr Wärme und Schutz.

Die Flecken an ihrem Rock und die Kratzer auf ihren Armen wiesen darauf hin, dass sie sich in den Wäldern versteckt und kein Dach über dem Kopf gehabt hatte. Vermutlich handelte es sich um ein Mitglied des Haushalts – eine Zofe oder Näherin oder die Frau des Kammerdieners.

Das Stallfenster, das sie sich ausgesucht hatte, bot einen weiten, ungehinderten Blick auf das Château und die Allee zwischen Remise und rückwärtiger Straße. Ob nun rein zufällig oder absichtlich, aber sie hatte einen erstklassigen Aussichtsposten gewählt.

Während er darüber nachdachte, glitt ihre Hand in den Nacken. Sie spürte wohl, dass man sie beobachtete – eine Gabe, die nicht besonders oft anzutreffen war.

Dann drehte sie sich um. Und sah ihn. Der Augenblick dehnte sich.

Er hatte sich zwischen ihr und der Hintertür postiert, und sie hatte nicht daran gedacht, sich zwei Rückzugslinien offen zu halten: eine, die der Feind blockieren konnte, und eine, um die Beine in die Hand zu nehmen.

Rock und Schürze wirbelten herum. Wie ein Blitz schoss sie davon und rannte mit wehendem Zopf die Stallgasse hinunter. Auf halbem Wege zur Tür holte er sie ein, schlang seine Arme um sie und hielt sie fest.

Sie wehrte sich und versuchte, ihm ihre Nägel ins Gesicht zu krallen. Als er ihre Handgelenke packte, wand sie sich wie ein Aal und vergrub die Zähne tief in der Hand, die sie festhielt.

Autsch, das tat weh. »Ich habe nicht die Absicht …« Ein Schuh traf sein Schienbein. »Himmel … noch mal. Werden Sie wohl damit aufhören? Ich habe nicht vor, Ihnen etwas zu tun.« Er musste nachfassen, sodass sie eine Hand freibekam und ein Messer ziehen konnte.

Jetzt reicht’s. Mit einem Tritt brachte er sie ins Straucheln. Das Messer flog in die Luft. Dann warf er sie rücklings in einen Strohhaufen.

Damit war die Sache im Grunde genommen erledigt, außer dass sie sich noch ein Weilchen wehrte.

Sie war leicht für ihre Größe, in Panik und hatte keine Ahnung vom Kämpfen. Mit einem Mann ihrer Statur hätte er kurzen Prozess gemacht. Das Mädchen hatte nicht die geringste Chance. Sie rammte ihm ihr Knie in den Bauch und verfehlte seine empfindlichsten Teile viel knapper, als ihm lieb war. Offenbar ein reiner Glückstreffer. Keiner der Männer in ihrem Leben hatte ihr beigebracht, wie man ein männliches Wesen so treffen konnte, dass es saß. Was wirklich schade war, da sie bei ihren Anstrengungen, ihm wehzutun, mit sehr viel Enthusiasmus vorging.

Er trug ihr nicht nach, dass sie es versuchte. Schließlich hätte er genauso gehandelt. Er legte sich auf sie, sodass sie nichts mehr ausrichten konnte. »Wild um sich zu beißen wird Ihnen nicht besonders viel bringen, und es geht mir gewaltig auf die Nerven.«

Das Ende kam abrupt. Auf einmal kapitulierte sie. Sie blickte ihn von unten an. Innig wie ein Liebespaar lagen sie aufeinander. Doch dies hatte nichts mit einem Liebesakt zu tun – nicht im Entferntesten.

Ich erschrecke sie zu Tode.

Dann erhaschte sie einen Blick auf die Narbe auf seiner Wange, und ihr stockte der Atem.

Die Narbe war nicht echt, sondern ein regelrechtes Kunstwerk. Eine fünfzehn Zentimeter lange Groteske, von der Augenbraue bis zum Kinn. Das auffälligste Merkmal in seinem Gesicht. Der Narbe hatte er sein recht verdorbenes Aussehen zu verdanken.

»Mein Gesicht war schon immer eine große Prüfung. Ich bin froh, dass ich es nicht anschauen muss.« Er blieb, wo er war, und machte keine Anstalten, sie von der Last seines schweren Körpers zu befreien.

Ihre Augen hatten die Farbe von frisch aus der Kanne fließendem Kaffee – satt braun, durchscheinend. Unter dem Sonnenbrand war ihre Haut blass, außerdem zerkratzt und schmutzig. Ihre angstvoll angespannten Muskeln bebten in seinen unnachgiebigen Händen.

»Lassen Sie mich los.« Ihre Kehle schnürte sich immer wieder zusammen.

Das Tuch um ihren Hals hatte sich gelöst. Ihre Brüste quollen aus dem Mieder hervor. Und … seine Hand lag auf einer der beiden. Wann war das denn passiert? Oh Gott. Er zuckte zurück und ergriff stattdessen hastig eine Schulter. Da oben war neutrales Gebiet. »Entschuldigung. Das hat nichts zu bedeuten. War nur ein Versehen.«

Ein hübsches Paar Brüste hatte sie da. Weiß wie Splittermandeln, rund wie Pfirsiche. Weil das Tuch seine Aufgabe nicht erfüllte, lugten die Brustwarzen hervor. Zwei dunkle Röschen, eng zusammengezogen wie Knospen. Sahen sehr appetitlich aus. Und wenn sich sein Mund ihnen jetzt auch nur noch ein kleines Stückchen näherte, könnte er sie berühren und an ihnen lecken.

Was sie ungemein beruhigen dürfte – du an ihren Titten, sabbernd.

Er stemmte sich ein wenig hoch, um sie nicht zu zerquetschen. »Ich will nur wissen, wer mir nachschnüffelt. Mehr nicht. Ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas anzutun. Also, ich werde Sie jetzt loslassen. Und dafür treten oder schlagen Sie nicht nach mir. Vielleicht könnten Sie auch darauf verzichten, mich zu beißen.«

Er sah, wie sich ein Anflug von Vernunft in ihre Gedanken stahl. Beobachtete, wie sie seine Worte abwog und von allen Seiten betrachtete. Dann entspannte sie sich, Muskel für Muskel.

Er zog sich noch weiter zurück. »Ich habe nicht erwartet, hier irgendjemanden vorzufinden. Im Dorf haben sie gesagt, hier sei niemand mehr. Was machen Sie hier?«

»Unter Loslassen verstehe ich etwas anderes.« Sie warf einen Blick auf die Narbe und sah schnell wieder weg. »Wenn Sie mir nichts antun wollen, könnten Sie das ja aus größerer Entfernung machen. Sie sind nämlich ziemlich schwer.«

Diese Frau könnte ihm gefallen.

Er rollte sich zur Seite und auf die Knie. Es war nicht notwendig, sie noch länger festzuhalten. Sollte sie einen weiteren Fluchtversuch unternehmen, konnte er sie jederzeit wieder schnappen.

»So ist es schon besser.« Ihre Stimme zitterte. »Und trotzdem hätte ich gerne noch etwas mehr Abstand zwischen uns. Wie wär’s mit einer ganzen Stalllänge?«

Oh ja, sie könnte ihm sogar sehr gut gefallen. »Setzen Sie sich hin und reden Sie. Wer sind Sie? Warum spionieren Sie mir nach?«

Sie drückte sich hoch und fing an, ihr Tuch züchtig in den Ausschnitt zu stopfen. »Ich habe nicht spioniert, sondern wollte nur eine Begegnung vermeiden. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«

Ihren Akzent hörte man in den Cafés, Salons und auf den Boulevards von Paris. Keine Spur des Dialekts der Normandie. Dies war nicht die Zofe einer feinen Dame oder die Gattin des Verwalters. Die Tochter des Hauses höchstpersönlich war ihm ins Netz gegangen – de Fleurignacs Tochter.

»Sie sind vorsichtig.« Sie würde ihn zu ihrem Vater führen. Er musste sich nur an ihre Fersen heften.

Vielleicht ließ er seine Gedanken erkennen. Ihr Blick huschte zur Seite. »In der letzten Zeit hüte ich mich vor Fremden.«

»Und ich sehe nicht gerade freundlich aus.« Er fuhr sich mit dem Daumennagel über die Narbe auf seiner Wange. Sein Meisterstück von einer Narbe. Er musste der Albtraum einer Frau sein, so allein, in einem verlassenen Stall. »Nicht gerade hübsch, was?«

In ihren Augen spiegelte sich Angst. Dass es ihr nicht gelang, die Angst vor ihm zu unterdrücken, würde die Würde dieser Frau noch mehr beeinträchtigen.

»Nein, nicht gerade hübsch.« Diesmal blickte sie ihm unverwandt ins Gesicht. »Aber auch nicht so schlimm, dass den Hühnern vor lauter Schreck das Eierlegen vergeht. In jedem Dorf gibt es Schlimmeres zu sehen. Sie müssen sich nicht benachteiligt fühlen, nur weil es Ihnen an Schönheit mangelt. Ich habe mich versteckt, bevor ich Ihr Gesicht gesehen habe.«

»Nun haben Sie mir aber Bescheid gegeben.« Er setzte sich auf die Fersen zurück. »Ich mache vielleicht nicht viel her, doch da, wo ich herkomme, respektiert man mich.«

»Da, wo Sie herkommen, jagen Sie ja vielleicht auch keine Frauen und schleudern sie zu Boden wie einen Mehlsack.« Sie zog die Knie an und zupfte ihren Rock sittsam über die Knöchel. Eine elegante und bezaubernde kleine Geste. Das schmutzige Kleid war vermutlich aus Seidenbrokat, wie man ihn in Versailles trug. »Außerdem stellen Sie sich dort vielleicht auch erst einmal vor, ehe Sie über eine Frau herfallen.«

»Für gewöhnlich liegt mir nichts ferner, als über Frauen herzufallen. Ich bin Guillaume LeBreton, ursprünglich aus der Bretagne, jetzt jedoch lebe ich in Paris. Ich bin nicht derjenige von uns beiden, der herumschleicht und spioniert und alles und jeden beißt, hab ich recht? Wer sind Sie?«

Sie holte tief Luft. Man holte immer Luft, ehe man zu einer Lügengeschichte ansetzte. »Ich bin Margaret Duncan, Dame de compagnie für Mademoiselle de Fleurignac.«

»Also sind Sie Engländerin.«

»Schottin.«

Wenn sie eine Schottin war, war er der König von Schottland. »Sie sind weit weg von zu Hause, Maggie Duncan.«

»Im Gegenteil, Frankreich ist mein Zuhause. Meine Familie lebt in Arles. Mein Vater ist Colonel bei der Infanterie.«

Frankreich war voller rothaariger Enkel von Männern, die dem Stuartkönig ins Exil gefolgt waren. Ein Großteil von ihnen war in der französischen Armee. Doch dieser breite und betörende Mund stammte nicht aus Schottland. Sie war eine waschechte Französin.

Sie blickte zum Stallfenster und von dort auf die Ruine des Châteaus. »Mademoiselle ist geflohen. Und ich wurde zurückgelassen, um dieses erbauliche Gespräch mit Ihnen zu führen.«

Wirklich raffiniert, diese Maggie.

4

Sich gegen diesen wandelnden Felsbrocken zu wehren wäre über alle Maßen sinnlos gewesen, also versuchte Marguerite es gar nicht erst. Zu gegebener Zeit würde sie schon einen Weg finden, um ihn außer Gefecht zu setzen.

Oder er brachte sie um. Was er jederzeit tun konnte. Er musste sich nur für eine Methode von vielen entscheiden und loslegen.

Monsieur LeBreton zog sie hoch. Er fischte den Brieföffner aus dem Stroh und betrachtete ihn von beiden Seiten, ehe er ihn in den Tiefen seiner Jacke verschwinden ließ. Dann drückte er leicht ihren Arm und gab ihr damit zu verstehen, dass sie ihn durch die Stalltür nach draußen in den spärlich fallenden Regen begleiten sollte. Dabei war er zwar nicht übertrieben grob, aber dennoch sehr bestimmt. Sie fühlte sich wie ein Beutetier in den Krallen eines riesigen Raubvogels, der sich von seiner besten Seite zeigte. Ein Roch vielleicht, wie in der Erzählung von Sindbad. Mit einem Roch lässt sich nicht über Alternativen verhandeln.

Es sah nicht so aus, als sollte sie unter freiem Himmel im Garten vergewaltigt oder erwürgt werden. Er schleppte sie in die etwas diskretere Orangerie.

Während sie den Hof überquerten, konzentrierte sie sich auf die kleinen Dinge: Sie krallte die Zehen in die Schuhe, um sie nicht zu verlieren. Sollte sie nicht umgebracht werden, würde sie die Schuhe noch brauchen.

»Adrian«, rief LeBreton. »Wir haben einen Gast.«

Der Dienstjunge trat zwischen weißen Pflanztöpfen und zerrupften Palmen hervor. Er war dunkel, schlank und mürrisch – so übel gelaunt wie ein Flaschengeist, der von seinem ungeduldigen Meister herausgerufen wurde. Er schien keineswegs überrascht, als er seinen Herrn mit einer widerspenstigen Frau im Schlepptau sah. Was bestimmt kein gutes Zeichen war.

LeBreton blieb einen Schritt hinter ihr, während der Junge mit einem Bündel Palmwedel das Glas von den Fliesen fegte, wobei er leicht hinkte. Er war ein hübscher Junge, ganz im Gegensatz zu seinem Herrn, der so hässlich wie die Sünden war, von denen er zweifellos schon etliche begangen hatte.

Als ein Teil der Fläche frei war, zog LeBreton seinen Mantel aus und breitete ihn schwungvoll vor ihren Füßen am Boden aus. Da gab es so eine Geschichte … Ein Höfling einer früheren englischen Königin hatte seinen Mantel vor dieser Königin ausgebreitet, damit sie trockenen Fußes die morastige Straße überqueren konnte. Der Name der Königin lautete Elizabeth. Der des Höflings fiel ihr nicht ein.

»Setzen Sie sich. Und werden Sie ja nicht ohnmächtig.« LeBreton versetzte ihr einen Stoß gegen die Schultern, und sie landete unsanft auf ihrem Allerwertesten. Es war ihr schleierhaft, warum er sich die Mühe machte, Anweisungen zu erteilen, wenn er sie dann doch herumschubste.

Eine Zeit lang kann Angst eine Stütze sein, doch sie ist ein falscher Freund. Wenn sie verschwindet, nimmt sie alle Kraft mit sich. Ein Schauder kroch ihr über den Rücken. Ihre Sicht verdunkelte sich. Das Wischen des Behelfsbesens und Kratzen stiebender Glasstückchen klang immer ferner. Sie hatte das Gefühl, in einen Traum zu stürzen. Allerdings keinen schönen Traum.

Den Männern und Frauen von La Flèche hatte sie unüberschaubare Risiken zugemutet, ihnen Stärke und kluges Handeln abverlangt. Sie hatte ihnen versichert, dass man alles ertragen konnte.

Nun war es an ihr, herauszufinden, wie viel Wahrheit dahintersteckte.

LeBretons Mantel war groß, was nicht anders zu erwarten war. Das Braun war so dunkel, dass es in diesem schummrigen Licht schon schwarz wirkte, während das Rotbraun des Innenfutters an Eichenlaub erinnerte. Wie ein Frosch auf einem Lilienblatt hockte sie in der Mitte des Mantels, inmitten eines Ortes der Zerstörung, der einmal ein Garten gewesen war, und zitterte.

»Es bringt nichts, Angst zu haben«, erklärte er. »Und es besteht auch kein Grund dafür. Das sagte ich Ihnen bereits.« Seine Hand öffnete sich, wie um nach ihr zu greifen und sie zu berühren.

Sie zuckte zusammen. Nur ganz leicht, doch er hatte es bemerkt. »Ich würde jetzt gerne gehen.«

»Sie haben sich hier versteckt, seit sie das Haus angesteckt haben, nicht wahr? Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie sich fürchten. Heutzutage sind ganze Banden von Plünderern unterwegs. Deserteuren. Echten Banditen. Sie haben verdammtes Glück gehabt, dass ich es war, der vorbeigekommen ist.«

»Ich bin Ihnen zutiefst dankbar.«

»Nein. Sie haben schreckliche Angst vor mir. Dagegen werde ich bald etwas unternehmen. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Vielleicht waren seine Worte zur Beruhigung gedacht. Wenn ja, hatten sie ihr Ziel verfehlt.

Sie blieb allein und hatte Zeit, darüber nachzugrübeln, wer dieser Monsieur LeBreton war, der wie der Bewohner eines bretonischen Dorfes sprach und vorgab, ein einfacher Mann zu sein, wo er doch alles andere als einfach war, darüber, warum er hier in ihrem Château ohne Plünderungsabsichten herumschnüffelte, und was sie mit alldem nur anfangen sollte.

Wenn sie versuchte wegzulaufen, würde sie nur eine weitere Demonstration seiner überlegenen Kraft und Schnelligkeit erleben. Sie würde sich davonschleichen, wenn es dunkel war, nicht jetzt. Noch nicht.

Der anhaltende Westwind trug die Feuchtigkeit des Nebels herein. Ein Frösteln erfasste sie, und in ihrem Magen wand sich der Hunger wie ein gefangenes Tier. Hätte sie, wie jede vernünftige Frau, das Kaninchen getötet und es irgendwo in den Wäldern gekocht, wäre sie Monsieur LeBreton nie begegnet und nun nicht in dieser Lage. Jean-Paul sagt immer, ich würde uns mit meinem tölpelhaften Verhalten noch alle umbringen.

Sie kauerte sich zusammen, legte das Gesicht auf die Knie und schloss die Augen. Wenn sie sie wieder öffnete, wäre sie vielleicht woanders – im Wolkenkuckucksheim oder auf Tír na nÓg oder Platons Atlantis, einem der mystischen Orte aus der Mythologie. Was zwar eher unwahrscheinlich, aber auch nicht ganz unmöglich war.

LeBreton schickte den Jungen los, um die Lastkörbe von den Eseln zu holen, während er das Fegen übernahm. Sie hörte sein Ächzen und schabende Geräusche, als er große Kupfertöpfe woandershin zog. Zwar hatte sie keine Ahnung, warum er das tat, ersparte sich jedoch sinnlose Spekulationen.

Als das Château in Flammen gestanden hatte, waren sie gekommen und hatten immer wieder mit Steinen geworfen. Die Orangerie war wie eine ängstlich zusammengekauerte Ehebrecherin gewesen, die sie gesteinigt hatten. Schon seltsam, diesen Ort kalt zu erleben, wo es hier doch sonst immer so warm gewesen war.

Als Kind war dies immer ihr Spielplatz, ihr geheimes Königreich gewesen, mit Blumen wie Speere des Sonnenlichts, Blumen wie Fächer und Federn, wie rote Schwerter aus Wachs. Den ganzen Winter über waren die Öfen in Betrieb gewesen, bei Tag und Nacht, und hatten die Orangen, Alpenveilchen und die struppig-stoppelige Ananas am Leben erhalten.

Jean-Paul war der Sohn von Maître Béclard, dem Botaniker der Königlichen Gärten, der mit einer Sendung Orchideen und Bromelien gekommen und geblieben war, um sich um diese zu kümmern. Jean-Paul hatte ihr die Geschichte jeder einzelnen Pflanze im Treibhaus erzählt, in dem unerschütterlichen Glauben, dass sie sie erfahren wollte.

Eines Tages, als sie fünfzehn war, hatte er ihr eine Orangenblüte gepflückt und ins Haar gesteckt. »Das bedeutet eine Orange weniger für dein Abendessen, Marguerite.« Er hatte sie geküsst.

Neben ihr schabten Stiefel. LeBreton ragte an ihrer Seite auf, mindestens eine Meile groß. Er war mit einer Eseldecke zurückgekommen, die er in einer fließenden Bewegung auseinanderfaltete und sanft um ihre Schultern fallen ließ, ohne sie zu berühren. Nun war sie eingehüllt wie ein Beduine in seinem Zelt.

Wenn er vorhat, mir etwas anzutun, worauf wartet er dann noch? Sie mochte sich nicht ausmalen, zu welch ausgefeilten Schandtaten ein Mann imstande wäre, der sich so viel Zeit ließ.

Er sagte: »Haben Sie nur ruhig weiterhin Angst vor mir, wenn Sie wollen. Aber hören Sie auf zu zittern. Da wird einem ja vom Zusehen kalt.«

»Niemand möchte, dass Sie sich unbehaglich fühlen.«

»So ist’s gut. Das war schon fast ein Lächeln. Weiter so.« Und dann ließ er sie allein.

Der Junge trug den letzten der Packkörbe herein. Er sah sie weder freundlich noch unfreundlich, sondern lediglich abschätzend an. Es überraschte sie gar nicht, dass LeBreton solch einen unheimlichen Diener beschäftigte.

Mit trockenen Palmwedeln entfachte LeBreton ein Feuer, auf das er kleine, verkohlte Holzstücke legte. Der Junge nahm die Abdeckungen von den Lastkörben und hob kleinere Körbe mit Deckel sowie Lederbeutel, Kochgeschirr und eine Kaffeekanne heraus. Dass er alles ohne zu zögern und nach einem bestimmten Schema arrangierte, ließ vermuten, dass er das schon oft gemacht hatte. Dann füllte er Wasser in einen schwarzen Kessel – einen Kessel, wie er in jedem Häuschen der Normandie zu finden war, nur dass hier das Feuerholz aus Tischbeinen und Vitrinenteilen bestand.

Auch LeBreton war mit dem Auspacken fertig und kam zu ihr. Er ließ sich so dicht neben ihr im Schneidersitz nieder, dass sein Knie sie fast berührte. Dann zog er den Hut vom Kopf und legte ihn irgendwo ab, sodass sie seine Narbe und seine restlichen groben Gesichtszüge deutlich erkennen konnte. Sein durchdringender, prüfender Blick ruhte auf ihr. »Trinken Sie erst einmal einen Kaffee, bevor ich Ihnen ein paar Fragen stelle.« Wahrscheinlich beherrschte er keinen Gesichtsausdruck, der nicht bedrohlich wirkte.

Der Junge, Adrian, kam mit einer blauweißen Porzellantasse voll Kaffee zu ihnen. Der Henkel war abgebrochen und der Rand abgesplittert. Sie stammte aus dem Geschirr, das von der höheren Dienerschaft benutzt wurde. Benutzt worden war. LeBreton legte ihre Finger darum, bis sie die Tasse sicher in den Händen hielt.

»Trinken Sie das. Dann reden wir.« Er besaß Arbeiterhände. Mit derben Fingern und breiten Handflächen, schwielig, zupackend. Hände wie gut geschmiedete, oft gebrauchte Stahlwerkzeuge. Hände, die wie eine Abhandlung über Technik wirkten. »Ich bin kein Schurke, Maggie.«

Ein Mann wie du ist das, was immer er sein will. »Ich bin Bürgerin Duncan. Oder Miss Duncan. Nicht Maggie.«

»Ich werd’s mir merken.«

Er ergriff die Decke, die ihr ein Stück von der Schulter gerutscht war, und zog sie wieder hoch. »Diesmal sind Sie nicht zusammengezuckt. Wir machen Fortschritte.«

Es gab keine Fortschritte. Sie war müde und hatte keine Lust, sich an heißem Kaffee zu verbrühen. Sie hielt es für überflüssig, ihm das zu erklären.

Der Kaffee war heiß und süß. Echter Kaffee, aus Haiti, und nicht das Gebräu aus Wurzeln und Gerste, das man heutzutage auf dem Markt bekam. »Sie werden mir nicht die Angst nehmen, wenn Sie mir weiter so nahe kommen wie ein überwuchernder Strauch.«

»Natürlich nicht. Aber indem ich Ihnen demonstriere, wie harmlos ich bin. Sehen Sie mal da, Bürgerin Maggie.« Damit waren die vier Packkörbe gemeint. »Das ist das, womit ich handele – Voltaire, Diderot, Rousseau, Lalumière – vom Komitee für Bildung abgesegnetes Unterrichtsmaterial. Kinderbücher mit dem richtigen Gedankengut … ›F wie Freiheit, G wie Gleichheit, B wie Brüderlichkeit.‹ Solche Dinge. Ich habe auch Kartenspiele. Auf denen sind hübsche Revolutionsbildchen. Das Ass zeigt eine Guillotine, was so ein Spiel doch richtig belebt, nicht wahr? Außerdem habe ich ein paar hübsch illustrierte Ausgaben der Menschenrechte, die man gut einrahmen und über dem Kamin aufhängen kann. Sie sehen vor sich Guillaume LeBreton, Buchhändler.«

Nie im Leben reiste dieser Mann mit Eseln durch die Lande und lebte vom Bücherverkauf. Was für ein Unsinn. Er war der Wolf, der behauptete, Schuhe zu flicken. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde führte er sie an der Nase herum. »Ohne Frage ein ehrbares Geschäft.«

»Revolutionäres Gedankengut in die Provinzen zu tragen, das ist meine Aufgabe. Wenn mir Lehrer begegnen, die die alten, Aberglaube und Lügen verbreitenden Bücher verwenden, schleppe ich sie nach draußen und verbrenne sie. Die Bücher, nicht die Lehrer. Kleiner Scherz.«

»Sehr amüsant.«

»Danach nehme ich die Bestellung für alle genehmigten Bücher auf, die sie plötzlich, warum auch immer, gar nicht schnell genug kaufen können. Mit etwas Glück sind die Bücher immer noch abgesegnet, wenn ich in Paris zurück bin.«

»Was für ein unsicheres Leben, Bürger.«

Das Feuer loderte auf und sprühte Funken. Der Junge ging in den Regen hinaus und brachte Berge von Stroh aus dem Stall mit.

LeBreton drehte sich leicht, sodass die lädierte Seite seines Gesichts deutlich im Schein des Feuers zu erkennen war. Das war reine Absicht. Er zeigte sich ihr von der schlimmsten Seite, damit sie sich daran gewöhnte. Was besser funktionierte, als ihr lieb war. Sie hatte tatsächlich nicht mehr so große Angst vor ihm.

Schon ohne diese Narbe wäre er kein schöner Mann gewesen, ein Mann mit struppigen Augenbrauen, ausgeprägter Nase und einem energischen Kinn. Sie entschied nun, dass er nicht bösartig, sondern hart und sehr resolut aussah. Er war wie einer dieser Steinkrieger im Gewölbe einer alten Kathedrale, der mit dem Heft eines Steinschwerts in der Hand darauf wartete, bei der Apokalypse in die Schlacht gerufen zu werden.

Sie trank den Kaffee, den ihr dieser listige Riese gegeben hatte. Er spendete ihr Wärme. Die verregnete Abenddämmerung außerhalb der trost- und scheibenlosen Fenster erschien ihr etwas heller. Sie balancierte die Tasse auf ihren angezogenen Knien, blies hinein, um den Kaffee abzukühlen, und genoss ihn in kleinen Schlucken.

Sie hatten ihr eine Porzellantasse geholt, damit sie den Kaffee wie ein zivilisierter Mensch trinken konnte. Eine raffinierte und nette kleine Geste, die sie sehr beeindruckte. Sie saß neben jemandem, der viel Verstand besaß.

»Sie hätten sicher gerne Tee«, vermutete er, »da Sie aus Schottland sind.«

»Ich mache mir nicht viel aus Tee. Ich habe Schottland nie mit eigenen Augen gesehen. Es war mein Großvater, der in Aberdeen geboren wurde.« Das war die Geschichte ihrer Gouvernante, der echten Mistress Duncan, die rotblond, sommersprossig, vierzig Jahre alt und mit einem seriösen Bankier aus Arles verheiratet war.

»Dennoch sind Sie Schottin.«

»Schottin zu sein ist etwas, was man nicht so leicht ablegt.« Er log, und sie ebenfalls. Ein Austausch von Unwahrheiten. Vielleicht würden sie sich entspannt zurücklehnen, sobald sie beide dachten, dass sie den anderen zum Narren gehalten hatten.

Er wusste nicht, dass sie das Lügen in Versailles gelernt hatte, damals, als der König noch lebte. Das Lügen war eine Kunst, feierlich und elegant wie das Menuett. Die richtige Lüge, die Absicht, die hinter einer geknoteten Haube steckte, eine Nachricht, die im Gedränge eines Flurs von einer Hand zur nächsten gereicht wurde. Die Luft war schwer gewesen, vom Gestank der Intrigen, deren Dreh- und Angelpunkt meist Onkel Arnault gewesen war. Im Erkennen von Lügen war sie keine Amateurin.

Sie trank noch einen Schluck. Der Kaffee war mit purem weißem Zucker gesüßt, der sich vollständig auflöste. Kaffee aus Haiti, Zucker aus Martinique. In Paris waren solche Köstlichkeiten teuer, anders als in den Hafenstädten, wo die von den Inseln kommenden Schiffe entladen wurden.

Womöglich hatte LeBreton letzte Woche ja tatsächlich ganz harmlos Bücher in Dieppe oder Le Havre abgeliefert. Vielleicht hatte er aber auch den kleinen Fischerdörfern an der Küste einen Besuch abgestattet, wo die Schmuggler ihre Boote an Land zogen. Möglicherweise war er einer der Männer, die Schmuggelware quer durch Frankreich schafften – Briefe der Emigranten nach England, ausländische Zeitungen, Bankkapital, Nachrichten von Spionen. Er konnte sogar selbst ein Spion sein, ein königstreuer, österreichischer oder englischer. Oder ein Agent der Geheimpolizei in Paris.

Oder aber er gehörte zu La Flèche.

Der Junge hatte drei Schlafstätten aus Stroh hergerichtet und röstete nun Brot über dem Feuer. Und sie trank Kaffee, den Rücken gerade und mit eleganter Handhaltung, so wie man es ihr beigebracht hatte. Ihr Hunger war riesig.

»Wir essen in einer Minute«, versprach LeBreton. »Haben Sie endlich keine Angst mehr vor mir? Ich hoffe es sehr.«

»Ich kann erstaunlich ausdauernd sein. Der Kaffee ist gut.«

»Besser als der Wein, den wir haben. Sieht so aus, als ob Sie am Ende auch noch etwas zu essen bekommen.«

Der Junge brachte ein Brot mit geschmolzenem Käse, das er von einer Hand in die andere warf, weil es heiß war. Er hockte sich auf die Fersen und hielt es ihr auf den Fingerspitzen entgegen.

»Wenn du glaubst, sie ist vernünftig und isst langsam, dann gib es ihr ruhig«, merkte LeBreton so zartfühlend wie gekardete Wolle an. »Du kannst dann sauber machen, wenn sie sich übergibt.«

Die dunkle Miene des Jungen zeigte keine Regung. »Dann füttern Sie sie. Sie ist Ihr Haustier.« Er warf das Brot in LeBretons grobe Richtung und stapfte davon.

Sie sollten ihr das Brot nicht erst zeigen und dann wegnehmen. Für dieses Brot hätte sie alles in Stücke gerissen.

»Ich behalte ihn, weil er so an den Eseln hängt.« LeBreton hob das Brot auf und wischte es ab, um es in Stücke zu reißen und auf seinem Oberschenkel auszulegen. Bevor er ihr ein Stück reichte, blies er darauf. »Außerdem ist er sehr ehrlich. Man muss schon verdammt lange suchen, um einen Jungen zu finden, der so aufrichtig ist. Und auch noch so liebenswürdig.«

Sie riss ihm das Brot nicht wie ein Tier aus der Hand, um es sich in den Mund zu stopfen. Sie aß ordentlich. Gezügelt. Man hatte eine wahre Dame aus ihr gemacht.

Als sie fertig war, nahm er ein weiteres Stück, aß es zur Hälfte und gab ihr den Rest. »Er hat nicht daran gedacht, dass Sie noch nicht so schnell essen dürfen. Jetzt ärgert er sich über sich selbst.«

»In diesem Alter ist man offen und ehrlich, und leicht eingeschnappt.« Vielleicht hatte sie sich den Mund verbrannt, sie fühlte jedoch nichts.

Das nächste Bröckchen, das geteilt wurde. Ein Stück für sie, ein Stück für ihn. Sie hätten Freunde sein können, wie sie da zusammen am Feuer saßen, Brot rösteten und es sich gegenseitig stückchenweise reichten. LeBreton redete ohne Unterlass, doch sie hörte ihm nicht zu. »… solange Ihre Gedanken kreisen wie ein Eichhörnchen im Käfig. Und wenn ich vorhätte, Ihnen etwas Schreckliches anzutun – was ich trotz zahlreicher Gelegenheiten wohlgemerkt unterlassen habe –, dann könnten Sie nicht viel dagegen tun, da ich doppelt so groß wie Sie und stark wie ein Ochse bin. So, und das reicht jetzt erst einmal.« Er stand auf und legte das übrige Brot auf den umgedrehten Pflanztopf, der ihnen als Tisch diente.

Er hatte recht. Sie war zwar immer noch hungrig, sollte aber lieber nicht mehr essen.

»Konzentrieren Sie sich schon Adrian zuliebe darauf, das im Magen zu behalten, was Sie gerade zu sich genommen haben.«

Er gab ihr zu essen und spielte den Harmlosen. Auf unauffällige Weise war er hochintelligent. Er war eine einzige Täuschung vom Scheitel seiner langen, ungepflegten Haare, die er sich ins Gesicht schüttelte, um es zu verbergen, bis zu den abgelaufenen Sohlen seiner Stiefel. Ein solcher Mann verirrte sich nicht zufällig auf das Château.

Bist du einer von uns? Gehörst du zu La Flèche?

Sie versuchte es mit der meistbenutzten Parole von La Flèche: »Wenn der Wind günstig steht, kann man die Rosen im Garten riechen.«

»Rosen? Im Vorbeigehen habe ich ein paar gesehen. Sehr hübsch.«

Das war nicht die richtige Antwort. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so enttäuscht sein würde.

»Wenn Sie fertig sind, lege ich eine Decke ans Feuer. Sie brauchen etwas Schlaf«, sagte er.

Wie recht er damit hatte. Wenn sie fliehen wollte, musste sie zuerst ein wenig schlafen. In der Nacht, wenn seine Aufmerksamkeit nachließ, würden ihre Chancen ganz gut stehen.

Er nahm ihr die leere Tasse ab. »Sie können aber auch einfach nur wach liegen und sich lauter Dinge einfallen lassen, die ich Ihnen antun könnte, jetzt gerade aber nicht tue.«

Das trübe Zwielicht eines langen Juliabends wich allmählich der Dunkelheit, als Doyle seine Runde über das Gelände beendete und zur Orangerie zurückkehrte. Eine Zeit lang hatte es mal leicht genieselt, mal nicht – meist das Erstere. Er war bis auf die Haut durchnässt.

Während er den Garten umrundete, hatte er immer wieder einen Blick zum Licht der Orangerie geworfen. Zwar konnte er die auf dem Strohlager schlafende Frau nicht sehen, doch Hawker war da, den Rücken an die Wand gelehnt, eine Kerze neben sich und ein Buch im Schoß, während er aufmerksam Wache hielt. Alle paar Zeilen blickte er kurz hoch, alle zehn bis fünfzehn Minuten machte er einen Rundgang durch die Orangerie. Es sprach wirklich einiges dafür, seine Spießgesellen in der Londoner Unterwelt zu rekrutieren. Lazarus, der König der Diebe, bildete seine Leute gründlich aus.