Die Geliebte des Spions - Joanna Bourne - E-Book

Die Geliebte des Spions E-Book

Joanna Bourne

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Beschreibung

Sie hat noch nie einen Mann getroffen, den sie nicht täuschen konnte - bis jetzt.

Der britische Meisterspion Robert Grey reist nach Frankreich, um die berüchtigte Spionin Annique Villiers aufzuspüren. Durch einen Zufall landen beide in derselben Gefängniszelle und müssen zusammenarbeiten, um sich zu befreien. Robert glaubt, dass Annique wertvolle Informationen über Napoleons geplanten Angriff auf England besitzt. Er will sie deshalb nach London bringen. Doch Annique gelingt es ein ums andere Mal, sich ihm zu entziehen. Und Robert muss schon bald feststellen, dass die schöne Französin tiefere Gefühle in ihm weckt ...

Joanna Bourne entführt ihre Leserinnen und Leser in düstere Gassen und Tavernen, wo Spione sich treffen und Gefahr und Leidenschaft Hand in Hand gehen.

Band 1: Die Geliebte des Spions
Band 2: Eine riskante Affäre
Band 3: Die Dornen der Rose

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Inhalt

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Über dieses Buch

Titel

Widmung

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Impressum

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Über dieses Buch

Der britische Meisterspion Robert Grey reist nach Frankreich, um die berüchtigte Spionin Annique Villiers aufzuspüren. Durch einen Zufall landen beide in derselben Gefängniszelle und müssen zusammenarbeiten, um sich zu befreien. Robert glaubt, dass Annique wertvolle Informationen über Napoleons geplanten Angriff auf England besitzt. Er will sie deshalb nach London bringen. Doch Annique gelingt es ein ums andere Mal, sich ihm zu entziehen. Und Robert muss schon bald feststellen, dass die schöne Französin tiefere Gefühle in ihm weckt …

JOANNA BOURNE

Die Geliebte des Spions

Aus dem amerikanischen Englisch von Firouzeh Akhavan-Zandjani

Für Leo

1

Natürlich war sie bereit zu sterben, aber doch nicht so früh oder auf eine derart unangenehme, langwierige Weise oder gar durch die Hände ihrer eigenen Landsleute.

Sie sank gegen die Wand, die, wie bei Gefängniswänden üblich, aus behauenem Stein bestand und äußerst massiv war. »Ich habe keine Pläne … und auch nie welche gehabt.«

»Ich bin nicht sonderlich geduldig. Wo sind die Pläne?«

»Ich habe keine –«

Eine Ohrfeige schnellte aus der Finsternis hervor. Für einen Moment verlor sie das Bewusstsein, kam aber gleich wieder zu sich – in der Dunkelheit, im Schmerz, bei Leblanc.

»Na schön.« Er berührte ihre wunde Wange und drehte ihr Gesicht herum. Ganz sanft. Er verstand es, Frauen wehzutun. »Fahren wir fort … und mit etwas mehr Entgegenkommen bitte.«

»Bitte. Das versuche ich doch.«

»Ich will wissen, wo du die Pläne versteckt hast, Annique.«

»Diese Albion-Pläne sind doch reine Fantasie. Ein Hirngespinst. Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen.« Noch während sie dies sagte, sah sie sie förmlich vor Augen. Sie hatte sie in Händen gehalten: all die vielen Seiten mit den Eselsohren, die mit Flecken und Fingerabdrücken übersäten Karten, die klein und akkurat geschriebenen Listen. Bloß nicht daran denken. Wenn ich daran denke, wird er es mir ansehen.

»Vauban hat dir die Pläne in Brügge übergeben. Wozu?«

Um sie nach England zu schaffen. »Warum hätte er mir die Pläne geben sollen? Ich bin doch keine Reisetasche, die Dokumente durch die Lande trägt.«

Seine Hand umschloss ihre Kehle. Schmerz durchzuckte ihren Körper und raubte ihr den Atem. Sie krallte sich an die Wand, um sich daran festzuhalten. Äußerst nützlich so eine Steinwand, wenn man nicht umkippen wollte.

Leblanc ließ sie los. »Fangen wir noch mal von vorne an, in Brügge. Du warst dort. Gib’s schon zu.«

»Ja, das stimmt. Ich war dort, um Vauban Bericht zu erstatten. Ich sollte nur die Briten ausspionieren. Sonst nichts. Das hab ich Euch doch schon hundertmal erzählt.« Leblancs Finger krallten sich in ihr Kinn. Neuer Schmerz.

»Vauban hat Brügge mit leeren Händen verlassen. Er kam ohne die Pläne zurück nach Paris. Also muss er sie dir gegeben haben. Vauban hat dir vertraut.«

Verrat hat er mir anvertraut. Sie wollte nicht daran denken. Sich nicht daran erinnern.

Ihre Stimme war längst heiser. »Die Papiere waren nie in unserem Besitz. Nie.« Sie versuchte zu schlucken, doch ihre Kehle war wie ausgetrocknet. »Mein Leben liegt in Eurer Hand, Sire. Wenn ich die Pläne besäße, würde ich sie Euch zu Füßen legen, um mich freizukaufen.«

Leblanc fluchte leise, verfluchte sie. Verfluchte Vauban, der sich weit weg und in Sicherheit befand. »Der Alte hat sie nicht versteckt. Dazu wurde er viel zu gut bewacht. Was ist mit den Plänen geschehen?«

»Haltet in Euren eigenen Reihen Ausschau. Oder aber bei den Briten. Ich jedenfalls habe sie noch nie gesehen. Das schwöre ich.«

Leblanc hob brutal ihr Kinn. »Du und schwören, Füchschen? Seit deiner Kindheit habe ich dich wieder und wieder lügen sehen, du mit deinem Engelsgesicht. Versuch das bloß nicht bei mir.«

»Wie könnte ich es wagen? Ich habe Euch gut gedient. Haltet Ihr mich für so dumm, Euch nicht mehr zu fürchten?« Sie ließ Tränen aufsteigen. Eine sehr nützliche Fertigkeit, von der sie eifrig Gebrauch machte.

»Beinahe möchte man dir glauben.«

Er spielt mit mir. Sie kniff die Lider zusammen, damit ihr ein paar Krokodilstränen über die Wangen kullerten.

»Beinahe.« Er zerkratzte ihr die Wange, als er mit dem Daumennagel die Spur einer Träne nachfuhr. »Doch leider nicht ganz. Bestimmt wirst du noch vor Morgengrauen mit der Wahrheit herausrücken.«

»Aber ich sage die Wahrheit.«

»Mag sein. Sobald meine Gäste abgereist sind, unterhalten wir uns ausführlicher. Hast du schon gehört? Fouché wird heute Abend bei meiner kleinen Soiree anwesend sein. Welch eine Ehre. Er kommt geradewegs von Beratungen bei Bonaparte zu mir, um zu berichten, was der Erste Konsul gesagt hat. Schon bald werde ich der wichtigste Mann von Paris sein.«

Was würde ich antworten, wenn ich unschuldig wäre? »Bringt mich zu Fouché. Er wird mir glauben.«

»Du wirst Fouché treffen, sobald ich davon überzeugt bin, dass dein hübscher kleiner Mund die Wahrheit spricht. Bis dahin …« Er griff in ihren Nacken und löste das oberste Band ihres Kleides. »… könntest du dich ein wenig gefällig zeigen. Ich habe gehört, du kannst sehr unterhaltsam sein.«

»Ich werde … versuchen, Euch zu gefallen.« Ich werde das hier überstehen. Ich kann alles überstehen, ganz gleich, was er mir antut.

»Oh ja, streng dich schön an, ehe ich mit dir fertig bin.«

»Bitte.« Er wollte Angst sehen. Also war es am geschicktesten, auf der Stelle um Gnade zu winseln. »Bitte. Ich werde alles tun, was Ihr verlangt, aber nicht hier. Nicht in dieser dreckigen Zelle und im Beisein anderer Männer. Ich kann sie atmen hören. Zwingt mich nicht vor ihnen dazu.«

»Das sind nur englische Hunde, Spione, die ich so lange beherberge, bis es mir reicht.« Er krallte sich in den groben Stoff ihres Mieders und zog es herunter. »Vielleicht gefällt es mir ja, wenn sie zusehen.«

Sein verbrauchter Atem schlug ihr entgegen. Er war heiß und feucht und roch nach Wintergrün. Seine Hand kroch in ihr Mieder und umfasste ihre Brust. Seine Finger waren so glatt und trocken wie tote Zweige, und er tat ihr immer wieder weh.

Sie durfte sich nicht auf Leblancs Abendgarderobe übergeben. Kein guter Zeitpunkt, um den ehrlichen Gefühlen ihres Magens freien Lauf zu geben.

Also drückte sie sich mit dem Rücken eng an die Wand und versuchte, ein Nichts zu werden. Einfach nur Dunkelheit, Leere, als ob sie gar nicht da wäre. Es klappte natürlich nicht, aber zumindest lenkte es sie ab.

Endlich hörte er auf. »Ich freue mich schon darauf, dich zu nehmen.«

Sie versuchte gar nicht erst zu sprechen. Wozu auch?

Er tat ihr ein letztes Mal weh, als er ihre trockenen Lippen zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und quetschte, bis die Haut aufsprang und sie Blut schmeckte.

»Bisher warst du nicht sonderlich unterhaltsam.« Unvermittelt ließ er von ihr ab. Sie hörte ein Schaben und Klappern, als er die Laterne vom Tisch nahm. »Aber das wird sich noch ändern.«

Die Tür schlug krachend hinter ihm zu. Der Klang seiner Schritte hallte durch den Gang und war noch zu hören, bis er oben an der Treppe angekommen war.

»Schwein!«, zischte sie die jetzt geschlossene Tür an, obwohl das eigentlich eine Beleidigung dieser freundlichen Tiere war.

Vom anderen Ende der Zelle drangen leise Geräusche ihrer Mitgefangenen, der englischen Spione, zu ihr. Da es aber dunkel war, konnten sie sie nicht mehr sehen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schluckte die Galle herunter, die ihr in der Kehle hing. Wie ekelhaft Leblancs Berührungen waren. Als wäre eine Horde Schnecken über sie hergefallen. Kaum vorstellbar, dass sie sich in den kommenden Tagen auch nur annähernd daran gewöhnte.

Dann rückte sie ihr Kleid wieder züchtig zurecht und ließ sich auf den Boden sinken. Sie fühlte sich erbärmlich. Das dürfte es wohl gewesen sein. Die Entscheidung, mit der sie sich so lange gequält hatte – wie es mit den ihr anvertrauten Albion-Plänen weiterginge –, war gefallen. All ihr Abwägen, ihre Gewissensbisse … alles umsonst. Leblanc hatte gesiegt. Ein, zwei Tage lang könnte sie seiner Überzeugungskraft wohl noch standhalten. Doch dann würde er die Albion-Pläne aus ihrem Gedächtnis quetschen und Gott weiß welch gierigen Verrat damit anstellen.

Ihr alter Mentor Vauban würde enttäuscht von ihr sein, wenn er davon erfuhr. Er saß in seinem Häuschen in der Normandie und wartete auf eine Nachricht von ihr. Was mit den Plänen geschehen sollte, hatte er ihr überlassen. Dabei hatte er jedoch nicht einkalkuliert, dass sie Leblanc in die Hände fallen könnten. Sie hatte ihn enttäuscht. Sie hatte alle enttäuscht.

Sie holte tief Atem und ließ die Luft langsam heraus. Schon merkwürdig zu wissen, dass ihr nur noch eine begrenzte Anzahl an Atemzügen blieb. Vierzigtausend? Fünfzigtausend? Irgendwann heute Nacht, wenn ihre Qualen unerträglich würden, fing sie vielleicht an, sie zu zählen.

Sie zog die Schuhe aus, erst den einen, dann den anderen. In ihrem Leben hatte sie zweimal im Gefängnis gesessen … beide Male eine fürchterliche Erfahrung. Immerhin hatten die Zellen oberirdisch gelegen, und man hatte etwas sehen können. Beim ersten Mal war Maman dabei gewesen. Nun war Maman tot, bei einem dummen Unfall ums Leben gekommen, der nicht einmal einen Hund hätte umbringen sollen. Maman, Maman … du fehlst mir so sehr. Nun war sie ganz auf sich allein gestellt.

In der Dunkelheit fühlte man sich sehr einsam. Daran hatte sie sich nie gewöhnen können.

Die tiefe Stimme des englischen Spions drang leise aus der Finsternis. »Ich würde mich ja gern erheben und höflich vorstellen …«, Ketten rasselten, »… doch man nötigt mich zu ungehobeltem Benehmen.«

So unermesslich allein fühlte sie sich also, dass ihr sogar die Stimme eines englischen Feindes wie eine herzliche Umarmung erschien. »Derlei Unhöflichkeiten begegnen mir in letzter Zeit häufig.«

»Es scheint so, als hättet Ihr Leblanc verärgert.« Er sprach das klangvolle Französisch des Südens, ohne auch nur den Hauch eines ausländischen Akzents.

»Ihr aber auch, wie mir scheint.«

»Es liegt nicht in seiner Absicht, dass irgendjemand von uns das Gefängnis lebend verlässt.«

»Höchstwahrscheinlich.« Sie rollte ihre Strümpfe herunter, steckte sie in ihren Ärmel, um sie nicht zu verlieren, und schlüpfte wieder in die Schuhe. Man konnte doch nicht barfuß gehen. Selbst im Vorzimmer zur Hölle musste man praktisch denken.

»Wollen wir seine Pläne durchkreuzen … wir beide?«

Er klang nicht so, als wäre er bereit zu sterben, was zwar in gewisser Weise bewundernswert, aber nicht gerade realistisch war. Typisch englisch, diese Sichtweise der Dinge.

Angesichts solcher Tapferkeit konnte sie nicht einfach dasitzen und jammern. Die französische Ehre verlangte, dass eine Französin dem Tod ebenso couragiert begegnete wie ein Engländer. Die französische Ehre schien ständig irgendetwas von ihr zu verlangen. So etwas wie Tapferkeit war eine Münze, die zu fälschen sie gewohnt war. Obendrein konnte der Plan, den sie schmiedete, sogar funktionieren. Vielleicht gelang es ihr, Leblanc zu überwältigen, aus dem Château zu entkommen und sich um die Albion-Pläne zu kümmern, die sie in diesen ganzen Schlamassel gebracht hatten. Ja, und Schweine könnten Flügel bekommen und damit durch die Stadt und um die Kirchtürme fliegen.

Der Engländer wartete auf eine Antwort. Sie erhob sich mühsam. »Es wäre mir ein Vergnügen, Leblanc in jeder Hinsicht zu enttäuschen. Wisst Ihr, wo wir sind? Ich konnte es nicht herausbekommen, als man mich herbrachte, aber ich will hoffen, dass dies das Château in Garches ist.«

»Eine ungewöhnliche Hoffnung, doch es stimmt, dies ist tatsächlich Garches, der Sitz der Geheimpolizei.«

»Das ist gut. Ich kenne den Ort.«

»Das dürfte uns von Nutzen sein, sobald wir diese Dinger hier los sind …«, das Klirren einer Kette ertönte, »… und die Tür entriegelt haben. Wir können uns gegenseitig helfen.«

Er stellte ganz schön viele Überlegungen an. »Es gibt immer einen Weg«.

»Wir könnten uns verbünden.« Der Spion wählte seine Worte mit Bedacht, in der Hoffnung, sie zu betören und so zu seiner Handlangerin zu machen. Seine Stimme war wie von Samt überzogen. Doch darunter verbargen sich unnachgiebige Härte und ein gewaltiger Zorn. Es gab nichts, was sie nicht über solch erbarmungslose, berechnende Männer wusste.

Leblanc nahm viel auf sich, um britischer Spione in dieser Art und Weise habhaft zu werden. Und obwohl sowohl beim französischen als auch beim britischen Geheimdienst seit jeher die Regel galt, nicht allzu blutrünstig mit feindlichen Agenten umzugehen, war dies nur eine der vielen Gepflogenheiten, mit denen Leblanc dieser Tage brach.

Sie tastete sich an der Wand entlang, untersuchte jede Fuge und angelte die losen Steinchen aus den Ritzen. Diese füllte sie in ihren Strumpf, um sich einen kleinen Totschläger anzufertigen, eine im Dunkeln leicht zu handhabende Waffe. Eines ihrer Lieblingsinstrumente.

Etwas regte sich kaum wahrnehmbar. Eine jüngere, sehr schwache Stimme ertönte. »Hier ist jemand.«

Ihr englischer Spion antwortete. »Nur ein Mädchen, das Leblanc hergebracht hat. Kein Grund zur Sorge.«

»… noch Fragen?«

»Im Moment nicht. Es ist sehr spät, und es dauert noch Stunden, bis sie uns holen. Stunden.«

»Gut. Ich werde bereit sein – wenn sich die Gelegenheit bietet.«

»Es ist bald so weit, Adrian. Dann sind wir wieder frei. Hab Geduld.«

Dieser unbekümmerte Optimismus der Engländer. Wer konnte den schon verstehen? Hatte nicht auch ihre Mutter immer gesagt, dass sie alle irre wären?

Leblancs Gefängnis war klein, aber wirklich sehr aufgeräumt; nur so wenige Steinchen, die sie fand. Es dauerte eine Weile, bis der Totschläger schwer genug war. Sie knotete den Strumpf zu und steckte ihn in die Geheimtasche unter ihrem Rock. Dann suchte sie weiter die Wände ab, fand aber nichts Interessantes. In Gefängnisräumen gab es nicht gerade viel zu entdecken. Dieser hatte vor der Revolution als Weinkeller gedient. Er roch nach altem Holz und gutem Wein, aber auch weniger erquicklichen Dingen. Am anderen Ende der Zelle stieß sie auf die angeketteten Engländer. Sie blieb stehen, um sich mit den Händen auch von ihnen ein Bild zu verschaffen.

Der auf dem Boden liegende Mann war jung, jünger als sie selbst. Siebzehn? Achtzehn? Er hatte den Körper eines Akrobaten; diese schmächtigen, kompakt gebauten Kerle. Er war verwundet. Sie konnte noch das Schießpulver und die infizierte Wunde riechen. Jede Wette, dass das Geschoss noch steckte. Als sie sein Gesicht ertastete, begegnete sie trockenen, rissigen Lippen und glühender Hitze. Er hatte hohes Fieber.

Eine tadellose Kette fesselte ihn an die Wand, doch das große Vorhängeschloss war alt. Käme es zur Flucht, müsste es geknackt werden. Sie untersuchte seine Stiefel und Kleidersäume, nur für den Fall, dass Leblancs Männer irgendetwas Kleines, Nützliches übersehen haben sollten. Natürlich fand sie nichts, aber man musste wenigstens nachschauen.

»Schön …«, murmelte er, als ihre Hände über seinen Körper glitten. »Später, Schätzchen. Bin zu müde …« Das war wohl doch kein so kleiner Junge mehr. Er sprach englisch. Vielleicht gab es einen harmlosen Grund, warum sich ein Engländer in Frankreich aufhielt, in einer Zeit, wo ihre Länder genau genommen noch nicht im Krieg waren. Aber irgendwie stimmte sie mit Leblanc überein. Das hier war ein Spion. »Hundemüde.« Dann bat er mit plötzlich klarer, deutlicher Stimme: »Erzählt Lazarus, dass ich das nicht mehr mache. Nie wieder. Sagt es ihm!«

»Wir reden noch darüber«, antwortete sie leise, »später.« Ein schwer einzuhaltendes Versprechen, da sie nicht davon ausging, noch besonders oft Gelegenheit dazu zu haben. Wenn auch vielleicht öfter als dieser Junge.

Er versuchte sich aufzusetzen. »Ritter der Königin, Nummer drei. Ich muss fort. Sie warten darauf, dass ich den Roten Ritter überbringe.« Er plapperte aus, was er besser für sich behalten sollte. Und er würde sich verletzen, wenn er weiter so um sich schlug. Daher drückte sie ihn behutsam zurück.

Starke Arme kamen ihr zu Hilfe. »Ganz ruhig. Das ist schon erledigt«, beschwichtigte der andere Mann, während er den Jungen stützte.

Er hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Solche Geheimnisse interessierten sie nicht mehr. Tatsächlich wäre es ihr sogar lieber, sie gar nicht erst zu hören.

»Sag es den anderen!«

»Das werde ich. Sie sind alle in Sicherheit. Ruh dich jetzt aus.«

Im Fieberwahn hatte der Junge den Wasserkrug umgeworfen. Ihre Finger fanden ihn auf der Seite liegend … leer. Kein einziger Tropfen war mehr darin. Der Gedanke an Wasser peinigte ihren Mund wie Nadelstiche, so durstig war sie.

Nichts war schlimmer als Durst. Weder Hunger noch Schmerz. Vielleicht war es sogar gut, dass es kein Wasser gab, das sie auf die Probe gestellt hätte. Ob sie wohl sonst zum Tier geworden und es diesen Männern gestohlen hätte, die noch schlimmer dran waren als sie? Es war besser, nicht zu wissen, wie tief sie vielleicht gesunken war. »Wann habt Ihr das letzte Mal Wasser bekommen?«

»Vor zwei Tagen.«

»Dann gilt es, keine Zeit zu verlieren. Leblanc wird mir mein Leben noch ein Weilchen lassen, weil er hofft, ich könnte ihm noch nützlich sein, und um mit mir zu spielen.« Am Ende bringt er mich doch um. Selbst wenn ich ihm die Albion-Pläne gebe – jedes Wort, jede Karte, jede Liste –, umbringen wird er mich trotzdem. Ich weiß, was er in Brügge getan hat. Er kann mich nicht am Leben lassen.

»Seine Gewohnheiten sind kein Geheimnis.«

Er besaß Größe, der englische Spion mit der tiefen Stimme und der eisernen Härte. Sie spürte seine gewaltige Erscheinung, noch ehe sie ihn berührt hatte. Ihre Hände lieferten ihr weitere Einzelheiten. Dieser stattliche Mann hatte dem Jungen seinen zusammengefalteten Mantel untergelegt und nahm damit noch mehr Unannehmlichkeiten in Kauf, um seinen Freund vor der Kälte des Bodens zu schützen. Diese kleine Geste war Ausdruck einer sehr britischen Entschlossenheit. Sie spürte seinen gewaltigen Beschützerinstinkt, als ob Wille allein genügte, den Jungen am Leben zu erhalten. Es musste schon ein Held sein, der zu sterben wagte, wenn dieser Mann es ihm verbot.

Zögerlich streckte sie die Hand aus und stieß auf weiches Leinen und lang gestreckte, kräftige Brustmuskeln und dort, wo sein Hemd den Hals freigab, auf eine beunruhigend männliche, geschmeidige Haut. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, doch er hielt sie fest und presste sie an sein Herz.

Sie fühlte es schlagen, so erschreckend lebendig und überaus kraftvoll.

Er sagte: »Ich weiß, was Leblanc Frauen antut. Es tut mir leid, dass Ihr in seine Hände geraten seid. Das könnt Ihr mir glauben.«

»Mir tut es auch leid.« Dieser Mann hatte sich wohl fest vorgenommen, nett zu ihr zu sein. Sie zog ihre Hand zurück. Hätte sie gekonnt, würde sie ihn befreien, und dann sähe man ja, wie erfreulich er wirklich war. »Diese Schlösser«, sie schüttelte seine Handfesseln, »sind sehr primitiv. Ein Dreh, und ich könnte sie aufbekommen. Ihr habt nicht zufällig ein Stückchen Draht bei Euch?«

Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme geradezu hören. »Na, was meint Ihr wohl?«

»Das hatte ich mir schon gedacht. Meiner Erfahrung nach ist das Leben nicht so einfach.«

»Sehe ich genauso. Hat Leblanc Euch wehgetan?«

»Nicht besonders.«

Er berührte die blauen Stellen an ihrem geschundenen Hals. »Keine Frau dürfte in Leblancs Hände geraten. Wir werden hier rauskommen. Es gibt einen Weg nach draußen, und den werden wir finden.« Er ergriff ihre Schultern, stark und beruhigend.

Eigentlich sollte sie aufstehen und die Zelle weiter absuchen. Doch irgendwie blieb sie einfach ruhig bei ihm sitzen. Langsam wich ihre Anspannung und damit ein Teil ihrer Angst, die sie seit Wochen begleitete. Wann hatte sie das letzte Mal Trost empfangen? Schon merkwürdig, ihn ausgerechnet hier, an diesem Furcht einflößenden Ort zu finden und dann auch noch bei einem Feind.

Nach einer Weile, die ihr wie eine kleine Ewigkeit vorkam, erhob sie sich. »Es gibt da noch ein klitzekleines Problem. Euer Freund ist nicht in der Lage zu laufen, selbst wenn ich ihn von der Kette befreie.«

»Das schafft er. Es haben schon ganz andere Männer als Leblanc versucht, ihn umzubringen.« Den gequälten Unterton in seiner Stimme hätte nicht jeder bemerkt, aber sie schon. Sie wussten beide, dass Adrian sterben würde. In einem halben, allenfalls ganzen Tag würden seine Verletzung, der Durst und die klamme Kälte des Bodens zu seinem Ende führen.

Der Junge sprach nun mit lauter, doch schwacher Stimme im geschliffenen Französisch der Gascogne. »Es ist … nur ein kleines Einschussloch. Nicht weiter schlimm.« Er war entkräftet, aber sehr tapfer. »Es ist nur … diese höllische Langeweile … die kaum zu ertragen ist.«

»Wenn wir doch nur ein Kartenspiel dabeihätten«, scherzte der stattliche Mann.

»Das nächste Mal … werde ich daran denken.«

Die beiden hätten gute Franzosen abgegeben. Äußerst bedauerlich, dass Leblanc sie in Kürze aus dieser Zelle holen würde. Man hätte auch schlechtere Begleiter auf dem langen Weg in die Hölle finden können. Immerhin würden diese beiden einander haben, wenn sie starben. Sie dagegen wäre ganz allein.

Es war besser, nicht darüber nachzudenken, wie es Leblanc beliebte, sie zum Reden zu bringen und zu töten, sonst würde sie nur in Trübsal verfallen. Höchste Zeit, der Berührung dieses englischen Spions zu entschlüpfen und sich wieder ans Werk zu machen. Sie konnte ja nicht ewig so dasitzen und hoffen, dass etwas von seiner Tapferkeit auf sie abfärbte.

Sie stand auf und wurde sofort von einem Frösteln erfasst … als hätte sie in dem Moment, als sie von der Seite dieses Mannes wich, ein warmes, schützendes Heim verlassen. Wie töricht. Dies war kein Heim. Außerdem mochte er sie nicht besonders, obwohl er diesen sanften Ton anschlug. Stattdessen bestand zwischen ihnen dieses von Wachsamkeit geprägte Misstrauen, das man schon fast greifen konnte.

Schon möglich, dass er wusste, wer sie war. Vielleicht war er aber auch einer jener pflichtbewussten Spione, die mit Haut und Haaren und gewissenhaftem Ernst in ihrer Arbeit aufgingen. Also würde er in dieser geradlinigen englischen Manier an diesem modrigen Ort für sein Land sterben und sie dafür hassen, dass sie Französin war. Ein zweifellos typisch englischer Charakterzug, eine derart schlichte Sicht von der Welt zu haben.

Aber egal. Zufälligerweise war auch sie stattlichen englischen Spionen nicht gerade wohlgesonnen. Zweifelsohne ein typisch französischer Charakterzug.

Sie zuckte mit den Schultern, was er nicht sehen konnte, und machte sich daran, den Rest der Zelle zu untersuchen, indem sie den Boden und die Wände, so hoch sie tasten konnte, Stück für Stück unter die Lupe nahm. »Hat Euch Henri Bréval eigentlich schon einen Besuch abgestattet, seitdem Ihr in dieser Zelle sitzt?«

»Er war zweimal mit Leblanc und einmal allein hier, um Fragen zu stellen.«

»Also hat er den Schlüssel? Er selbst? Das wäre gut.«

»Meint Ihr?«

»Ich verspreche mir einiges von Henri.« Nicht ein einziger rostiger Nagel, nicht eine Glasscherbe war zu finden. Nirgends etwas Nützliches. Sie musste all ihre Hoffnungen auf Henris nahezu grenzenlose Dummheit setzen. »Wenn Fouché tatsächlich gerade da oben sitzt, Wein trinkt und Karten spielt, wird Leblanc ihm nicht von der Seite weichen. Man kann doch den Chef der Geheimpolizei nicht vernachlässigen, um sich mit einer Frau zu vergnügen. Wer sollte Henri dagegen Beachtung schenken? Er dürfte die Gelegenheit beim Schopfe packen. Zu gerne würde er Zeit mit mir verbringen, wozu er bisher noch nicht die Gelegenheit hatte.«

»Verstehe.« Welch wenig aussagekräftige Antwort.

War er etwa der Meinung, Henri wäre ihr willkommen? Traute er ihr so einen schlechten Geschmack zu? »Leblanc weiht nicht gerade viele Leute ein, wenn es um diesen Raum geht. Was er hier treibt, ist höchst geheim.«

»Also dürfte Henri allein heruntergeschlichen kommen. Euer Plan ist es, ihn zu überwältigen.« Sein Tonfall war so beiläufig, als wäre nichts dabei, wenn sie einen Mann wie Henri Bréval attackierte. Sie war sich fast sicher, dass er wusste, wer sie war.

»Ich kann Euch leider nicht helfen«, er rasselte mit seiner Kette, »es sei denn, Ihr schafft ihn in meine Nähe.«

»Ganz so dumm ist Henri nun doch nicht. Aber ich habe da einen Plan.«

»Dann bleibt mir nur, Euch Glück zu wünschen.«

Anscheinend war er ein Mensch mit einem hervorragenden Gespür fürs Wesentliche. Er würde ihr von Nutzen sein, sobald sie ihn von den Ketten befreit hätte. Und dann würden die Schweine wie in diesem englischen Sprichwort doch noch mit ihren neuen Flügeln davonfliegen.

Als sie die Zelle weiter erforschte, stieß sie mit dem Zeh an einen Tisch, auf dem nicht einmal ein Löffel lag. Aber ein paar Stühle standen da, was ihre Möglichkeiten erweiterte. Sie machte sich gerade an den Dübeln zu schaffen, mit denen die Hölzer verbunden waren, als sie Schritte vernahm.

»Wir bekommen Besuch«, warnte der stattliche Engländer.

»Das höre ich.« Ein Mann kam die Treppe zum Keller herunter. Henri. Das musste Henri sein. Sie richtete den Stuhl wieder auf, räumte ihn aus dem Weg, zückte ihren Totschläger und wandte sich in Richtung der Schritte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch nur wegen der Kälte in der Zelle. Nicht aus Angst. Dieses Gefühl konnte sie sich nicht leisten. »Nur ein Mann. Er kommt allein.«

»Leblanc oder Henri, was glaubt Ihr?«

»Es ist Henri. Er hat den schwereren Schritt. Nun haltet aber endlich den Mund und lenkt mich nicht ab.« Sie betete, dass es Henri war. Nicht Leblanc. Gegen Leblanc hatte sie keine Chance.

Der Engländer gab keinen Laut mehr von sich, doch er erfüllte die Atmosphäre mit hungriger, kontrollierter Wut. Sie hatte das Gefühl, als sei ein Wolf an der Wand hinter ihr angekettet. Seine Anwesenheit zerrte pausenlos an ihrer Aufmerksamkeit, die sie doch so dringend nur auf Henri richten musste.

Henri. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und richtete verbissen ihre Gedanken auf Henri, diesen unangenehmen Zeitgenossen, der allerdings im Moment ziemlich wichtig war. Es waren zwanzig Schritte auf der kleinen Wendeltreppe von der Küche bis in den Keller. Sie zählte die letzten mit, Schritt für Schritt. Dann befand er sich im Gang zur Zelle.

Henri hatte ihren Ruf schon immer für übertrieben gehalten. Auf dem langen Weg zurück nach Paris, wo er sie Leblanc übergeben hatte, hatte sie ihm das rückgratlose Dummchen vorgespielt, indem sie demütig um Essen und Wasser bettelte, herumstolperte und ihm so das Gefühl von Macht gab. Sie hatte sich so klein gemacht, dass er sie in ihrer Finsternis für absolut harmlos hielt und schließlich voller Verachtung für sie geworden war.

Er sollte ihr nur ein bisschen näherkommen, dann würde er schon merken, wie harmlos sie war. Oh ja.

Sie wusste, womit sie ihn ködern konnte. Sie würde die dumme, kleine Hure zum Besten geben, schon immer eine ihrer Lieblingsrollen, die sie x-mal gespielt hatte.

Sie leckte sich erneut über die Lippen und machte einen Schmollmund. Was noch? Schnell ein paar Haarsträhnen ins Gesicht. Ihr Ausschnitt war bereits eingerissen. Sie fand die Stelle und vergrößerte den Riss. Gut so. Er würde nur ihre nackte Haut anstarren. Jetzt konnte sie ein Dutzend Totschläger bereithalten, und er würde nichts merken.

Schnell. Schnell. Er kam immer näher. Sie atmete noch einmal tief durch und schlüpfte in ihre Rolle wie in ein vertrautes Kleidungsstück. Sie wurde zur Hure. Gefügig, leicht einzuschüchtern und ohne Halt in diesem Spiel aus Intrigen und Lügen. Henri liebte Opfer. Sie würde ihm das perfekte Opfer liefern und hoffen, dass er anbiss.

Lauernd wartete sie getarnt hinter mehreren Schichten der sanftmütigen, törichten Hure auf ihn. Ihre Hand umklammerte den Totschläger, ohne auch nur einmal zu zittern. Sie gestattete sich nicht, Angst zu zeigen. Noch eine Rolle, die sie sich erschaffen hatte: die Tapfere Spionin. Auch diese hatte sie schon so oft gespielt, dass sie ihr passte wie eine zweite Haut.

Wahrscheinlich aber war die echte Annique in ihrem tiefsten Innern und hinter all diesen Masken nur ein zitterndes Mäuschen. Sie wagte es jedoch nicht, dort herumzustöbern, um es herauszufinden.

Gespenstisch fahles Licht drang durch die Gitter des Türfensters und wurde umso heller, je näher die Laterne kam. Grey konnte wieder etwas sehen und das Innere der Zelle erkennen. Die groben Steinblöcke, einen Tisch, zwei Stühle – und die junge Frau.

Zur Tür gewandt stand sie da, absolut ruhig und ganz auf den Mann im Flur konzentriert. Sie zeigte keinerlei Regung, nicht das kleinste Fingerzucken. Ihre von völliger Erschöpfung gezeichneten Augen waren halb geschlossen und blickten ins Leere. Sie schaute nicht ein einziges Mal in seine Richtung.

Er beobachtete, wie sie tief durchatmete und ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen, vergitterten Fenster schenkte. Ihre Lippen formten stumme Worte, vielleicht betete sie oder redete mit sich selbst … oder fluchte. Noch einmal strich sie sich mit abgehackten, gekonnten, eleganten Bewegungen durchs Haar und zauberte wilde Strähnen in ihr Gesicht.

Jede ihrer Bewegungen war höchst feminin, unerklärlich französisch. Ihrem Äußeren nach – schwarze Haare, helle Haut, dunkle, indigoblaue Augen – musste sie eine waschechte Keltin sein, vermutlich aus dem Westen Frankreichs. Oder der Bretagne. Der Name Annique war bretonisch. Sie besaß die Magie einer Keltin, mit deren Hilfe sie die faszinierende Ausstrahlung der berühmten Kurtisanen erzeugte. Er beobachtete, wie sie noch einmal ihre Lippen anfeuchtete und schlängelnde, sinnliche Bewegungen machte. Kein Mann hätte dabei wegsehen können.

Sie hatte sich selber das Kleid zerrissen. Die weibliche Form ihrer Brust hob sich weiß von dem dunklen Stoff ab – eine Hure, die zeigte, was sie besaß. Sie war eine Hure, eine Lügnerin – und eine Mörderin … von der sein Leben abhing. »Viel Glück«, wünschte er ihr leise.

Sie drehte sich nicht um, sondern schüttelte nur kurz unwirsch den Kopf. »Seid still und haltet Euch heraus.«

Das saß. Er war hilflos. Er schätzte ab, wie weit seine kurze Kette reichte und ob er mit einem gezielten Tritt etwas ausrichten könnte. Doch Henri würde gar nicht erst in seine Reichweite kommen. Ganz allein musste sie Henri Bréval bezwingen und hatte nicht einmal einen Zahnstocher zur Hilfe.

Leblancs Grausamkeiten zeigten sich in den roten Malen auf ihrer Haut, und ihre Tränen hatten Spuren auf den Wangen hinterlassen. Harmloser hätte sie kaum aussehen können. Das war natürlich eine weitere Lüge.

Er kannte die Frau, hatte sie in dem Moment wiedererkannt, als Leblanc sie in die Zelle stieß. Jeder einzelne ihrer Gesichtszüge war in sein Gedächtnis eingebrannt. Er hatte sie an dem Tag gesehen, als er seine Männer, hinterhältig und grausam niedergemetzelt, in einem Kornfeld nahe Brügge fand. Hätte er bis zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehegt, so wären sie spätestens beim Erwähnen der Albion-Pläne ausgeräumt gewesen. Mit diesen Plänen waren sie nach Brügge gelockt worden.

Seit sechs Monaten jagte er dieser Spionin quer durch Europa hinterher. Welch blutige Ironie, sie ausgerechnet hier zu finden.

Die Zeit seiner Rache würde noch kommen. Leblanc war ein wahrer Künstler, wenn es darum ging, jemanden fertigzumachen. Die hübsche Annique würde keines leichten und sauberen Todes sterben oder hinterher überhaupt noch als Schönheit zu bezeichnen sein. Damit wären seine Männer hinreichend gerächt.

Falls er aber frei kam … nein, sobald er frei war, würde er Annique mitnehmen, nach England. Und dort würde er jede verdammte Einzelheit über die Geschehnisse in Brügge aus ihr herauskitzeln. Sie würde ihm die Albion-Pläne übergeben, und dann wäre seine Zeit für Rache gekommen.

Dem britischen Geheimdienst würde sie von größtem Nutzen sein. Außerdem würde er Leblanc keine tollwütige Hyäne hinterlassen.

Das Guckloch leuchtete auf, als Henri die Lampe hochhielt. Sein erhitztes Gesicht erschien dicht vor den Gitterstäben. »Leblanc ist außer sich wegen dir.«

»Bitte.« Das Mädchen verlor sichtlich den Mut und lehnte sich kraftlos gegen den Tisch. Sie war der Inbegriff der liebreizenden, üppigen Frau mit verführerisch weiblichen Rundungen.

»Oh, bitte.« Das schlichte Blau ihres Kleides und dessen uneleganter Schnitt deuteten auf eine Person hin, die einer unteren Schicht angehörte und derer man sich einfach bedienen konnte. Auf einmal war ihr zerzaustes Haar jetzt, da es ihr ins Gesicht fiel, pure Sinnlichkeit. »Das ist alles nur ein Missverständnis. Nur ein Missverständnis. Ich schwöre …«

Henri steckte seine Finger durch das Gitter. »Am Ende wirst du reden, Annique. Du wirst darum betteln. Du weißt ja, was er mit dir machen wird.«

Sie schniefte. »Leblanc … Er glaubt mir einfach nicht. Er wird mir furchtbar wehtun. Sag ihm, dass ich nicht mehr weiß. Bitte, Henri. Sag es ihm.« Ihre Stimme klang völlig verändert, jünger, nicht mehr ganz so vornehm und sehr ängstlich. Was für eine meisterhafte Vorstellung.

»Er tut dir auf jeden Fall weh, egal, was ich ihm erzähle.« Henri blickte hämisch.

Das Mädchen schlug sich entmutigt die Hände vors Gesicht. Das Haar strömte ihr wie schwarze Rinnsale durch die Finger. »Ich ertrage es nicht. Er wird mich benutzen … wie ein grunzendes Schwein. Das habe ich nicht verdient.«

Wirklich schlau. Er sah, was sie da tat. Henris Aussprache verriet, dass er aus Paris stammte. Er war Städter und Leblanc, trotz seines vornehmen Gehabes, nur der Sohn eines Schweinebauern. Und Henri arbeitete für Leblanc.

»Du bist schon immer Vaubans Liebling gewesen«, fauchte Henri. »Vauban und seine Elitetruppe. Vauban und seine wichtigen Aufträge. Du warst ja zu gut für uns Übrige. Aber heute Nacht wird die ach so besondere Annique, die niemand anfassen durfte, das blinde Püppchen sein, mit dem Leblanc macht, was er will. Wärst du früher netter zu mir gewesen, würde ich dir jetzt vielleicht helfen.«

»Leblanc ist jetzt Fouchés Günstling, und mit Rückendeckung des Chefs der Geheimpolizei kann er sich alles erlauben. Du kannst mir nicht helfen. Du würdest nicht wagen, ihn herauszufordern.« Annique wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich werde tun, was er verlangt, da ich keine andere Wahl habe.«

»Wenn er mit dir fertig ist, bin ich an der Reihe.«

Sie sprach weiter – vielleicht hatte sie Henri nicht gehört. »Er wird verlangen, dass ich mich am ganzen Körper einöle und wie eine Zigeunerin für ihn tanze, wie ich es schon als Kind getan habe. Im Schein des Feuers werde ich tanzen und dabei nichts als einen Hauch von Seide tragen. Rote Seide. Er … er bevorzugt Rot. Das hat er mir gesagt.«

Grey wickelte sich die Kette um die Hand und packte sie fester, als er sich den schlanken Körper vorstellte … mit schlängelnden Bewegungen, nackt und in den goldenen Schein des Feuers getaucht. Damit war er nicht der Einzige. Henri krallte sich an die Gitterstäbe und drückte sich geifernd die Nase platt.

Mit gesenktem Blick wiegte Annique sich hin und her, als sei sie schon tief in diesem sinnlichen Tanz versunken. »Ich werde den blutroten Stoff von meinem Körper gleiten lassen und ihn damit liebkosen. Die Seide wird von der Leidenschaft des Tanzes ganz warm und feucht sein. Von meiner Leidenschaft.« Sie fuhr sich mit der linken Hand über den Körper und berührte sich an ihrer weiblichsten Stelle.

Ein Dutzend Prügelattacken hatten dafür gesorgt, dass Grey jeder Knochen schmerzte; obendrein quälte ihn ständiger Durst, und er wusste genau, was sie vorhatte. Trotzdem versetzte ihre Vorstellung ihn in Erregung. Er wurde hart wie ein Fels und konnte es nicht verhindern. Verdammt, war sie gut.

Versonnen und mit heiserer Stimme fuhr sie fort: »Er wird auf dem Bett liegen und mich zu sich rufen. Anfangs werden es nur Berührungen sein, danach Küsse, wo auch immer er es wünscht. Ich habe gelernt, wundervolle Dinge mit dem Mund zu tun. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als zu tun, was er von mir verlangt.«

Henri stocherte scheppernd und rasselnd im Türschloss herum. Er hatte es sehr eilig, dieser Henri. War der Franzose durch Anniques kleine Vorstellung auch nur halb so erregt wie Grey, wäre es ein Wunder gewesen, wenn er die Tür überhaupt aufbekam.

Die Tür knallte gegen die Steinwand. »Ohne Leblancs Erlaubnis darfst du hier nicht rein, Henri«, warnte sie leise und ohne sich von der Stelle zu rühren, »oder mich anfassen.«

»Zur Hölle mit Leblanc.« Henri stellte die Laterne geräuschvoll ab und drängte sie an den Tisch. Seine Hand verschwand hektisch unter ihrem Rock und zog ihn hoch. Er ergriff das weiße Unterhemd.

»Du solltest mich lieber … hör auf …« Sie wehrte sich, versuchte vergeblich, von ihm loszukommen und war dabei doch kaum stärker als ein gefangenes Vögelchen.

»Nein.« Er warf sich auf Henri, wurde jedoch jäh von seiner eisernen Leine zurückgerissen. Sein schmerzendes Handgelenk rief ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Er konnte nicht nah genug an sie heran, um an ihrer Stelle mit Henri zu ringen. Ihm blieb verdammt noch mal nur die Rolle des Zuschauers.

»Lass …« Ihr wild fuchtelnder Arm traf die Laterne. Sie kippte, fiel vom Tisch und krachte scheppernd zu Boden. Das Licht erlosch. Sofort war es stockdunkel.

»Dumme Hure«, stieß Henri hervor. »Du …«

Es gab einen kurzen dumpfen Schlag. Henri schrie vor Schmerz auf. Weitere Schläge folgten – eins, zwei, drei.

Der Tisch rutschte polternd zur Seite. Etwas Großes fiel dumpf zu Boden.

Nichts regte sich mehr. Er hörte Anniques schweren Atem, erkannte sie an den kurzen Zügen und der keuchenden Altstimme.

Geplant. Sie hatte alles geplant.

Bis zum Zerreißen angespannt hockte er da, während ihm klar wurde, wie sehr sie ihn an der Nase herumgeführt hatte. Sie hatte sich alles von Anfang bis Ende genau zurechtgelegt. Und sie beide mit ihrer hübschen kleinen Vorstellung manipuliert.

Längere Zeit war nichts zu hören, nur hier und da ein leises Rascheln und Anniques Stöhnen. Dann näherte sie sich ihm so zielstrebig und festen Schrittes, als sei diese Zelle alles andere als dunkel wie ein Grab.

»Was habt Ihr Henri angetan?« Eigentlich hatte er da gar keine Zweifel.

»Ich habe ihm eine Socke voller Steine auf den Kopf gehauen.« Sie schien das Ganze Revue passieren zu lassen, als sie sich neben ihm niederließ. »Zumindest glaube ich, dass ich ihn einmal am Kopf getroffen habe. Ich habe ihn an verschiedenen Stellen erwischt. Wie auch immer, jetzt gibt er Ruhe.«

»Ist er tot?«

»Er atmet noch, aber bei Kopfwunden kann man nie wissen. Eventuell werde ich dem Schöpfer noch eine komplizierte Geschichte zu erklären haben, wenn ich an seine Tür trete, was, nach Lage der Dinge, jederzeit der Fall sein kann. Ich hoffe, ich habe ihn nicht ins Jenseits befördert, obwohl er es zweifellos verdient hätte. Soll es jemand anders für mich tun, irgendwann einmal. Es gibt viele, die nur darauf warten. Da fallen mir gleich ein paar Dutzend Leute ein.«

Sie verwirrte ihn. Da war diese Skrupellosigkeit, die aller Härte zum Trotz von einer Unbekümmertheit zeugte, die so rein wie frischer Wind war. Er konnte einfach nicht die Grausamkeit erkennen, mit der man Menschen kaltblütig und aus dem Hinterhalt tötete. Daher musste er sich ständig daran erinnern, wer sie eigentlich war. »Ihr habt ihm doch nicht nur eins übergebraten. Was kam danach?«

»Ihr wollt einen vollständigen Bericht?« Sie klang amüsiert. »Ihr seid wohl doch ein Spion, Engländer. Niemand sonst stellt solche Fragen auf derart ruhige Weise, als habe er das Recht dazu. Na schön, dann will ich Euch die ganze Geschichte erzählen – dass ich Henri gefesselt und mir sein Geld angeeignet habe. Er hatte auch ein interessantes Bündel Papiere in seiner bislang für sicher gehaltenen Geheimtasche. Ihr könnt sie haben, wenn Ihr mögt. Was mich betrifft, mit dem Beschaffen geheimer Dokumente habe ich nichts mehr zu tun.«

Sie stupste ihn leicht an. »Außerdem habe ich diese überaus praktische Krawattennadel gefunden; wenn Ihr also bitte mal Euer hübsches Armband hochhalten würdet. Ja, genau so. Und jetzt haltet still. Schließlich bin ich keine Fischhändlerin, die dieses dumme Schloss auseinandernehmen könnte, während Ihr herumzappelt. Ich werde es noch bedauern, dass ich so nett bin und Euch das Leben rette, wenn Ihr Euch so unvernünftig benehmt.«

»Stets zu Euren Diensten.« Er hielt ihr das gefesselte Handgelenk hin. Gleichzeitig legte er die andere Hand an ihre Haare, um zupacken zu können, sollte sie auf die Idee kommen, sich ohne ihn aus dem Staub zu machen.

Damit begab sie sich ganz und gar in seine Macht – ein Mann, doppelt so groß und stark wie sie, und noch dazu ein Feind. Sie hätte wissen müssen, was sie mit ihrem Geschlängel und Gesäusel bei einem Mann anrichtete. Wut, Rache – und andere Gelüste wallten in ihm auf wie geschmolzenes Eisen. Kaum zu glauben, dass sie sich nicht durch seine Haut brannten und ihr weiches Haar in Brand setzten.

»Ah, wir kommen voran«, hörte er ihre Stimme im Dunkeln. »Dieses Schloss ist doch nicht so kompliziert, wie es auf Anhieb wirkt. Allmählich kommen wir der Sache auf den Grund.«

Sie rückte langsam näher und verdrehte die Fessel, wobei sie seinen Oberschenkel streifte. Mit jeder zufälligen Berührung wurden seine Lenden fester und pochten stärker. Alles, woran er jetzt noch denken konnte, war ihre sanfte Stimme, die sagte: Ich werde mich am ganzen Körper einölen und im Schein des Feuers tanzen. Er war nicht wie Henri. Er würde sie nicht anrühren. Doch wie sollte er dieses Bild nur wieder aus dem Kopf bekommen?

»Und … schon erledigt.« Das Schloss war geknackt.

Bei ihr sah es so einfach aus, obwohl es das keinesfalls war. Er rieb sich das Handgelenk. »Ich danke Euch.«

Dann erhob er sich zu seiner vollen Größe und streckte die schmerzenden Glieder. Frei. Ungehemmte Freude erfüllte ihn. Er war frei. Er ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Er freute sich über die Rückkehr seiner Kräfte und hatte das Gefühl, als könnte er diese Steine mit bloßen Händen aus dem Wege räumen. Es war zwar stockdunkel, und sie befanden sich sechs Meter unter der Erde in einer Festung der französischen Geheimpolizei, doch die Tür stand offen, und er würde sie hier rausbringen – Adrian und diese bemerkenswerte Verräterin – oder umkommen, während er es versuchte. Sollte ihnen der Fluchtversuch misslingen, wäre es für sie alle sowieso besser, dabei das Zeitliche zu segnen.

Während sich die Frau an Adrians Fessel zu schaffen machte, tastete er sich durch die Zelle bis zu Henri, der – wie sie gesagt hatte – noch atmete. Der Franzose war an Händen und Füßen mit seinen Strümpfen gefesselt und mit der eigenen Krawatte geknebelt. Eine gründliche Frau. Die Kontrolle der Fesseln war nur noch Formsache. Henris Jacke hatte tatsächlich eine Geheimtasche. Er nahm die Papiere an sich und zog Henri dann die Hosen bis zu den Knöcheln herunter. So, halb entblößt, ließ er ihn liegen.

»Was treibt Ihr denn da?« Sie hatte gehört, dass er an Henri herumgezerrt hatte. »Ich bin irgendwie heute Abend äußerst wissbegierig.«

»Ich sorge dafür, dass Henri Gesprächsstoff hat, wenn er Leblanc das nächste Mal trifft.« Es würde ihnen etwa zehn Minuten bringen, wenn Henri erklären musste, welche Absichten er in Bezug auf das Mädchen gehabt hatte. »Vielleicht wird es mir noch leidtun, dass ich ihn am Leben gelassen habe.«

»Mit viel Glück werdet Ihr noch einmal die Gelegenheit haben, das nachzuholen.« Wieder erklang dieses abschließende, kurze, entscheidende Klicken. »Das Schloss von Eurem Adrian ist auch offen. Er kann aber nicht laufen.«

»Ich werde ihn tragen. Habt Ihr schon einen Plan, wie wir dieses Château mit einem Bewusstlosen, ohne Waffen und der Geheimpolizei halb Frankreichs da oben verlassen sollen?«

»Aber natürlich. Das werden wir jedoch nicht hier besprechen. Holt Euren Freund und lasst uns bitte gehen, falls Euch etwas an Eurem Leben liegt.«

Er legte sich Adrians Arm über die Schulter und zog ihn hoch. Der Junge konnte zwar nicht allein stehen, jedoch mit Hilfe gehen. Er unterhielt sich in mehreren Sprachen mit unsichtbaren Leuten.

»Stirb mir jetzt nicht, Hawker«, befahl er. »Wag es jetzt ja nicht zu sterben.«

2

»Wie komme ausgerechnet ich dazu, Kindermädchen für ein paar Engländer zu spielen?« Die junge Frau fasste Adrian noch kräftiger unter. »Hier müssen wir nach links, Engländer, wenn Ihr immer noch so erpicht darauf seid, zu dieser Kirche zu gelangen.«

»Ist es die nächstgelegene?«

»Oh ja. Da wäre natürlich noch die Kirche von Saint-Cloud auf halbem Wege den Hügel hinab, die mehr hermacht – wäre es hell, könntet Ihr die Turmspitze sehen –, aber die Kapelle vom Waisenhaus liegt viel näher, wenn Euch nicht stört, dass sie nur noch eine Ruine ist. Ich nehme an, dieser Umstand ist Euch völlig egal. Sie wurde während der Gewaltherrschaft zerstört. Die Nonnen und Waisen sind alle von dort weggegangen. Nur Gott weiß, wohin.«

»Wenn das die nächste Kirche ist, werden wir dort eine Nachricht vorfinden.« Und mit etwas Glück auch seinen Freund Doyle.

»Die englischen Spione in Italien hatten immer ähnliche Vorkehrungen getroffen. Hab schon verstanden.«

Noch immer herrschte tiefste Nacht, aber die Dunkelheit war nicht so bedrückend und erstickend wie in der Zelle. Er nahm einen tiefen Atemzug. Unter diesem Himmel und in dieser klaren, kühlen Luft erschienen ihm die Möglichkeiten unendlich. Sie hatten es schon so weit geschafft. Er würde sie alle in Sicherheit bringen, einen Weg finden, dies zu schaffen.

»Ich weiß gar nicht, warum ich Euch helfe. Es ist wohl ein Beispiel meiner uneigennützigen Mildtätigkeit.« Er konnte sich ihr resigniertes Schulterzucken vorstellen. So gut kannte er sie mittlerweile. »Und deshalb zweifelsohne sehr töricht. Oh, allmählich kommen wir vom Weg ab. Wir sollten auf ihn zurück. Ja, da entlang. Vorsicht.«

Sie stützten Adrian links und rechts, während Annique den Weg mit einem Besenstiel ertastete, den sie im Garten des Châteaus gefunden hatte. Heute Nacht hatte sie ihm schon mehrfach das Leben gerettet. Es war Annique gewesen, die die Schritte eines komplizierten Weges durch den labyrinthartigen Burgkeller mitgezählt hatte. Sie hatte von der Geheimtür an der Hinterwand des Vorratsschrankes gewusst. In totaler Finsternis und mit einer Sicherheit, die eine Katze hätte neidisch werden lassen, hatte sie an allen unsichtbaren Hindernissen vorbei nach draußen in den Garten gefunden. Unter dem Laub in einem tiefen Steinbecken hatte sie Wasser entdeckt. Zeit seines Lebens würde er sich an dieses Wasser erinnern, und auch daran, wie Annique es mit der hohlen Hand schöpfte und zuerst Adrian davon gab, ehe sie selbst trank.

Er hätte Adrian niemals allein über die letzte Mauer heben können. Eine ewig lange Quälerei, die sie in stoischer Ruhe hinter sich brachten, während keine fünfzig Meter weiter immer wieder Gäste an der Eingangstreppe des Châteaus auftauchten und Musik von einer übernatürlichen Klarheit wie Kristall in der Luft hing.

Nun führte sie sie und gab dabei immer wieder leise Kommentare von sich; Ermutigungen, Richtungsanweisungen und bissiges Bedauern. »Die Fahrspur ist so tief, weil die Wagen hier wenden, um zum Hintereingang des Châteaus zu fahren.« »Die Steine an der Mauer auf der rechten Seite sind voller scharfer Kanten. Passt also auf.« »Oh, ein niedriger Ast. Achtung, gleich kommt er.« Sie marschierte in die Hölle und sagte dabei noch: »Seht mal den angeketteten Unhold rechts. Stolpert nicht über ihn.« Sein Respekt, aber auch seine Vorsicht ihr gegenüber wuchsen mit jedem Schritt. Er würde äußerst vorsichtig sein müssen, wenn er sie gefangen nähme.

Sie sagte: »Es ist nicht mehr weit bis zum Tor des Waisenhauses.«

Auf der anderen Seite der Seine war eine Reihe von winzigen Lichtpunkten zu sehen … Paris. Ein paar Straßen weiter erhellte ein erleuchtetes Fenster die Nacht. Ansonsten war nur tiefste Dunkelheit um sie herum. »Woher zum Teufel wisst Ihr das?«

Ein Lachen drang aus der Finsternis. Auch sie war also froh, aus diesem Keller heraus zu sein. »Ich bin diesen Weg sehr oft im Hellen gegangen, und mein Gedächtnis ist hervorragend.« In ihrer Stimme lag eine Fröhlichkeit, wie Gesang. Es war merkwürdig, wie jung sie klang, wie ein tapferes Kind, anders als die lauernde Schlange, als die er sie kannte. »Bei diesem Baum hier«, sie klopfte mit dem Stiel an die Rinde, »der Euch natürlich noch nicht vorgestellt wurde und den Ihr ohnehin nicht sehen könnt, handelt es sich um eine wunderbare Kirsche, die schon alt war, als ich hier zum ersten Mal vorbeikam. Ich bin damals oft hinaufgeklettert und habe Kirschen geklaut. Hier duftet es überall nach den Früchten, die in den letzten Tagen heruntergefallen sind. Die Straße, die Ihr sucht, der Fahrweg zu den ›Schwestern des Waisenhauses‹, liegt gegenüber. Dort.« Sie berührte ihn sanft an der Schulter, um zu zeigen, wo sie meinte.

Ihr Nachtsehvermögen war außergewöhnlich. »Ich kann überhaupt nichts sehen.«

»Versucht nicht zu sehen, Engländer, hört lieber hin. Die Nacht um Euch erzählt viele Geschichten. Die Rue Bérenger liegt da vorn … hm … etwa fünfzig Schritte von hier. Der Bäcker an der Ecke backt bereits Brot. Man kann es riechen. Die Rue Bérenger verläuft ostwärts Richtung Brücke nach Paris, wo Männer Eures Berufsstandes sicherlich Freunde haben. Und wenn Ihr dort hinauf Richtung Westen geht, erreicht Ihr nach einiger Zeit England, wo Ihr ohne Zweifel noch mehr Freunde habt. Der schwache Wind, der uns ins Gesicht bläst – fühlt doch mal – kommt aus dem Wald im Nordosten, vom Bois de Boulogne.«

Er schloss die Augen und versuchte, die Strömungen der Nacht so wie sie zu erspüren. Sie hatte recht. Es war leichter zu hören und den Wind auf der Haut zu spüren, wenn man nicht krampfhaft versuchte, etwas zu sehen. »Ihr seid eine wahre Meisterin. Mit dem Herumschleichen im Dunkeln kennt Ihr Euch aus.«

»Besser als mir lieb ist. Das stimmt.«

»Habt Ihr das alles von Vauban gelernt? Ihr gehörtet zu seinen Leuten, nicht wahr?«

»Ihr stellt viele Fragen. Habe ich Euch das erlaubt? Nun hört zu, dann werde ich Euch ein paar Geheimnisse verraten. Wenn Ihr Euch gegen den Wind dreht, werdet Ihr immer wissen, wo Ihr seid. Aus dieser Richtung könnt Ihr den Fluss riechen.« Er hörte, wie sie schluckte. »Den Geruch von Wasser.«

Und damit hatte er den Köder, mit dem er sie würde anlocken können. Ihre Stimme hatte sie verraten. Das Wasser im Auffangbecken des Gartens hatte gerade ausgereicht, um sich damit den Mund zu befeuchten. Sie hatte Durst, brennenden Durst.

Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich bin froh, wenn wir endlich bei der Kapelle sind. Dort gibt es hoffentlich Wasser.« Er spürte die Spannung, mit der sie ihm zuhörte. Gut.

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

Er fand weitere gemeine Worte. »Es dürfte einen Brunnen dort geben. Ob wir wohl einen Eimer oder Ähnliches finden, um das Wasser heraufzuholen?«

»Das werdet Ihr bestimmt herausfinden. Wie bereits gesagt; es ist nicht mehr weit.« Ihre Stimme klang belegter, und er hörte sie erneut schlucken. »Geht allein zu Eurem ach so geheimen Rendezvous, denn ich habe noch woanders zu tun. Ich bin nicht erpicht darauf, meinen Bekanntenkreis um die englische Spionagegesellschaft von Paris zu erweitern.« Doch ihre Stimme verriet, dass sie nur noch an Wasser dachte.

»Wahrscheinlich ist niemand da. Ich kann mich nicht alleine um Adrian kümmern. Und Ihr könnt mir dabei so gut helfen.«

»Nötigt mich nicht dazu, Monsieur.« Er hörte das Schaben des Besenstiels auf der staubigen Straße. »Das ist kein schöner Charakterzug.«

»Er benötigt Eure Hilfe. Wie weit ist es noch? Einhundert Schritte?«

Sie schnaubte, auf diese köstlich ärgerliche, französische Art. »Ich habe keine Ahnung, wie die Engländer zu ihrem Ruf, sie seien stoisch, gekommen sind, denn Ihr zumindest seid es überhaupt nicht.« Sie packte Adrian fester. »Kommt schon. Lasst uns endlich das Wasser suchen, von dem Ihr so besessen seid. Auf jeden Fall dürfen wir nicht mehr hier herumstehen und schwätzen, sodass man uns weit und breit hören kann. Hier ist das Tor.«

Der Besenstiel klapperte leise über die Eisengitter, als sie hindurchgingen.

»Ich werde nur bis zu den Stufen des Haupthauses gehen und keinen Schritt weiter«, kündigte sie an. »Keinen einzigen. Auch nicht, wenn Ihr noch ein halbes Dutzend weiterer junger Spione mit fürchterlichen Verwundungen aus dem Hut zaubert. Es hat überhaupt keinen Sinn, mich darum zu bitten.« Die Kiesel unter ihren Füßen knirschten, und es ging steil bergab. »Ich hatte bisher wenig mit Engländern zu schaffen, und jetzt ist mir klar, dass das sehr weise war, obwohl es sicherlich jede Menge Engländer gibt, die weitaus vernunftbegabter sind als Ihr. Vielleicht warte ich mit meinem endgültigen Urteil noch ein wenig.«

Er fand keinen Hinweis darauf, dass auch nur eine Menschenseele in der Nähe war. Andererseits würde es auch gar keine geben, zumindest dann nicht, wenn Will Doyle dort wartete.

Noch ein paar Schritte, dann blieb sie stehen. »Das gefällt mir nicht.« Wie recht sie hatte. Ihr Instinkt war ausgezeichnet. »Nein. Ich gehe keinen Schritt weiter. Nehmt den Jungen …«

Obwohl Adrian halb bewusstlos war, musste er zugehört haben. Also spielte er mit, indem er stöhnte und in sich zusammensackte.

Sie taumelte und stützte ihn. »Euer Freund ist wieder ohnmächtig geworden. Wir müssen …«

Dicht neben ihm sagte Doyle plötzlich: »Das wurde aber auch Zeit, dass ihr kommt.« Eine stämmige Gestalt löste sich aus dem Schatten. »Ich war schon kurz davor, das Gebäude zu stürmen.«

Doyle. Gott sei Dank. Eine zentnerschwere Last fiel von ihm ab. »Adrian ist verletzt.«

In dem Moment, als das Mädchen Doyles Stimme vernahm, ließ sie Adrian los und rannte zurück in den Wald, wo sie in sicherer Entfernung still verharrte.

»Ich nehme ihn.« Doyle war groß und stark. Er legte sich Adrian über die Schulter und trug ihn. »Ich hörte davon, dass er sich eine Kugel eingefangen hat. Wir haben uns schon gefragt, wie ernst es ist. Ich habe vorsichtshalber eine Kutsche gestohlen. Sie steht da unten.«

»Gut.« Er drehte lauschend den Kopf, um das Mädchen auszumachen. Da. Ihr leises Atmen verriet sie. Fühl dich ruhig sicher im Dunkeln, Annique. Nur zu. »Ich brauche Wasser für meine Führerin«, rief er Doyle hinterher.

Er hätte schwören können, dass Doyle seine Gedanken las. »In der Kutsche sind ein paar schön kalte Flaschen. Ich bring sie mit. Klares, sauberes Wasser.« Seine ruhig vorgetragenen Worte waren spontan und goldrichtig.

Er spürte das Zittern in Anniques schweigendem Warten. Denk nur immer schön an das Wasser, Annique. Immer schön daran denken, wie durstig du bist. »Ich hole Euch eine Flasche, Mademoiselle, als Zeichen meines Dankes. Das ist das Mindeste, was ich Euch schulde.«

Sie zögerte. In einem kurzen Moment der Unentschlossenheit war das verräterische Rascheln ihrer Kleidung zu hören. Sie musste nach Wasser lechzen.

Wenn er sie zu packen versuchte und sie dabei verfehlte, wäre seine Chance vertan. In der Dunkelheit war sie zu schnell und kam einfach zu gut mit ihrem Stock zurecht. Er musste es von Nahem versuchen. »Einen kleinen Moment«, bat er mit sanfter Stimme. »Ich hole Wasser.«

Der Geruch von frischer Farbe führte ihn zur Kutsche und den zarten Fäden eines Spinnennetzes an einer mit einem Blechdeckel abgedunkelten Laterne. Als er diesen zur Seite klappte, erhellte ein Lichtkeil den mit Unkraut bewachsenen Hof.

Doyle verfrachtete Adrian in die Kutsche. »Wo hat’s dich erwischt, Kleiner? An der Schulter? Nein. Mehr an der Brust. Nur die eine Kugel?«

Adrian krächzte: »Eine reicht doch wohl … oder? Die Weste ist auf jeden Fall hinüber.«

Die Kutsche wackelte, als Doyle dem Jungen eine Decke überlegte. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich das deinem Schneider erklären soll. Hier, nimm ’nen Schluck Wasser, bevor du uns umkippst.«

»Stell es irgendwo ab, wo ich drankomme. Lass uns von hier verschwinden.«

»Und wer musste sterben, als er dir die Kugel verpasst hat, Junge? Das erzählst du mir noch irgendwann.« Doyle schwang sich von der Kutsche. »Er wird’s schaffen. Wie viele sind hinter Euch her?«

»Das ganze Wespennest. Ich werde meine Führerin bezahlen, und dann können wir los. Wo ist das Wasser?« Er schwang die Laterne herum. Ja. Oh, ja. Jetzt hatte er sie. Sie wartete mit ausreichendem Abstand zum Lichtschein und war Teil der sie umgebenden Schatten … klug und wachsam. Doch für ihre Wachsamkeit war es jetzt zu spät.

Doyle und Grey sahen sich an. »Natürlich. Kommt sofort, Sir.« Hand um Hand erklomm Doyle die Sprossen zum Kutschdach und dies mit der merkwürdig langsamen und schwerfälligen Grazie eines großen Braunbären. »Ich habe auch was zu essen da. Einen ganzen Korb voller Brot, Käse, Würste. Auch Wein.«

Irgendwo in der Dunkelheit würde Annique lauschen. Sie musste hungrig sein, denn dafür dürfte Leblanc schon gesorgt haben. »Ich nehme auch ein Stück Brot. Doch zuerst das Wasser. Gib mir etwas, womit es sich gut tragen lässt. Die Wasserflasche. Die da.«

Doyle reichte ihm eine Wasserflasche und einen halben Laib frisch gebackenen, duftenden Brotes. Mehr brauchte er nicht als Köder. Er hatte sie. Jetzt konnte die Falle zuschnappen.

»Mademoiselle?«

Voller nervöser Vorsicht war sie noch tiefer in die Dunkelheit zurückgewichen. Als er sich mit der Laterne näherte, konnte er erkennen, dass sie die Augen geschlossen hielt. So bewahrte sie sich also ihr erstaunliches Nachtsehvermögen. Andererseits wusste er, wie clever sie war.

Sie stützte sich schwer auf den alten Besenstiel, den sie aufgelesen hatte. Ihre Kleidung strotzte vor Schmutz und Spinnweben, ihre Haut war vor Erschöpfung leichenblass. Allein, hundemüde und zu Fuß – was glaubte sie eigentlich, wie weit sie käme, bevor Leblanc sie aufgriff? In Wahrheit tat er ihr einen Gefallen, indem er sie einsammelte. Was auch immer er mit ihr anstellte, es konnte nicht schlimmer sein als das, was Leblanc vorhatte.

Er stellte die Laterne vorsichtig auf den Boden, um die Hand frei zu haben.

In der Flasche schwappte das Wasser; ein glücklicher Zufall, der genügte, damit sie wie angewurzelt stehen blieb. Mit der locker baumelnden Flasche in der Hand und dem lässig unter den Arm geklemmtem Brot, schlenderte er auf sie zu. Die einfachsten Tricks funktionierten immer noch am besten. Es war wie beim Einfangen eines Fohlens auf der Weide. Man näherte sich langsam, aber stetig, und tat so, als hätte man eigentlich etwas ganz anderes im Sinn.

»Möchtet Ihr auch etwas Käse? Dann lasse ich ihn herbringen.« Er sagte das so, als wäre Doyle immer noch auf dem Kutschdach, wo er sich aber gar nicht mehr befand. Er hätte blind den Bogen skizzieren können, den Doyle in diesem Moment schlug, um der Frau den Fluchtweg abzuschneiden. Sie arbeiteten schon seit zehn Jahren zusammen. Er wusste, wo Doyle sich hinstellen würde. Ein Dutzend Schritte hinter dem Ziel und rechts vom Weg. »Brot und Wasser begleichen nicht einmal einen Bruchteil dessen, was ich Euch schulde.«

»Ich treibe keine Schulden bei englischen Spionen ein.« Sie trat nervös von einem Bein aufs andere. »Schulden schaffen Bindungen.«

»Wasser ist keine besonders große Forderung. Ein bisschen kaltes Wasser.« Er legte die Worte wie eine Schlinge aus. Sie sollte nur an den Durst denken und nicht daran, dass er immer näher kam. Er war schon fast da.

Beinahe meinte man zu hören, wie ihr Instinkt forderte, wegzulaufen. Ihr in gespannter Aufmerksamkeit geneigter Kopf sagte alles. Wie lange hatte Leblanc ihr Wasser vorenthalten? Sie musste schon sehr verzweifelt sein, um so viel zu riskieren.

Ein letzter Schritt, und dann packte er sie mit einem unlösbaren Griff am Arm. Sie gehörte ihm.

Sie versuchte, sich loszureißen. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mich anfasst, Monsieur.«

»Es ist nur zu Eurem Besten. Gegen Leblanc habt Ihr keine Chance. Bei mir zumindest –«

In seinem Ellbogen explodierte Schmerz. Der Besenstiel schwang in einer gleichmäßigen Bewegung gleich weiter herum und krachte ihm gegen die Kniescheibe. Weißkalte, unglaubliche Qualen durchfuhren sein gesamtes Bein. Er fiel um und landete unsanft auf einer Schulter. Mit einem kurzen Ruck befreite sich das Mädchen wie ein Fisch aus einem schlecht ausgeworfenen Netz. Die Dunkelheit gab nichts als das Auseinanderstieben von Kieseln preis.

»Verflucht. Verdammt noch mal.« Blind vor Schmerz rappelte er sich hoch und humpelte hinter ihr her. Idiot. Was war er nur für ein Idiot. Er hatte doch mitbekommen, was sie mit Henri gemacht hatte. Er wusste, was sie war.

Das war’s dann wohl. Im Dunkeln war sie unglaublich schnell. Er hörte, wie ihr Stock gegen die Bäume schlug und sie so einen Weg fand. Sie würde entkommen.

Doch Doyle war der gerissenste Haudegen, den er kannte. Er hatte sich dort positioniert, wo er die Silhouette des Mädchens im Schein der Laterne gut erkennen konnte. Von ihm war allerdings im dunklen Strauchwerk nicht das geringste bisschen zu erkennen. Sie lief Doyle geradewegs in dessen starken Arme, und er kassierte sie einfach ein.

Fast jedenfalls.

»Sohn einer verfluchten …« Er fand Doyle, der sich den Unterleib hielt und im farbenfrohesten bretonischen Dialekt vor sich hin stammelte. »… fauligen Seekuh.« Das Mädchen war frei und rappelte sich hoch. Sie war wirklich verdammt gut, wenn sie Doyle umhauen konnte.

Oh ja. Es würde ihm ein Vergnügen sein, Mademoiselle Annique einzufangen.