Sturm über der Villa am Elbstrand - Charlotte Jacobi - E-Book
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Sturm über der Villa am Elbstrand E-Book

Charlotte Jacobi

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Beschreibung

Leidenschaft und Mut in Zeiten größter Verzweiflung Der Zweite Weltkrieg hat auch die Nielands und ihre engen Vertrauten nicht verschont. Noch viele Jahre später spürt die Familie die erlittenen Verluste. Die angehende Journalistin Isabel, Enkelin von Sofie Timmlein und Edith Nieland, macht bei ihren Recherchen zudem eine Entdeckung, die weitreichende Folgen für die Familie hat. Unterdessen wird Isabels Cousine Rosa Timmlein durch den Bau der Mauer von der Familie getrennt. Als über Hamburg eine verheerende Sturmflut hereinbricht, ist ein weiteres Mal der starke Zusammenhalt der Familien Nieland und Timmlein gefragt.   In dieser ergreifenden Familiensaga erzählt Charlotte Jacobi auf tief bewegende Art und Weise von einer Hamburger Reedereidynastie zwischen Krieg, Geheimnissen und großen Gefühlen. Bei »Sturm über der Villa am Elbstrand« handelt es sich um den abschließenden Band der Elbstrand-Saga nach dem erfolgreichen ersten Band »Die Villa am Elbstrand« und »Sehnsucht nach der Villa am Elbstrand«.   Charlotte Jacobi ist das gemeinsame Pseudonym des Autorenduos Eva-Maria Bast und Jørn Precht. Die Überlinger Journalistin Eva-Maria Bast ist Leiterin der Bast Medien GmbH, der Stuttgarter Hochschulprofessor Jørn Precht ist Drehbuchautor für Kino- und Fernsehproduktionen. Beide haben zahlreiche Sachbücher und zeitgeschichtliche Romane veröffentlicht und Preise gewonnen.

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Seitenzahl: 555

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© Piper Verlag GmbH, München 2020Redaktion: Kerstin von DobschützCovergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesignunter Verwendung von shutterstock.com undRichard Jenkins Photography; Helmut Seger und Lukas Hoffmann

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Übersicht der wichtigsten Personen

TEIL I

1960

1 – Diesmal durfte …

2 – Wann immer Leni …

3 – »He, jetzt mal …

4 – Als Rosa Felix …

5 – Am späten Abend …

6 – Am 25. Juni …

7 – Die Mannschaft …

8 – Als Timon am …

9 – »Das dauert!« …

10 – Felix Lüttgens hatte …

11 – Leni Schwarz …

TEIL II

1961

12 – Frühmorgens, bevor …

13 – Isabel hatte Rudolf …

14 – Als der Krankenwagen …

15 – Als Timon am …

16 – Bei Nachteinbruch …

17 – »Vielleicht war …

18 – Acht Überlebende …

19 – Rosa hatte sich …

20 – Im vorigen Jahr …

21 – Auf der Taxifahrt …

22 – Am Sonnabend …

23 – Am Sonntagnachmittag …

24 – Sofie Timmlein …

25 – Rosa hatte sich …

26 – Als Dietmar …

27 – Als Sofie am …

28 – Wie Felix es …

Teil III

Frühjahr 1962

29 – »Es ist so …

30 – »Ich lass aber …

31 – Sofie Timmlein …

32 – Der Scheibenwischer …

33 – Timon und Beryl …

34 – Konrad war nach …

35 – CRACK! Ein lautes …

36 – Wie durch ein …

37 – Helmut Schmidt …

38 – In der Apotheke …

39 – Ein spitzer Frauenschrei …

40 – Am Montag um …

41 – Eine Woche nach …

42 – Am Donnerstag …

Teil IV

Herbst/Winter 1962

43 – Es war mal …

44 – Es war für …

45 – Isabel liebte die …

46 – Für Leni war …

47 – Als Frau Claußen …

48 – Rosa Timmlein …

49 – Felix hatte in …

50 – Durch das Wissen …

Epilog 1964

Danksagung

Literaturempfehlungen und Quellen

Übersicht der wichtigsten Personen

Familie Brix

Sofie Luise Timmlein,

geborene Brix (* 30. 03. 1896 in Flensburg), Zahnärztin

Wilhelm »Willy« Brix

alias Håkon William Heger (* 25. 01. 1895 in Rüde bei Glücksburg), Sofies Bruder, Geschäftsführer der Reederei Nieland

Maximilian »Max« Timmlein

(* 27. 08. 1895 in Poppenbüttel), Sofies Ehemann, Majordomus der Villa Nieland und Spielzeughersteller

Hildegard »Hilde« Torres

, geborene Timmlein (* 08. 05. 1921 in Hamburg Altona), Sofies älteste (uneheliche) Tochter, Modeschöpferin

Julius »Juli« Timmlein

(* 28. 02. 1922 in Hamburg), Max’ und Sofies Sohn, Elfies Zwillingsbruder, Chirurg

Sally Timmlein,

geborene Beddingfield (* 07. 05. 1922 in Cleveland, Ohio), Apothekerin, Julis Ehefrau

Beryl Madison Timmlein

(* 08. 08. 1943 in Cleveland, Ohio), Julis und Sallys Tochter

Elfriede »Elfie« Timmlein

(* 28. 02. 1922 in Hamburg), Julis Zwillingsschwester, Köchin

Rosa Sophia Timmlein (* 24. 01. 1944),

Elfies uneheliche Tochter, Auszubildende zur Kellnerin

Konrad Heß

(* 19. 05. 1924 in Nürnberg), Zahnarzt

Johannes »Jan« Lüttgens

(* 14. 08. 1911 in Hamburg), Musiker und Restaurantbesitzer, Elfies Dauerverlobter

Felix Lüttgens

(* 19. 12. 1941 in Hamburg), sein Neffe, Theatermusiker

 

Familie Nieland

Anna Christine Nieland

(* 08. 04. 1897 in Hamburg), Modehausbesitzerin und Erbin der Reederei, Sofies beste Freundin

Burkhard Nieland

(* 08. 02. 1892 in Hiddensee), ihr Bruder, Ex-Gauleiter, Ex-Lagerleiter

Edith Henriette Torres,

geborene Nieland (* 28. 01. 1896 in Hamburg), Schwester von Burkhard und Anna, Journalistin

Ramiro Marco Torres

(* 28. 02. 1891 in Viña del Mar, Chile), Ediths Ehemann, Journalist im Ruhestand

José Cristiano Torres

(* 19. 07. 1919 in Viña del Mar, Chile), Sohn von Edith und Ramiro Torres, Hildes Ehemann, Kunstprofessor

Isabel Torres

(* 28. 07. 1943 in Hamburg), angehende Journalistin, Tochter von Hilde Timmlein und José Torres

Franz Thomsen

(* 20. 11. 1895 in Nieby), Modehausbesitzer, Annas zweiter Ehemann

Kasimir Thomsen

(* 17. 01. 1939 in Hamburg), Franz’ Sohn aus erster Ehe, Ex-Polizist, Sicherheitsexperte

Helene »Leni« Henriette Schwarz,

geborene Meseritz (* 18. 02. 1917 in Hamburg), Tochter von Anna und Gideon Meseritz

Manfred »Moshe« Schwarz

(* 12. 04. 1917 in Stuttgart), Rechtsanwalt, Lenis Mann

Timon David Schwarz

(* 25. 06. 1941 in London), Sohn Lenis und Moshes, Abiturient

Stella Gudrun Schwarz

(* 17. 01. 1957 in Hamburg), Tochter Lenis und Moshes

 

Sonstige

Alexander »Alex« Jensen

(* 27. 10. 1943 in Flensburg), Nachwuchsjournalist

Albin Wessels

(* 11. 08. 1910 in Altona), Autohausbesitzer, Partner von Willy Brix

Ursula »Ursel« Spahrbier

, geb. Mankiewicz (* 04. 05. 1897 in Hamburg), Haushälterin der Villa Nieland

Xenia Queck

(* 21. 12. 1914 in Altona), Ursels Nachfolgerin

Sharif Dabbagh

(* 16. 02. 1934 in Agadir), Hafenarbeiter aus Marokko

Jesper Wedderkamp

(* 30. 05. 1890 in Süderbrarup), pensionierter Seemann, Witwer, Sharifs Vermieter

Marlies Schlottmann

(* 26. 08. 1945 auf Waltershof), Auszubildende zur Arzthelferin

Ewald Becker

(* 25. 05. 1941 in Soltau), angehender Bundeswehrpilot

Helmut Heinrich Waldemar Schmidt

(* 23. 12. 1918 in Hamburg-Barmbek), Senator der Hamburger Polizeibehörde

Astrid Kirchherr

, Fotokünstlerin (* 20. 05. 1938 in Hamburg)

Stuart Sutcliffe

, Maler und Musiker (* 23. 06. 1940 in Edinburgh, Schottland)

Dietmar Koschitza

(* 31. 01. 1914 in Berlin), Hoteldirektor

Margot Koschitza

(* 21. 03. 1920 in Berlin), seine Schwester

TEIL I

1960

1 – Diesmal durfte …

Diesmal durfte nicht geschwiegen werden! Schon einmal waren zu viele in der deutschen Bevölkerung stumm geblieben, als mutige Worte und Taten notwendig gewesen wären. Doch jetzt stand sogar noch mehr auf dem Spiel: Es ging um nicht weniger als die drohende Vernichtung der gesamten Menschheit! Sofie Timmlein eilte mit einem Flugblatt in der Hand die Treppen der Villa Nieland hinauf. Die resolute Vierundsechzigjährige war auf der Suche nach der Besitzerin des Elbschlösschens – ihrer besten Freundin Anna Nieland. Sie fand die modebewusste Dame wie so häufig im Türmchen ihrer Villa. Von dort genoss sie einmal mehr die schöne Aussicht auf die Elbe und die Einfahrt zum Hamburger Hafen. Als Sofie die Stiege in den kleinen Turm erklomm, spielte der Frühlingswind mit ihren langen, von nur wenigen weißen Strähnen durchzogenen, blonden Haaren – wie einst ihre Mutter ergraute auch sie jetzt im Alter kaum. Anna Nieland, deren dreiundsechzigsten Geburtstag sie vor zwei Tagen gefeiert hatten, befand sich in Gesellschaft von Sofies Enkeltochter Isabel. Das sechzehnjährige Mädchen war wie die Patriarchin sehr exquisit gekleidet und trug ihr dunkles Haar ebenso modern geschnitten: kinnlang, mit einer in die Stirn fallenden Welle, am Oberkopf stark toupiert und über den Ohren in je einer Locke herabfallend. Sie hatten beide stark geschminkte Augen, geradezu katzenartig.

»Sofie, Liebes, was ist passiert?«, fragte Anna, als sie ihre Freundin erblickte. »Du bist ja ganz aufgeregt.«

Sofie deutete auf das Flugblatt in ihrer Hand. »Unsere Freundin Helga Stolle von den Atomwaffengegnern hat das geschickt. Am Karfreitag soll es von Hamburg-Harburg zu einem viertägigen Protestmarsch losgehen«, fasste Sofie die wichtigsten Eckdaten des Schreibens zusammen. »Ziel ist der Raketenübungsplatz Bergen-Hohne.«

»Ah, gute Idee. An diesem schrecklichen Ort kann man gar nicht genug demonstrieren«, entgegnete Anna überzeugt. In der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen waren von der westdeutschen Bundeswehr im Dezember 1959 die ersten Träger für Atomraketen erprobt worden. Anna und Sofie hatten im Zweiten Weltkrieg ihnen liebe Menschen verloren. Daher waren sie besonders entsetzt darüber, dass – nach der umstrittenen Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vor knapp fünf Jahren – nun sogar diese furchtbaren Massenvernichtungswaffen auf deutschem Boden getestet wurden. Anna streckte die Hand nach dem Flugblatt aus und begann es zu studieren: Die Gruppe wollte durch den geplanten Ostermarsch zu jenem Raketenübungsplatz Bergen-Hohne öffentlich ihr entschiedenes Nein zu atomaren Waffen bekennen.

»Ihr Widerstand richtet sich gegen atomare Kampfmittel jeder Art und jeder Nation«, las die Villenerbin vor, und Isabel, Sofies Enkelin, lauschte aufmerksam. »Sie knüpfen mit dem Protest an den großen englischen Ostermarsch an. Der findet seit 1958 jährlich statt – mit jeweils Tausenden von Teilnehmern.«

Helga Stolle und Hans-Konrad Tempel, zwei mit Annas Tochter befreundete Pazifisten und Quäker, hatten die Protestform der Ostermärsche von England auch nach Deutschland gebracht.

»Na, was meinst du?«, fragte Sofie, die mit ihrer Familie seit fast vier Jahrzehnten in der ausgebauten Wohnung über dem Wagenschuppen neben der Elbstrandvilla lebte. Sie strahlte Entschlossenheit aus. »Finden wir ihre Gründe stichhaltig genug, dass auch wir zwei alten Krähen mitmarschieren sollten?«

»Aber unbedingt!«, sagte Anna im Brustton der Überzeugung. Sie war froh gewesen, als ihre Freundin neulich verkündet hatte, dass es angesichts ihres Alters allmählich an der Zeit sei, ihre eigene Zahnarztpraxis baldmöglichst aufzugeben – und Anna noch mehr bei deren politischer Arbeit zu helfen. Einen geeigneten Nachfolger für Sofies Praxis zu finden, würde allerdings gewiss nicht einfach werden. Schließlich war die dreifache Mutter und dreifache Großmutter eine der beliebtesten Zahnärztinnen Hamburgs. Da würden die Patienten nicht jeden akzeptieren.

Auch Anna trat in letzter Zeit beruflich kürzer, überließ ihr Modehaus zunehmend ihrem zweiten Ehemann Franz und Sofies Tochter, Modeschöpferin Hilde. Die beiden weilten derzeit mit Hildes Mann, dem Kunstprofessor José Torres, in Paris. Annas politisches Engagement wurde jetzt im Alter immer breiter gefächert. Beispielsweise bemühte sie sich leidenschaftlich um Wiedergutmachung für Opfer des Dritten Reiches, dem 1940 ihr erster Mann Gideon zum Opfer gefallen war. Doch schon zum Ende des Ersten Weltkrieges hatten Anna und Sofie für das Frauenwahlrecht sowie ein Ende des Krieges demonstriert. Und im April 1958 waren die beiden nunmehr alten Damen bei Kundgebungen gegen die von der Adenauer-Regierung geplante nukleare Aufrüstung dabei gewesen.

Die junge Isabel, die sich ein wenig um ihre Großmutter Sofie und deren Freundin sorgte, nahm Anna das Flugblatt ab, auf dem die Etappen des geplanten – immerhin knapp hundert Kilometer langen – Ostermarsches von Hamburg-Harburg nach Bergen genauer aufgeführt waren. Am Karfreitag wollten die Demonstranten die ersten dreißig Kilometer zu Fuß bis nach Sprötze in der Nordheide zurücklegen, am Samstag planten sie, Schneverdingen zu erreichen, am Ostersonntag Soltau, und am Montag schließlich sollte es zur Abschlusskundgebung in Bergen gehen.

»Für Übernachtungsmöglichkeiten wird auf Wunsch gesorgt«, las Isabel mit gefurchter Stirn vor. »Wollt ihr euch das wirklich antun? Ich habe gehört, dass man die Teilnehmer teilweise in Turnhallen unterbringt.«

»Das überleben wir schon«, beruhigte Anna sie schmunzelnd. »Außerdem habe ich in Soltau gute Freunde, also werden wir am letzten Abend wieder in weichen Daunen schlafen. Keine Angst, Bellchen.«

Sofie strich ihrer Enkeltochter liebevoll über das Haar. Die belesene, wortgewandte und fleißige junge Frau war so intelligent, dass sie am Neusprachlichen Gymnasium für Mädchen in Groß Flottbek bereits zweimal eine Klasse hatte überspringen dürfen. Schon diesen Sommer würde sie das Abitur ablegen. Nebenbei half sie in der Redaktion des Hamburger Abendblatt aus. Ein dort angestellter Freund von Anna Nielands verstorbenem Cousin hatte ihr diese Stelle besorgt und betont: »Noch nie hat ein so junges Mädchen bei uns mitgearbeitet. Und noch nie ein so kluges und fleißiges.«

Isabel war stolz auf diese Arbeit. Das Abendblatt war die erste Tageszeitung der jungen Bundesrepublik, die eine »deutsche« Lizenz erhalten hatte und nicht von den alliierten Stellen lizenziert wurde. Seit der Gründung wurde der Wahlspruch verwendet: »Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen« – ein Zitat des Hamburger Schriftstellers Gorch Fock. Isabels Großonkel Willy hatte jenen Heimatdichter 1916 auf dem Kriegsschiff Wiesbaden noch persönlich kennengelernt. Doch Gorch Fock war in der Skagerrak-Schlacht gefallen – wie fast alle Kameraden Willys. Nur ein Oberheizer hatte außer ihm überlebt. Und auch Annas Vater, Gründer der Reederei, war in diesem größten Seegefecht aller Zeiten gestorben. Krieg – nein, Krieg durfte es nie wieder geben auf deutschem Boden.

»Ich möchte euch begleiten«, verkündete die Sechzehnjährige nun. »Ich bin in einer Bombennacht geboren worden, ich will nicht in einer sterben. Jeder verantwortungsbewusste Staatsbürger mit Weitblick sollte bei diesem Protest mitmachen.«

Dies war nicht der einzige Grund, dass Isabel an dem Marsch teilnehmen wollte. Auch wenn man es den zwei schönen Damen nur sehr bedingt ansah, so hatten sie ja doch ihr siebtes Lebensjahrzehnt bereits begonnen – und die junge Frau wollte ein wenig auf die beiden aufpassen.

»Wir müssen uns aber darauf einstellen, beschimpft zu werden«, warnte ihre Großmutter Sofie. »›Naive Spinner‹ wird sicher noch die harmloseste Bezeichnung für uns sein.«

»Dann lasst uns die schönsten Kreationen anziehen, die Hildchen für uns geschaffen hat«, schlug Anna vor. »Zeigen wir denen, dass Frauen von Welt mit Köpfchen erkannt haben, was wichtig ist!«

»Was ist denn wichtig? Elegante Kleidung?«, scherzte Sofie. »Also ich werde lieber was Zweckmäßiges anziehen.«

In diesem Moment kam Annas Tochter Helene zu ihnen. »Mutti, Fräulein Queck ist da«, sagte die Dreiundvierzigjährige mit den sanft gewellten, dunklen Haaren. »Jetzt wird es ernst.«

Die Villenbesitzerin geriet sofort in helle Aufregung. »Schon? Ich wollte doch noch im Salon aufdecken lassen. Sofie, Isabel, entschuldigt mich.« Mit diesen Worten folgte sie ihrer Tochter nach unten.

»Wer ist denn Fräulein Queck?«, wandte sich Isabel verwirrt an ihre Großmutter.

»Eine Bewerberin für die Stelle der Haushälterin«, erklärte Sofie. »Unsere Ursel will uns doch verlassen. Ihr Sohn ist wieder Vater geworden. Und da ihn seine Frau in der Praxis unterstützt, möchte Ursel zu ihnen ziehen, um mit den Kindern zu helfen. Die bisherigen Bewerberinnen für Ursels Nachfolge hier im Haus waren allesamt einigermaßen schrecklich. Aber diese Xenia Queck hat schon in den besten Häusern gedient. Anna und ihre Leni sind so aufgeregt, als würden sie sich bei der Haushälterin bewerben und nicht umgekehrt.«

***

Xenia Queck war laut ihrer Bewerbungsunterlagen zwar erst fünfundvierzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich älter und äußerst distinguiert. Man konnte sie sich durchaus auch als Herrin eines der hochherrschaftlichen Anwesen vorstellen, auf denen sie bisher als Hausdame gedient hatte. Leni erinnerte die hagere, klassisch gekleidete Frau ein wenig an ihre Urgroßmutter Gudrun Nieland. Blieb zu hoffen, dass auch die Bewerberin unter ihrer harten Schale einen ebenso liberalen und liebevollen Kern hatte wie die vor vier Jahren verstorbene Hanseatin. Leni stellte fest, dass ihre Mutter trotz ihres Alters nervös wie ein Backfisch war im Angesicht der streng dreinblickenden Dame, die ihnen im Eingangsbereich der Villa gegenüberstand.

Die zweistöckige Halle mit dem edlen Terrazzoboden, die sich vom Haupteingang bis zur Terrasse hinzog und von der die oberen Gemächer auf eine Galerie abgingen, schien die erfahrene Hausdame wenig zu beeindrucken, zumindest schenkte sie ihr keinerlei nach außen sichtbare Beachtung. Sie hatte eben auch schon in größeren Villen gearbeitet.

»Ich habe es Ihnen ja bereits schriftlich mitgeteilt, dass ich erst ab August zur Verfügung stünde, sofern wir uns einig werden. Aber so ein neues Arrangement will ja wohl geprüft sein«, erklärte Fräulein Queck, und Leni fand, dass ihre gestelzte Ausdrucksweise bestens zu ihrem Äußeren passte.

»So lange hält unsere Ursel bestimmt noch durch«, meinte Anna. »Sie geht ohnehin mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Die Gute hat hier vor fast fünfzig Jahren als Stubenmädchen angefangen, sie hängt sehr an dem Haus – und seinen Bewohnern. Aber ihr Sohn kann Hilfe gebrauchen …«

Obwohl Annas Tonfall erkennen ließ, dass sie noch etwas mehr über Ursel plaudern wollte, zeigte Fräulein Queck deutlich, wie wenig sie biografische Details ihrer Vorgängerin interessierten, indem sie rasch sagte: »Gewiss. Wären Sie denn so freundlich, mir das potenzielle Wirkungsfeld einmal zu zeigen?«

»Selbstverständlich«, antwortete Anna etwas zu schnell.

Ihre Tochter musste schmunzeln, da die Villenbesitzerin nun auf dem Weg durch die Halle für ihr Anwesen warb wie eine Immobilienmaklerin. »Das Gebäude ist 1904 durch das Architekturbüro Lundt & Kallmorgen erbaut worden. Es hat eine Wohnfläche von tausendsechshundert Quadratmetern und vierzehn Badezimmer.« Sie öffnete eine der edlen Holztüren. »Dies ist unsere Bibliothek.«

Jeden anderen, so dachte Leni, hätten die umfangreiche Büchersammlung in den raumhohen Eichenregalen, der dazu passende Parkettboden und der schöne Jugendstil-Stuck an der Decke beeindruckt. Doch Fräulein Queck nickte nur gleichgültig, als Anna erklärte: »Die meisten Bände hat noch meine Schwester Edith ausgesucht. Sie war schon immer eine Leseratte, lebt allerdings seit vielen Jahren als Journalistin in Portugal.«

Auch der Salon mit den edlen Empire-Möbeln, der monumentalen Kassettendecke, den schönen Ölgemälden von Segelschiffen und den wertvollen Gobelins an den Wänden sowie dem atemberaubenden Elbblick rang der Bewerberin keinerlei Begeisterung ab. Allerdings zeigte sie, dass sie sehr wohl über ihre mögliche neue Arbeitgeberfamilie recherchiert hatte: Sie erkannte Reedereigründer Christian Nieland und dessen Mutter auf zwei Gemälden über dem offenen Kamin.

»Das dürften wohl Ihre werte Frau Großmutter und Ihr Herr Vater sein?«, stellte sie fest.

Anna sah mit ernster Miene zu dem würdevoll wirkenden Herrn in Öl auf. »Ja, meiner Großmutter Gudrun und ihm verdanken wir alles. Leider ist er 1916 in der Skagerrak-Schlacht gefallen.«

»Diese schlimmen Kriege haben so viele Familien zerrissen«, kommentierte Fräulein Queck bitter, und Leni fragte sich, ob sie damit nur auf die Familientragödien früherer Arbeitgeber anspielte oder selbst Verluste erlitten hatte.

Die Reaktion auf die beiden Porträts hatte Leni die gestrenge Dame etwas sympathischer gemacht, hatte sie doch eine Spur von seelischen Verletzungen durchblinzeln lassen, und Leni war neugierig geworden, mehr über die nach außen so kühle Bewerberin zu erfahren.

2 – Wann immer Leni …

Wann immer Leni Schwarz Neunankömmlingen ihr Zuhause zeigte, war sie selbst wieder von der Größe und Schönheit des Grundstücks beeindruckt – und natürlich von der Aussicht über den Fluss, auf das andere Ufer und den Hafen. So erging es ihr auch jetzt, da sie mit ihrer Mutter und Fräulein Queck auf die Terrasse der Villa hinaustrat.

Die gestrenge Dame sah an der Elbseite des Gebäudes hinauf. »Eine seltsame Mischung von Baustilen«, kommentierte sie. »Bei den Gründerzeit- und Jugendstilelementen auf der Straßenseite rechnet man nicht mit wilhelminischer Opulenz und neoklassizistischer Säulenherrlichkeit hier auf der Südseite.«

Leni musste mühevoll ein Lachen unterdrücken. Wilhelminische Opulenz, Säulenherrlichkeit – treffende Formulierungen, aber sie wirkten für das Vokabular einer Haushälterin etwas hochgestochen. Auch passten sie so gar nicht zu dem bunt gemischten Häuflein Menschen, das in diesen schönen Mauern lebte.

»Und die Reederei ist in der Innenstadt?«, vergewisserte sich die Dame.

Anna nickte. »Hier müssen die Geschäfte draußen bleiben.«

»Beatus ille qui procul negotiis«, zitierte die Bewerberin, und die Villenbewohnerinnen sahen sie verwundert an, woraufhin sie übersetzte: »Glücklich ist derjenige, der sich fern der Geschäfte erholen darf. Horaz.«

»Ach so, ja da hat er recht, der alte Römer«, stimmte Anna zu.

Zu Füßen das Wasser der Elbe, aus der Höhe ein unverstellter Blick – kein Wunder, dass sich im 18. Jahrhundert die großen Kaufleute und Reeder in dieser bevorzugten Südhanglage ihre opulenten Wohnsitze inmitten kunstvoll angelegter Parks bauen ließen. Hier stellte das Hamburger Großbürgertum den Weltrang der Hansestadt zur Schau – obwohl die Elbchaussee damals noch zum preußischen Altona gehörte. Erst das 1937 von den Nationalsozialisten erlassene Großhamburg-Gesetz hatte auch Altona in die Hansestadt eingemeindet. Zerfressen von Neid, Hass und ihrer perversen Ideologie, hatten die Nazis in der Folge alle jüdischen Familien hier an der Elbchaussee enteignet und vertrieben. Lenis Vater Gideon war ebenfalls Jude gewesen und hatte sich sicherheitshalber von Anna scheiden lassen, um ihre Familie und deren Besitz nicht zu gefährden. Leni selbst war als Halbjüdin schließlich mit ihrem Vater und ihrem damaligen Verlobten Moshe Schwarz aus Deutschland geflohen.

In diesem Augenblick hörten sie Männerrufe, und Fräulein Queck sah mit erhobenen Augenbrauen zur Remise, die sich auf der westlichen Seite der Villa befand. Vor dem kleinen Gebäude spielte ein immer noch sportlich wirkender älterer Mann mit einem etwa Achtzehnjährigen Fußball.

»Das ist mein Sohn Timon mit Willy Heger, dem Geschäftsführer unserer Reederei«, erklärte Leni.

Sofies Bruder Willy, der sich im Laufe der Jahre vom Chauffeur bis an die Spitze von Annas Familienunternehmen emporgearbeitet und in aller Welt hervorragende Kontakte geknüpft hatte, war bereits Mitte sechzig, gab sich aber immer noch gern jugendlich. Timon war ein aufgeweckter junger Bursche mit widerspenstigem dunklem Haar.

»Die Herren werden Sie noch kennenlernen«, verkündete Anna. »Wie Sie sehen, gibt es hier genug Platz für Freizeitaktivitäten. Hinter den Bäumen da drüben ist ein Tennisplatz.«

 

»Mein Mann und ich sind 1945 mit unserem damals noch ganz kleinen Sohn aus London hierher zurückgekehrt. Da waren wir heilfroh, dass die Gegend noch intakt war«, erzählte Leni der sich umsehenden Bewerberin.

An der gegenüberliegenden Uferseite hatte sich im Krieg ein Rüstungsbetrieb an den anderen gereiht, und diese waren immer wieder Ziel alliierter Bombenangriffe gewesen. Die vergleichsweise dünn besiedelten Elbvororte auf der Seite der Villa waren jedoch von Zerstörungen weitestgehend verschont geblieben.

Fräulein Queck nickte und gab nun erstmals etwas aus ihrem bisherigen Arbeitsleben preis: »Nicht alle meine früheren Herrschaften hatten so viel Glück wie Sie. Viele der schönsten Villen und Landhäuser hier an der Elbchaussee wurden von den Briten besetzt. Die Offiziere und Mannschaften hielten wohl nicht viel von der sprichwörtlichen ›feinen englischen Art‹ – sie haben teilweise gehaust wie die Vandalen. Was nicht kaputtging, wurde beschmiert oder gestohlen.«

»Oh, mit dem britischen Militär hatten auch wir einmal unsere liebe Not«, gab Anna zu. »Aber meine Tochter Helene hier hat uns gerettet.«

Zum ersten Mal sah Fräulein Queck sie mit wirklichem Interesse, ja, fast mit Neugier, an. »Wie das?«, fragte sie.

»In der Remise dort vorne lebt die Familie unseres Hausmeisters Max Timmlein«, holte Leni aus.

»Seine Frau Sofie ist meine beste Freundin«, ergänzte Anna. »Ihre älteste Tochter Hilde ist ein Modegenie – und mein Patenkind. Die wollte …«

»Sofie Timmlein?«, unterbrach Xenia Queck sie verblüfft. »So heißt meine Zahnärztin auch.«

»Genau, das ist sie. Doktor Sofie Timmlein«, bestätigte Anna.

Leni bemerkte, wie verwundert die Bewerberin nun dreinblickte. Wahrscheinlich fand sie die Vorstellung seltsam, dass die beliebte Zahnärztin mit einem Hausmeister über der Garage dieser Villa lebte.

»Auf jeden Fall wollte ihre Tochter Hilde im Mai 1945 hier im Garten meinen Neffen José heiraten«, fuhr Anna fort. »Aber vor dem Jawort platzte dann das britische Militär in die Feier.«

Fräulein Queck lauschte immer noch gebannt.

»Sie kündigten an, unsere Villa solle provisorisch aufgeteilt werden – in zweiundfünfzig Kleinstwohnungen für das englische Militärpersonal«, ergänzte Leni. Noch immer stieg bei der Erinnerung an jenen Mainachmittag Wut in ihr auf. Um die halbe Welt war sie vor den Nazis geflohen, und dann sollte ihre Familie nach ihrer Rückkehr von den Briten enteignet werden!

»Da machte es sich gut, dass meine Tochter inzwischen die britische Staatsbürgerschaft besaß«, erzählte Anna nun voller Stolz. »Sie hat in London für sehr hochrangige Leute gearbeitet, sogar Geheimunterredungen bei Churchill protokolliert. Sie zeigte dann den Gentlemen in unserem Garten ihre Ausweispapiere und las ihnen in ihrer Heimatsprache die Leviten. Die haben sich kleinlaut entschuldigt, sich verkrümelt – und uns künftig in Ruhe gelassen.«

Die Villenbesitzerin sah Xenia Queck Beifall heischend an, doch deren Blick ging erneut zur Remise hinüber. Dort war ein drahtiger Endvierziger, die dunklen Haare mit Pomade gebändigt, aufgetaucht und kickte den Fußball trotz des Nadelstreifenanzugs, den er trug, mit Verve zu Lenis Sohn Timon. Anna und Leni erschraken, als der Anzugträger nun zu Reeder Willy Heger ging – und ihn kurz auf den Mund küsste. Es war nicht der Kuss als solcher, der die Villenbewohnerinnen beunruhigte. Die beiden Männer waren seit über fünfzehn Jahren ein Liebespaar. Im Dritten Reich waren sowohl Willy als auch Albin Wessels wegen ihrer Homosexualität im Konzentrationslager gelandet. Die Liebe der beiden hatte Hitlers Regime überlebt, der Paragraf, der eine solche Beziehung strafbar machte, allerdings ebenfalls. Daher war die Verbindung des neunundvierzigjährigen Autohändlers zu dem Reeder eines der bisher gut gehüteten Familiengeheimnisse der Villa, aber offenbar hatten die beiden Männer Xenia Queck nicht bemerkt. Leni und Anna wechselten einen besorgten Blick. Was, wenn die streng wirkende Bewerberin sich empören und die beiden verraten würde? Doch die reagierte verblüffend unbeeindruckt auf den Kuss. Sie hob lediglich kurz eine Augenbraue und fragte dann: »Ist das gesamte Personal über der Remise untergebracht?«

»Nein«, beeilte sich Anna zu sagen. »Ihr Zimmer befindet sich bei uns in der Villa im Dachgeschoss.«

»Nun gut, ich würde meine Wohnung in Finkenwerder allerdings behalten, an freien Tagen habe ich die Erfahrung gemacht, dass etwas Abstand zum Arbeitsplatz …«

Weiter kam sie nicht. Leni hatte das Unglück kommen sehen und stieß einen erschrockenen Warnschrei aus: Ihr Sohn hatte seinem Patenonkel Willy den Ball abgenommen, ihn aber unglücklich am Fuß erwischt. Alles ging blitzschnell. Während Willy mit einem Schrei zu Boden ging, raste der von Timon gekickte Ball nun direkt auf die drei Frauen zu – und erwischte Fräulein Queck frontal im Gesicht. Während vor der Remise Timon erschrocken die Hände vor den Mund schlug, kümmerte sich Albin um Willy, der mit schmerzverzerrter Miene am Boden lag. Xenia Queck nahm die Hände von ihrem Gesicht. Es war blutüberströmt!

***

Der Marsch begann am Karfreitag, den 15. April, um neun Uhr bei regnerischem Wetter in Hamburg-Harburg. Wie geplant trugen Anna und Isabel ihre elegantesten Kostüme, Mäntel und besonders hübsche Regenschirme. Bei den Schuhen mussten sie angesichts des täglichen Marschpensums natürlich Abstriche in puncto Eleganz machen. Sofie hatte sich ohnehin wie angekündigt für eher zweckmäßige und warme Kleidung entschieden. Ihr Bruder Willy hatte die Frauen mit seinem schwarzen Mercedes 190 am Hamburger Treffpunkt der Protestgruppe abgesetzt – nicht ohne sie besorgt zu bitten, gut aufeinander aufzupassen. Er bedauerte es, dass sein verstauchter Fuß ihn daran hinderte, die Frauen zu begleiten. Sofie hatte nach jenem fatalen Unfall in der Küche die starke Blutung aus Xenia Quecks Nase gestoppt und erleichtert festgestellt, dass sie nicht gebrochen war. Zum Erstaunen aller hatte Fräulein Queck dann zugesagt, ab August Ursels Nachfolge als Hausdame antreten zu wollen.

Auch Sofies zweite Tochter Elfie, die Köchin der Elbstrandvilla, hatte sich ursprünglich zur Demonstration angemeldet, um auf ihre Nichte Isabel und die beiden älteren Damen aufzupassen, hütete nun jedoch mit einer Erkältung das Bett.

Isabel schätzte, dass außer ihnen mehr als hundert weitere Demonstranten zum Treffpunkt gekommen waren. Wegen der Feiertagsbestimmungen durften sie sich erst ab elf Uhr am ersten vorgesehenen Rastplatz zu einem Zug formieren. Isabel hatte recherchiert: Auch aus Bremen, Hannover und Braunschweig waren einzelne Pazifisten und Kriegsdienstverweigerungsgruppen nach Bergen-Hohne aufgebrochen. Und nun marschierten sie in einer langen Reihe los, immer zwei bis drei Protestierende nebeneinander. Es war recht kühl, und von Zeit zu Zeit tanzten sogar Schneeflocken um die Teilnehmer mit ihren Schildern herum.

Anna hielt voller Stolz das selbst erstellte Plakat mit der Aufschrift: »Ausbildung an Atomwaffen – Ausbildung zum Massenmord.«

Einige Passanten schüttelten beim Anblick der Protestierenden den Kopf, andere lachten, wieder andere begannen miteinander zu diskutieren. Diskussionen unter den Demonstranten selbst waren von den Organisatoren hingegen für unerwünscht erklärt worden. Das Verbot der KPD hatte nämlich bewirkt, dass Kommunisten sich derzeit in einer Vielzahl von Gruppierungen und Vereinen betätigten; auch der Verband der Kriegsdienstverweigerer hatte ständig mit der Unterstellung zu kämpfen, er sei eine sogenannte Tarnorganisation. »Wir demonstrieren hier gegen alle Atomwaffen«, hatte Organisatorin Helga Stolle deshalb vor Beginn des Marsches betont. »Auch gegen die des kommunistischen Ostblocks.«

Ruhig und still ging es zu, statt einer Demonstration bekam man eher den Eindruck einer Prozession, was durch die zahlreichen schwarzen Kreuze der anwesenden Mitglieder der kleinen Hamburger Quäker-Gemeinde verstärkt wurde. Der einzige Slogan, der öfter skandiert wurde, lautete: »Die Bombe ist böse, die Bombe muss weg!«

Schließlich bemerkte Isabel, dass Anna mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck die Position ihrer Arme beim Halten ihres Schildes änderte.

»Komm, ich lös dich mal ab, Tante Anna«, schlug die junge Frau vor.

»Oh, gern, danke, meine Schulter bringt mich sonst noch um«, seufzte Anna dankbar.

Isabel wollte ihr das Schild abnehmen, doch es entglitt ihr, fiel zu Boden, und ein Windstoß wehte es auf die Straße. »Ich hol es«, rief sie und eilte los.

Doch ein hochgewachsener Herr in schickem Lodenmantel kam kurz vor ihr bei dem Plakat an. Er überreichte es ihr mit einer kleinen Verbeugung. Isabel blickte in das lächelnde Gesicht ihres Gegenübers, das Grübchen und Sommersprossen aufwies. Der attraktive Mann mit den grünen Augen und dem widerspenstigen roten Haar mochte um die dreißig sein. »Danke sehr«, sagte Isabel.

»Schöner Text«, entgegnete er mit Blick auf das Plakat.

Sie freute sich, dass er offenbar eine Plauderei mit ihr beginnen wollte.

»Hat meine Patentante Anna gemacht«, erklärte sie.

Doch die Gruppe wartete nicht. »Dann richten Sie es ihr aus«, bat er. »Wir müssen wohl weiter.«

Da war er auch schon hastig wieder an seinem Platz weiter hinten in der Schlange verschwunden. Sie sah ihm versonnen nach und ging dann zurück zu ihren Begleiterinnen.

»Hab ich einen Hunger«, verkündete Isabels Großmutter Sofie schließlich.

»Wir sind gleich in Rosengarten«, beruhigte Anna die Freundin. »Helga hat dort einhundertfünfzig Portionen Eintopf für uns vorbestellt.«

Doch vor dem Gasthaus angekommen, gab es für den Demonstrationszug eine herbe Enttäuschung: Es war – entgegen der vorherigen Abmachung – geschlossen!

»Da haben die Behörden wohl vor uns gewarnt«, mutmaßte Organisatorin Helga verärgert. »Man sabotiert unseren Marsch.«

»Ich schau kurz im Dorf nach, ob ich ein anderes Wirtshaus finde«, schlug Isabel vor und spurtete in Richtung Ortsmitte.

Auf dem Weg dorthin stellten sich ihr jedoch drei Halbstarke in den Weg.

»He, wohin so eilig, junges Fräulein?«, fragte der größte von ihnen, ein Schlacks mit gemeinen Augen.

»Könnt ihr mir sagen, wo ich eine Gaststätte finde, die aufhat?«, erkundigte sie sich, bemüht höflich. Sie wollte wirklich keinen Ärger mit diesen drei Kerlen, die offenbar auf Streit aus waren.

»Gehörst du etwa zu dem Demonstranten-Pack?«, wollte ein etwas Untersetzter wissen.

»Was dagegen?«, erwiderte Isabel nun deutlich kühler – vielleicht kam sie ja weiter, wenn sie sich unbeeindruckt von ihnen zeigte.

»Was sagt denn dein Mann dazu, dass du dich allein mit den Kommunisten rumtreibst?«, fragte der Dritte, ein wahres Muskelpaket. »Weißt du, was ich mit dir machen würde, wenn du meine Frau wärst?«

Er drückte sie gegen eine Hauswand, und sie fühlte, wie sich die Angst in ihrem Magen zusammenzog. Sie zögerte keine Sekunde mehr, ließ ihr Knie nach oben sausen – und landete einen Volltreffer. Der Mann krümmte sich keuchend. Sie wollte die Chance nutzen, um fortzulaufen, doch die beiden Kumpane packten sie und hielten sie fest. Der Muskelprotz richtete sich auf und starrte sie an. Sein Gesicht offenbarte blanken Hass – er hob die Hand und holte aus.

3 – »He, jetzt mal …

»He, jetzt mal schön sutsche, junger Mann!«

Bevor die Hand des Halbstarken Isabels Wange treffen konnte, wurde sie von einer anderen umklammert, mitten in der Bewegung aufgehalten. Verdutzt starrten der Muskelbepackte und seine Kumpane auf die unscheinbare Frau, die da so beherzt eingegriffen hatte: geblümtes Hausarbeitskleid, Strickjacke, Dutt.

»Ihr wollt ja wohl nicht im Ernst so ’ne lütte Deern schlagen?«

Die drei Kerle fassten sich rasch, und der Zorn kehrte in ihr Gesicht zurück.

»Nein, wollen sie nicht«, sagte da eine Männerstimme.

Isabel drehte sich um und bemerkte erleichtert, dass sie Verstärkung bekommen hatten: Der rothaarige Demonstrationsteilnehmer trat von hinten an sie heran und stellte sich neben die mutige Einheimische. Er fixierte die Burschen mit strengem Blick. »So eine Vorstrafe macht sich denkbar ungünstig in jedem Lebenslauf. Und wir sind drei Zeugen.«

Vier, dachte Isabel bei sich, denn sie bemerkte nun ein Mädchen, das etwa drei Jahre alt sein mochte und eine kleine Milchkanne in der einen, eine Karotte in der anderen Hand hatte. Isabel hoffte, dass die Kleine Land gewann. »Oma, Milch«, rief das Mädchen jedoch und kam herbeigeeilt, woraufhin die Ältere sogleich schützend die Arme um das Kind legte.

»Ach, was soll’s?«, meinte der Kräftigste nach kurzem Überlegen, und die drei Störenfriede trollten sich.

»Ich danke Ihnen«, wandte sich Isabel zunächst an die mutige Großmutter, dann an den Demonstrationsteilnehmer: »Und Ihnen auch.«

»Oh, nichts zu danken, ihr Frauen habt die Situation ja auch ohne mein Zutun ganz gut in den Griff bekommen«, erklärte der Rothaarige. »Dafür konnte ich unser Essensproblem lösen. Am Dorfrand gibt es ein Vereinsheim, wo man bereit ist, Kartoffelpuffer für uns zu machen.«

»Ja, die haben genug Zutaten vorrätig, morgen hat der Schützenverein eine Feier«, bestätigte die Einheimische. »Gut, dass die jetzt Leute verköstigen, die gegen Waffen sind. Am liebsten würde ich mit euch mitlaufen. Mein Mann ist 43 bei der Bombardierung verbrannt.«

»Das tut mir leid«, sagte Isabel betreten. Sie wusste, dass sie selbst am Morgen nach dem schlimmsten Bombenangriff in den Ruinen der Reederei Nieland zur Welt gekommen war. Obwohl Oma Sofie seinerzeit noch unter den Folgen einer Kohlendioxidvergiftung litt, hatte sie Isabels Mutter Geburtshilfe geleistet. Schreckliche Dinge hatten die Bewohner der Elbstrandvilla damals in der brennenden Hamburger Innenstadt gesehen, aber immerhin waren sie mit dem Leben davongekommen – anders als der Ehemann dieser bedauernswerten Frau, die Isabel und der Demonstrationsteilnehmer nun mitleidsvoll ansahen. Schließlich atmete die Alte durch und streichelte ihrer Enkeltochter über den Kopf. »Es ist wichtig, dass man den Herren Politikern diesmal nichts durchgehen lässt«, befand sie mit kämpferischer Zuversicht.

»Das stimmt«, bestätigten Isabel und der Rothaarige gleichzeitig.

Sie sahen sich an und mussten über dieses Zeichen ihrer Einigkeit lächeln.

»Ich würde Sie beide gern zu den Kartoffelpuffern einladen, als Dank für die Rettung«, schlug Isabel vor.

Die Ältere setzte gerade zu einer Antwort an – da wurde ihrer aller Aufmerksamkeit von einem Scheppern abgelenkt: Das Mädchen hatte die Milchkanne fallen gelassen, eine weiße Lache bildete sich auf der Straße.

»Was …«, setzte die Großmutter an, erstarrte dann aber bei einem Blick auf ihr Enkelkind vor Schreck: Die Kleine war blau angelaufen und gab qualvolle Geräusche von sich. Sie bekam offenbar keine Luft mehr

»Die Lütte hat sich verschluckt«, mutmaßte die Alte und klopfte dem würgenden Kind in Panik auf die Schulter.

Zu Isabels großer Besorgnis hatte das Kind bereits blaue Lippen, das Sprechen schien ihm unmöglich.

»Sie kann nicht husten«, stellte der Rothaarige beunruhigt fest, ging vor dem Mädchen auf die Knie und fasste es bei den Armen. »Der Fremdkörper muss schon auf Höhe des Kehlkopfes sein!«

Sekunden später hatte er die Kleine übers Knie gelegt und schlug ihr fünfmal mit der flachen Hand heftig zwischen die Schulterblätter – ohne Erfolg. Das Kind japste kläglich. Ohne das Mädchen loszulassen, stand der Rothaarige auf, stellte es rasch auf seine Füßchen, positionierte sich hinter der kleinen Patientin und umfasste mit den Armen deren Oberbauch. Er ballte die Rechte zur Faust und legte sie unterhalb der Rippen und des Brustbeins in die Magengrube. Mit der anderen Hand griff er die zusammengeballte und zog sie dann ruckartig kräftig gerade nach hinten zu seinem Körper. Durch die plötzliche Druckerhöhung hustete das Mädchen nun endlich das Karottenstück aus der Luftröhre. Während das Kind nach Luft schnappte, nahm es seine Großmutter erlöst in die Arme. Und im Affekt fiel Isabel dem Retter um den Hals. Sekunden später war ihr die stürmische Umarmung etwas peinlich, und sie lächelten einander unsicher an. Der Rothaarige wandte schließlich als Erster den Kopf ab und riet der erleichterten Oma: »Erdnüsse, rohe Möhren und Bonbons sollten Sie der Kleinen besser erst nach der Einschulung gönnen. Daran verschlucken sich Kinder unter fünf nämlich besonders häufig.«

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte Isabel neugierig, doch ehe er antworten konnte, hielt mit quietschenden Reifen ein schwarzes Automobil neben ihnen.

»Konrad!«, rief der glatzköpfige Fahrer, der die Fensterscheibe heruntergekurbelt hatte. »Endlich! Ich habe dich überall gesucht. Du musst diesen Marsch abbrechen, sofort! Es gibt Neuigkeiten!«

Isabel bemerkte, wie der Rothaarige, der also Konrad hieß, augenblicklich unter Spannung geriet. Scharf saugte er die Luft ein. »Ich muss leider los, einen schönen Marsch noch«, haspelte er geistesabwesend; und als er sich auf dem Beifahrersitz des Automobils niederließ, hatte Isabel den Eindruck, dieser Konrad sei in Gedanken schon ganz woanders. Enttäuscht blickte Isabel dem Auto nach. Sie kannte nun nicht einmal den Nachnamen dieses faszinierenden Mannes.

»Ich glaube, ich könnte jetzt tatsächlich einen Kartoffelpuffer gebrauchen«, riss die Großmutter die junge Journalistin aus ihren Gedanken.

»Ich auch«, sagte Isabel lächelnd. Sofie und Anna warteten bestimmt ebenfalls mit knurrendem Magen.

Was für ein abenteuerlicher Marsch das war! Dabei hatten sie ja gerade erst ein Achtel der Strecke hinter sich gebracht. Isabel konnte es kaum erwarten, ihrer besten Freundin Rosa zu Hause in der Elbstrandvilla von all dem zu erzählen.

***

Um die Mittagsstunde des Ostersamstags fuhr Rosa Timmlein auf einer Barkasse durch den Aprilregen über die Elbe. Zum Schutz ihrer langen, roten Haare hatte die Sechzehnjährige ein Kopftuch umgebunden. Das Boot wurde von ihrer Mutter Elfie, der achtunddreißigjährigen Köchin der Villa Nieland, gesteuert. Diese war immer noch erkältet und hatte sich deshalb in mehrere Schichten Winterkleidung gehüllt.

Auf der anderen Seite des Flusses, am Ufer von Finkenwerder, führte Elfies Dauerverlobter Jan Lüttgens ein Restaurant mit Elbblick, auf das die Barke zuhielt. Dort durfte Rosa bald eine Ausbildung zur Kellnerin beginnen.

Sie freute sich auf die Arbeit und darauf, sich damit ein wenig Selbstständigkeit zu erkämpfen. Ein Schritt mehr in Richtung Erwachsensein. Doch eine gehörige Portion Wehmut war ebenfalls dabei: Sie wäre gern noch länger zur Schule gegangen. Aber so begabt wie ihre Cousine Isabel, das musste sie neidlos anerkennen, war Rosa nicht. Ihr war nichts zugeflogen, für ihren erfolgreichen Abschluss der Mittleren Reife hatte sie ganz schön pauken müssen. Und so war sie bei allem Bedauern auch froh, dass die Lernerei nun endlich der Vergangenheit angehörte. Einzig das Theaterspielen in der Gruppe ihrer Deutschlehrerin würde sie schmerzlich vermissen. Während ihre beste Freundin Isabel als Journalistin die Wahrheit verbreiten wollte, liebte Rosa es schon seit Kindertagen, sich zu verkleiden und in andere Rollen zu schlüpfen. In ihren Augen enthielten die Bühnenstücke ebenfalls sehr viel Wahrheit über die menschliche Natur.

Jan Lüttgens war nicht ihr leiblicher Vater, diesen hatte sie nie kennengelernt. Sie war das Ergebnis einer unglücklichen Affäre ihrer Mutter: In den Wirren des Zweiten Weltkrieges hatte ein hübscher Medizinstudent Elfie zu Beginn ihrer Liaison verschwiegen, dass er – trotz seiner damals gerade mal achtzehn Jahre – bereits verheiratet war. Aber dann war wutentbrannt seine junge Gattin in der Villa Nieland aufgetaucht, um ihn heimzuholen – gerade, als Elfie erfahren hatte, dass sie schwanger von ihm war.

»Natürlich hab ich ihm das dann verschwiegen. Ich wollte doch nicht, dass der Hallodri nur wegen des Kindes bei mir bleibt und seine Frau verlässt«, betonte Elfie immer wieder. Damit hatte sich bei ihr das Schicksal ihrer Mutter Sofie wiederholt. Diese war zunächst mit dem Nieland-Erben Burkhard verlobt gewesen – und er war untergetaucht und hatte ihr verschwiegen, dass er neu liiert war. Auch Sofie hatte ihrem Ex-Verlobten daher jahrelang vorenthalten, dass Elfies ältere Schwester Hilde in Wahrheit seine Tochter war. Rosa hatte sich manchmal gefragt, wie er so war, ihr leiblicher Vater, aber ihre Mutter wusste nicht mal, ob er überhaupt noch am Leben war. Nach dem Krieg hatte Elfie versucht, ihn zu finden, doch seine Spur verlor sich irgendwann 1945. Und Jan war ein ganz wunderbarer Ersatzvater gewesen. Hatte mit Rosa Hausaufgaben gemacht und ihr Gitarre- und Klavierspielen beigebracht. Keine ihrer Klassenkameradinnen hatte einen so gut aussehenden und modisch gekleideten Musiker zum Vater gehabt. Jans eigener strenger Vater war hingegen nie begeistert gewesen, dass sein Sohn davon lebte, »Negermusik« zu spielen – das hieß: Blues, Jazz und Rock’n’Roll. Doch Jan hatte rebelliert und immer zu seiner geliebten Musik gestanden. Das hatte er Rosa einmal erzählt, und sie mochte ihn seither nur noch mehr.

Obwohl Jan nun schon seit knapp zwölf Jahren mit Rosas Mutter zusammen war, hatten die beiden nie geheiratet. »Mein Ruf ist sowieso ruiniert mit unehelichem Kind«, hatte Elfie immer wieder gemeint. »Da hilft jetzt auch keine Hochzeit mehr.« Und auch der unkonventionelle Jan empfand ihre »wilde Ehe« als nichts Verachtenswertes. Trauschein hin oder her – Elfie und er genossen einfach das Leben und ihre Liebe. Dabei hatte die Familie Jan Lüttgens unter sehr traurigen Umständen kennengelernt. »Er kam 1940 zum ersten Mal in die Villa – mit einer Todesnachricht für Anna«, hatte Rosas Großmutter Sofie einst erzählt. »Ein Jahr zuvor war er Bordmusiker auf dem Schiff gewesen, das Moshe, Tante Leni und ihren Vater Gideon aus Deutschland fortbringen sollte. Aber nur Leni und Moshe konnten sich nach London absetzen. Jan musste uns damals mitteilen, dass seine damalige Freundin Stella, ihre Familie und Tante Annas Mann Gideon 1940 in der Nähe von Dünkirchen gestorben waren, von der deutschen Wehrmacht auf der Flucht erschossen.«

Während Rosa ihren Gedanken nachhing, hatten sie das Ufer erreicht. Die junge Frau sprang von Bord, um die Barkasse an einem der dafür vorgesehenen Balken zu vertäuen. Die Terrasse war wegen des kühlen und wechselhaften Wetters menschenleer; doch daraus Rückschlüsse auf den Betrieb im Inneren des Restaurants zu ziehen, erwies sich als trügerisch. Als Mutter und Tochter Timmlein das Gasthaus betraten, schlugen ihnen Zigarettenrauch und lautes Stimmengewirr entgegen – jeder Tisch war besetzt. Im Eingangsbereich standen sogar einige weitere Gäste herum und schielten gierig auf bald frei werdende Plätze.

»Tut mir leid, ihr zwei«, sagte Jan, nachdem er seiner Elfie einen kurzen Begrüßungskuss gegeben hatte. »Ich fürchte, mit deinem Ausbildungsvertrag müssen wir noch etwas warten, Rosa. Ihr seht ja …«

Der hagere Achtundvierzigjährige mit den strubbeligen dunklen Haaren deutete fahrig in die Runde der zahlreichen Gäste.

Mutter und Tochter blickten sich an, nickten sich in stummem Einverständnis zu – und krempelten die Ärmel hoch.

»Wir packen mit an«, schlugen sie ihm vor.

Zwei Jahre zuvor hatte sich Jan durch einen größeren Spielgewinn den Traum vom eigenen Restaurant am Elbufer erfüllen können – und Rosa freute sich bereits darauf, bald dauerhaft hier zu arbeiten. Den ganzen Tag über riss der Strom der Gäste nicht ab, und genau wie Jans Mitarbeiter hatten Rosa und Elfie alle Hände voll zu tun. Rosas Stiefvater zeigte sich extrem dankbar für die Hilfe an diesem hektischen Ostersamstag, immer wieder lächelte er seinen zwei Frauen im Vorbeigehen anerkennend zu.

 

Erst gegen zehn Uhr abends hatte sich das Lokal endlich merklich geleert. Elfie, die das Arbeiten angesichts ihrer noch nicht ganz abgeklungenen Erkältung sehr erschöpft hatte, war am Tresen eingenickt. Ein sportlich wirkender junger Mann mit blonden Haaren setzte sich zu Rosa. Dieser war ihr schon vorher aufgefallen. Faszinierenderweise hatte er zwei verschiedenfarbige Augen: sein rechtes war hellblau, das linke war nur zur Hälfte blau, die andere Hälfte war hingegen hellbraun. Da auch er beim Bedienen der Gäste geholfen hatte, hielt ihn Rosa zunächst für einen von Jans Aushilfskellnern. Er kramte ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und hielt ihr eine hin. »Das haben wir uns verdient.«

Obwohl Rosa eigentlich nie rauchte, nahm sie diesmal an.

»Arbeitest du für Jan?«, wollte der junge Mann wissen, während er ihr Feuer gab.

»Noch nicht«, erklärte sie. »Aber ich fange im Sommer eine Lehre bei ihm an. Und du?«

»Nee, ich bin nur auf Besuch«, erwiderte er. »Jan ist mein Onkel.«

»Ach, dann bist du Felix, der Sohn seines Bruders Christoph«, erkannte Rosa nun. »Ich bin seine Stief… also Jan ist mit meiner Mutter zusammen. Ich bin Rosa. Er hat schon von dir erzählt.«

»Ich hoffe, nur Gutes«, entgegnete Felix grinsend und reichte ihr feierlich die Hand. »Dann bist du ja so was wie mein Stiefcousinchen. Freut mich, Rosa.«

»Mich auch«, gab sie zurück, während sie feststellte, wie angenehm sich der Druck seiner starken Hände anfühlte. »Bist du aus Berlin zu Besuch?«

»Nein, nur mein Vater lebt da. Den sehe ich bloß in den Ferien. Ich bin nach der Trennung bei meiner Mutter in Bremen geblieben. Die nächsten drei Tage will ich versuchen, in Hamburg als Musiker unterzukommen«, berichtete er. »In Bremen ist in der Hinsicht nicht so viel los wie hier.«

»Jan hat erzählt, du spielst Trompete«, erinnerte sie sich.

»Nicht nur«, meinte er und zog an seiner Zigarette. »Ich hab eigentlich schon immer jedes Instrument gespielt, das ich in die Finger kriegen konnte.«

Nur wenig später bekam Rosa eine Kostprobe von Felix’ Fähigkeiten: Jan hatte vorgeschlagen, dass er mit ihm und zwei von seinen Musiker-Freunden auf der Terrasse noch ein kleines Konzert geben könnte. Der Regen hatte längst aufhört, und es war wider Erwarten noch ein milder Abend geworden.

Felix hatte, so erfuhr Rosa nun, trotz seiner jungen Jahre bereits bei einigen Schallplattenaufnahmen im Tonstudio mitgewirkt. Ein derart attraktiver Musiker hatte bestimmt in jeder Stadt mindestens ein Mädchen, das sehnsuchtsvoll auf ihn wartete.

Doch nach dem Ende des Liedes und dem Applaus von den anwesenden Mitarbeitern stellte sich Felix wieder zu ihr auf den Steg, und sie bekam die zweite Zigarette ihres Lebens angeboten – hoffentlich bemerkte er nicht, dass sie nur paffte.

Im Gegenzug reichte sie ihm die Hälfte ihres Krabbenbrötchens. Der anstrengende Arbeitstag hatte sie wirklich sehr hungrig gemacht.

»Bist du eigentlich nach Rosa Luxemburg benannt, dieser Sozialistin?«, erkundigte er sich nach einem winzigen Bissen in das Brötchen.

Rosa schüttelte den Kopf. »Nein, das behauptet Anna Nieland zwar immer, aber nur, weil sie die Dame früher so bewundert hat. In Wirklichkeit hat sich meine Mutter während der Schwangerschaft immer mit Musik von Rosita Serrano getröstet. Meine Tante Hilde war im Krieg Rositas Garderobiere. Ich bin also nach der ›chilenischen Nachtigall‹ benannt.«

»Die Serrano hab ich auch mal persönlich kennengelernt«, erklärte Felix. »Mein Onkel kennt die …«

Ehe er dies präzisieren konnte, wurde sein Gesicht plötzlich krebsrot. Er keuchte, auf seiner Stirn stand der Schweiß, und er kippte wie ein gefällter Baum vom Steg in die nachtschwarze Elbe.

4 – Als Rosa Felix …

Als Rosa Felix am Kragen seiner Lederjacke ans Ufer gezogen hatte, bemerkte sie, dass seine Augen ganz zugeschwollen waren und er immer noch nach Luft schnappte. Inzwischen waren auch Jan, Elfie und ein Kellner bei ihnen.

»Er ist einfach umgekippt«, erklärte Rosa aufgeregt.

»Hat er etwas gegessen?«, erkundigte sich ihre Mutter besorgt und überprüfte seinen Puls.

»Ja, einen Bissen von meinem Krabbenbrötchen«, erinnerte sich Rosa nun.

»Dann schätze ich, dass es ein anaphylaktischer Schock ist«, meinte Elfie. »Wahrscheinlich ist er gegen Krustentiere allergisch. Die körperliche Reaktion ist ganz typisch dafür.«

In diesem Augenblick war Rosa sehr dankbar, dass ihre Mutter deren Zwillingsbruder öfter abgefragt hatte, bevor er 1939 für sein Medizinstudium nach Amerika gegangen war – so hatte die Köchin sich ihrerseits einiges an Wissen aneignen können.

»Was können wir tun, um Felix zu helfen?«, fragte Rosa besorgt.

»Ein Arzt müsste ihm Adrenalin spritzen«, erwiderte Elfie. »Ursels Sohn hat seine Praxis leider drüben in Othmarschen …«

»Aber der alte Doktor Hansen wohnt hier in Finkenwerder – gleich da hinten«, erinnerte sich Rosa nun an den pensionierten Hausarzt der Nielands, der in dieser Funktion inzwischen von Ursels Sohn ersetzt worden war. »Ich hole ihn.«

Sie rannte los, während Jan den anderen vorschlug, seinen Neffen ins Restaurant zu tragen. »In den nassen Klamotten holt er sich hier sonst noch den Tod.«

Rosa Timmlein musste eine ganze Weile am Haus des alten Mediziners Sturm klingeln, bevor Dr. Hansen im Morgenmantel seine Haustür öffnete.

»Was ist denn los?«, fragte der hagere Vierundachtzigjährige etwas verstimmt, und Rosa begann augenblicklich loszuhaspeln: »Entschuldigen Sie die späte Störung, Doktor Hansen. Aber Jan Lüttgens’ Neffe hat Krabben gegessen und bekommt nun keine Luft mehr. Haben Sie Adrenalin da?«

Mit einem Mal war der alte Mann hellwach und alle Brummigkeit verflogen. »Ich nicht, aber die Apothekerin Moelkner nebenan. Sie ist zwar über Ostern auf Sylt, aber ich habe einen Schlüssel.«

Sekunden später kam er mit dem Apothekenschlüssel in der Hand wieder aus dem Haus. »Kommen Sie, wir dürfen keine Zeit verlieren.«

 

In größter Hektik hatte Dr. Gottfried Hansen dem jungen Musiker kurz darauf die erlösende Injektion verabreicht. Während Jan den alten Arzt zum Dank auf einen eisgekühlten Flensburger Kümmelbranntwein einlud, saß Felix in trockener Kleidung seines Onkels am wärmenden Kachelofen. Zufrieden beobachtete Rosa, dass die Schwellung seiner Augen zurückging.

»Danke, dass du so schnell Hilfe geholt hast«, sagte der junge Musiker kleinlaut. »Jetzt hab ich mich wohl ziemlich vor dir blamiert.«

»Unsinn«, entgegnete Rosa energisch. »Für eine Allergie kann doch keiner was.«

»Ich wusste nicht mal, dass ich die habe«, erklärte er. »Bisher hab ich Meeresfrüchte und so Zeug immer links liegen lassen, weil es mich ziemlich anekelt.« Da hielt er erschrocken inne, nun hatte er sich selbst entlarvt.

»Aber warum hast du dann mein Krabbenbrötchen nicht abgelehnt?«, wunderte sich Rosa.

»Ich … ich wollte nicht unhöflich und krütsch wirken«, gestand er zögerlich. »Kindisch, was?«

»Nicht kindischer als ich.« Sie senkte den Blick. »Ich hasse nämlich eigentlich Zigaretten.«

Er sah sie erkennend an und lachte. »Und du wolltest auch nicht unhöflich oder krütsch wirken!«

Sie nickte. »Vielleicht sind wir in Zukunft einfach besser ehrlich zueinander.«

»So machen wir das. Nicht, dass doch noch einer von uns an seiner Höflichkeit erstickt, also buchstäblich«, feixte er und stieß mit ihr an. »Auf die Wahrheit!«

Sie lächelte versonnen. »Auf die Wahrheit!«

***

»Welcher normale Mensch braucht das je wieder in seinem ganzen restlichen Leben?«

Timon Schwarz raufte sich die widerspenstigen braunen Haare. Allmählich verzweifelte der Achtzehnjährige bei seinen Versuchen, den Mathematik-Stoff für die bevorstehende Klassenarbeit in seinen Kopf zu bekommen. Eigentlich war das Christianeum in Othmarschen, das Timon besuchte, ein altsprachliches Gymnasium. Dennoch kam der angehende Abiturient auch dort nicht um die Mathematik herum.

Manchmal beneidete er seine Großcousine Isabel, mit der er und Rosa hier in der Elbstrandvilla wie Geschwister aufgewachsen waren. Der hochintelligenten Isabel reichte es scheinbar, im Unterricht aufzupassen, um auf Anhieb jeden Stoff zu verstehen – und ihn sich bis ins kleinste Detail zu merken. Und wo er froh sein konnte, nicht sitzen zu bleiben, hatte sie aufgrund hervorragender Leistungen sogar zwei Klassen überspringen dürfen. Deshalb stand Isabel nun bereits vor der Abiturprüfung, obwohl sie zwei Jahre jünger war als Timon. Die Welt war einfach ungerecht!

Als es nun an Timons Zimmertür klopfte, rief er erleichtert »Herein«, dankbar um jede Ablenkung vom Lernen.

Seine Mutter linste herein. »Na, du Tapferer«, begrüßte Leni ihren Sohn, ging vorbei an den mit Fußball-, Automobil- und Schiffsplakaten voll gehängten Wänden zu seinem Schreibtisch und umarmte ihn von hinten.

»Schlimm?«, fragte sie mit Blick auf sein Heft und die Bücher.

»Na, Mathematik eben«, entgegnete er knapp.

»Hast du Lust, mal eine Pause zu machen? Mit Onkel Willy und mir Ostereier für deine kleine Schwester verstecken?«, schlug seine Mutter vor. »Es hat heute Nacht endlich aufgehört zu regnen, und ein bisschen Strandluft tut uns allen bestimmt ganz gut.«

Timon drehte sich begeistert zu seiner Mutter um. »Au ja!«

 

Wenig später beobachtete er mit seiner Mutter und Willy, wie die kleine Stella Gudrun völlig aufgeregt nach den Osterleckereien suchte.

»Noch eins!«, rief die Dreijährige begeistert, die gerade ein weiteres Schokoladenei auf dem Fensterbrett der Strandhütte entdeckt hatte, und streckte ihr Fundstück triumphierend in die Höhe. Timon lächelte liebevoll. Wie oft hatten Isabel, Rosa und er selbst hier ebenfalls Naschereien gefunden? Das kleine Holzhäuschen hatte ihnen einst Rosas Großvater Max, der Hausmeister der Villa Nieland, gebaut. »Jetzt habt ihr eure eigene Villa am Elbstrand«, hatte der Einarmige den Kindern seinerzeit erklärt. Die Freunde hatten hier wilde Geschichten ersonnen und sich »die drei Elbstrandpiraten« genannt.

Seinen linken Arm hatte Max während des Krieges in Russland verloren, aber darüber sprach er nicht gern. Überhaupt schwiegen die Erwachsenen meist über diese Zeit, wie Timon schon früh feststellen musste. Hitlers Regime hatte der Familie Schreckliches angetan. Er wusste, dass sein Großvater Gideon Jude gewesen war und deshalb zusammen mit Timons Eltern auf einem Schiff aus Deutschland hatte fliehen müssen. Sie waren dann getrennt worden: Leni und Moshe hatte es nach London verschlagen, Großvater Gideon hatte eine befreundete Familie nach Holland begleitet, mit der er dann später vor der deutschen Besatzung in Richtung Frankreich geflohen und schließlich bei Dünkirchen durch deutsches Kreuzfeuer umgekommen war.

An seiner Seite war die junge jüdische Lehrerin Stella Heymann gestorben. Nach ihr war Timons kleine Schwester benannt worden. Die Kleine kam nun mit schokoladenverschmiertem Mündchen auf ihren großen Bruder zugewatschelt, um ihm etwas von ihren Süßigkeiten abzugeben.

»Danke.« Timon griff nach dem angebotenen Ei. »Das sieht aber lecker aus.«

Ihren zweiten Vornamen hatte die kleine Stella Gudrun von der alten Patriarchin der Nielands geerbt. An seine resolute Ururgroßmutter erinnerte Timon sich noch gut, selbst in ihrem biblischen Alter hatte sie in seinen Kindertagen noch das Sagen in der Villa gehabt. Erst 1956 war Gudrun Nieland beim Kaffeetrinken im Alter von unfassbaren einhundertdrei Jahren friedlich eingenickt und nicht mehr aufgewacht. Gudruns letzter Lebenspartner, der siebzehn Jahre jüngere Familienanwalt der Nielands, war ihr nur einen Tag später ins Jenseits gefolgt. »Ich will bei meiner Gudrun sein«, waren seine letzten Worte gewesen.

Noch am Tag der Beerdigung des alten Paars hatte Timons Mutter festgestellt, dass sie mit damals neununddreißig Jahren noch einmal schwanger geworden war. Und deshalb hieß Timons zauberhafte kleine Schwester, die er über alle Maßen liebte, nun Stella Gudrun.

Auch zu Timons eigenem Vornamen hatte ihm seine Mutter einst die zugehörige Geschichte erzählt. Er setze sich aus den Namen ihrer Lieblingsmenschen zusammen – dem der Familie TIM-mlein und dem ihres von den deutschen Truppen ermordeten Vaters Gide-ON.

Von all der dunklen Familiengeschichte ahnte die kleine Stella Gudrun noch nichts. Sie genoss hier am Elbstrand eine genauso behütete Kindheit, wie ihr älterer Bruder sie hatte erleben dürfen. An London hatte der zweisprachig aufgewachsene Timon kaum noch Erinnerungen, dafür umso mehr an die Familie und Freunde in der Villa Nieland.

Die Kleine stapfte nun durch den Sand des Elbufers zu Willy Heger, um ihm ebenfalls eines ihrer Ostereier abzugeben. Der alte Reeder ging ihr liebevoll lächelnd entgegen, wobei Timon auffiel, dass er weiterhin leicht humpelte.

»Tut dein Knöchel noch sehr weh, Onkel Willy?«, erkundigte sich Timon beschämt.

Der Reeder schüttelte den Kopf. »Das ist schon viel besser geworden, mach dir keinen Kopf, Junge.«

Gleich als Timon 1945 im Alter von kaum vier Jahren mit seinen Eltern von London nach Hamburg gekommen war, hatte der Reedereichef die Rolle eines fürsorglichen Großvaters übernommen. Mit ihm hatte der Junge rasch die Leidenschaft für Schiffe, Automobile und den Hamburger Fußballverein HSV geteilt.

»Hast du dir inzwischen mal überlegt, wie es nach dem Abitur für dich weitergeht?«, fragte Willy.

Timon seufzte. Wie er nur zu gut wusste, hoffte sein großväterlicher Freund, dass er bald in die Reederei einstiegen würde.

Tatsächlich hatte Timon die Begeisterung für Schiffe offenbar geerbt. Auch seine Mutter hatte als Kind davon geträumt, Kapitän eines der großen Nieland-Transportschiffe zu werden. »Bloß wollten die da keine Frauen. Stattdessen bin ich dann eben in die Politik gegangen«, hatte Leni ihm irgendwann erklärt. »Mein früherer Chef Jean Monnet hat mir beigebracht, dass man auch da ein wenig wie ein Kapitän auf stürmischer See ist.«

Timon erinnerte sich noch heute an den wunderbar spannenden Tag, als Onkel Willy ihm als ganz kleinem Steppke zum ersten Mal eines der großen Bananen-Schiffe von innen gezeigt hatte. Und doch zögerte der junge Mann beim Angebot des Reeders noch. »Reederei wär schon ’ne Wucht, aber …«

Der Grund für Timons Zögern war soeben auf dem Weg über die Elbe. Albin Wessels, Willys Lebenspartner, der gerade mit einem Boot von Finkenwerder übersetzte, bot Timon nämlich eine weitere Zukunftsoption. Er bewunderte den Autohändler, der ihn mit seinen schicken Nadelstreifenanzügen immer etwas an einen Helden aus einem Gangsterfilm erinnerte. In seinem Autohaus in Finkenwerder standen die tollsten Schlitten. Albin hatte ihn schon im Alter von zwölf Jahren erstmals auf einem Parkplatz mit einem Mercedes fahren lassen, und oft hatte Timon bei ihm aushelfen dürfen. Zunächst nur im Büro, seit Neuestem aber auch im Verkaufsbereich. Und er stellte sich bei der Beratung der Kunden bestens an. Selbstverständlich hatte ihm Albin dafür einen eigenen Nadelstreifenanzug samt Hut zur Verfügung gestellt.

Der drahtige Autohändler vertäute das Boot, dann eilte die kleine Stella auf ihn zu und umarmte ihn, nachdem er sich zu ihr in den Sand gekniet hatte. »Der Osterhase hat ganz viel Naschi für mich versteckt«, erzählte die Kleine aufgeregt.

»Donnerwetter!« Albin grinste Willy an. »Da war der alte Hase ja richtig fleißig.«

»Was hast du denn am Ostermontag im Autohaus gemacht?«, erkundigte sich Leni.

»Ach, ein guter Händler steht seinen guten Kunden auch feiertags für eine Autoabholung zur Verfügung«, erklärte Albin mit ironischem Grinsen.

»Vor allem, wenn es sich um einen so teuren Schlitten handelt«, ergänzte Timon, der den reichen Kunden Graf von Bredeney und dessen kostspieliges Wunschauto kannte.

»Ganz genau, Junior«, bestätigte Albin.

Er und Willy hatten, so wusste Timon, eine Wette laufen, wohin er nächstes Jahr nach dem Abitur denn nun gehen würde: Reederei oder Autohaus. Er würde sich bald entscheiden müssen.

»Habt ihr eigentlich mal was von unseren Ostermarschlerinnen gehört?«, fragte Albin nun.

Leni schüttelte in vager Sorge den Kopf. »Nein, ich hoffe, das ist ein gutes Zeichen, und alles ist in Ordnung.«

5 – Am späten Abend …

Am späten Abend des Ostermontags waren Anna, Sofie und Isabel mit der Eisenbahn aus der Lüneburger Heide nach Hamburg zurückgekehrt. Erschöpft, aber unversehrt und zufrieden kamen sie schließlich per Taxi vor der Villa an.

Timon und Rosa wollten von ihrer Sandkastenfreundin Isabel alle Details des viertägigen Sternmarsches erfahren. Deshalb saßen sie bald mit ihr im Schein einer alten Petroleumlampe in der kleinen Strandhütte. Hier tranken die drei »Elbstrandpiraten«, wie schon unzählige Male zuvor, den beliebten Nieland-Kakao miteinander – und folgten damit einer alten Familientradition. An den Wänden hingen Hunderte von Bildergeschichten des Seefahrer-Bärchens Petzi aus dem Hamburger Abendblatt. Die kleine Stella, die täglich ungeduldig auf neue Streifen wartete, hatte sich diese Dekoration gewünscht.

»Na ja, vier Tage Marsch bei Kälte und Schnee – und jede Menge Anfeindungen«, fasste Isabel ihre Ostertage zusammen. »Aber als wir uns heute in Bergen-Hohne mit den anderen ›Marschsäulen‹ getroffen haben, waren wir alle richtig gerührt und überwältigt: Zusammen waren wir über tausend!«

»Das freut mich«, sagte Rosa. »Vielleicht bewirkt euer Protest dann ja wirklich etwas.«

»Ich weiß nicht«, meinte Timon skeptisch. »Der Ostblock wird auf Friedensaufrufe von hier kaum hören. Und wenn die da drüben Atomwaffen haben – was bleibt uns dann im Westen anderes übrig, als ebenfalls aufzurüsten? Sonst machen wir uns doch komplett erpressbar.«

»Deshalb haben wir ja auch gegen Atomwaffen in West und Ost protestiert«, erklärte Isabel. »Vom Dach eines VW-Busses aus wurden Reden gehalten, und die Kollegen von der Presse haben fleißig mitgeschrieben und geknipst. Es werden also viele von unserem Protest erfahren. Aber das Interessanteste war, dass ich jemanden kennengelernt habe – und der hat vor meinen Augen ein Kind gerettet.«

Nun wandten sich sowohl Timon als auch Rosa ihrer Cousine mit noch größerer Aufmerksamkeit zu. Als Isabel ihren Bericht beendet hatte, schüttelte Rosa beeindruckt den Kopf. »Verrückt, dass bei uns beiden jemand durch Essen in Lebensgefahr geraten ist«, sagte sie und fügte dann in verschwörerischem Tonfall hinzu: »In Jans Restaurant ist nämlich auch was Aufregendes passiert – lebensgefährlich war das.«

Die Geschichte von Felix Lüttgens’ Rettung erzählte Rosa nun sehr dramatisch und mit einer eigenen, verstellten Stimme für jede der beteiligten Figuren. Es fiel auf, dass der junge Musiker in ihrem Bericht besonders gut wegkam, auch seine zweifarbigen Augen blieben nicht unerwähnt.

»An dir ist echt eine Schauspielerin verloren gegangen«, lobte Isabel nach Beendigung des Berichts.

»Hm, ja, schade, dass ich ohne unsere Deutschlehrerin und ihre Theatergruppe nicht mehr spielen kann«, meinte Rosa bedauernd.

Einmal mehr wurde ihr klar, was sie an der Schule vermissen würde, jetzt, da für sie der Ernst des Arbeitslebens vor der Tür stand.

»Du kannst ja mal an einem Talentwettbewerb teilnehmen«, schlug Timon vor und hob die Ausgabe des Hamburger Abendblatt hoch, in der er gerade die neueste Petzi-Bildgeschichte für seine kleine Schwester gesucht hatte. Er las aus einem Artikel über eine erfolgreiche Jungschauspielerin vor: »Sie kam zum Film, weil ihre beste Freundin sie – ohne ihr davon zu erzählen – zu einem Vorsprechen angemeldet hatte.«

»Das war aber eine großartige Idee von der besten Freundin«, sagte Isabel und lächelte süffisant.

»Untersteh dich!«, rief Rosa. »Ich würde vor Aufregung sterben bei so einem Vorsprechen.«

»Manchmal muss man eine gute Freundin zu ihrem Glück zwingen«, drohte Isabel.

Erst als Rosa sie in die Seite knuffte, gab ihre Cousine zu: »Ich foppe dich doch nur. Ich würde dich in nichts hineinzwingen.«

»Also habt ihr beide attraktive Herren zu Ostern kennengelernt«, fasste Timon grinsend das Wochenende zusammen.

»Wobei ich meinen Konrad nie wiedersehen werde«, entgegnete Isabel trocken. »Ohne Nachnamen finde ich selbst durch die beste journalistische Recherche nichts heraus. Wirklich schade. Der war interessanter als all die pickligen Jungs in meiner Klasse zusammen.«

Timon tastete sogleich sein eigenes Gesicht nach etwaigen Pickeln ab. »Ihr Mädchen seid echt gemein. Man kann sich noch so abmühen, von euch kriegt man immer nur einen Korb.«

»Hast du deinen Schulschwarm denn nett angelächelt?«, erkundigte sich Rosa.

»Ja«, knurrte Timon. »Und ihr auch liebevolle Blicke zugeworfen und gezwinkert, wie du mir geraten hast. Sie hat mich gefragt, ob ich was am Auge habe.«

Rosa unterdrückte mit Mühe ein Kichern.

»Hast du dich denn nun entschieden, ob du nächstes Jahr zu Albin ins Autohaus oder zu Willy in die Reederei gehst?«, erkundigte sich Isabel.

Timon nickte. »Ich denke schon«, sagte er. »Ich glaube, Onkel Albin kommt beim Autoverkauf ganz gut allein zurecht, er ist ja auch fünfzehn Jahre jünger als Willy. Der will aber die Reederei endlich an jemand aus der Familie übergeben, das merkt man deutlich.«