Die Douglas-Schwestern - Charlotte Jacobi - E-Book + Hörbuch

Die Douglas-Schwestern Hörbuch

Charlotte Jacobi

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Beschreibung

So betörend wie ein edler Duft: Die Geschichte der großen deutschen Parfümerie als historische Saga über mutige Frauen Jeder kennt das Unternehmen, kaum jemand die Geschichte. Bestsellerautorin Charlotte Jacobi zeichnet die Anfänge der Parfümerie Douglas nach – eine fesselnde Historie wahrer Emanzipation! Wer heute eine Douglas-Filiale betritt, ist auf der Suche nach Eleganz, Luxus und Schönheit. Davon wurden auch die Schwestern Anna und Maria Carstens magisch angezogen, als sie 1910 die erste Douglas-Parfümerie am Neuen Wall in Hamburg eröffneten. Doch bevor aus dem Herzensgeschäft ein Imperium werden konnte, mussten die zwei jungen Unternehmerinnen mutig gegen alle Widerstände kämpfen – auch in der eigenen Familie. Erneut widmet sich Charlotte Jacobi im Auftakt zu ihrer dritten Familiensaga »Die Parfümerie« starken Frauen, die das Bild einer Gesellschaft unter männlicher Herrschaft kräftig durcheinandergewirbelt haben. Mit historischem Gespür und voller Gefühl nähert sich Charlotte Jacobi dieses Mal an reale Vorbilder an und gibt so einer fast vergessenen Episode großen Unternehmertums ein durchsetzungsstarkes, weibliches Gesicht. Mit allen Sinnen lesen – der historische Schmökerhit für Fans von Anne Jacobs, Maria Nikolai und Anna Jonas Entdecken Sie einen historischen Roman, der verführt, fesselt und neue Perspektiven eröffnet! Unter dem Pseudonym Charlotte Jacobi begeistern Eva-Maria Bast und Jørn Precht bereits Millionen von Leser. Nach der »Elbstrand-Saga« und »Die Patisserie am Münsterplatz« hat auch »Die Douglas-Schwestern« bereits SPIEGEL-Bestsellerstatus erreicht. Erst die Stadt an der Alster, dann die ganze Republik: Die Douglas-Schwestern erobern das 20. Jahrhundert! Ein wundervoller Duft kann das Leben verändern – fragen Sie mal Die Douglas-Schwestern! »Die Parfümerie« fügt dem Frauenbild des frühen 20. Jahrhunderts eine bewundernswerte und spannende Facette hinzu. Nicht nur für junge Geschäftsfrauen sind Die Douglas-Schwestern ein schillerndes Vorbild.

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Zeit:11 Std. 51 min

Sprecher:Uta Simone

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© Piper Verlag GmbH, München 2020

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com und Elisabeth Ansley/Trevillion Images

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Inhalt

Cover & Impressum

Prolog

Teil Eins

1909 – 1910

1 – Odile Carstens seufzte …

2 – Wenig später sah …

3 – Das Atlantic erstrahlte …

4 – Wie am Abend zuvor …

5 – Marie sah auf die …

6 – »Ich will dort nicht …

7 – Marie hatte sich …

8 – Durch die harsche …

9 – Marie und Anna …

10 – Gemeinsam mit …

11 – Am nächsten Morgen …

12 – Anna hatte ein …

13 – »Geht es dir nicht …

14 – »Ich denke darüber …

15 – Marie freute sich, …

16 – Odile hatte selten …

17 – Als Anna mit Helene …

18 – Es war der 14. Mai …

19 – Marie sah dem Tag …

20 – »Ich bestehe darauf«, …

21 – »Vielleicht weiß er …

22 – Die Ankündigung der …

23 – Ganze drei Stunden …

Teil Zwei

1914

24 – »Guten Morgen, …

25 – Als Anna am Neuen …

26 – Die Küche im …

27 – Ernest Daltroff stand …

28 – »Du bist eine Heldin«, …

29 – Der Tag ihrer Abreise …

30 – Es war, als wolle die …

31 – Berta bestätigte Maries …

32 – In der Mittagspause …

33 – In der Nacht erwachte …

34 – Am nächsten Morgen …

35 – Anna hatte die …

36 – Die Suche nach …

37 – Eine Stunde später …

Teil Drei

1919 – 1920

38 – Der Frühling hatte …

39 – Marie war noch aus …

40 – Marie erkannte …

41 – Anna hielt sich …

42 – Obwohl es nun …

43 – Bevor es wieder …

44 – Traurig betrachteten …

45 – Am Morgen nach …

Epilog

Spuren der Realität

Danksagung

Quellen- und Literaturverzeichnis

Prolog

1897

Marie Carstens hob ihr zartes Näschen in den Hamburger Sommerhimmel und schnupperte. Wie viele Gerüche es hier gab! Nach Gewürzen, nach Kaffee, nach der weiten Welt, nach Blumen, nach Abenteuer und nach Freiheit. Die Elfjährige war an diesem warmen Julitag des Jahres 1897 mit Frau Fehling, der Köchin ihrer Familie, unterwegs, um einzukaufen. Das Mädchen konnte sein Glück kaum fassen: Am Morgen hatte die stets besorgte Stiefmutter erklärt, sie habe mit Maries jüngerer Schwester einen Arzttermin, und die Köchin solle während ihrer Abwesenheit auf die ältere Tochter achten. Das bedeutete für Marie ein paar Stunden ohne strenge und überängstliche Blicke.

Odile Carstens sorgte sich ständig wegen irgendetwas. Sie hätte die Mädchen am liebsten dauernd im Blick gehabt, deshalb fühlte Marie sich bisweilen wie in einem goldenen Käfig.

An ihre leibliche Mutter hatte Marie keine Erinnerungen mehr, da sie kurz nach der Geburt der zwei Jahre jüngeren Anna an der Cholera gestorben war. Aber fürsorglicher und ängstlicher als Odile, die der Vater der Mädchen nach einem Jahr als Witwer geheiratet hatte, konnte keine biologische Mutter sein! Erst kürzlich hatte sie Frau Fehling angewiesen, jede Mahlzeit so lange zu kochen, bis sämtliche Bakterien abgetötet seien. Obwohl Marie wusste, dass man Bakterien nicht sehen konnte, hatte sie unwillkürlich nach kleinen Tierchen Ausschau gehalten. Aber es war so lecker gewesen, dass sich ihre Bedenken schnell zerstreut hatten.

Mit einem Mal wurde das Mädchen durch einen üblen Geruch aus seinen Gedanken gerissen. Unwillkürlich rümpfte es die Nase. Kein Wunder: Sie waren am Fischmarkt angekommen. Marie liebte das Menschengewimmel dort, die Seefahrerabenteuer, die man in den Gesichtern der Fischer lesen konnte. Weniger schätzte sie jedoch den Geruch von Fisch, wenn er nicht mehr ganz frisch war – etwas, das Marie immer sofort bemerkte. Und sie fand die toten Wesen mit ihrer glänzenden, schuppigen Haut und den hohlen Augen unheimlich. Bei dem Gedanken, den Fisch später essen zu müssen, drehte sich ihr der Magen um. Schnell schaute sie weg – und direkt in das Gesicht einer wunderschönen Dame, die neben ihr stehen geblieben war. Marie fiel sogleich der herrlich angenehme Duft der nobel gekleideten Mittzwanzigerin auf. Regelrecht magisch roch sie. Nach … Vanille. Danach duftete auch der Pfeifentabak ihres Papas: Vor allem wenn dieser lange fort gewesen war, sog Marie den vertrauten Geruch geradezu gierig ein. Er signalisierte, dass Heinrich Carstens von einer seiner vielen Reisen zurückgekehrt war. Dann waren sie und Anna nicht mehr den Ängsten ihrer Stiefmutter ohne die ausgleichende Wirkung des Vaters ausgeliefert.

Im Duft dieser Fremden machte Marie zudem einen Hauch von Rosen aus. Und etwas Aufregendes, das sie nicht einordnen konnte.

»Sie riechen aber gut«, platzte sie heraus und strahlte die Dame an.

»Marie«, kam es tadelnd von der dürren Köchin. »Denk an deine Mutter: Nicht mit fremden Leuten sprechen!«

Beschämt senkte das Mädchen den Blick.

»Schon gut«, beschwichtigte jedoch die Schöne. »Ich kenne die Kleine. Maria Carstens – mein Mann und ihr Vater sind gute Geschäftsfreunde.«

»Aber Maria nennt mich niemand, alle sagen Marie«, erklärte das Kind.

Frau Fehling nahm die junge Dame nun genauer ins Visier und erkannte sie schließlich: »Ach, Frau Kolbe … Bitte verzeihen Sie meine Unaufmerksamkeit, gnädige Frau!«

Die Köchin wirkte meist recht selbstsicher, doch Marie merkte deutlich, wie unangenehm es ihr war, die Freundin ihrer Herrschaft nicht sofort erkannt zu haben. Aber es war ihr ja selbst so gegangen. Sie hatte Frau Kolbe bisher noch nie bemerkt. Das war jedoch kein Wunder, denn in den seltenen Fällen, in denen ihr Vater bei ihrer Stiefmutter Empfänge oder Teeeinladungen durchgesetzt hatte – Odile Carstens befürchtete stets, bei solchen Anlässen ausspioniert zu werden –, hatte sie die Mädchen nach einer kurzen Begrüßung der Gäste stets sofort auf ihre Zimmer verbannt.

»Erinnerst du dich an mich, Marie?«, fragte Frau Kolbe nun auch, und Marie schüttelte verlegen den Kopf.

»Nicht schlimm«, lachte die Dame. »Ich an deiner Stelle würde die vielen Erwachsenen auch nicht auseinanderhalten können. Aber es freut mich, dass dir mein Duft gefällt. Das ist ein Parfüm. Damit sprühen sich feine Damen – und manchmal auch die Herren – ein, um gut zu riechen. Du kennst das bestimmt von Seifen. Die stellt mein Mann her. Sie duften ebenfalls, wenn auch nicht ganz so stark wie Parfüm.«

Mit einem Seitenblick auf die Köchin vergewisserte sich Marie, dass es in Ordnung war, wenn sie noch weiter mit der netten Dame plauderte. Die lächelte ihr aufmunternd zu. »Du kennst die Produkte von Frau Kolbe«, erklärte die Köchin. »Die Chinesische Himmelsseife benutzt du jeden Tag.«

»Ja«, rief Marie. »Die riecht so wundervoll. Immer wenn ich mir die Hände gewaschen habe, schnuppere ich ganz lange daran.«

»Wie schön«, sagte Berta Kolbe schmunzelnd. Dann fiel ihr etwas ein. »Wenn du möchtest, kannst du mich begleiten. Ich brauche dringend einen neuen Duft und wollte eine Parfümerie besuchen. Vielleicht finden wir für dich ja auch etwas Schönes.«

Marie spürte ihr Herz schneller schlagen, eine Parfümerie hatte sie schon immer einmal von innen anschauen wollen, doch ihre Stiefmutter hatte es nicht erlaubt. Ein ganzer Laden voller schöner Düfte! Flehend flog der Blick des Mädchens zu Frau Fehling. »Darf ich?«

Die Köchin zögerte. »Nun, ich weiß nicht. Ich müsste eigentlich erst die Erlaubnis meiner Herrschaft einholen.«

»Das ist mir bewusst«, pflichtete Berta Kolbe ihr bei. »Und ich würde es von meinem Personal ebenso erwarten. Aber ich kenne Maries Eltern wirklich gut und bin sicher, dass ihr Vater« – sie betonte das Wort auffällig – »nichts dagegen hätte. Wenn sich schon einmal die Gelegenheit ergibt, sollte man sie nutzen.«

Marie wusste nicht, warum, aber sie hatte das Gefühl, dass sich das Gespräch zwischen den beiden Frauen auf einer anderen Ebene abspielte. Sie hatte dies schon oft bei Erwachsenen beobachtet: dass sie etwas sagten und gleichzeitig noch eine unausgesprochene Botschaft weitergaben. Dann redeten sie anders, eindringlicher irgendwie, und sahen sich vielsagend an.

Ob Frau Kolbe wusste, dass ihre Stiefmutter sie in ihrer Ängstlichkeit regelrecht einsperrte? Hatte sie deshalb nur den Vater erwähnt und gesagt, dass der sicherlich nichts dagegen hätte? Was auch immer die stumme Botschaft war – sie kam an.

Frau Fehling stimmte zu. »Also gut. Mit Frau Kolbe unterwegs zu sein ist für dich sicher spannender als mit mir alter Köchin.« Marie wollte protestieren und beteuern, Frau Fehling sei nicht alt und ihre Gesellschaft nicht langweilig, doch diese winkte ab. »Schon gut. Wichtig ist nur, dass wir später gemeinsam nach Hause gehen.«

Wieder wechselten die beiden Frauen einen vielsagenden Blick, und Marie war sich nun sicher, dass sie sich gegenseitig das Versprechen gaben, der Stiefmutter nichts von ihrem Abenteuer zu erzählen. Was das Ganze natürlich noch aufregender machte!

»Dann ist es also abgemacht«, sagte Berta Kolbe. »Treffen wir uns in einer Stunde wieder hier?«

»Ich werde da sein«, bestätigte Frau Fehling und lächelte herzlich.

Schnurstracks ging Berta Kolbe mit Marie in ein kleines Parfümgeschäft der Firma Dralle in der Mönckebergstraße. »Das darf mein Mann nicht erfahren«, flüsterte sie dem Mädchen verschwörerisch zu. »Dralle stellt nämlich ebenfalls Feinseifen her. Dadurch ist er Konkurrenz, aber ich liebe die Parfüms einfach. Außerdem kann es ja nicht schaden, die Mitbewerber zu kennen.«

Marie, die ohnehin ganz aufgeregt war, fühlte sich mit einem Mal äußerst wichtig und nickte ernst. Nun teilten sie und Frau Kolbe also ein Geheimnis.

Die Ladentür klingelte verheißungsvoll, und sogleich strömte den beiden ein betörendes Duftgemisch entgegen. Wie berauscht, wie geblendet sah Marie sich um und fühlte sich wie im Paradies. Wohin sie auch blickte, standen kunstvoll geschliffene Gläser, in denen verschiedenfarbige Flüssigkeiten glitzerten. Wie in einem Märchenpalast, dachte Marie verzaubert.

In diesem Moment kam eine feine Dame auf sie zu – die Verkäuferin, die der Fabrikantengattin in Aussehen und Eleganz in nichts nachstand. »Guten Tag, Frau Kolbe«, grüßte sie verblüfft, aber herzlich. »Was verschafft uns die Ehre? Und wen haben Sie denn da mitgebracht?«

»Das ist Marie Carstens«, stellte sie das Mädchen vor.

Marie machte einen Knicks.

»Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Fräulein Marie«, meinte die Dame mit dem sorgsam frisierten, blonden Haarturm freundlich.

»Die Kleine interessiert sich für Parfüm, vielleicht finden wir ja einen passenden Duft für sie«, sagte Berta Kolbe.

»Dann wollen wir mal sehen«, murmelte die Verkäuferin und nahm einen besonders hübsch aussehenden Flakon aus dem Regal. »Das ist Extrait de Lilas, ein Parfüm von Delettrez für Damen. Es ist ganz neu.«

»Das heißt Flieder«, übersetzte Marie.

»Du kannst aber gut Französisch«, lobte die Verkäuferin. »Da habt ihr sicher einen guten Lehrer. Ich finde es schön, wenn die jungen Frauen diese Sprache heutzutage lernen.«

»Danke«, erwiderte das Mädchen stolz. »Unser Lehrer kann aber gar nicht so gut Französisch. Meine Stiefmutter kommt aus Elsass-Lothringen. Sie spricht mit uns zu Hause oft in dieser Sprache.«

»Da hast du aber Glück«, sagte die Verkäuferin, »wenn du später mal dorthin reist, stehen dir alle Türen offen.«

Marie, die es bisher als selbstverständlich erachtet hatte, Französisch zu können, freute sich: Zumindest mit ihrer Sprache hatte ihnen die Mutter also ein Stück weite Welt geschenkt.

Vorsichtig strich Marie mit dem Finger über den Flakon und ließ dabei erneut ihren Blick über die Regale schweifen. Dass all die Fläschchen hier so schön waren, erfüllte das Mädchen mit tiefer Zufriedenheit, schließlich waren in ihnen ja die schönsten Düfte der Welt gefangen. Nicht auszudenken, man hätte diese flüssigen Juwelen – ja, genau so kamen sie Marie vor – in hässlichen Gefäßen versteckt!

Währenddessen öffnete die Verkäuferin den Flakon und betupfte Maries Handgelenk mit dem Parfüm. »Dann wollen wir mal sehen, ob es wirklich nach Flieder riecht«, sagte sie.

Das edle Elixier fühlte sich angenehm kühl auf Maries Haut an. Sie hob das Handgelenk an die Nase und sog tief den Duft ein. Der Geruch war überwältigend. Als manifestierten sich alle Fliederpflanzen dieser Welt in diesem einzigen Tropfen.

»Scheint dir zu gefallen«, stellte die Verkäuferin fest. Marie nickte eifrig, und die Dame holte ein weiteres prachtvolles Fläschchen aus dem Regal. »Weil du ja so klug bist, verrate ich dir nicht, wie dieser Duft heißt oder was die Duftstoffe sind. Ich bin gespannt, ob du es errätst.«

»Vanille«, erkannte Marie sofort voller Stolz, als sich der Duft ausbreitete. »Das erinnert mich an meinen Papa, wenn er seine Pfeife raucht. Aber es riecht viel besser. Eleganter. Ein wenig wie das Parfüm von Frau Kolbe. Und …« Sie suchte nach Worten. »Es verzaubert mich. Das schafft der Geruch von Papas Pfeife nicht.«

Berta Kolbe lachte. »Stimmt, das ist Vanille. Ich kenne den Tabakgeruch deines Vaters – er raucht die gleiche Sorte wie mein Mann. Du hast schon zwei ganz wichtige Dinge erkannt: Zum einen kommt es immer auf die Dosierung eines Dufts an, also auf die verwendete Menge. Es darf nicht zu viel und nicht zu wenig sein und muss zu den übrigen Düften passen. Zum anderen sind Düfte Erinnerungsträger. Jeder Mensch hat seinen eigenen Duft, und dazu muss das Parfüm passen. Deswegen riecht das gleiche Parfüm an zwei Menschen unterschiedlich.«

Marie lauschte mit großen Augen. »Erinnerungsträger?«, wiederholte sie versonnen. »Wenn ich Zimt rieche, dann denke ich immer an Frau Fehling«, sagte sie schließlich. »Bestimmt, weil sie mir so oft Franzbrötchen backt. Die liebe ich.«

»Siehst du«, sagte Berta Kolbe. »Und darum parfümieren manche Frauen auch ihre Liebesbriefe. Damit der Empfänger dann gleich von ihrem Duft betört wird und ihn mit der Dame seines Herzens in Verbindung bringt.«

Marie errötete. Dass jemand so offen von der Liebe sprach, war das Mädchen nicht gewohnt.

»Möchtest du noch einen Duft ausprobieren?«, fragte die Verkäuferin und rettete Marie damit aus ihrer Verlegenheit.

Sie nickte eifrig.

»Du kannst nacheinander bis zu drei Düfte versuchen«, sagte die Dame. »Mehr besser nicht, sonst kommt dein Geruchssinn durcheinander.« Sie zauberte einen weiteren Flakon hervor. »Es geht nun wieder um eine Blume – und um eine Geschichte, die mit diesem Duft zu tun hat. Denn du hast ja inzwischen erfahren, dass Düfte Erinnerungsträger sind, und folglich hat jeder Duft auch eine Geschichte, eigentlich mehrere, eine für jede Frau, die ihn trägt. Aber diese Geschichte ist ganz besonders. Wenn du möchtest, erzähle ich sie dir.«

»Ja, bitte«, entgegnete Marie mit ernster Miene. »Aber erst mal der Duft.«

Die Verkäuferin wollte den Flakon schon entkorken, doch Berta Kolbe nahm ihn ihr mit einem charmanten Lächeln aus der Hand. »Wir kommen schon zurecht«, sagte sie.

»Gewiss, Frau Kolbe«, antwortete die Dame respektvoll. »Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas benötigen.« Mit diesen Worten zog sie sich zurück und begann, in einem der Regale Flaschen zu sortieren.

Marie sah ihr enttäuscht nach. Nun würde sie die Geschichte wohl doch nicht erfahren. Und es war ihr auch ein wenig unangenehm, dass Frau Kolbe die Verkäuferin so rüde fortgeschickt hatte. Sie wagte allerdings nicht, nach dem Grund zu fragen, und sah zu, wie die Ältere nun den Flakon öffnete, auf dem ein Medaillon mit einer hübschen, blonden Frau im Profil abgebildet war – und dem sogleich ein himmlischer Duft entwich.

»Veilchen«, erkannte Marie auch diesmal sofort.

»Du hast wirklich eine gute Nase«, lobte Berta Kolbe. »Das ist das Bouquet Marie-Louise von Edouard Pinaud, ebenfalls ganz neu. Die Namensgeberin ist die Frau auf dem Flakon, die gab es wirklich. Sie liebte Veilchen, deshalb hat sich Pinaud für die Veilchennote entschieden.«

»Das Parfüm heißt ja wie ich«, platzte es aus Marie heraus. »Vielleicht gefällt es mir deshalb so gut.«

»Marie-Louise war die Geliebte Napoleons«, erzählte Berta, und Marie war erleichtert, dass Frau Kolbe die Geschichte offenbar auch kannte. »Seine Frau Josephine hingegen liebte eher Rosen. Um ihr Schloss in Malmaison befand sich ein großer Garten mit ganz vielen Rosen, die der berühmte Maler Pierre-Joseph Redouté porträtierte. Und sie mochte auch Moschus und hat sich mit diesem Duft an Napoleon für seine Untreue gerächt.«

Kurz geriet sie ins Stocken, als überlegte sie, ob ein derartiges Thema für Kinderohren bestimmt sei, fuhr dann aber angesichts Maries faszinierter Miene fort: »Letztendlich hat der Kaiser Josephine für Marie-Louise verlassen. Und sie hat es ihm heimgezahlt, indem sie ganz viel Moschusduft in seinen Räumen verschüttete, den konnte er nämlich nicht ausstehen.«

Marie kicherte.

»Napoleon muss wohl eine ganze Weile darunter gelitten haben, denn Moschus riecht man noch sehr lange, so lange wie keinen anderen Duft.«

Das Mädchen nickte verständnisvoll. »Der arme Napoleon. Ich finde auch nicht, dass Moschus besonders gut riecht.« Dann fragte sie: »Wurde er mit Marie-Louise denn wenigstens glücklich?« Unwillkürlich musste sie an ihre Eltern denken und überlegte, ob ihr Vater mit seiner zweiten Frau noch glücklich war. Sie glaubte es nicht.

Die Fabrikantengattin schüttelte den Kopf. »Nein, nachdem Napoleon die Kriege verloren hatte, entfremdete sie sich von ihm. Sie zog nach Parma, und dort verliebte sie sich in den Duft von Veilchen, die dort in großer Zahl wachsen. Wie Josephine einst für die Rosen wurde Marie-Louise zum Sinnbild für die Veilchen.«

»Ich glaube, Veilchen sind auch mein Duft«, sagte Marie. »Der Duft der Marien.«

Frau Kolbe lächelte. »Ich würde ihn dir gern schenken.«

»Oh«, entfuhr es dem Mädchen überwältigt. »Das ist … das ist großartig, vielen Dank.«

»Es ist mir eine Freude«, sagte Frau Kolbe strahlend.

Doch da verdunkelte sich Maries Miene.

»Was ist?«, fragte die Fabrikantengattin besorgt. »Gefällt dir der Duft doch nicht? Wir können auch einen anderen aussuchen.«

»Ich glaube nicht, dass Maman das erlauben würde. Sie würde sicher furchtbar schimpfen.«

Frau Kolbe beugte sich zu ihr herab. »Sie braucht davon nichts zu erfahren. Das Fläschchen kannst du sicherlich irgendwo verstecken und ab und zu daran riechen. Jedes Mädchen braucht seine kleinen Geheimnisse. Solange es so schöne sind, ist das völlig in Ordnung.«

»Also gut«, sagte Marie ernst. »Dann dürfen Sie mir den Duft gern schenken.«

Eine halbe Stunde später fühlte sich Marie immer noch wie im Paradies. Frau Kolbe hatte sie, weil die beiden noch Zeit hatten, bis Frau Fehling sie erwartete, zu Tee und Kuchen ins exklusive Hübner-Haus eingeladen. Es war das Café für Hamburgs feine Gesellschaft, in dem, wie Marie wusste, auch Marie Gräfin von Bismarck-Schönhausen, die Tochter des einstigen Reichskanzlers, ein und aus ging. Wieder eine Namensschwester. Und selbst der Leibkoch des Kaisers bestellte hier.

Während Marie ihren Tee trank und ihren köstlichen Kuchen aß – natürlich Hübners beliebte Marzipantorte –, hob sie immer wieder ihr Handgelenk an die Nase, um den Duft einzusaugen. »Ich habe das Gefühl, dass sogar der Kuchen nach dem Parfüm schmeckt«, murmelte sie.

»Kein Wunder«, erwiderte Berta Kolbe. »Über deine Geschmacksnerven trifft ja beides zusammen.« Sie lächelte versonnen und sagte dann: »Ich finde es schon erstaunlich, was für einen guten Sinn für Düfte du hast. Vor fast siebzig Jahren gab es schon einmal einen jungen Menschen, dem es genauso ging. Ihm habe ich zu verdanken, dass es heute unsere Himmelsseife gibt.«

Vor Neugier vergaß Marie das Kauen. »Wer war dieser Mensch?«, fragte sie.

»John Sharp Douglas. Nach ihm ist unsere Firma benannt. Das war ein junger Schotte, der 1820 nach Hamburg kam. Er wollte eine Seifenfabrik gründen.«

»Und wieso hat er das nicht zu Hause gemacht? Also in Schottland?«, wollte Marie wissen.

»Die Seifensteuern waren ihm zu hoch. Weißt du, was Steuern sind?«

»Geld, das man an den Staat zahlen muss. Papa ärgert sich immer so darüber.«

Berta schmunzelte und nahm einen Schluck Tee, wobei sie den kleinen Finger, wie Marie fasziniert beobachtete, elegant von der Tasse abspreizte. »Siehst du? Und John Sharp Douglas ärgerte sich auch. In Schottland war das wohl, zumindest was die Seife angeht, noch viel schlimmer als hier. Er hatte aber keine Lust, so viele Steuern zu zahlen, und kam deshalb nach Hamburg.«

»Und hat es ihm hier gefallen?«, fragte Marie neugierig.

»O ja, sehr«, sagte Berta. »Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt, aber seine Söhne, die die Seifenfabrik später erbten, haben es meinem Mann erzählt. Als John Douglas mit dem Schiff ankam, war er sofort von dem Geruch des Hafens mit all seinen Gewürzen betört. Wegen des Dufts, haben seine Söhne gesagt, habe er sich in Hamburg verliebt.«

»Das kann ich gut verstehen. Ich liebe den Duft unserer Stadt auch.«

»Als John dann in die Stadt verliebt war, hat er sich gleich noch mal verliebt – diesmal in eine Frau«, erzählte Frau Kolbe.

Marie kicherte.

»Johanna Becker war eine wunderschöne Hanseatin, ich habe Bilder von ihr gesehen. Die beiden haben 1830 geheiratet. Im selben Jahr hat Douglas in der Seifenfabrik einen Durchbruch geschafft. Johanna hat ihm also Glück gebracht.« Sie unterbrach sich und lächelte Marie zu. »Aber ich rede zu viel. Du kommst ja gar nicht zum Essen.«

»Oh!« Marie blickte verwundert auf ihren Kuchen. »Ich habe ganz vergessen, dass er da steht. Das passiert mir sonst nie.«

»Und dein Tee wird auch kalt.«

Hastig nahm Marie einen Schluck. »Erzählen Sie mir trotzdem, wie es weiterging?«, bettelte sie. »Es ist so spannend. Ich verspreche auch, dass ich dabei esse und trinke.«

»Aber gern«, sagte Frau Kolbe. »Ich finde diese Geschichte selbst unglaublich faszinierend. Wo war ich stehen geblieben?«

»Da, wo Herr Douglas 1830 geheiratet hat und erfolgreich war.«

»Richtig. Er hat es in diesem Jahr geschafft, den Herstellungsprozess so zu vereinfachen, dass wohlriechende Seife billiger wurde – und mehr Menschen sie sich leisten konnten. Davor war sie sehr teuer gewesen.«

»Weil es schneller ging, konnte er sie auch billiger verkaufen?«, hakte das Mädchen nach.

»Ja, denn die Zeit, in der die Seife hergestellt wird, kostet ja Geld. Denk an die Arbeiter deines Vaters in seinem Korn- und Gewürzhandel. Die bekommen von ihm ja auch Geld. Und je länger sie für etwas brauchen, desto teurer wird es.«

Das leuchtete Marie ein.

»Nun konnten sich also mehr Menschen die Seife leisten, und damit ging natürlich auch der Umsatz von Douglas nach oben. Und der Schotte hat schon damals etwas begriffen, was auch du vorhin bemerkt hast.«

Marie sah sie gespannt an.

»Dass man gut riechende Dinge edel und hübsch verpacken muss. Was für die Parfüms in den Flakons gilt, die du vorhin so bewundert hast, gilt auch für die Seifen. John ließ sie schön einwickeln und etikettieren – und die Leute rissen sie ihm fast aus der Hand. Es war ein großartiger Erfolg. Und er verstand auch etwas davon, seine Produkte bekannt zu machen. Zum Beispiel ließ er den Hausarzt von Goethe und Schiller für sich werben. Mein Mann hatte das Glück, das Geschäft vor genau zehn Jahren zu übernehmen – und sein Vater wiederum hat es weitere zehn Jahre zuvor von den Söhnen des John Sharp Douglas übernommen.«

Marie war beeindruckt. Wie spannend musste es sein, wie dieser Herr Douglas ein eigenes Geschäft zu eröffnen. Am besten eine so schöne Parfümerie wie jene, die ihr die nette Frau Kolbe heute gezeigt hatte.

Die Familie Carstens und ihr Personal bewohnten zwei Wohnungen in der dritten Etage sowie den Dachstuhl des Mietshauses Isestraße 89 im vornehmen Stadtteil Harvestehude. Der Vater hatte sich vom Müller zum erfolgreichen Korn- und Gewürzhändler emporgearbeitet, weshalb sie vor fünf Jahren von der Lohmühle im holsteinischen Kellinghusen hierhergezogen waren. Doch sosehr Marie ihr Zuhause am malerischen Isebekkanal auch liebte – nach diesem Ausflug in die Welt der Wohlgerüche war die Rückkehr nach Hause eher ernüchternd. Zumal Maries Stiefmutter und Anna schon zurück waren und Odile Carstens sich angesichts der Tatsache, ihre ältere Tochter nicht zu Hause vorzufinden, vollkommen hysterisch gebärdete. Kaum waren sie zur Tür herein, überschüttete sie die arme Frau Fehling mit Vorwürfen, was diese sich einbilde, ihre Tochter wie ein Dienstmädchen zum Einkaufen mitzunehmen. Die Angestellte ließ die Gardinenpredigt wortlos und mit gesenktem Kopf über sich ergehen; Marie kannte sie jedoch gut genug, um zu wissen, dass sie mehr wütend als geknickt war. Obwohl Odile Frau Fehlings Herrin war, stand die Köchin, wie Marie fand, irgendwie über ihrer Stiefmutter und war stärker als diese. Dennoch versuchte Marie, Frau Fehling zu verteidigen. »Aber Papa hat gesagt, wir sollen mehr an die frische Luft«, erinnerte sie.

Hätte sie doch besser geschwiegen, denn nun richtete sich die Wut der Stiefmutter gegen sie. Odile nahm ihre Tochter ins Visier und trat näher an sie heran. »Wie riechst du überhaupt?«, schalt sie. »Wie eine … wie eine …« Vor Empörung schnappte sie nach Luft. »Wo war Frau Fehling denn mit dir?«

»Wir sind nur durch die Stadt gegangen. Du weißt doch, wie stark es dort immer nach allem Möglichen riecht … also auf dem Markt«, stammelte Marie.

»Hm«, machte ihre Stiefmutter misstrauisch und zuckte dann seufzend die Achseln. »Aber es lässt sich wohl ohnehin nicht mehr ändern. Geh nach oben auf dein Zimmer! Ich sage Tinette, dass sie dir ein Bad einlassen soll, damit du diesen … diesen furchtbaren Geruch loswirst, bevor euer Unterricht beginnt. Es ist ja nicht zu glauben.«

Erleichtert flüchtete Marie über das Treppenhaus in die zweite Wohnung, in der sich die Zimmer der beiden Carstens-Töchter befanden.

Anna! Sie konnte es kaum erwarten, der Schwester, die ihre engste Vertraute war, von dem aufregenden Nachmittag zu berichten. Und ihr das Parfümfläschchen zu zeigen, das sie in ihrer Rocktasche verbarg.

Wegen Annas Arztbesuch erhielten die Schwestern heute ausnahmsweise nur am Nachmittag Unterricht von ihrem Hauslehrer Herr Kalkbrenner, einem aschgrauen Mann mit Eierkopf, Nickelbrille und verkniffenem Mund, der sich bestens mit ihrer strengen Stiefmutter verstand. Die frisch gebadete Marie quälte sich durch die Mathematikstunde. Anna fiel das Rechnen hingegen leicht, was ihre Schwester überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Wie langweilig und öde die Welt der schnöden Zahlen war, dachte Marie, wie grau im Vergleich zu der duftenden, farbigen Welt, die sie am Vormittag kennengelernt hatte!

Als Herr Kalkbrenner schließlich zur Erdkunde wechselte, war sie wesentlich interessierter. Sie fragte sich, wie es in diesem oder jenem Teil der Erde wohl duften würde und ob jede Region einen eigenen Duft hätte – wie die italienische Stadt Parma eben nach den Veilchen von Maries Namensschwester roch. Doch als sie ihren Lehrer danach fragte, musterte der sie mit einem Blick, als hätte sie ihn beleidigt, und verkündete schmallippig, der Ausflug am Morgen habe ihr offenbar wirklich nicht gutgetan. Marie tauschte einen verärgerten Blick mit ihrer Schwester, und ihre Hand tastete nach dem kleinen Parfümflakon, der sich noch immer in ihrer Rocktasche befand. Das Fläschchen, in dem all ihre Träume gefangen waren. Der Stoff, aus dem ihre Zukunft sein würde.

»Endlich«, flüsterte Anna, als die Tür aufging und Marie in ihr Zimmer schlich. »Ich dachte, du kommst nie. Ich kann es kaum erwarten, dass du mir alles erzählst. Ihr wart nicht nur auf dem Markt, stimmt’s?«

»Woher weißt du das?«, fragte Marie, während sie die Decke anhob und zu ihrer Schwester ins Bett kroch.

»Auf dem Fischmarkt riecht es nicht nach Parfüm«, wusste Anna.

»Stimmt«, bestätigte die Ältere, griff in ihre Nachthemdtasche und zog das Fläschchen heraus. »Darin steckt ein Geheimnis«, sagte sie. »Und unsere Zukunft.«

Anna setzte sich gespannt auf und strich mit den Fingerspitzen über den kunstvollen Flakon.

»Wunderschön«, wisperte sie.

»Ich öffne das Fläschchen jetzt und lasse dich daran riechen. Aber pass auf, dass du keinen Tropfen verschüttest, sonst merkt Maman das morgen. Dann wird sie noch misstrauischer.«

Marie öffnete das Fläschchen und hob es Anna unter die Nase. Das Mädchen schnupperte und schloss genießerisch die Augen. »Das riecht himmlisch«, schwärmte sie. »Woher hast du es?«

Marie erzählte ihr die ganze Geschichte. Und in dieser Nacht, das Parfümfläschchen fest umklammert, leisteten die beiden Schwestern einen Schwur: Als Erwachsene würden sie eine eigene Parfümerie eröffnen – und den duftenden Zauber der ganzen Welt nach Hamburg bringen.

Teil Eins

1909 – 1910

1

Odile Carstens seufzte und strich mit Leidensmiene Butter auf ihr halbiertes Rundstück. Sie seufzte erneut und krönte ihr Werk mit einem Klecks roter Erdbeermarmelade, eine von Frau Fehlings vielen Spezialitäten. Mit einem dritten Seufzer nickte sie, als Herr Konradi, der Butler, ihr einen Schluck Kaffee anbot.

Anna, inzwischen zwanzig Jahre alt, bemerkte, dass ihre Schwester Marie einen genervten Blick mit Großmutter Margaretha, genannt Grete, wechselte. Seit dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren wohnte die alte Dame zur Freude ihrer Enkeltöchter bei ihnen im Haus. Die ständige Seufzerei ihrer Schwiegertochter ging ihr genauso auf die Nerven wie den beiden Mädchen. Anna wusste, dass es ihr Vater ebenso empfand, doch wie immer legte Heinrich gegenüber seiner Frau eine bewundernswerte Geduld an den Tag. Nur kurz zuckte es um seine Mundwinkel, als er die Zeitung, den Hamburgischen Korrespondenten vom heutigen 15. April 1909, zur Seite legte, um seiner Frau die mit ihrem dauernden Seufzen bezweckte Aufmerksamkeit zu schenken.

»Was fehlt dir denn, meine Liebe?«, fragte er fürsorglich. »Bedrückt dich etwas?«

Wieder einmal dachte Anna, wie sehr sie ihren Vater für den Umgang mit ihrer Stiefmutter bewunderte. Trotz der ständigen Jammerei schien er sie wirklich zu lieben. Stets nahm er Rücksicht, ging auf die Bedürfnisse seiner Gattin ein und behandelte sie mit stoischer Engelsgeduld.

Odile Carstens, geborene Dubois, hatte er bereits als äußerst ängstliche Frau kennengelernt. Es mochte an ihrer Familiengeschichte liegen: Als junges Mädchen hatte sie ihre Eltern verloren und war aus Straßburg nach Hamburg gekommen. Dort war sie von einem lieblosen Onkel großgezogen worden, der inzwischen verstorben war.

»Ach«, sagte Odile gerade. »Nein, es sind nur wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen, die mich plagen.«

»Dann solltest du vielleicht öfter an die frische Luft gehen«, mischte sich Grete ins Gespräch. Sie war die Einzige in der Familie, die Odile zeigte, wie wenig sie von deren Gejammer hielt.

Diese schenkte der weißhaarigen Patriarchin einen leidend-beleidigten Blick. Um einen Konflikt – oder eher einen Tränenausbruch seiner Frau, mit dem sie stets auf Tadel seiner Mutter zu reagieren pflegte – zu verhindern, nahm Heinrich schnell wieder die Zeitung in die Hand und sagte: »Vielleicht wird dich dieser Bericht aufmuntern, meine Liebe. Es geht um das Nobelhotel Atlantic an der Alster. Am 2. Mai soll es endlich seine Pforten öffnen.«

»Oh, ja, Vater, ja, das ist sehr spannend«, rief Anna, die das Ihrige zur Beruhigung der Situation beitragen wollte.

Der Gewürzhändler setzte sich zurecht, räusperte sich und begann vorzulesen. »Es bedeckt fast das ganze Viertel, das von der Straße An der Alster, dem Holzdamm und der Alstertwiete umgrenzt wird. Das Gebäude ist nicht nur in Hamburg einmalig.«

Außerdem sei der Bau von »innerer Pracht, die sich mit einer höchst praktischen Einrichtung verbindet«, hieß es in dem Artikel. Zweihundertfünfzig Zimmer mit dreihundert Betten und hundert Badezimmer solle die neue Nobelherberge haben, es gebe sogar eine hauseigene Rohrpost.

Er klappte die Zeitung wieder zu und sagte: »Ich schlage vor, wir gehen zur Eröffnung. Wir haben selbstverständlich eine Einladung bekommen. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir davon zu berichten, meine Liebe.«

Seine Frau seufzte wieder. »Ich weiß nicht, Heinrich, das wird mir alles etwas viel.«

»Aber ich möchte mich doch mit meiner schönen Gattin in der Öffentlichkeit schmücken«, schmeichelte der Kaufmann, der sich wie immer nicht von der schlechten Laune seiner Frau beeindrucken ließ. »Und mit meinen beiden Töchtern. Und meiner Mutter«, fügte er noch an.

Doch Grete winkte ab. »Geht ihr mal ohne mich alte Frau«, sagte sie, während Odile ob des empfangenen Kompliments geschmeichelt den Blick senkte.

»Dann ist es also abgemacht«, freute sich der Vater. »Sagt bitte Tinette Bescheid, sie soll einen Termin mit der Schneiderin vereinbaren. Jede von euch benötigt natürlich ein neues Kleid.«

Marie konnte nicht anders, als begeistert in die Hände zu klatschen, womit sie sich sogleich einen strafenden Blick ihrer Stiefmutter einhandelte.

»Entschuldige, Maman«, sagte sie scheinbar artig, aber mit vor Schalk blitzenden Augen.

»Nun denn«, seufzte Odile. »Wir werden größte Sorgfalt an den Tag legen müssen. Sicherlich sind dort einige Männer aus gutem Hause zugegen. Unsere Töchter sind schließlich über zwanzig, es wird höchste Zeit.«

»Du weißt aber schon, dass sie für die Hochzeit das sichere Haus verlassen werden müssen?«, ließ sich Grete zynisch vernehmen, und Odile warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

Marie und Anna schmunzelten über diesen Kommentar, der ihnen aus der Seele sprach. Die ständigen Mahnungen ihrer Stiefmutter, sie müssten bald einen passenden Kandidaten präsentieren, fanden beide ausgesprochen unangenehm. Sonntag für Sonntag schickte sie sie mit Tinette als Anstandsdame auf den Jungfernstieg, um dort zu flanieren – solche sonntäglichen Spaziergänge waren in Wirklichkeit eine Art Heiratsbörse. Hamburgs gute Familien stellten ihre Töchter zur Schau, und so manche hanseatische Dynastie war dort begründet worden.

Immerhin, dachte Anna, schien ihre Stiefmutter nicht zu ahnen, dass sie bereits einen Schwarm hatte – den sie in der Tat am Jungfernstieg kennengelernt hatte: den fünfundzwanzigjährigen Reederssohn Ferdinand de Moor. Ein hochgewachsener Kerl mit sinnlichen Lippen! Wohlweislich hatte Anna sich gehütet, Odile von dem Verehrer zu erzählen. Sie hatte Angst, dass diese ihn ihr mit ihrer übervorsichtigen Art gleich wieder madigmachen würde.

»Ich freue mich sehr auf das Ereignis«, sagte Marie in diesem Moment. »Würdet ihr mich nun bitte entschuldigen? Ich habe Frau Kolbe versprochen, dass ich sie besuchen werde.«

Der Kontakt zu der Älteren, die Marie einst in die Welt der Düfte entführt hatte, war nie abgebrochen; inzwischen verband die beiden Frauen eine langjährige und tiefe Freundschaft.

»Muss das denn sein?«, fand Odile auch hier wieder etwas auszusetzen. »Ständig bist du bei dieser Frau, die doch so viel älter ist als du.«

»Freundschaft kennt keine Altersgrenzen, Maman«, entgegnete Marie.

»Aber an der Elbchaussee ist es gefährlich«, gab Odile nicht nach.

»Also, meine Liebe«, widersprach der Vater. »Du wirst schon entschuldigen, aber die Elbchaussee ist die beste Gegend der Stadt. Die Glücklichen, die dort wohnen, sind doch bestens betucht.«

»Genau deshalb ist es ja so gefährlich dort«, sagte Odile mit bebender Stimme. »Wo viel Geld ist, ist auch viel Gesindel. Erst neulich gab es wieder eine Einbruchserie.«

»Dann ist es ja gut, dass wir da nicht leben«, entgegnete Marie.

»Wie geht es denn Gustav Kolbe?«, fragte der Vater sie nach seinem Geschäftspartner. »Ich habe schon so lange nichts mehr von ihm gehört. Die Zeit rinnt mir einfach durch die Finger.« Ausnahmsweise war nun er es, der seufzte.

Maries Miene verfinsterte sich. »Ich wollte eigentlich schon die ganze Zeit mit dir darüber sprechen, habe aber keinen günstigen Moment gefunden.«

Alarmiert sah Heinrich auf. »Was ist denn mit ihm?«

Marie schluckte. Sie hätte sich dafür ohrfeigen mögen, dass sie den Vater nicht einfach an einem der letzten Abende in seinem Arbeitszimmer aufgesucht hatte. Es ihm nun so sagen zu müssen – auf dessen Nachfrage und vor versammelter Familie und Personal – war eher unangebracht. Aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern.

»Es … es geht ihm leider gesundheitlich sehr schlecht«, brachte sie hervor.

Der Vater runzelte die Stirn. »Was fehlt ihm denn?«, fragte er besorgt.

»Ist es etwas Ansteckendes?«, wollte Odile sofort wissen.

»Ganz bestimmt nicht. Aber an was er genau leidet, weiß ich leider nicht«, entgegnete Marie. »Berta hat es mir nicht von sich aus gesagt, und ich wollte nicht nachhaken. Aber es heißt, dass … dass er nicht mehr lange leben wird.«

Der Vater wurde blass. »Das ist ja furchtbar«, murmelte er. »Gustav Kolbe ist nicht viel älter als ich!«

Er zog seine Serviette vom Schoß, warf sie auf den Tisch und erhob sich. »Ich werde ihm sofort schreiben und meine besten Genesungswünsche übermitteln. Du kannst den Brief dann gleich mitnehmen«, sagte er zu Marie. »Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich mich so lange nicht bei ihm gemeldet habe.«

»Das musst du nicht, Papa«, versuchte seine Tochter ihn zu beruhigen. »Du hast so viel in deinem Kontor zu tun.«

»Trotzdem«, beharrte Heinrich. »Guten Freunden steht man bei. Ob man nun viel zu tun hat oder nicht.«

Wenig später traf Marie vor der Kolbe-Villa an der Elbchaussee ein. Als das Dienstmädchen sie zu Berta in das Arbeitszimmer geführt hatte, erschrak sie. Nur drei Tage hatte sie die Freundin nicht gesehen, aber in dieser kurzen Zeit war Berta Kolbe beunruhigend gealtert: Um den Mund und zwischen den Augenbrauen hatten sich tiefe Falten eingegraben, Berta war blass und hatte dunkle Ringe unter den trüben Augen. Und kam es ihr nur so vor, oder durchzogen bereits erste graue Strähnen das Haar der inzwischen neununddreißigjährigen Hanseatin? Auch Bertas Kleidung machte Marie Sorgen. Die Frau, die sie einst mit ihrem Geruch verzaubert und ihr ein Parfümfläschchen geschenkt hatte, bestach für gewöhnlich durch ihre Eleganz. Marie hatte sie nie anders als perfekt zurechtgemacht erlebt, selbst wenn sie sie, so wie jetzt, zu Hause aufsuchte. Doch heute trug Berta ihre Haare offen und war mit einem alten, schwarzen, unförmigen Rock und Hausschuhen bekleidet, während sie über Aktenordnern mit Bilanzen brütete.

Als Berta sie bemerkte und nur matt lächelte, schloss Marie die Freundin besorgt in die Arme. »Ich brauche wohl nicht zu fragen, wie es dir geht«, sagte sie mitleidsvoll.

»Es ist so gut, dass du da bist«, seufzte Berta. »Mir verschwimmen die Zahlen schon vor den Augen. Eine Pause wird mir guttun, lass uns in den Salon hinübergehen.«

Wenig später schenkte sie ihrer jüngeren Freundin, die sich auf dem Ohrensessel gegenüber niedergelassen hatte, dampfenden Tee ein. Earl Grey. Maries Lieblingssorte. Die frische Bergamotte traf auf den bitteren Schwarztee und rundete ihn perfekt ab. Marie dachte immer, dass die Hersteller von Tee das gleiche feine Gespür dafür haben mussten, wie verschiedene Geschmacksrichtungen auf- und miteinander wirkten, wie die großen Parfümeure dieser Welt.

»Mein Mann hat mir gestern eröffnet, dass er mir Prokura erteilen möchte«, platzte Berta heraus, nachdem sie den ersten Schluck – wie Marie trank sie ihn stets mit Sahne und Kandiszucker – zu sich genommen hatte. »Er möchte, dass ich die Leitung der Fabrik übernehme.«

»Das ist das Beste, was der Firma passieren kann«, rief Marie im Brustton der Überzeugung und fügte hinzu: »Wenn das jemand hinbekommt, dann du.« Sie nahm die Hand der wesentlich weniger zuversichtlich wirkenden Freundin und sah sie mitfühlend an. »Ich weiß, dass du dich nicht darüber freuen kannst. Weil dich deine Angst vor dem, was kommen wird, lähmt. Aber so schrecklich das alles auch ist – es ist doch gut, dass Gustav vorsorgt. Und dass er eine derart mutige und moderne Entscheidung trifft.«

»Im Grunde hast du recht«, stimmte Berta ihr zu. »Und ich bin ja auch dankbar und stolz, einen Mann zu haben, der derart offen denkt, der die Selbstständigkeit und die Berufstätigkeit von Frauen unterstützt.« Bitter fügte sie hinzu: »Nur wird dieser wunderbare Mann eben nicht mehr lange an meiner Seite sein. Er ist meine große Liebe, Marie. Und nun werde ich ihn verlieren.« Berta kämpfte tapfer die aufsteigenden Tränen nieder.

Marie hielt ihr den Teller mit dem Gebäck hin. »Iss!«, sagte sie und suchte ein besonders dickes Schokoladenplätzchen für die Freundin heraus. »Das wird dir guttun.«

Berta lächelte mit feuchten Augen, Maries hilflose Fürsorge rührte sie.

»Du kannst Gustav einen Gefallen tun«, sagte Marie. »Es ihm leichter machen.«

Überrascht sah Berta auf. »Wie denn?«

»Indem du die Prokura annimmst und ihm versprichst, deinen Weg auf Erden auch ohne ihn weiterzugehen. Und das Werk, das ihm und seinem Vater so am Herzen lag, weiterzuführen.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, hielt Berta dagegen.

»Aber natürlich kannst du das«, ermunterte Marie sie. »Du bist doch schon lange die heimliche Seele des Unternehmens.«

Als Berta sie zweifelnd ansah, sprach Marie ihr weiter Mut zu. »Wer hat denn dafür gesorgt, dass die Note des Edlen und Feinen immer mehr unterstrichen wurde? Das warst du, Berta.«

»Sicher. Aber das allein reicht nicht aus. Für die Führung eines Unternehmens braucht es so viel mehr.«

»Und du hast doch auch so viel mehr. Denk nur an all eure treuen und langjährigen Mitarbeiter. Die wissen, was sie tun.«

»Bestimmt – aber sie sind lange nicht so aufgeschlossen wie mein Mann. Einige von ihnen werden eine Frau als Vorgesetzte nicht billigen.«

»Das müssen sie aber«, erklärte Marie bestimmt. »Auch sie haben den Letzten Willen ihres Arbeitgebers zu erfüllen.«

Als sie sah, dass es ihr nicht gelang, Berta mit diesem Argument zu überzeugen, versprach sie: »Wenn du möchtest, werde ich dich nach Kräften unterstützen. Du weißt, wie sehr mich diese Welt fasziniert. Und außerdem«, setzte sie schmunzelnd hinzu, »außerdem muss ich etwas tun, bevor ich doch noch zwangsverheiratet werde.«

Berta lächelte und nahm die Hand der Freundin. »Danke, meine Liebe«, sagte sie. »Zu wissen, dass du an meiner Seite bist, hilft mir wirklich sehr. Ich werde nachher gleich in die Fabrik fahren und den Mitarbeitern Gustavs Entschluss mitteilen. Ich will das nun nicht länger vor mir herschieben. Würdest du mich begleiten?«

»Natürlich«, verkündete Marie hastig. Es schmeichelte ihr sehr, dass Berta sie bei diesem wichtigen Schritt dabeihaben wollte.

2

Wenig später sah sich Marie sämtlichen Mitarbeitern der Seifenfabrikation Douglas gegenüber, die Berta in das geräumige Kontor einbestellt hatte. Soeben hatte sie verkündet, dass sie selbst mit sofortiger Wirkung die Geschäfte ihres Mannes führen werde, und ein überraschtes – teilweise empörtes – Raunen ging durch die Menge.

»Heißt dass, der Herr Kolbe kommt nicht mehr zurück?«, wisperte eine sehr junge rothaarige Frau betreten.

»Ich befürchte, so ist es«, antwortete Berta, und ihre Stimme drohte zu versagen.

Auf ein solches Zeichen der Schwäche schien Herr Eisenreich, der bisherige Stellvertreter ihres Gatten, nur gewartet zu haben. Der hochgewachsene, dürre Mann mit den adrett ondulierten Haaren war ganz rot im Gesicht vor Wut, als er verkündete: »Ich werde Ihre Anweisungen ganz bestimmt nicht befolgen. Eine Frau in so einer Position – lächerlich! Sie haben doch keinerlei Ahnung, da wäre die Firma Ihres Gatten schnell ruiniert.«

Auf diese Kriegserklärung hin herrschte eisiges Schweigen in dem großen Büro, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Alle Augen waren auf Berta gerichtet, Marie biss sich vor Sorge um sie auf die Unterlippe. Einen furchtbaren Augenblick lang befürchtete sie, die Freundin könne schluchzend hinausrennen.

Doch dann sprach sie mit verblüffend ruhiger Stimme: »Nun, mein Mann hat offenbar mehr Vertrauen zu mir als Sie, Herr Eisenreich. Natürlich steht es Ihnen frei, sich eine Arbeit in einer Firma zu suchen, der keine lächerliche Dame vorsteht. Ich werde Ihnen ein Empfehlungsschreiben ausstellen, das beim Finden einer neuen Anstellung gewiss nicht hinderlich sein dürfte.«

Eisenreich starrte sie fassungslos an.

»Wollen Sie sich das etwa gefallen lassen?«, fragte er in die Runde, doch als keine Reaktion der betreten schweigenden Belegschaft folgte, machte er wütend auf dem Absatz kehrt und eilte aus dem Büro.

Berta räusperte sich und richtete das Wort wieder an die anderen. »Ich will Ihnen nichts verheimlichen, denn wir müssen ab jetzt zusammenhalten: Mein Mann liegt im Sterben.«

Das Mädchen, das zuvor nach seiner Rückkehr gefragt hatte, schluchzte auf. Doch auch in den Augen gestandener Männer konnte Marie es glitzern sehen. Gustav Kolbe musste sehr beliebt bei seiner Belegschaft sein, das spürte Marie deutlich.

»Ich sehe hier viele langjährige Weggefährten«, fuhr Berta mit sanfterer Stimme fort. »Menschen, die schon unter meinem Schwiegervater gearbeitet haben und die meinem Mann seit nunmehr zehn Jahren wichtige und treue Mitarbeiter sind. Lassen Sie ihn jetzt nicht im Stich. Er braucht Sie dringender denn je. Gustav hat mich gebeten, die Firma nach seinem Tod weiterzuführen, und mir ab sofort Prokura erteilt. Glauben Sie mir, ich hätte es auch gerne anders. Was würde ich darum geben, noch Jahrzehnte an seiner Seite stehen zu können.« Ihre Stimme geriet leicht ins Wanken, aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. »Doch das Leben hat andere Pläne mit uns. Ich will alles tun, um das Andenken meines Mannes hochzuhalten und den Erfolg der Fabrik fortzusetzen. Dieses Unternehmen, an dem sein Herz so sehr hängt. Darum hat er mich gebeten, und davon werde ich mich nicht abbringen lassen.«

Zustimmendes Gemurmel folgte ihren Worten. Bertas Blick traf den der rothaarigen Frau, die ihr aufmunternd zunickte. Sie fasste neuen Mut. »Aber das kann ich nicht alleine. Dafür brauche ich Sie. Ich weiß, dass es für Sie ungewohnt sein mag, wenn eine Frau die Geschicke eines Geschäfts leitet – aber ganz so ungewöhnlich ist das auch wieder nicht, vor allem im Bereich der Schönheit und der Kosmetik. Und ich weiß, mit Ihnen zusammen kann ich es schaffen. Ohne Sie nicht. Ich werde Ihre Hilfe brauchen.«

Berta schwieg und sah langsam von einem zum anderen. »Es wird nur gemeinsam gehen. Widersacher in den eigenen Reihen können wir nicht gebrauchen. Sie müssen sich entscheiden. Und zwar jetzt. Wer sich mit einer Frau an der Spitze nicht anfreunden kann, den bitte ich, sofort diesen Raum zu verlassen. Von allen anderen erwarte ich uneingeschränkte Loyalität.«

Wieder Schweigen. Dann sagte ein alter Mann mit knarziger, aber entschlossener Stimme: »Ich bin an Ihrer Seite, Frau Kolbe. Mit all meiner Kraft. So, wie ich schon für Ihren Mann und seinen Vater alles gegeben habe.«

Berta strahlte. »Ich danke Ihnen, Herr Eujen.«

»Ich bin auch an Ihrer Seite«, ließ sich die rothaarige Frau vernehmen.

»Ich auch«, sagte eine Ältere – und dann stimmten ausnahmslos alle ein. Da war keiner, der Berta nicht die Solidarität erklärt hatte. Keiner, der den Raum verließ.

Erleichtert und stolz drückte Marie die Hand ihrer Freundin.

Der Mai hatte begonnen. Marie fand nach der Rückkehr von einem weiteren Besuch in der Seifenfabrikation Douglas ihre Großmutter im Garten hinter dem Haus am Isebekkanal vor. Die alte Dame teilte mit ihrer Enkelin die Liebe für Blütendüfte und schnupperte beschwingt an den Hyazinthen und Forsythien.

Sie freute sich augenscheinlich, als sie Marie erblickte.

»Na, meine Lütte, wie geht es deiner Berta heute?«

»Sie ist längst nicht mehr so blass. Natürlich ist sie noch bedrückt wegen ihres Mannes, aber sie strahlt wieder Eleganz aus – und auch mehr Lebensfreude. Sie will alles geben, um das Unternehmen weiter erfolgreich zu führen.«

»Was ist denn aus diesem bockigen Eisenreich geworden?«, erkundigte sich Grete, die begonnen hatte, einen Blumenkranz zu flechten.

»Ach, das war witzig«, erklärte Marie kichernd. »Gleich nach der Rede an die Belegschaft meinte Berta zu mir, dass er bestimmt bald reumütig zu Kreuze kriechen und um Entschuldigung bitten werde – und sie diese als Zeichen der den Kolbes eigenen Großzügigkeit annehmen würde. Und stell dir vor …«

»Genau das ist passiert?«, ergänzte ihre Großmutter.

»Richtig«, bestätigte Marie. »Er ist seither ein Ausbund an Loyalität Berta gegenüber!«

»Wunderbar!«, freute sich Grete.

»Sie wird heute Abend auch mit zu der Hoteleröffnung kommen. Erst wollte sie nicht. Sie meinte: ›Ich kann doch nicht feiern, während mein Gustav leidet.‹ Ich habe sie ganz einfach überzeugt, indem ich ihr geraten habe, ihren Mann zu fragen, was er dazu meint.«

»Und der hat ihr zugeraten, dorthin zu gehen«, mutmaßte die Großmutter.

»Wie ich erwartet hatte, sagte er, Berta solle unbedingt ausgehen. Er sei so stolz auf sie, meinte er, und was er doch für ein Glückspilz sei, dass sie ausgerechnet ihm das Jawort gegeben hat. Er hat sie mit Komplimenten überschüttet und Berta versichert, dass sie die schönste Frau unter der Sonne ist. Die Arme musste alle Kraft darauf verwenden, nicht in Tränen auszubrechen. Sie möchte alle Sorgen von ihm fernhalten. Und er versucht im Gegenzug tapfer, seine schrecklichen Schmerzen vor ihr zu verbergen. Er will Berta wohl nicht noch mehr ängstigen. So schaffen die beiden sich eine kleine geschützte Welt. Nicht ganz ehrlich, aber ein Ort, an den sie sich flüchten können. Dahin können sie sich zurückziehen, und dort gibt es nur sie beide. Berta meint, das möchten sie sich erhalten, solange es geht. Sie hat sich bei mir bedankt«, sagte Marie, und man merkte ihr an, dass sie ein wenig stolz war. »Dafür, dass ich sie ermahnt habe, sich nicht gehen zu lassen. Ich habe ihr gesagt, wie wichtig es für ihren Gustav ist, ihm zu zeigen, dass das Unternehmen auch nach seinem Tod noch Erfolg haben wird.«

»Du kannst wirklich stolz sein, einer älteren Frau derart geholfen zu haben«, lobte die Großmutter und setzte Marie den Blumenkranz auf. »Das zählt so viel mehr, als auf Befehl deiner Stiefmutter einen Mann zu heiraten.«

Die Enkelin senkte geschmeichelt den Blick. »Danke, Oma. Berta will nun alles daransetzen, einen perfekten Auftritt auf der Weltausstellung in Brüssel vorzubereiten. Sie möchte dort einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen«, erzählte Marie. »Das ist die Gelegenheit, ihr Unternehmen gut zu präsentieren. Sie will sogar einen Lippenstift herstellen. Mit ihrem Mann hat sie darüber schon gesprochen, er findet die Idee großartig. Er mag es, dass sie etwas völlig Neues wagt.«

»Na ja, so neu ist Lippenstift gar nicht«, wusste Maries betagte Großmutter.

»Das stimmt«, wandte Marie ein, die sich nicht nur für die Schönheitsindustrie, sondern auch für deren Geschichte interessierte und diesbezüglich ein wandelndes Lexikon war. »Schon vor über fünfundzwanzig Jahren hat ein Parfümhersteller auf der Weltausstellung in Amsterdam einen in Seidenpapier gewickelten Stift präsentiert – aus gefärbtem Rizinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs«, sprudelte sie los.

»Eben.« Und mit einem Schmunzeln gestand die Großmutter: »So fasziniert, wie du als Mädchen von den Düften warst, war ich es schon immer vom Lippenstift. Obwohl er als verrucht gilt – oder vielleicht gerade deshalb.« Und augenzwinkernd fügte sie hinzu: »Lass das bloß nicht deine Stiefmutter hören, sie hasst Lippenstift!«

»Das bleibt unser Geheimnis«, versprach Marie und hob die Hand zum Schwur. »Wie schon so vieles, was Freude bereitet.«

»Bertas Lippenstift findet bestimmt reißenden Absatz«, prophezeite die Großmutter.

»Das glaube ich auch«, meinte Marie. »Trotzdem habe ich ihr geraten, noch etwas damit zu warten.«

Grete sah sie überrascht an. »Du und Zögern, das passt aber so gar nicht.«

»Ich denke nur, dass sie den Herren etwas Zeit geben sollte, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Eine Frau an der Spitze eines Unternehmens ist für viele ja schon skandalös genug. Wenn die nun auch noch Lippenstift herstellt, wird die Empörung keine Grenzen kennen.«

»Und wie hat Berta auf deinen Vorschlag reagiert?«, fragte die alte Dame neugierig.

»Sie fand, ich habe recht. Das war auch immer der Leitspruch ihres Gatten: Entschlossen, aber überlegt zum Erfolg.«

»Den wirst du eines Tages ebenfalls haben«, sagte Grete. »Da bin ich mir ganz sicher.«

»Danke, Oma«, freute sich Marie und verriet: »Berta will zwar auf mich hören und mit der Einführung warten – aber heute Abend wird sie selbst Lippenstift auflegen. Als ersten versteckten Hinweis.«

In diesem Augenblick wurde eines der Fenster im dritten Stock des Gebäudes aufgerissen, und Anna rief heraus: »Die Kleider sind da!«

»Ich komme!«, erwiderte Marie wie elektrisiert. Dann griff sie nach der Hand ihrer Großmutter und bat: »Begleitest du mich?«

Kurz darauf führte Anna Marie und der Großmutter im Ankleidezimmer ihr neues Kleid vor.

»Wie schön es funkelt!«, rief Grete und klatschte begeistert in die Hände, während Anna sich vor dem bodentiefen Spiegel etwas unsicher betrachtete.

»Dreh dich mal«, sagte Marie.

Anna gehorchte und wirbelte um die eigene Achse.

»Ihr seid die schönsten Frauen der Welt«, befand die Großmutter.

Anna war dankbar für diese Übertreibung. Im Gegensatz zur ängstlichen Stiefmutter gelang es Grete stets, den beiden Mädchen Mut zuzusprechen.

»Das Kleid steht dir wirklich ganz wunderbar«, sagte nun Marie, die inzwischen das ihre angezogen hatte. Schimmerte Annas Kleid in zartem Grün, was einen reizvollen Kontrast zu dem leichten Rotton ihrer Haare bildete, so war das der blonden Marie hellblau – genau die Farbe ihrer Augen. Beide Kleider waren über und über mit winzigen Perlen und Spitze besetzt.

Weil sie ahnte, dass ihre Schwester sich genau darum sorgte, fügte Marie nun hinzu: »Es wird deinem Ferdinand ganz hervorragend gefallen.«

Dankbar lächelte Anna sie an. Marie wusste, dass die Jüngere, die sich bestens mit Zahlen auskannte, in Gefühlsdingen eher unsicher war. Als der kernige Ferdinand beim Spaziergang an der Alster ausgerechnet sie angesprochen hatte, war sie völlig überrascht gewesen. Sie hatte ein paar Kilo mehr auf den Rippen als Marie und befürchtete, für den Geschmack der Herren der Schöpfung zu mollig zu sein. Außerdem fehlte ihr das Wissen darüber, was die Etikette zum Gespräch mit Männern vorsah. Daher war sie erleichtert gewesen, dass Ferdinand und sie die Begeisterung für Naturwissenschaften teilten.

»Ihr könntet sogar einen Hauch Lippenstift auflegen«, schlug die Großmutter kichernd vor. »Was meint ihr? Wie Sarah Bernhardt mit ihrem kirschroten Mund.«

Doch Anna schüttete erschrocken den Kopf. »Unmöglich«, wehrte sie ab. »Maman würde uns so nie aus dem Haus lassen.«

»Aber sie muss es doch gar nicht mitbekommen«, hielt die alte Dame schmunzelnd dagegen.

»Wie das?«, fragte Anna. »Sie wird doch den ganzen Abend bei uns sein.«

»Wird sie nicht«, erklärte Grete. »Sie hat mal wieder Kopfschmerzen. Ist das nicht wunderbar?«

Marie und Anna mussten unwillkürlich über die Ironie der Großmutter lachen.

»Natürlich wäre es nicht wirklich wunderbar, wenn es in der Tat die Kopfschmerzen wären, die eure Stiefmutter ins Bett zwingen«, schob die alte Dame nach.

»Wir wissen, wie du es meinst«, sagte Anna mit einem Lächeln.

Marie wirkte plötzlich nachdenklich. »Vielleicht sollten wir das mit dem Lippenstift trotzdem lassen.«

»Weshalb?«, wunderte sich Grete. »Wegen eures Vaters? Der merkt so was gar nicht.«

»Nein, nicht wegen Papa«, sagte Marie. »Aber Berta will heute Abend doch selbst einen Hauch von Lippenstift tragen.« Und an Anna gewandt erklärte Marie: »Sie plant nämlich, ihn bald ins Douglas-Sortiment aufzunehmen.«

»Das ist ja eine großartige Idee«, rief Anna.

»Das finden Oma und ich auch«, unterstrich Marie. »Deshalb denke ich aber, dass wir ihr dieses Symbol für heute Abend lassen sollten.«

»Das ist sehr loyal von dir«, merkte die Großmutter an. »Bald werden dann ganz viele Frauen Lippenstift tragen. Und es wird normal sein. Da bin ich mir ganz sicher.«

Anna nickte langsam. »Wahrscheinlich hast du recht. Und wenn mich Ferdinand nur wegen meiner gefärbten Lippen liebt, dann hat er mich ohnehin nicht verdient.«

»Genau so ist es«, sagte Marie amüsiert. »Aber wenn es schon kein Lippenstift sein soll, dann habe ich noch etwas viel Schöneres für dich.« Sie zog ein kleines Päckchen hinter dem Rücken hervor. Es war in hellblaues Seidenpapier gewickelt und mit einer riesigen Schleife aus weißer Spitze verziert.

»Ein Geschenk? Für mich?« Anna war gerührt. Behutsam entfernte sie die Schleife und das blaue Seidenpapier. »Ein Parfüm! Oh, Marie, das muss doch ein Vermögen gekostet haben.« Begeistert küsste sie die Ältere auf die Wange. »Danke, du bist die beste Schwester der Welt.«

»Als ich Berta zum ersten Mal getroffen habe, erzählte sie mir von der Magie der Düfte«, sagte Marie.

»Das weiß ich noch gut«, meinte Anna. »Du hast mir noch am gleichen Abend davon vorgeschwärmt.«

»Damals brachte Berta mir bei, dass Düfte Erinnerungsträger sind«, fuhr Marie fort, während die Großmutter sich daranmachte, Annas hüftlange Haare auszubürsten. Ein altes Ritual zwischen ihnen. »Über den Geruch erinnern wir uns an bestimmte Situationen.«

Die Großmutter nickte wissend, offenbar in schöne Erinnerungen versunken. »Das ist auch der Grund, warum manche Menschen Liebesbriefe parfümieren. Der Empfänger soll sich, wenn er den Brief öffnet, durch den Duft an besonders schöne Momente erinnern – und die Nähe des anderen.«

»Genau«, stimmte Marie strahlend zu und wandte sich wieder an ihre Schwester. »Deshalb fand ich es auch so passend, dir das Fläschchen heute zu schenken – und wenn Maman nicht mitkommt, kannst du den Duft auch tragen.«

»Du meinst, damit Ferdinand …«, setzte Anna mit leuchtenden Augen an, und Marie bestätigte: »Genau das.«

Vorsichtig öffnete Anna das Fläschchen und murmelte den Namen des Parfüms. »Phantasma.«

»Es ist von Wolff & Sohn«, sagte Marie. »Ich finde, der Name Phantasma passt zu dir. Weil du auch so ein fantasievolles Wesen bist.«

Anna lächelte und roch an dem geöffneten Fläschchen. »Himmlisch. Der Duft erinnert mich irgendwie an das Parfüm, das dir Berta damals geschenkt hat.«

»Das sind die Veilchen«, erklärte Marie. »Ihr Duft bildet die Grundlage für beide Parfüms. Ich weiß noch, wie gut es dir damals gefallen hat.«

»O ja. Aber das hier gefällt mir noch besser.« Wieder schnupperte sie an dem Parfüm und schloss die Augen.

»Erinnerst du dich noch an das Versprechen, das wir uns als Kinder gegeben haben?«, fragte Marie verträumt. »Als ich von meiner ersten Begegnung mit Berta wiederkam?«

»Natürlich. Du warst noch ganz verzaubert vom Besuch in der Parfümerie und wolltest ein eigenes Geschäft eröffnen.«

»Ich denke in letzter Zeit immer öfter daran«, offenbarte Marie.

»Aber das waren doch Mädchenträume.«

»Träume sind dazu da, sie wahr werden zu lassen. Berta tut das auch. Mit ihrem Lippenstift.«

»Ja«, wiederholte Anna nachdenklich. »Berta tut das auch.«

Und leise, ganz leise, sprach sie die Worte ihrer Schwester nach: »Träume sind dazu da, sie wahr werden zu lassen.«

»Ich bin Realistin, deshalb glaube ich an Wunder«, scherzte die Großmutter. »Und um den Wundern auf die Sprünge zu helfen, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um euch zu helfen. Ganz gleich, welchen Traum ihr irgendwann verfolgen möchtet.«

Marie und Anna sahen sie dankbar an.

3

Das Atlantic erstrahlte in voller Pracht, und die Carstens-Schwestern sahen sich mit großen Augen um, als sie am 2. Mai an der Seite ihres Vaters das Hotel betraten.

»Das ist ja wie in einem Schloss«, flüsterte Marie angesichts der Ballsäle mit ihren hohen, stuckverzierten Decken.

Anna war besonders vom Sommergarten angetan, der Entspannung bei Brunnengeplätscher und Musik bot. Doch gleich darauf hatte sie keine Augen mehr für die Schönheiten des Neubaus, der als Grandhotel für Erste-Klasse-Passagiere großer Luxusliner aus Übersee errichtet worden war. Sie hatte Ferdinand de Moor in der Menge ausfindig gemacht, der sogleich mit einem charmanten Lächeln auf sie zueilte. Der Anblick des muskulösen Hünen ließ ihren Puls rasen. Hastig sah Anna sich nach ihrem Vater um. Sie hatte auch ihm noch nichts von ihrem Verehrer erzählt. Doch zu ihrer Erleichterung war Heinrich Carstens in ein Gespräch mit einem seiner Geschäftspartner vertieft und schenkte seinen Töchtern keine Beachtung. Inzwischen war Ferdinand de Moor bei den Schwestern angekommen und begrüßte sie mit einem formvollendeten Handkuss – Anna hatte ihre Hand in Erwartung ebenjener Geste zuvor mit dem Parfüm beträufelt, das ihre Schwester ihr geschenkt hatte.

»Sie sehen bezaubernd aus, meine Damen«, schmeichelte der Reederssohn, der dabei allerdings nur Anna ansah. »Darf ich Sie zu einem Spaziergang in den Sommergarten entführen?«

Strahlend willigte Anna ein.

Marie, die den beiden gezwungenermaßen folgte, fühlte sich zwar etwas wie das fünfte Rad am Wagen, das störte sie aber nur wenig. So hatte sie Zeit, sich unter Hamburgs feiner Gesellschaft umzusehen und auch ein wenig nach Berta Ausschau zu halten. Sie konnte die Freundin nicht entdecken. Stattdessen wurde sie auf zwei elegante Damen aufmerksam, die sich gerade den Mund über eine Person zerrissen, die offenbar soeben den Saal betreten hatte.

»Dass die es wagt hierherzukommen. Wo es ihrem Mann doch so schlecht geht«, empörte sich die eine, eine Matrone mit gelbem Haar.

»Sie sollte wirklich an seiner Seite weilen. Statt sich um ihn zu kümmern, amüsiert sie sich und lässt ihn einsam und allein auf dem Sterbebett liegen«, pflichtete die andere, eine dürre Brünette, ihr bei.

Marie folgte ihrem Blick und sah Berta Kolbe. Wut schnürte ihr die Kehle zu, und sie spürte ihr Herz gegen ihre Brust hämmern. Widerlich, diese Tratscherei. Und wie unrecht sie Berta taten! Das konnte sie nicht einfach so stehen lassen.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle«, sagte sie kalt. »Maria Carstens. Eine enge Freundin von Berta Kolbe. Der Frau, über die Sie sich soeben das Maul zerrissen haben.«

»Na, erlauben Sie mal«, sagte die Größere und Dünnere.

Der Kleineren, Untersetzteren schien die Situation jedoch durchaus peinlich zu sein. »Wir haben doch nur …«, begann sie, aber Marie ließ sie nicht zu Wort kommen. »Genau! Sie haben doch nur. Ja. Sie haben doch nur hinter ihrem Rücken über sie hergezogen. Über eine Frau, die es wirklich nicht leicht hat und ihr Schicksal mit bewundernswerter Größe meistert. Aber Sie müssen über sie lästern! So etwas tut eine Hanseatin nicht. Übrigens: Berta Kolbe ist auf ausdrücklichen Wunsch ihres Mannes hier. Damit sie die Fahne des Unternehmens hochhält. Aber was verstehen Sie davon? Ihr einziger Zugang zur Geschäftswelt ist ja, das Geld Ihrer Gatten zu verplempern.«

»Komm, Augustine, das müssen wir uns nicht gefallen lassen«, empörte sich die Dünne und zog ihre Freundin, die Marie noch einen entschuldigenden Blick zuwarf, mit sich fort.

Hinter Marie klatschte jemand anerkennend in die Hände. Sie fuhr herum und blickte in die wasserblauen Augen eines etwa vierzigjährigen Mannes. Er hatte dunkelblonde, etwas zu lange Haare und sah sie lächelnd an. »Bravo«, sagte er. »Denen haben Sie es aber gegeben.«