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Der erste Teil einer großartigen Thrillerserie, die unter die Haut geht.
Der Tag, an dem es passiert, geht als „Schwarzer Donnerstag“ in die Geschichte ein. Der Tag, an dem vier Passagierflugzeuge abstürzen, innerhalb weniger Stunden, an vier unterschiedlichen Orten. Es gibt nur vier Überlebende. Drei davon sind Kinder, die fast unverletzt aus den Flugzeugwracks steigen. Die vierte ist Pamela May Donald, die gerade noch so lange lebt, dass sie eine Nachricht auf ihrem Handy hinterlassen kann. Eine Nachricht, die die Welt verändern wird. Eine Nachricht, die eine Warnung ist ...
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Seitenzahl: 648
Veröffentlichungsjahr: 2014
Buch
Vier Flugzeuge stürzen innerhalb weniger Stunden an vier unterschiedlichen Orten auf der Welt ab. Nur drei Kinder überleben. Ist das ein Zufall, oder sind sie die Vorboten der Apokalypse, wie es ein religiöser Fanatiker prophezeit? Und wenn er recht hat? Auf der ganzen Welt macht sich Panik breit, die Ermittler haben alle Hände voll zu tun, die Ursache der Abstürze schnell zu klären. Und schon bald ist klar, dass es keine terroristischen Anschläge waren und die Katastrophe auch nicht durch ein Unwetter ausgelöst wurde. Die Abstürze scheinen nichts gemein zu haben, außer dass bei drei der vier Katastrophen je ein Kind fast unversehrt geblieben ist. Schnell sind diese Überlebenden nur noch als »Die Drei« bekannt. Das Verhalten von allen drei Kindern scheint aber noch Monate danach schwer gestört zu sein. Vermutlich durch die schrecklichen Ereignisse, die sie durchlebt haben, und durch die konstante Medienbeobachtung. So wollen es sich zumindest die Angehörigen, bei denen die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern untergekommen sind, zunächst einreden. Dass doch etwas nicht stimmt, müssen sie sich aber dennoch bald eingestehen. Oder warum kann der schwer an Alzheimer erkrankte Reuben plötzlich wieder sprechen und aktiv am Leben teilnehmen, seit sein Enkel und Überlebender Bobby bei ihm wohnt? Und ist es wirklich nur Einbildung, dass Paul, seit seine Nichte bei ihm ist, jede Nacht den Geist seines verstorbenen Zwillingsbruders sieht, der ihn immer wieder fragt: »Wie konntest du es nur in unser Haus lassen?« Der Glaube an die bevorstehende Apokalypse verbreitet sich, Verschwörungstheorien machen die Runde, und eine Journalistin beginnt, die Geschichte der »Drei« zu erforschen. Ihr letztes Lebenszeichen ist eine E-Mail, in der sie ihre schockierenden Entdeckungen niederschreibt …
Weitere Informationen zu Sarah Lotz finden Sie am Ende des Buches.
Sarah Lotz
Die Drei
Thriller
Ins Deutsche übertragen von Eva Bonné
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Three«
bei Hodder & Stoughton, Hachette UK, London.
1. Auflage 2014
Copyright © 2014 by Sarah Lotz
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Kerstin von Dobschütz
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: plainpicture / Bildhuset, Masterfile
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-14275-9V004
www.goldmann-verlag.de
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Für Onkel Chippy (1929 – 2013)
Wie es anfängt
Komm schon, komm schon, komm schon…
Pam starrt zum Anschnallzeichen hinauf und wünscht sich, es würde erlöschen. Sie wird nicht mehr lange einhalten können, fast schon kann sie Jim hören, der mit ihr schimpft, weil sie vor dem Boarding nicht gegangen ist: Du weißt doch, dass du eine schwache Blase hast, Pam, was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?
In Wahrheit hat sie nicht gewagt, die Klos am Flughafen zu benutzen. Was, wenn sie sich in einer dieser futuristischen Toiletten wiedergefunden hätte, von denen sie im Reiseführer gelesen hat? Wenn sie nicht gewusst hätte, wie man die Spülung betätigt? Was, wenn sie sich versehentlich in der Kabine eingeschlossen und den Flug verpasst hätte? Joanie hatte ihr vorgeschlagen, einen Zwischenstopp einzulegen und für ein paar Tage die Stadt zu erkunden, bevor sie nach Osaka weiterfliegt – was für eine Schnapsidee! Allein die Vorstellung, sich auf den fremden Straßen von Tokio zurechtfinden zu müssen, lässt Pams ohnehin klamme Handflächen schweißnass werden – der Flughafen war schon verwirrend genug. Sie hatte sich wie eine schwerfällige Riesin gefühlt, als sie sich, zerknittert und verschwitzt vom Flug aus Fort Worth, zu ihrem Weiterflug ins Terminal 2 schleppte. Alle ringsum schienen vor Selbstvertrauen und Energie nur so zu sprühen; sie wurde von kleinen Menschen mit bewundernswerter Körperspannung überholt, die Aktentaschen schwangen und ihre Augen hinter dunklen Sonnenbrillen verbargen. Pam wurde sich jedes ihrer überflüssigen Pfunde bewusst, als sie sich in den Shuttlebus zwängte, und sie errötete, wann immer jemand einen Blick in ihre Richtung warf.
Auf dem Weg nach Tokio hatten jede Menge andere Amerikaner mit im Flugzeug gesessen (der Junge neben ihr hatte ihr geduldig erklärt, wie man das Videosystem bedient), aber beim Weiterflug wird ihr schmerzlich bewusst, dass sie die einzige … wie sagt man gleich? Wie heißt es in den Krimiserien, die Jim so gern schaut? Kaukasierin, das ist es. Und die Plätze sind auch viel kleiner; sie sitzt zwischen zwei Armlehnen eingeklemmt wie eine Sardine in der Dose. Immerhin ist zwischen ihr und dem Geschäftsmann auf dem Gangplatz ein Sitz frei geblieben – so muss sie sich keine Sorgen machen, den Mann aus Versehen zu berühren. Aber sie wird ihn stören und sich an ihm vorbeizwängen müssen, wenn sie zur Toilette geht, nicht wahr? Und, oje, es sieht so aus, als wäre er eingeschlafen, was bedeutet, dass sie ihn wecken wird.
Das Flugzeug hat an Höhe gewonnen, aber die Anschnallzeichen leuchten immer noch. Pam sieht aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, erkennt das rote Blinklicht an der Tragfläche durch einen Wolkenschleier, klammert sich an den Armlehnen fest und spürt, wie das Wummern der Flugzeugmotoren durch ihren Körper vibriert.
Jim hatte recht. Sie ist jetzt schon heillos überfordert von ihrer Mission, dabei hat sie ihren Zielort noch nicht einmal erreicht. Er hatte sie gewarnt, sie sei nicht der Typ für Fernreisen, er hatte ihr das Ganze ausreden wollen: Joanie kann jederzeit nach Hause kommen, Pam, da musst du nicht um die halbe Welt fliegen, um sie zu sehen. Und überhaupt, warum will sie unbedingt kleine Asiaten unterrichten? Sind ihr amerikanische Kinder nicht mehr gut genug? Außerdem, Pam, du magst nicht mal chinesisches Essen, was zum Teufel willst du machen, wenn sie dir da rohes Delfinfleisch oder so was servieren? Aber sie hatte nicht lockergelassen und hatte sich zu seiner großen Überraschung über seinen Widerstand hinweggesetzt. Joanie war seit zwei Jahren fort, und Pam musste sie sehen. Sie vermisste sie schrecklich, und nach den Fotos zu urteilen, die sie im Internet gesehen hatte, unterschieden sich die glitzernden Wolkenkratzer von Osaka kaum von einer typisch amerikanischen Skyline. Joanie hatte sie vorgewarnt, dass sie die japanische Kultur anfangs verwirrend finden könnte und dass Japan mehr zu bieten hatte als Kirschblüten und scheu lächelnde Geishas hinter aufgeklappten Fächern; aber Pam war überzeugt gewesen, damit zurechtzukommen. Sie hatte dämlicherweise auf einen Abenteuertrip gehofft, mit dem sie Reba noch Jahre später neidisch machen könnte.
Das Flugzeug richtet sich waagerecht aus, und endlich erlöschen die Anschnallzeichen. Eine Welle nervöser Hektik geht durch die Kabine, als einzelne Passagiere aufspringen und anfangen, in den Gepäckfächern zu wühlen. Pam betet, dass sich vor der Bordtoilette noch keine Warteschlange gebildet hat. Sie löst den Anschnallgurt und macht sich bereit, ihren massigen Leib an dem Mann auf dem Gangplatz vorbeizuschieben, als ein ohrenbetäubender Knall das Flugzeug erschüttert. Pam muss sofort an die Fehlzündung eines Autos denken, aber bei Flugzeugen gibt es so etwas nicht, oder? Sie schreit kurz auf – eine verzögerte Reaktion, für die sie sich sogleich schämt. Es ist nichts. Ein Donner vielleicht. Ja, das ist es. Im Reiseführer stand, Unwetter wären zu dieser Jahreszeit nichts Ungewöhnliches …
Noch ein Knall – und dieser klingt mehr nach einem Schuss. Ein Chor aus heiseren Stimmen erhebt sich im vorderen Flugzeugteil. Die Anschnallzeichen erleuchten, und Pam tastet nach ihrem Gurt; ihre Finger sind taub, sie hat vergessen, wie man ihn enger zieht. Das Flugzeug sackt ab, es ist, als drückten ihr zwei riesige Hände auf die Schultern, während ihr Magen durch die Speiseröhre aufwärtsrutscht. Oje. Nein. Das darf nicht wahr sein. Nicht jetzt. So etwas passiert nicht, nicht Menschen wie ihr, ganz normalen Menschen. Guten Menschen. Ein Ruck – die Klappen der Gepäckfächer rattern, und dann scheint das Flugzeug sich, Gott sei Dank, gefangen zu haben.
Ein Gong ist zu hören, japanisches Kauderwelsch, und dann: »Bitte bleiben Sie sitzen und schließen Sie den Anschnallgurt.« Pam atmet durch; die Stimme klang heiter, unbesorgt. Es kann also nichts allzu Ernstes sein, sie hat keinen Grund, in Panik auszubrechen. Sie versucht, einen Blick über ihre Rückenlehne zu werfen und zu sehen, wie die anderen reagieren, kann aber nichts erkennen als gesenkte Köpfe.
Wieder klammert sie sich an den Armlehnen fest; das Flugzeug vibriert jetzt stärker, ihre Hände werden richtig durchgerüttelt, und von unten spürt sie einen harten Schlag gegen die Schuhsohlen. In der Lücke zwischen den Vordersitzen taucht ein von rabenschwarzen Haarsträhnen halb verdecktes Auge auf; das muss das Kind sein, das vor dem Start von einer strengen jungen Frau mit knallrotem Lippenstift durch den Mittelgang gezerrt wurde. Der kleine Junge hatte sie unverhohlen angestarrt, so fasziniert war er anscheinend von ihrem Anblick gewesen (über die Asiaten kann man sagen, was man will, denkt sie, aber die Kinder sind zuckersüß). Sie hatte gewinkt und gelächelt, aber der Junge hatte nicht reagiert, und dann hatte seine Mutter ihn angezischt, woraufhin er gehorsam auf seinen Sitz und außer Sichtweite gerutscht war. Pam versucht zu lächeln, aber ihr Mund ist trocken und die Lippen kleben ihr an den Schneidezähnen fest, und das Vibrieren, o Gott, wird immer schlimmer.
Weißer Nebel zieht durch den Mittelgang und hüllt sie ein. Pam tippt hilflos auf dem Bildschirm vor ihrem Gesicht herum und sucht verzweifelt nach den Kopfhörern. Das passiert nicht wirklich. Das kann jetzt gar nicht wahr sein. Nein, nein, nein. Wenn sie es doch nur irgendwie schaffen könnte, den Videoschirm einzuschalten, einen Film zu schauen, etwas Heiteres – so etwas wie die romantische Komödie, die sie auf dem ersten Flug gesehen hat, die mit … Ryan irgendwas. Auf einmal gerät das Flugzeug in Schieflage, es scheint seitwärts zu schaukeln und gleichzeitig vor- und zurückzukippen, und wieder rutscht ihr Magen aufwärts – sie schluckt angestrengt, nein, sie wird sich jetzt nicht übergeben, o nein.
Der Geschäftsmann steht auf, und seine Arme werden jäh in die Höhe gerissen, als das Flugzeug absackt – es sieht aus, als wolle er das Gepäckfach öffnen, aber er kann das Gleichgewicht nicht halten. Was tun Sie da?, will Pam rufen – als würde die Tatsache, dass er nicht mehr auf seinem Platz sitzt, die Lage verschlimmern – und das Vibrieren wird immer stärker, sie muss daran denken, wie der Stabilisator ihrer Waschmaschine kaputtging und das blöde Ding über die Kacheln wanderte. Eine Flugbegleiterin taucht aus dem Nebel auf, hält sich rechts und links an den Kopfstützen fest. Sie zeigt auf den Geschäftsmann, der sich brav auf seinen Sitz zurücksinken lässt. Er wühlt in der Innentasche seines Jacketts, zieht ein Handy heraus, lehnt die Stirn an den Vordersitz und fängt zu telefonieren an.
Das sollte sie auch machen. Sie sollte Jim anrufen, mit ihm über Snookie reden, ihn daran erinnern, ihr nicht diesen billigen Fraß zu kaufen. Sie sollte Joanie anrufen; aber was soll sie ihr sagen – fast muss sie lachen –, dass sie sich verspäten wird? Nein, sie sollte ihr sagen, wie stolz sie auf sie ist, aber gibt es hier überhaupt Empfang? Stören die eingeschalteten Handys nicht die Navigationsgeräte? Braucht sie eine Kreditkarte, um das in den Vordersitz eingebaute Telefon zu benutzen?
Wo ist ihr Handy? Steckt es in der Bauchtasche, zusammen mit dem Geld und dem Reisepass und den Tabletten, oder hat sie es in ihrer Handtasche verstaut? Warum kann sie sich nicht erinnern? Sie bückt sich nach der Tasche, wobei sie das Gefühl hat, ihr Magen würde von innen gegen ihre Wirbelsäule gedrückt. Sie wird sich übergeben, sie weiß es genau, aber dann berühren ihre Finger den Henkel der Tasche – Joanie hat sie ihr geschenkt, Weihnachten vor zwei Jahren, kurz vor ihrem Abflug. Das war ein schönes Fest gewesen, sogar Jim hatte an dem Tag gute Laune gehabt. Ein weiterer Ruck, und der Henkel entgleitet ihr wieder. Sie will nicht sterben – nicht so. Nicht zwischen lauter Fremden, in diesem Aufzug, mit fettigen Haaren – die Dauerwelle war ein Fehler gewesen – und geschwollenen Füßen. Auf gar keinen Fall. Schnell, denk an etwas Schönes, an etwas Gutes. Ja. Das ist alles nur ein Traum, eigentlich sitzt sie zu Hause auf dem Sofa, mit einem Hühnchen-Mayo-Sandwich und Snookie auf dem Schoß, während Jim in seinem Fernsehsessel eingedöst ist. Sie sollte beten, genau das würde Pastor Len ihr jetzt raten – wird alles wieder gut, wenn sie jetzt betet? Aber zum ersten Mal im Leben fallen ihr die passenden Worte nicht ein. Sie bringt ein »Jesus, hilf mir« zusammen, doch schon schieben sich andere Gedanken dazwischen. Wer wird sich um Snookie kümmern, wenn ihr etwas zustößt? Snookie ist alt, fast schon zehn, warum hat sie sie allein gelassen? Hunde verstehen so etwas nicht. O Gott, ganz hinten in der Wäschekommode liegen die alten Feinstrumpfhosen mit den Laufmaschen, die sie längst hatte entsorgen wollen – was werden die anderen von ihr denken, wenn sie sie finden?
Der Nebel wird dichter, aufsteigende Galle verbrennt ihr die Speiseröhre, sie kann nur noch verschwommen sehen. Ein scharfes Knacken, und dann baumelt ein gelber Plastikbecher vor ihrem Gesicht. Noch mehr japanisches Kauderwelsch – sie spürt Druck auf den Ohren, sie schluckt und hat auf einmal den Geschmack der würzigen Bratnudeln im Mund, die sie auf dem ersten Flug gegessen hat. Die Durchsage ist nun auf Englisch: bla, bla, bla, bitte helfen Sie Mitreisenden, bla, bla, bla.
Der Geschäftsmann spricht weiter in sein Handy, es rutscht ihm aus der Hand, als das Flugzeug wieder einen Ruck macht, aber seine Lippen bewegen sich nach wie vor; er scheint gar nicht bemerkt zu haben, dass er sein Handy verloren hat. Pam kann nicht mehr genug von der Luft einatmen, die plötzlich metallisch schmeckt, künstlich, verschmutzt, und abermals muss sie würgen. Ein gleißender Lichtblitz blendet sie, sie will nach der Sauerstoffmaske greifen, die aber immer wieder an ihrer Hand vorbeischwingt, und dann riecht es verbrannt, so wie eine auf der Herdplatte vergessene Plastikschüssel. Einmal war ihr das passiert, sie hatte einen Pfannenwender auf der Kochplatte liegen lassen – Jim hatte wochenlang geschimpft. Meine Güte, du hättest fast das Haus abgebrannt.
Noch eine Durchsage: … brace, brace, brace for impact.
Vor ihrem geistigen Auge sieht sie einen leeren Stuhl, und dann packt sie das Selbstmitleid, so intensiv, dass es wehtut – das ist ihr Stuhl, der, auf dem sie jeden Mittwoch sitzt, beim Bibelkreis. Ein stabiler, verlässlicher, freundlicher Stuhl, der sich nie über ihr Gewicht beschwert hat und dessen Sitzfläche schon ganz abgenutzt ist. Sie erscheint überpünktlich zu den Treffen, um Kendra beim Aufstellen der Stühle zu helfen, und alle wissen, sie sitzt rechts von Pastor Len, direkt an der Kaffeemaschine. Am Tag vor ihrem Abflug haben die anderen für sie gebetet – sogar Reba hatte ihr eine gute Reise gewünscht. Mit von Stolz und Dankbarkeit geschwellter Brust hatte sie dagesessen, mit roten Wangen, weil sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Lieber Herr Jesus, bitte beschütze unsere Schwester und liebe Freundin Pamela, wenn sie… Das Flugzeug bebt, und gleich darauf folgt das Tacktacktack von Taschen und Laptops und anderem Gepäck, das aus den Fächern herunterregnet, aber wenn sie es schafft, sich weiterhin auf den leeren Stuhl zu konzentrieren, wird alles gut. Manchmal spielt sie das Spiel auf dem Rückweg vom Supermarkt: Wenn sie drei weiße Autos entdeckt, wird Pastor Len sie und nicht Reba bitten, sich um die Blumen zu kümmern.
Ein Reißen und Knirschen, als würden riesige Metallfingernägel über eine Tafel gezogen, der Fußboden schlägt Wellen, ein schweres Gewicht drückt ihren Kopf in Richtung ihrer Knie, sie spürt, wie ihre Zahnreihen gegeneinanderschlagen, und sie möchte die unbekannte, boshafte Person anschreien, die ihre Arme verdreht und nach oben zieht. Vor Jahren war ein Pick-up direkt vor ihr aus einer Parklücke ausgeschert, als sie unterwegs war, um Joanie von der Schule abzuholen. Damals war alles wie in Zeitlupe vor sich gegangen – sie hatte winzige Details wahrgenommen, den Sprung in der Windschutzscheibe, die Rostsprenkel auf der Motorhaube des Pick-ups, die schemenhafte Silhouette des käppitragenden Fahrers – aber das hier passiert viel zu schnell! Mach, dass es aufhört, es dauert schon viel zu lange – sie wird gepeitscht und geboxt und geschlagen; ihr Kopf, sie kann ihren Kopf nicht mehr halten, und dann kommt ihr der Vordersitz entgegen, ein weißes Licht glüht auf und blendet sie, und sie kann nicht …
Ein Lagerfeuer knistert und knackt, aber ihre Wangen sind kalt, eiskalt, um ehrlich zu sein; die Luft ist eisig. Befindet sie sich im Freien? Natürlich! Was sonst? Dumme Frage! Drinnen kann man kein Lagerfeuer machen, oder? Aber wo ist sie hier? Heiligabend kommen alle auf Pastor Lens Ranch zusammen – wahrscheinlich steht sie hinter dem Haus und beobachtet das Feuerwerk. Sie bringt immer ihren berühmten Dip mit blauem Schimmelkäse mit. Kein Wunder, dass sie sich so verloren fühlt! Sie muss den Dip vergessen haben, wahrscheinlich steht er zu Hause auf dem Küchentresen. Pastor Len wird enttäuscht sein und …
Da schreit jemand – es gehört sich nicht, am Heiligen Abend zu schreien, wer schreit an Weihnachten? Weihnachten ist eine besinnliche Zeit.
Sie hebt die Hand, um sich über die Augen zu wischen, aber offenbar kann sie nicht … Moment, da stimmt was nicht, sie liegt auf ihrem Arm, er ist hinter ihrem Rücken verdreht. Warum liegt sie am Boden? Ist sie eingeschlafen? Doch nicht an Weihnachten, wo es so viel zu tun gibt … Sie muss aufstehen, sich für ihre Unhöflichkeit entschuldigen; Jim sagt immer, sie solle sich zusammenreißen, sie solle sich mehr Mühe geben und ein bisschen …
Sie fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Es fühlt sich nicht richtig an; einer ihrer Schneidezähne ist abgebrochen, die Kante schneidet ihr in die Zunge. Sie beißt auf Sandkörner, schluckt – o Gott, es fühlt sich an, als hätte sie eine Rasierklinge verschluckt, was ist …
Und dann wird ihr schlagartig klar, was passiert ist, sie muss nach Luft schnappen, und dann setzt der Schmerz ein, der in ihrem rechten Bein seinen Ursprung hat und bis in ihren Unterleib hinaufschießt. Steh auf, steh auf, steh auf. Sie will den Kopf heben, aber schon beim Versuch spürt sie brennend heiße Nadelstiche in ihrem Nacken.
Noch ein Schrei – er scheint ganz aus der Nähe zu kommen. So etwas hat sie noch nie gehört – nackt, roh, kaum noch menschlich. Das muss aufhören, ihre Unterleibsschmerzen werden schlimmer davon, als führe ihr der Schrei direkt in die Eingeweide, als zerre er mit jedem Heulton daran.
O Gott sei Dank, sie kann ihren rechten Arm bewegen, im Zeitlupentempo, sie tastet sich den Bauch ab und berührt etwas Weiches, Nasses, das da auf keinen Fall sein sollte. Sie darf jetzt nicht darüber nachdenken. O Gott, sie braucht Hilfe, jemand muss kommen und ihr helfen, hätte sie doch nur auf Jim gehört, wäre sie nur zu Hause bei Snookie geblieben, hätte sie nicht so viel Schlechtes über Reba gedacht …
Hör auf damit. Sie darf jetzt nicht panisch werden. Das sagt man doch, bloß nicht panisch werden. Sie ist am Leben. Sie sollte dankbar sein. Sie sollte aufstehen und sich umsehen. Sie ist nicht mehr in ihrem Sitz, das weiß sie genau, sie liegt auf weichem, moosigem Untergrund. Sie zählt bis drei und versucht, sich auf den unverletzten Arm zu stützen und auf die Seite zu rollen, aber ein Höllenschmerz lässt sie innehalten, abrupt und schockierend wie ein Stromstoß fährt er durch ihren gesamten Körper. Der Schmerz ist so intensiv, sie kann nicht glauben, dass er zu ihr gehören soll. Sie hält absolut still, und der Schmerz verebbt gnädigerweise und lässt ihre Glieder angstvoll betäubt zurück (auch darüber darf sie jetzt nicht nachdenken, nein, nein).
Sie kneift die Augen zu, öffnet sie wieder. Blinzelt ein paarmal, um sehen zu können. Zaghaft dreht sie den Kopf nach rechts, und diesmal gelingt ihr die Bewegung, ohne dass der entsetzliche Schmerz dazwischenfährt. Gut. Ein orangeroter Lichtfetzen in der Ferne lässt nichts hervortreten als Silhouetten, aber sie kann Baumstämme erkennen – seltsam verdrehte Stämme von Bäumen, wie sie noch keine gesehen hat – und dort, direkt vor ihr, ein rundes, verbogenes Metallteil. O Gott, ist das das Flugzeug? Ja, ist es, sie erkennt das Oval eines Fensters. Ein Ploppen, ein Zischen, ein Rumpeln, und dann ist plötzlich alles taghell. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, aber sie schaut nicht weg. Sie wird hinsehen. Sie sieht die ausgefransten Kanten des Rumpfes, von dem alle Teile brutal abgerissen wurden … wo sind sie? Hat sie in dem Kabinenteil gesessen? Unmöglich. Das hätte sie nicht überlebt. Es sieht aus wie ein riesiges, kaputtes Spielzeug, und dann muss sie an die Vorgärten in dem Trailerpark denken, wo Jims Mutter gewohnt hat. Überall Müll und Autoteile und kaputte Dreiräder, sie war nicht gern hingefahren, obwohl Jims Mutter immer nett zu ihr gewesen war … Ihre Körperhaltung schränkt ihr Sichtfeld ein, Pam ignoriert das Knacken und dreht den Kopf, bis ihre Wange ihre Schulter berührt.
Das Geschrei erstirbt abrupt, mitten im Schmerzgeheul. Gut. Sie möchte hier nicht von anderer Leute Schmerz und Gejammer noch zusätzlich belastet werden.
Moment … da bewegt sich etwas, drüben an den Bäumen. Ein dunkler Umriss – ein Mensch, ein Kind vielleicht? Der Junge, der eine Reihe vor ihr saß? Sie wird von Scham überwältigt – als das Flugzeug abgestürzt ist, hat sie keinen Gedanken an ihn oder an seine Mutter verschwendet. Sie hat nur an sich selbst gedacht. Kein Wunder, dass sie nicht beten konnte, was für eine Christin ist sie eigentlich? Die Gestalt schlüpft enttäuschenderweise aus ihrem Sichtfeld, aber noch weiter kann sie den Kopf nicht drehen.
Sie versucht, den Mund aufzumachen und zu rufen, doch diesmal kann sie ihren Kiefer anscheinend nicht bewegen. Bitte. Ich bin hier. Krankenhaus. Hilfe.
Ein dumpfer Aufschlag hinter ihrem Kopf. »Ack«, bringt sie hervor. »Ack.« Etwas berührt ihr Haar, und sie spürt Tränen über ihre Wangen fließen – sie ist in Sicherheit. Sie sind gekommen, um sie zu retten.
Das gedämpfte Klopfen schneller Schritte. Geh nicht weg. Lass mich nicht allein.
Auf einmal tauchen nackte Füße vor ihren Augen auf. Kleine, schmutzige Füße, es ist dunkel, so dunkel, und die Füße sind offenbar mit einer schwarzen Pampe beschmiert – Schlamm? Blut?
»Hilfe, Hilfe, Hilfe«, ja, es klappt, sie spricht. Gut gemacht. Wenn sie sprechen kann, wird alles gut. Sie steht lediglich unter Schock. Das ist alles. »Hilfe.«
Ein Gesicht beugt sich herunter. Es ist so nah, dass sie den Atem des Jungen an ihrer Wange spüren kann. Sie versucht, sich auf seine Augen zu konzentrieren. Sind sie …? Nein, nein. Es liegt am mangelnden Licht. Sie sind weiß, vollkommen weiß, keine Pupillen, o Jesus hilf mir. Ein Schrei bündelt sich in ihrem Brustkorb, bleibt ihr im Hals stecken, sie bekommt ihn nicht heraus, sie wird daran ersticken. Das Gesicht zuckt zurück. Ihre Lunge fühlt sich schwer an, verflüssigt. Das Atmen tut jetzt weh.
Irgendwo hinten rechts bewegt sich etwas. Ist es das Kind? Wie konnte es so schnell von hier nach da kommen? Es scheint auf etwas zu zeigen … Formen, dunkler noch als die Bäume ringsum. Menschen. Das sind definitiv Menschen. Das orangerote Licht erlischt, aber sie kann die Konturen deutlich erkennen. Es sind Hunderte, wie es scheint, und sie kommen auf sie zu. Sie schweben zwischen den Bäumen durch, diesen merkwürdigen Bäumen mit den knotigen, verbeulten Ästen, krumm wie alte Finger.
Wo sind die Füße? Sie haben keine Füße. Da stimmt was nicht.
Oje. Sie sind nicht real. Sie können es nicht sein. Pam kann ihre Gesichter nicht erkennen, nur tintenschwarze Flecke, flach und unbewegt, während das Licht im Hintergrund noch einmal aufflackert und dann erlischt.
Sie kommen, sie zu holen. Pam weiß es genau.
Die Angst verfliegt, und an ihre Stelle tritt die Gewissheit, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Es ist, als übernähme eine kalte, selbstbewusste Pam – eine neue Pam, die Pam, die sie immer sein wollte – diesen verletzten, sterbenden Körper. Sie ignoriert das matschige Loch, das einmal ihr Unterleib war, und tastet nach der Bauchtasche. Sie ist noch da, wenn auch zur Seite gerutscht. Sie schließt die Augen und konzentriert sich darauf, den Reißverschluss zu öffnen. Ihre Finger sind nass und glitschig, aber sie darf jetzt nicht aufgeben.
Ein Flappen dröhnt ihr in den Ohren, ein Licht kommt herunter und tanzt auf ihr und um sie herum. Sie kann eine Reihe körperloser Sitze erkennen, in deren Metallrahmen sich das Licht verfängt, und einen hochhackigen Schuh, der völlig ungetragen aussieht. Sie beobachtet, ob das Licht die anrückende Menge abschreckt, aber die schiebt sich weiter vorwärts, und immer noch kann Pam keine Gesichter erkennen. Und wo ist eigentlich der Junge? Wenn sie ihm doch nur sagen könnte, dass er weglaufen muss, denn sie weiß, was die wollen, o ja, sie weiß es genau. Sie versucht, nicht mehr daran zu denken, nicht jetzt, da sie es fast geschafft hat. Sie schiebt die Hand in die Tasche, fiept vor Erleichterung, als ihre Finger an die glatte Rückseite des Handys stoßen. Sie zieht es vorsichtig heraus, immer bemüht, es nicht fallen zu lassen – sie hat genug Zeit, sich über die Panik zu wundern, die sie eben noch gespürt hat, als sie sich nicht erinnern konnte, wo das Handy war –, und sie befiehlt ihrem Arm, das Handy vor ihr Gesicht zu halten. Was, wenn es nicht funktioniert? Wenn er gebrochen ist?
Nein, er darf nicht gebrochen sein, das wird sie nicht zulassen, und sie krächzt triumphierend, als sie den hellen Einschaltton hört. Fast geschafft … Ein missbilligendes »Ts« – sie ist so ein Tollpatsch, das Display ist blutverschmiert. Sie sammelt ihre letzte Kraft und konzentriert sich, findet den Menüpunkt »Stimmaufnahme«. Das Flappen ist jetzt ohrenbetäubend laut, aber Pam blendet es aus, so wie die Tatsache, dass sie nichts mehr sehen kann.
Sie hält sich das Handy an die Lippen und spricht hinein.
SCHWARZER DONNERSTAG
VOM ABSTURZ ZUR VERSCHWÖRUNG
Die wahre Geschichte der »Drei«
ELSPETH MARTINS
Jameson & White Verlag
New York * London * Los Angeles
Vorwort der Autorin
Es gibt wohl nur wenige Leser, die nicht vor Angst eine Gänsehaut bekommen, wenn vom Schwarzen Donnerstag die Rede ist. Jener Tag, der 12. Januar 2012, an dem innerhalb weniger Stunden vier Passagierflugzeuge abstürzten und über tausend Menschen in den Tod rissen, wird als eine verheerende Katastrophe in die Geschichte eingehen. Er hat unsere Sicht auf die Welt verändert.
Wie zu erwarten war, wurde der Markt in den Wochen nach der Tragödie mit Tatsachenberichten, Blogs, Biografien und Kommentaren überflutet, deren Verfasser versuchten, aus der morbiden Lust des Publikums am Unglück anderer und aus dem Schicksal der drei überlebenden Kinder, Die Drei genannt, Kapital zu schlagen. Aber niemand hatte mit der makaberen Ereigniskette gerechnet, die die Katastrophe auslöste, oder mit dem Tempo, in dem die Situation eskalierte.
So wie bei Ausgerastet, meiner Studie über Waffenkriminalität bei US-amerikanischen Minderjährigen, habe ich auch im vorliegenden Buch die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen und einen möglichst objektiven Tatsachenbericht zusammengestellt. Aus diesem Grund habe ich mich aus vielfältigen Quellen bedient, darunter Paul Craddocks unvollendete Autobiografie, Chiyoko Kamamotos gesammelte Chatnachrichten sowie zahlreiche Interviews mit Augenzeugen, die ich persönlich geführt habe.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass einige meiner Leser das von mir verwendete Material zutiefst verstörend finden werden. Darunter fallen beispielsweise die Augenzeugenberichte der Ersthelfer an den Absturzstellen, die Aussagen gläubiger und ehemaliger Pamelisten, die am Unglücksort des Sun-Air-Fluges 678 gefundenen isho sowie das bislang nie veröffentlichte Gespräch mit dem von Paul Craddock beauftragten Exorzisten.
Ich gebe offen zu, Auszüge aus Zeitungsartikeln und Magazinbeiträgen in mein Buch eingearbeitet zu haben, um den Kontext zu beleuchten (in manchen Fällen auch aus erzählerischen Gründen); mein Hauptanliegen ist es jedoch, wie schon bei meinem Projekt Ausgerastet, den unmittelbar Betroffenen der Ereignisse von Januar bis Juli 2012 eine neutrale Plattform zu bieten. Vor diesem Hintergrund bitte ich meine Leser, stets im Hinterkopf zu behalten, dass sämtliche hier aufgeführte Berichte subjektiv und persönlich sind. Ich lade Sie ein, Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Elspeth Martins
New York
30. August 2012
Sie sind hier. Ich bin… gib Snookie keine Schokolade, für Hunde ist das reines Gift, sie wird betteln… der Junge. Der Junge sieh dir den Jungen an, sieh dir die Toten an, o Gott, es sind so viele… Sie kommen jetzt, mich zu holen. Wir alle müssen jetzt gehen. Wir alle. Bye, Joanie, ich liebe die Handtasche, bye, Joanie, Pastor Len, Sie müssen sie warnen, dieser Junge, dieser Junge, man darf ihm nicht…
Letzte Worte von Pamela May Donald (1961 – 2012)
Erster Teil
Absturz
Aus dem Eingangskapitel von Vormund von JESS: Mein Leben mit einer der »Drei« von Paul Craddock (unter Mithilfe von Mandi Solomon).
Ich habe Flughäfen immer gemocht. Nennen Sie mich einen hoffnungslosen Romantiker, aber früher fand ich nichts spannender, als zu beobachten, wie Familien und Liebespaare einander wiedersehen – dieser Bruchteil einer Sekunde, wenn die müden Sonnenbrandträger durch die Glastür treten und ihre Augen im Moment des Wiedererkennens aufleuchten. Als Stephen mich bat, ihn und die Mädchen von Gatwick abzuholen, erfüllte ich ihm den Wunsch mit Freuden.
Ich kam eine gute Stunde zu früh. Ich wollte eher da sein, in Ruhe einen Kaffee trinken und Leute beobachten. Heute erscheint mir die Vorstellung befremdlich, aber an jenem Nachmittag war ich bester Laune. Man hatte mich zu einem zweiten Vorsprechen für die Rolle des schwulen Butlers in der dritten Staffel von Cavendish Hall eingeladen (ich bin auf solche Rollen festgelegt, natürlich, aber mein Agent Gerry war der Meinung, dass ich damit endlich den großen Durchbruch schaffen würde), und ich hatte zudem einen Parkplatz gefunden, der keinen Tagesmarsch vom Eingang des Terminals entfernt lag. Und es war mein Genießertag, ich erlaubte mir einen Latte mit extra viel Schaum, bevor ich mich zu der Menschentraube gesellte, die hinter der Gepäckausgabe auf die Heimkehrer wartete. Neben dem Cup ’n Chow war ein Team von mauligen, unfassbar ungeschickten Praktikanten dabei, eine kitschige, längst überfällige Weihnachtsdeko aus dem Schaufenster zu räumen. Ich beobachtete das Drama belustigt, denn mir war in keiner Weise bewusst, dass mein eigenes in Kürze beginnen würde.
Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, einen Blick auf die Ankunftstafel zu werfen und mich zu informieren, ob der Flug pünktlich war, und so erwischte es mich völlig unvorbereitet, als eine nasale Stimme aus den Lautsprechern tönte: »Alle Abholer für Go!Go!-Airlines Flug 277 aus Teneriffa. Bitte begeben Sie sich zum Informationsschalter. Vielen Dank.« Ist das nicht Stephens Flug?, dachte ich und überprüfte die Angaben in meinem Blackberry, ohne mir große Sorgen zu machen. Wahrscheinlich war ich der Meinung, der Flug habe Verspätung. Es kam mir nicht in den Sinn, mich zu wundern, warum Stephen mich nicht angerufen und vorgewarnt hatte.
Man denkt immer, so etwas passiert nur den anderen, nicht wahr?
Anfangs war unsere Gruppe klein – andere Abholer, die wie ich früh dran waren. Ein hübsches Mädchen mit einem herzförmigen Luftballon am Stiel, ein Typ mit Dreadlocks und Ringerfigur, ein Paar im mittleren Alter mit Raucherteint und identisch aussehenden, kirschroten Trainingsanzügen. Keine Leute, mit denen ich unter normalen Umständen freiwillig Zeit verbringen würde. Seltsam, wie sehr der erste Eindruck manchmal täuscht. Sie alle zähle ich inzwischen zu meinen engsten Freunden. Nun ja, so eine Erfahrung schweißt zusammen, nicht wahr?
Die entsetzte Miene des pickligen Teenagers, der hinter dem Infotresen stand, und das käsebleiche Gesicht der Frau vom Sicherheitsdienst daneben hätten mir gleich sagen müssen, dass etwas Schlimmes auf mich zukommen würde. Aber in dem Moment fühlte ich nichts als eine gewisse Gereiztheit.
»Was ist denn los?«, fuhr ich den Jungen mit feinstem Cavendish-Hall-Akzent an.
Der Teenager fing an zu stottern. Wir sollten ihm bitte folgen, man würde uns »weitere Informationen zukommen lassen«.
Wir alle gehorchten, obwohl ich mich zugegebenermaßen darüber wunderte, dass das Ehepaar im Jogginganzug keinen Ärger machte. Sie wirkten nicht wie Leute, die irgendwelchen Aufforderungen nachkamen. Aber wie sie mir später bei einem Treffen unserer 277-Selbsthilfegruppe erzählten, befanden sie sich in dem Moment bereits in der Verleugnungsphase. Sie wollten gar nicht wissen, was passiert war, und falls das Flugzeug einen Unfall gehabt hatte, wollten sie es nicht aus dem Mund eines jungen Mannes hören, der noch halb in der Pubertät steckte. Der Teenager eilte voraus, vermutlich nur, um unseren Fragen zu entgehen, und führte uns zu einer unauffälligen Tür direkt neben dem Zoll. Wir liefen durch einen langen Korridor, dessen abgeblätterte Wandfarbe und abgewetzter Teppichboden uns ahnen ließen, dass dieser Flughafenbereich normalerweise nicht den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt war. Ich weiß noch, dass ich einen rebellischen Hauch von Zigarettenqualm wahrnahm, der unter krasser Missachtung des allgemeinen Rauchverbots aus einem der Büros wehte.
Wir erreichten einen tristen, fensterlosen Warteraum, der mit uralten weinroten Wartezimmerstühlen ausgestattet war. Mein Blick fiel auf einen dieser rohrförmigen Aschenbecher aus den Siebzigern, der halb versteckt hinter einer Plastikhortensie stand. Seltsam, woran man sich erinnert, nicht wahr?
Ein Mann mit Polyesteranzug und Klemmbrett kam uns entgegengewatschelt. Sein Adamsapfel hüpfte wie der eines Tourettepatienten. Er war bleich wie eine Leiche, nur seine Wangen glühten von schwerem Rasurbrand. Sein Blick irrte durch den Raum und blieb kurz an mir hängen, bevor er sich in weiter Ferne verlor.
Ich glaube, in dem Moment traf mich die Erkenntnis. Die übelkeiterregende Einsicht, dass ich etwas hören würde, was mein Leben für immer veränderte.
»Los, raus damit«, sagte Kelvin – der mit den Dreadlocks – schließlich.
Der Anzugträger schluckte angestrengt. »Es tut mir furchtbar leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Flug 277 ist vor ungefähr einer Stunde vom Radar verschwunden.«
Die ganze Welt fing zu schwanken an, und ich spürte den sanften Anflug einer Panikattacke. Meine Finger kribbelten, ich fühlte eine Enge in der Brust. Dann stellte Kelvin die Frage, die kein anderer von uns zu stellen wagte. »Sind sie abgestürzt?«
»Wir können das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, aber bitte seien Sie versichert, dass wir Sie informieren werden, sobald wir weitere Erkenntnisse haben. Ein Seelsorgerteam steht bereit für diejenigen von Ihnen, die …«
»Was ist mit Überlebenden?«
Die Hände des Anzugträgers zitterten, das zwinkernde Flugzeug auf seinem Go!Go!-Button schien uns in seiner dreisten Sorglosigkeit zu verhöhnen. »Die sollten sich in Gay!Gay!-Air umbenennen«, witzelte Stephen, wann immer die grässlichen Werbespots der Airline im Fernsehen liefen. Er war der Meinung, das Flugzeug im Logo sei schwuler als ein Reisebus voller Dragqueens. Mich kränkte das nicht; unser Verhältnis hielt das aus. »Wie ich schon sagte«, stammelte der Anzug, »ein Team von Seelsorgern steht bereit, wenn Sie …«
Mel, die weibliche Hälfte des Jogginganzugpärchens, meldete sich zu Wort. »Ihre Seelsorger können mich mal, sagen Sie uns einfach, was passiert ist.«
Das Mädchen mit dem Luftballon fing so herzergreifend zu schluchzen an wie eine Figur aus EastEnders, und Kelvin legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie ließ den Ballon fallen, der traurig über den Boden hüpfte und schließlich neben dem Retro-Aschenbecher liegen blieb. Nach und nach trudelten weitere Abholer ein, angeführt von Go!Go!-Angestellten, die genauso bestürzt und hilflos wirkten wie der picklige Teenager.
Mels Gesicht lief so kirschrot an wie ihr Jogginganzug, während sie dem Airlinevertreter mit dem Finger vor dem Gesicht herumfuchtelte. Alle schienen zu schreien oder zu weinen, nur ich spürte mich der Situation seltsam entfremdet, als stünde ich auf einem Filmset und warte auf meinen Einsatz. Furchtbar, es zugeben zu müssen, aber ich dachte: Merk dir das Gefühl, Paul, das kannst du später vor der Kamera gebrauchen. Ich bin nicht stolz darauf. Ich will nur ehrlich sein.
Ich starrte den Ballon an, und dann hörte ich plötzlich die glockenhellen Stimmen von Jessica und Polly: »Aber Onkel Paaaaauuuul, warum bleibt das Flugzeug in der Luft?« Am Sonntag vor ihrem Urlaub hatte Stephen mich zum Mittagessen eingeladen, und die Zwillinge konnten gar nicht aufhören, mich mit Flugzeugfragen zu löchern; offenbar hielten sie mich für eine Quelle des Luftfahrtwissens. Sie würden zum ersten Mal fliegen, sie freuten sich mehr auf das Flugzeug als auf den Urlaub an sich. Ich weiß noch, wie ich versuchte, mich zu erinnern, was Stephen als Letztes zu mir gesagt hatte; es war irgendwas in der Richtung: »Ich seh dich, wenn du älter bist, Kumpel.« Wir waren zweieiig, aber wie hatte mir entgehen können, dass etwas Schreckliches passiert war? Ich zog mein Handy aus der Tasche, weil mir einfiel, dass Stephen am Vortag eine SMS geschickt hatte: »Die Mädels lassen grüßen. Anlage ist voller Deppen. Wir landen um 15:30, sei pünktlich :)« Ich scrollte mich auf der Suche danach durch sämtliche Nachrichten. Es schien mir auf einmal überlebenswichtig, Stephens SMS zu finden und zu archivieren. Sie war nicht mehr da. Ich musste sie versehentlich gelöscht haben.
Noch Wochen später wünschte ich mir, ich hätte die SMS gespeichert.
Irgendwie gelangte ich in den Ankunftsbereich zurück. Ich weiß nicht mehr, wie oder ob jemand mich aufzuhalten versuchte, als ich den gruseligen Warteraum verließ. Ich ließ mich treiben und spürte, dass die Leute glotzten, aber in dem Moment waren sie alle nur noch unwichtige Statisten. Etwas hing in der Luft, ähnlich dem bedrückenden Gefühl kurz vor einem Gewitter. Ich dachte, leckt mich, ich brauche einen Drink, was mir, der ich nun schon gute zehn Jahre trocken war, gar nicht ähnlich sah. Ich schlafwandelte zu dem irisch aufgemachten Pub am anderen Ende des Terminals hinüber. Ein paar Halbstarke im Anzug standen an der Bar und starrten zum Fernseher hoch. Einer davon, ein rotgesichtiger Trottel mit Möchtegern-Cockney, verbreitete sich viel zu laut über 9/11 und dass er um 17:50 Uhr in Zürich sein müsse, andernfalls würden »Köpfe rollen«. Als ich mich ihm näherte, verstummte er mitten im Satz, und die anderen wichen beiseite und machten mir Platz, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Inzwischen habe ich natürlich erfahren, dass Trauer und Angst sehr wohl ansteckend sind.
Die TV-Lautstärke war voll aufgedreht, und die Nachrichtensprecherin – eine dieser amerikanischen Schreckensgestalten mit Botoxgesicht, Tom-Cruise-Gebiss und tonnenweise Make-up – plauderte in die Kamera. Hinter ihr war eine Aufnahme zu sehen, die eine Art Sumpf zeigte, über dem ein Helikopter schwebte. Und dann las ich die Einblendung: Maiden-Airlines-Flug in den Everglades abgestürzt.
Die haben was verwechselt, dachte ich, Stephen und die Mädchen sind mit Go!Go! geflogen, nicht mit dem Flugzeug da.
Und dann verstand ich. Eine zweite Maschine war heruntergekommen.
Um 14:35 (CAT) stürzte eine als Fracht- und Passagiermaschine genutzte Antonow An-124 der nigerianischen Dalu Air über dem Zentrum von Khayelitsha ab, dem am dichtesten besiedelten Township Kapstadts. Liam de Villiers war einer der ersten Helfer vor Ort. Der ausgebildete Rettungssanitäter war seinerzeit für Cape Medical Response tätig und arbeitet heute als Traumatherapeut. Das folgende Interview wurde via Skype und E-Mail geführt und zu einem Gesamtbericht zusammengefasst.
Wir hatten gerade mit einem Unfall auf dem Baden Powell Drive zu tun, als es passierte. Ein Taxi hatte einem Mercedes die Vorfahrt genommen und sich überschlagen, aber es war nicht allzu schlimm. Der Taxifahrer hatte keine Gäste dabeigehabt und war mit leichten Verletzungen davongekommen, trotzdem würden wir ihn in die Notaufnahme bringen und die Wunden nähen lassen müssen. Es war einer jener seltenen windstillen Tage. Der wochenlang vorherrschende Südostwind hatte sich ausgetobt, und an der Gipfelkante des Tafelbergs hingen nur ein paar kleine Wölkchen. Ein wunderschöner Tag, hätte man wohl sagen können, auch wenn wir ein bisschen zu dicht an der Macassar-Kläranlage geparkt hatten, um die frische Luft zu genießen. Nachdem ich den Gestank zwanzig Minuten in der Nase gehabt hatte, war ich froh, mein Mittagessen von Kentucky Fried Chicken noch nicht vertilgt zu haben.
An dem Tag war ich mit Cornelius unterwegs, dem Neuen. Ein cooler Typ mit einem guten Sinn für Humor. Während ich den Taxifahrer verarztete, plauderte Cornelius mit zwei Verkehrspolizisten, die an den Unfallort gerufen worden waren. Der Taxifahrer brüllte in sein Handy und log seinen Boss an, während ich die Wunde an seinem Oberarm verband. Man hätte meinen können, ihm wäre nichts passiert; er hat kein einziges Mal gezuckt. Ich wollte Cornelius gerade bitten, der Notaufnahme vom False Bay Bescheid zu geben, dass wir ihnen einen Patienten bringen würden, als ein Getöse aus dem Himmel uns alle hochschrecken ließ. Die Hand des Taxifahrers erschlaffte, und sein Handy fiel klappernd zu Boden.
Und dann sahen wir es. Ich weiß, alle beschreiben es so, aber es sah tatsächlich aus wie eine Szene aus einem Actionfilm. Man konnte nicht glauben, dass das wirklich passierte. Die Maschine flog so tief, dass ich die abgeblätterte Farbe des Logos sehen konnte – Sie wissen schon, dieser grüne Schnörkel um das große D. Das Fahrwerk war draußen, und die Flügel wippten wild hin und her wie bei einem Seiltänzer, der das Gleichgewicht verliert. Ich weiß noch, wie ich dachte: Der Flughafen liegt in der entgegengesetzten Richtung, was zum Teufel macht der Pilot da?
Cornelius rief etwas und ruderte mit den Armen. Ich konnte ihn nicht hören, aber ich wusste, was er mir sagen wollte. Mitchell’s Plain, wo seine Familie wohnte, war nicht weit entfernt von der Stelle, auf die das Flugzeug zusteuerte. Es würde ganz offensichtlich abstürzen; nicht, dass es gebrannt hätte oder so, aber es war eindeutig in Schwierigkeiten.
Das Flugzeug verschwand außer Sichtweite, wir hörten einen Rumms, und dann, ich schwöre es, bebte die Erde. Später erzählte uns Darren, unser Funker, wir wären zu weit entfernt gewesen, um die Druckwelle zu spüren, aber ich kann mich genau erinnern. Sekunden später quoll eine schwarze Wolke gen Himmel. Sie war riesig, ich musste an die Bilder aus Hiroshima denken. Und ich dachte, Jesus, das hat keiner überlebt.
Wir überlegten nicht. Cornelius sprang in den Wagen und funkte die Zentrale an. Wir seien Zeugen eines großen Crashs geworden, der Katastrophenschutz müsse alarmiert werden. Ich erklärte dem Taxifahrer, er solle auf einen anderen Krankenwagen warten, der ihn zur Notaufnahme bringen würde, und in Cornelius’ Richtung schrie ich: »Sag ihnen, es ist Stufe drei. Sag es ihnen, Stufe drei!« Die Cops waren schon losgefahren und auf dem Weg zur Ausfahrt Khayelitsha-Harare. Ich sprang hinten in den Rettungswagen, das Adrenalin schoss durch meine Adern und spülte die Müdigkeit der letzten zwölf Dienststunden weg.
Während Cornelius dem Streifenwagen hinterherfuhr, holte ich die Notfallrucksäcke heraus, kramte in den Fächern nach Verbrennungskompressen und Flaschen mit Infusionsflüssigkeit und allem, was wir sonst noch brauchen würden, und legte es hinten auf die Trage. Wir haben den Fall natürlich geübt – für einen Flugzeugabsturz, meine ich. Es gibt ein ausgewiesenes Trainingsgelände bei Fish Hoek an der False Bay, und ich fragte mich, ob der Pilot sich entschieden hatte, dort zu landen, als er merkte, dass er es nicht bis zum Flughafen schaffen würde. Aber ich will ehrlich bleiben – eine Übung ist eine Sache, ich hätte nie geglaubt, dass wir einmal in so eine Situation kommen würden.
Die Fahrt hat sich mir unbeschreiblich tief ins Gedächtnis eingegraben. Das Knacken und Pfeifen des Funkgeräts, die konferierenden Stimmen, Cornelius’ weiße Fingerknöchel am Lenkrad, der Gestank des Fast Foods, das zu essen ich keine Gelegenheit mehr bekommen würde. Und wissen Sie, das klingt jetzt herzlos, aber es gibt tatsächlich Teile von Khayelitsha, in die wir im Traum nicht reinfahren würden. Es kommt immer wieder vor, dass Kollegen da überfallen werden – jeder Sanitäter kann Ihnen das bestätigen –, aber diesmal war es anders. Mir kam nicht einmal der Gedanke, die Fahrt durch Little Brazzaville könnte gefährlich sein. Darren war wieder am Funkgerät und erklärte Cornelius den Ablauf, Schritt für Schritt. Wir würden warten müssen, bis die Unfallstelle gesichert war. In Momenten wie diesen sind keine Helden gefragt. Man darf nicht riskieren, sich zu verletzen und zu einem zusätzlichen Notfall für die Kollegen zu werden.
Als wir uns der Absturzstelle näherten, konnte ich die Schreie hören, die das Geheul der von allen Seiten anrückenden Sirenen übertönten. Eine Rauchwolke wälzte sich auf uns zu und überzog die Windschutzscheibe mit einem Schmierfilm, sodass Cornelius langsamer fahren und die Scheibenwischer einschalten musste. Der beißende Geruch von brennendem Benzin drang in den Rettungswagen ein. Ich bekam den Gestank tagelang nicht mehr von der Haut. Cornelius stieg auf die Bremse, als uns eine Menschenmenge entgegengeströmt kam. Die meisten trugen TV-Geräte, weinende Kinder, Möbelstücke, sogar Hunde auf dem Arm. Sie waren keine Plünderer, diese Leute, sie wussten einfach nur, wie schnell sich in dieser Gegend Brände ausbreiten können. Die meisten Häuser sind dicht aneinandergebaut, Hütten aus Holz und rostigen Eisenteilen, der ideale Zunder, ganz zu schweigen von den Unmengen von Petroleum, die hier lagern.
Wir kamen nur noch im Schneckentempo voran, ich hörte die Leute mit Händen gegen die Seiten des Rettungswagens schlagen. Ich duckte mich, ehrlich, als ich den Knall einer weiteren Explosion hörte, und dann dachte ich, Scheiße, das war’s. Über uns donnerten die Helikopter hinweg, und ich schrie Cornelius an, er solle anhalten – wir würden ganz offensichtlich nicht weiterkommen, ohne unsere Sicherheit zu gefährden. Ich kletterte durch die Hintertüren ins Freie und machte mich auf das Schlimmste gefasst.
Das reinste Chaos. Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dass ein Flugzeug abgestürzt war, ich hätte es nicht geglaubt – ich hätte gedacht, da wäre eine Megabombe explodiert. Und die Hitze, die uns entgegenschlug … Später habe ich die Aufnahmen gesehen, die von den Helikoptern aus gemacht wurden: die schwarze Furche im Boden, die platt gewalzten Hütten, die Schule, die die Amerikaner gebaut hatten, zerdrückt wie ein Streichholzhäuschen; die Kirche in der Mitte durchgerissen wie ein klappriger Gartenschuppen.
»Da sind noch welche! Da sind noch mehr! Helfen Sie uns!«, riefen die Leute. »Hier drüben! Hier!«
Ich hatte den Eindruck, dass Hunderte von Hilfesuchenden auf uns zuströmten, aber glücklicherweise drängten die beiden Cops, die schon bei dem Autounfall zur Stelle gewesen waren, sie zurück, sodass wir uns einen Überblick verschaffen konnten. Cornelius fing an, die Verletzten in drei Triagegruppen aufzuteilen und diejenigen auszuwählen, die am dringendsten versorgt werden mussten. Das erste Kind, das ich zu sehen bekam, würde nicht überleben, das wusste ich sofort. Seine verwirrte Mutter erzählte mir, sie hätten geschlafen, als sie von einem ohrenbetäubenden Krach geweckt wurde, und dann seien Metallteile durch die Schlafzimmerdecke geschlagen. Inzwischen weiß man, dass das Flugzeug beim Aufprall zerschellte und die brennenden Trümmer auf die Siedlung regneten wie Agent Orange.
Als Erster war ein Arzt vom Khayelitsha Hospital zur Stelle, der wirklich fantastische Arbeit geleistet hat. Der Mann hatte es drauf. Noch bevor der Katastrophenschutz eintraf, hatte er die Standorte für die Triagezelte, die Leichen und den Ambulanzbereich festgelegt. So etwas muss man systematisch angehen, man darf nichts überstürzen. Die äußere Schutzzone war in Rekordzeit abgesperrt worden, und die Retter und Feuerwehrleute vom Flughafen kamen nur Minuten nach uns an, um die Unfallstelle zu sichern. Es war absolut wichtig, weitere Explosionen zu verhindern. Wir alle wussten, wie viel Sauerstoff sich an Bord eines Flugzeugs befindet, vom Treibstoff ganz zu schweigen.
Wir kümmerten uns hauptsächlich um verletzte Townshipbewohner. Zumeist Verbrennungen, von umherfliegenden Metallteilen zerhackte Gliedmaßen, ein paar Amputationen, dazu jede Menge Augenprobleme, besonders bei den Kindern. Cornelius und ich arbeiteten auf Hochtouren. Die Cops drängten die Leute zurück, aber wer wollte es ihnen verdenken, dass sie uns belagerten? Die Leute schrien die Namen von Vermissten, Eltern suchten ihre Kinder, die in der Schule oder im Kindergarten gewesen waren, andere wollten sich über den Zustand ihrer verletzten Angehörigen informieren. Viele Leute filmten mit ihren Handys; ich konnte sie verstehen, immerhin schafft das eine gewisse Distanz, nicht wahr? Und überall war die Presse, die Reporter belästigten uns wie Fliegen. Ich musste Cornelius davon abhalten, einen Typen zu schlagen, der ihm seine Kamera ins Gesicht halten wollte.
Und als der Rauch sich verzog, wurde nach und nach das Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Verbogenes Metall, Fetzen von Kleidung, zersplitterte Möbel und Haushaltsgeräte, einzelne Schuhe, ein zertrampeltes Handy. Und natürlich die Leichen. Die meisten waren verbrannt, aber da waren auch andere, Teile, wissen Sie … Aus allen Richtungen kamen die Schreie, weil mehr und mehr Tote gefunden wurden. Das Zelt, das man als provisorische Leichenhalle aufgeschlagen hatte, würde nicht reichen.
Wir arbeiteten den ganzen Tag und bis tief in die Nacht. Als es dunkel wurde, stellte man Flutlichter auf, aber irgendwie machte das alles noch schlimmer. Ein paar der jüngeren Freiwilligen vom Katastrophenschutz hielten es nicht aus, obwohl sie Atemmasken trugen; sie rannten immer wieder weg, um sich zu übergeben.
Die Leichensäcke stapelten sich höher und höher.
Kein Tag vergeht, ohne dass ich daran denken muss. Ich kann bis heute kein frittiertes Hühnerfleisch essen.
Sie wissen, was mit Cornelius passiert ist, oder? Seine Frau sagt, sie wird ihm niemals vergeben können. Ich schon. Ich weiß, wie es ist, wenn man ständig diese nervöse Angst hat, wenn man nicht mehr schlafen kann und ohne jeden Grund zu weinen anfängt. Nur deswegen bin ich in die Traumatherapie eingestiegen.
Wissen Sie, wenn Sie nicht dabei waren, habe ich keine Möglichkeit, es Ihnen angemessen zu beschreiben, aber ich kann versuchen, es in ein Verhältnis zu setzen. Ich mache diese Arbeit seit über zwanzig Jahren und habe schon schlimme Sachen gesehen. Ich war zur Stelle, wenn einem Lynchopfer eine Halskrause verpasst wurde, wenn die Leiche noch qualmte und das Gesicht zu einer Fratze erstarrt war, die man in seinem schlimmsten Albtraum nicht sehen will. Ich hatte Dienst, als der Streik der Behördenangestellten eskalierte und die Polizisten das Feuer eröffneten – dreißig Tote, und längst nicht alle waren an Schusswunden gestorben. Sie wollen gar nicht wissen, welche Verletzungen eine Machete verursachen kann. Ich war bei Massenkarambolagen, wo die Leichen von Kindern, von Babys im Kindersitz drei Fahrspuren weiter lagen. Ich habe gesehen, was passiert, wenn ein gepanzerter Truck mit defekter Bremse einen Ford Ka überrollt. Und als ich im Busch von Botswana gearbeitet habe, fand ich die Überreste eines Wildhüters, den ein Nilpferd einmal durchgebissen hatte. Aber nichts ist vergleichbar mit dem, was wir an jenem Tag sehen mussten. Wir alle wussten, wie sehr Cornelius litt, das ganze Team wusste es.
Er hat es in seinem Auto getan, draußen an der Westküste, wo er früher immer zum Angeln war. Er ist an den Abgasen erstickt, der Schlauch steckte am Auspuff. Er hat kurzen Prozess gemacht.
Er fehlt mir.
Danach haben sie uns die Hölle heißgemacht, weil wir Fotos von der Absturzstelle auf Facebook gepostet haben. Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Das ist auch ein Weg für uns, damit klarzukommen – wir müssen uns darüber austauschen –, und wer nicht dabei war, wird es sowieso nicht verstehen. Einige von uns überlegen inzwischen, die Fotos zu löschen, da sie doch von diesen Spinnern kopiert und für Propagandazwecke missbraucht werden. Wenn man in einem Land wie diesem aufgewachsen ist, mit so einer Geschichte, kann man kein Befürworter von Zensur sein, aber ich verstehe schon, warum die manche Seiten einfach sperren. Das ist alles nur Öl ins Feuer.
Doch ich verrate Ihnen etwas, ich war dabei, ich war mitten auf der verdammten Absturzstelle, und ich sage Ihnen, es ist absolut ausgeschlossen, dass da einer überlebt haben soll. Ausgeschlossen. Und dazu stehe ich, egal, was diese bescheuerten Verschwörungstheoretiker meinen – verzeihen Sie meine Ausdrucksweise.
Ich stehe bis heute dazu.
Der pensionierte Geologe Yomijuri Miyajima arbeitet als ehrenamtlicher »Selbstmörderwächter« im berüchtigten Aokigahara-Wald, einem beliebten Ziel für suizidgefährdete Personen. Er war an jenem Abend im Dienst, als eine Boeing 747-400D der japanischen Fluggesellschaft Sun Air am Fuß des Fuji abstürzte.
(Übersetzung von Eric Kushan)
An dem Abend hatte ich mich darauf gefasst gemacht, einen Leichnam zu finden. Nicht Hunderte.
Normalerweise gehen die freiwilligen Helfer im Dunkeln nicht mehr auf Streife, aber kurz vor Einsetzen der Abenddämmerung ging in der Station der Anruf eines Vaters ein, der sich große Sorgen um seinen Sohn machte, einen Teenager. Der Vater hatte beunruhigende Mails abgefangen und unter der Matratze des Jungen eine Ausgabe von Wataru Tsurumis Selbstmordratgeber gefunden, zusammen mit dem berüchtigten Suizidroman von Matsumoto; diese Lektüre ist bei jenen, die planen, sich im Wald das Leben zu nehmen, sehr populär. Ich kann schon nicht mehr zählen, wie viele Exemplare dieser Bücher ich in den Jahren, die ich hier arbeite, zwischen den Baumstämmen gefunden habe.
Am Haupteingang sind Videokameras installiert, die verdächtige Aktivitäten filmen, aber niemand konnte mir bestätigen, dass der Junge den Park tatsächlich betreten hatte; wir bekamen eine Beschreibung seines Autos, das ich jedoch weder an der Straße noch auf einem der kleineren Parkplätze, die es am Waldrand gibt, entdecken konnte. Was nichts zu bedeuten hatte. Manche Selbstmörder fahren an entlegene und schwer zugängliche Stellen, um ihrem Leben ein Ende zu machen. Manche versuchen es mit Autoabgasen, andere, indem sie den toxischen Holzkohlerauch eines tragbaren Grills einatmen. Aber die mit Abstand häufigste Methode ist Erhängen. Viele Selbstmörder bringen Zelte und Lebensmittel mit, sie wollen eine oder zwei Nächte hier verbringen und ihren Vorsatz überdenken, bevor sie ihn in die Tat umsetzen.
Einmal im Jahr wird der Wald von Polizisten und Freiwilligen durchkämmt, um die Leichen der Selbstmörder zu bergen. Beim letzten Mal, Ende November, stießen wir auf die Überreste von dreißig Menschen. Die meisten davon wurden nie identifiziert. Wenn ich im Wald jemandem begegne, den ich für selbstmordgefährdet halte, bitte ich ihn, an das Leid der Familie zu denken, die er hinterlässt, und ich erinnere ihn daran, dass es immer Hoffnung gibt. Ich zeige auf das Vulkangestein, das den Untergrund des Waldbodens bildet, und sage: »Wenn Bäume auf einem so harten, unwirtlichen Boden wachsen können, kann der Mensch sich auf der Grundlage jeder erdenklichen Härte ein neues Leben aufbauen.«
Inzwischen ist es für die Verzweifelten gang und gäbe, Klebeband für Markierungen mitzubringen für den Fall, dass sie ihre Meinung ändern und den Rückweg antreten wollen, oder um einen Hinweis auf ihre letzte Ruhestätte zu hinterlassen. Andere Besucher benutzen das Klebeband aus schändlichen Motiven; moralisch verkommene Schaulustige, die auf einen Leichenfund hoffen und Angst haben, sich zu verlaufen.
Folglich hielt ich an jenem Abend zunächst nach frischen Klebebandmarkierungen an den Baumstämmen Ausschau. Es war schon dunkel, und ich hätte es nicht beschwören können, aber ich meinte, Anzeichen dafür entdeckt zu haben, dass vor Kurzem jemand an dem Schild »Ab hier Betreten verboten« vorbeigelaufen war.
Ich war nicht in Sorge, ich könnte mich verirren. Ich kenne den Wald; ich habe mich kein einziges Mal in ihm verlaufen. Verzeihen Sie, wenn ich hochmütig klinge, aber nach fünfundzwanzig Jahren ist er zu einem Teil von mir geworden. Außerdem hatte ich eine leistungsstarke Taschenlampe und ein GPS-Gerät dabei – dass das harte Vulkangestein unter dem Waldboden die Signale verfälscht, ist ein Gerücht. Aber dieser Wald zieht Mythen und Legenden magisch an, und die Leute glauben, was sie glauben wollen.
Sobald man den Wald betreten hat, fühlt man sich eingeschlossen wie in einem Kokon. Die Baumwipfel schließen sich zu einem sanft wogenden Dach zusammen, das die Außenwelt abschirmt. Manch einer empfindet die Ruhe und Stille des Waldes als unerträglich, ich nicht. Die yuˉrei machen mir keine Angst. Ich habe vor den Geistern der Toten nichts zu befürchten. Vielleicht haben Sie die Geschichte schon gehört, dass in diesem Wald früher ubasute praktiziert worden sei, die Sitte, die Alten und Schwachen in Hungerzeiten den Naturgewalten zu überlassen. Das entbehrt jeder Grundlage. Es ist nur eines von vielen Gerüchten, die der Wald auf sich zieht. Viele Leute glauben, die Geister seien einsam, nur deshalb versuchten sie, Menschen anzulocken. Aus diesem Grund kommen viele in den Wald.
Ich habe nicht gesehen, wie das Flugzeug abgestürzt ist – wie ich schon sagte, das Blätterdach des Waldes verdeckt den Himmel. Aber gehört habe ich etwas. Eine Folge dumpfer Einschläge, so als würde eine riesige Tür zugeschlagen. Für was ich es zunächst hielt? Wahrscheinlich für Donnergrollen, auch wenn es nicht die Jahreszeit der Stürme und Taifune war. Ich war zu beschäftigt damit, die schattigen Senken und Furchen im Waldboden auf Spuren des vermissten Teenagers abzusuchen, um mir darüber Gedanken zu machen.
Ich wollte die Suche gerade aufgeben, als mein Funkgerät knackte und Sato-san, einer meiner Kollegen, mich darüber in Kenntnis setzte, dass ein Flugzeug mit technischen Problemen von der Route abgekommen und in der Nähe des Waldes abgestürzt war, höchstwahrscheinlich in der Gegend von Narusawa. Natürlich wurde mir sofort klar, dass dies der Grund für das Dröhnen war, das ich kurz zuvor vernommen hatte.
Sato sagte mir, die Rettungskräfte seien auf dem Weg und er selbst dabei, einen Suchtrupp zusammenzustellen. Er klang atemlos und zutiefst verstört. Er wusste ebenso gut wie ich, wie schwer es die Retter haben würden, die Absturzstelle zu erreichen. In vielen Teilen des Waldes ist das Gelände unzugänglich – in einigen Gegenden gibt es tiefe, versteckte Felsspalten, die die Strecke sehr gefährlich machen.
Ich beschloss, gen Norden zu gehen, in Richtung der Geräuschquelle.
Keine Stunde später hörte ich das Rattern der Rettungshelikopter, die über den Wald hinwegfegten. Ich wusste, sie würden unmöglich hier landen können, und so eilte ich noch schneller voran. Falls es Überlebende gab, wusste ich, dass sie sofortige Hilfe brauchen würden. Nach zwei Stunden konnte ich den Rauch riechen; an manchen Stellen hatten die Bäume Feuer gefangen, aber glücklicherweise hatten die Brände sich nicht ausgebreitet; die Baumskelette ragten glühend in die Höhe, doch die Flammen schafften es nicht überzuspringen, stattdessen erloschen sie nach und nach. Einem Impuls folgend richtete ich meine Taschenlampe in die Wipfel hinauf, wo ich eine kleine Gestalt in den Ästen hängen sah. Zunächst hielt ich sie für den verkohlten Kadaver eines Affen.
Es war kein Affe.
Natürlich waren da noch andere. Der Nachthimmel dröhnte von Rettungs- und Pressehelikoptern, und wenn sie über mich hinwegdonnerten, fiel das Licht ihrer Scheinwerfer auf die zahllosen Leichen oben in den Ästen. Manche konnte ich in allen Details erkennen; sie wirkten fast unversehrt, als schliefen sie nur. Andere … andere hatten weniger Glück gehabt. Und alle waren ganz oder teilweise unbekleidet.
Ich kämpfte mich bis zu der Stelle durch, die mittlerweile als Absturzstelle gilt und wo der Rumpf und der abgerissene Flügel lagen. Die Retter wurden auf den Waldboden abgeseilt, denn auf dem unebenen und tückischen Grund konnte kein Helikopter landen.
Mit einem seltsamen Gefühl näherte ich mich dem Flugzeugheck. Es ragte vor mir in den Himmel, das stolze Logo in roter Farbe war unheimlicherweise völlig intakt geblieben. Ich lief zu den Rettungssanitätern hinüber, die über eine am Boden liegende, stöhnende Frau gebeugt standen; ich konnte nicht sehen, wie schlimm ihre Verletzungen waren, aber noch nie habe ich einen Menschen solche Laute ausstoßen hören. In dem Moment nahm ich eine Bewegung am Rande meines Gesichtsfeldes wahr. Manche der Bäume brannten immer noch lichterloh, und ich entdeckte eine kleine Gestalt, die hinter einem aus dem Boden ragenden Vulkangesteinauswuchs kauerte. Ich eilte auf sie zu, und im Schein meiner Taschenlampe glitzerte ein Augenpaar. Ich ließ meinen Rucksack fallen und fing zu laufen an, schneller als je zuvor oder danach in meinem Leben.
Als ich näher gekommen war, erkannte ich ein Kind. Einen Jungen.
Er hockte am Boden und zitterte unkontrolliert, und eines seiner Schulterblätter ragte in einem unnatürlichen Winkel heraus. Ich rief die Sanitäter, sie sollten sich beeilen, aber meine Rufe gingen im Lärm der Rotorblätter unter.
Was ich zu ihm sagte? Ich weiß es nicht mehr genau, es war so etwas wie: »Alles in Ordnung? Hab keine Angst, ich will dir helfen.«
So dicht war die Kruste aus Blut und Schlamm, die ihn bedeckte, dass ich seine Nacktheit zunächst nicht bemerkte. Später hieß es, die Wucht des Aufpralls habe ihm die Kleider vom Leib gerissen. Ich streckte eine Hand nach ihm aus. Seine Haut war kalt – aber was hatte ich erwartet? Die Temperaturen lagen unter null.
Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass ich weinen musste.
Ich wickelte ihn in meine Jacke ein und hob ihn hoch, so vorsichtig ich konnte. Er legte seinen Kopf an meine Schulter und flüsterte: »Drei.« Oder zumindest meinte ich, das verstanden zu haben. Ich bat ihn zu wiederholen, was er gesagt hatte, aber da waren seine Augen schon geschlossen und sein Mund erschlafft, als schliefe er tief und fest, außerdem war ich zu beschäftigt damit, ihn in Sicherheit zu bringen und zu wärmen, bevor die Unterkühlung einsetzte.
Natürlich fragt mich heute jedermann: Fanden Sie an dem Jungen nichts ungewöhnlich? Natürlich nicht! Er hatte gerade etwas Furchtbares erlebt, und was ich gesehen hatte, waren die Symptome eines Schocks.
Und ich kann nicht übereinstimmen mit dem, was manche über ihn sagen. Dass er von bösen Geistern besessen ist, möglicherweise von den Geistern der toten Passagiere, die ihn um sein Überleben beneiden. Manche sagen, er beheimate diese bösen Geister in seinem Herzen.
