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Drei Tage im Paradies, aber am vierten bricht die Hölle los.
Am vierten Tag einer Kreuzfahrt durch den Golf von Mexiko hält das betagte Schiff „Beautiful Dreamer” plötzlich und unerwartet an. Die Maschinen lassen sich nicht wieder starten, es gibt keinen Strom, keinen Funkempfang, und weder Passagiere noch Crew-Mitglieder können Rettung anfordern. Als die Situation sich verschlimmert und das Essen sich dem Ende neigt, beginnt die Besatzung unruhig zu werden. Und dann wird noch die Leiche einer jungen Frau in ihrer Kabine entdeckt, Panik bricht aus. An Bord hält sich ein Mörder auf – aber das ist noch nicht alles: Merkwürdige Dinge geschehen, und bald wünschten alle, es wäre nur ein Mörder, der unter ihnen ist.
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Seitenzahl: 555
Veröffentlichungsjahr: 2016
Buch
Die Kreuzfahrt sollte eigentlich nur fünf Tage dauern und an Neujahr nach einer feuchtfröhlichen Silvesternacht in Miami enden. Aber es kam anders, ganz anders. Am vierten Tag stoppen die Maschinen plötzlich und unerwartet, und das Schiff steht still. Zuerst scheint das niemanden weiter zu beunruhigen, doch als es auch am nächsten und übernächsten Tag nicht weitergeht und auch vom Kapitän keine Anweisungen kommen, werden die Passagiere langsam unruhig. Außerdem passieren merkwürdige Dinge. Da ist zum Beispiel das Medium Celine del Ray, Teil des Unterhaltungsprogramms an Bord, die plötzlich wie besessen wirkt und sich sehr ungewöhnlich verhält. Und dann gibt es noch das Zimmermädchen, das seit dem Stillstand immer wieder einem kleinen Jungen begegnet, der wie aus dem Nichts auftaucht. Oder der Schiffsmechaniker, der manchmal eine dunkle Erscheinung sieht, die er nicht zu deuten weiß. Als dann noch die Leiche einer jungen Frau in einer Kabine gefunden wird, hat die Crew alle Hände voll zu tun, die Passagiere zu beruhigen. Und dann bricht ein tosender Sturm los, und die Ratten verlassen das sinkende Schiff …
Weitere Informationen zu Sarah Lotz sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.
Sarah Lotz
Tag Vier
Thriller
Ins Deutsche übertragen von Thomas Bauer
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Day Four« bei Hodder & Stoughton, Hachette UK, London.
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1. Auflage
Copyright © 2015 by Sarah Lotz
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Getty Images/Michael Melford
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-17775-1V001
www.goldmann-verlag.de
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Für meinen Dad,Alan Walters (alias »The Doc«)
Willkommen an Bord derBeautiful Dreamer!
Herzlichen Glückwunsch, dass Sie sich für eine Foveros-Kreuzfahrt entschieden haben, Ihr One-Way-Ticket zu Erholung und Spaß, Spaß, Spaß!
* * * *
Beginnen Sie den Urlaub Ihres Lebens mit einem Cocktail an einer unserer zahlreichen sonnenüberfluteten Bars, während unsere Musiker Sie mit ihren unverkennbaren Klängen erfreuen. Kühlen Sie sich anschließend im Pool ab, oder machen Sie eine Rutschpartie auf Foveros’ WaterWonderTM-Rutschen. Hunger? Kein Problem! Unser Speisesaal und unsere Büfetts bieten Gaumenfreuden in Hülle und Fülle, vom Fünf-Sterne-Menü bis zur leckeren Hausmannskost wie früher bei Mama! Und, hey, versäumen Sie nicht, sich in unserem erstklassigen Wellnessbereich zu verwöhnen – Sie haben es sich verdient! Unsere Varieté-Vorstellungen werden Sie begeistern, also machen Sie es sich auf Ihren Stühlen bequem und freuen Sie sich darauf, unterhalten zu werden wie nie zuvor! Tanken Sie Sonne während einer unserer vielen aufregenden Exkursionen, bei denen Sie in unseren zahlreichen Shops bis zum Umfallen einkaufen, im türkisfarbenen Meer schnorcheln, auf Pferden an wunderschönen Stränden entlangreiten und auf unserer märchenhaften Privatinsel unter freiem Himmel dinieren können. Und warum statten Sie nicht dem Kasino einen Besuch ab? Wer weiß, vielleicht ist es Ihr Glückstag!
Tage eins, zwei und drei
Die Kreuzfahrt verläuftohne Zwischenfälle
Tag vier
Der Verurteilte
Gary presste die Stirn gegen die Wand und zitterte, als ihm das kalte Wasser den Rücken hinunterlief. Die Haut an seinem Bauch und an den Innenseiten seiner Oberschenkel brannte, nachdem er sich dort mit Marilyns Nagelbürste abgeschrubbt hatte; seine Fingerkuppen waren runzelig und vom Wasser aufgeweicht. Er stand seit mehr als einer Stunde unter der Dusche, und der Pantene-Gestank wurde langsam unerträglich. Er hatte das gesamte Gratis-Duschgel und Marilyns Shampoo für die Kleidungsstücke des Vorabends aufgebraucht und war auf ihnen herumgetrampelt wie ein verrückt gewordener Kelterer. Sie lagen zu einer Kugel zusammengeknüllt in der Ecke der Duschkabine: ohne Bleichmittel gab es keine Garantie dafür, dass sie keine Spur der DNA der jungen Frau enthielten. Er musste sie so schnell wie möglich über die Reling werfen.
Konzentriere dich aufs Wasser. Richte deine Gedanken auf die Kälte. Doch das funktionierte nicht; die düsteren Gedanken kamen zurückgekrochen. Marilyn hatte ihm seine Magen-Ausrede abgenommen, doch er bezweifelte, dass sie ihn die Feierlichkeiten am Abend schwänzen lassen würde, es sei denn, er rang mit dem Tod. Vermutlich würde es ihm gelingen, sich in ihrer Hörweite zu übergeben, wenn er sich den Finger in den Hals steckte, doch inzwischen hatte ihn eine solche Angst gepackt, dass er es wahrscheinlich gar nicht würde vortäuschen müssen.
Denn mittlerweile war die junge Frau sicher gefunden worden. Die Stewardessen waren gründlich, sie machten die Kabinen zweimal täglich, und es war mehr als zwölf Stunden her, seit …
Ein Poltern unter seinen Füßen; ein Ruck. Der Duschstrahl geriet ins Stottern, und als Gary die Augen öffnete, war er von Schwärze umgeben. Einen Moment lang war er überzeugt, erblindet zu sein – eine Strafe Gottes! –, dann, als ein Vibrieren durch seine Fußsohlen nach oben schoss, dämmerte es ihm, dass mit dem Schiff irgendetwas nicht stimmte. Er drehte das Wasser ab, tastete nach einem Handtuch und lauschte. Das Hintergrundsurren der Klimaanlage war verstummt, was dafür sorgte, dass sich sein Kopf irgendwie leichter anfühlte, als könne er endlich klar denken. Er tastete am Waschbecken nach seiner Brille, dann schob er sich langsam aus dem Bad. Er wartete darauf, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten – was sie selbstverständlich nicht taten, da es in der Kabine kein natürliches Licht gab; er buchte immer eine der billigeren Innenkabinen. Ein Alarm piepste mehrfach, es ertönte eine unverständliche Durchsage begleitet von Rauschen und Knistern, und dann: »Guten Tag, meine Damen und Herren, hier spricht Damien, Ihr Kreuzfahrtdirektor. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass wir ein elektrisches Problem haben. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Begeben Sie sich bitte zu Ihrer eigenen Sicherheit in Ihre Kabinen und warten Sie auf weitere Instruktionen. Vielen Dank. Und wie gesagt, es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir werden Sie in Kürze genauer informieren.«
Gary bewegte sich Zentimeter für Zentimeter zur Tür und drückte sie auf: Ein Typ mit nacktem Oberkörper, der Teufelshörner aus Plastik trug, kam um die Ecke, und eine Frau im Bikini mit goldfarbenen, hochhackigen Sandaletten stöckelte hinter ihm her. Als sich die beiden näherten, verliehen die Fluchtwegmarkierungen auf dem Boden ihrer Haut einen unheimlichen Grünton. Der Fußboden senkte sich, und Gary trat einen Schritt zurück und ließ die Tür zufallen. Speichel flutete seinen Mund. Draußen schlugen Türen zu, eine Frau schrie, und irgendjemand rief einem gewissen Kevin zu, er solle seinen »verdammten Arsch in Bewegung setzen«.
Er schlurfte zurück zum Bett, dann zuckte er zusammen, als das Licht flackernd wieder anging. Die Beleuchtung war wesentlich trüber als sonst und tauchte die Kabine in einen fahlen Schimmer. Wasser kroch zwischen den Haaren an seinen Beinen hindurch, und seine Panik war inzwischen so intensiv, dass er sie beinahe als etwas Materielles am Rand seines Blickfelds wahrnahm.
Es handelte sich nur um einen kleinen technischen Defekt – so etwas passierte ständig. Foveros war berüchtigt dafür. Und wenn er inzwischen gefunden worden war, würden sie ganz bestimmt nicht das Schiff anhalten. Nein. Er ließ nur wieder seine Paranoia die Oberhand gewinnen. Er drückte sein Handgelenk, klammerte sich an das schwache Pochen seines Pulses, zwang sich, von hundert herunterzuzählen. Dann noch einmal. Und noch einmal. Gut. Jetzt fiel es ihm wieder leichter zu atmen.
Das Türschloss klickte, die Tür flog auf, und Marilyn stürmte herein. »Gary! Du bist hier?«
Sag was. »Wo sollte ich denn sonst sein?«
»Schatz, ich denke, wir sollten von hier verschwinden. Sollten zur Sammelstation gehen. Ich könnte schwören, dass ich Rauch gerochen habe.«
»Damien hat gesagt, wir sollen in den Kabinen bleiben.«
»Hast du mich nicht gehört? Ich habe Rauch gerochen, Gary.« Sie war außer Atem, und auf ihrem flachen Gesicht glänzte Schweiß. »Die Aufzüge funktionieren nicht mehr – da stecken bestimmt Leute drin fest. Was, denkst du, ist passiert?«
»Irgendein technisches Problem. Nichts Ernstes, du wirst schon sehen.« Seine Stimme klang unsicher, eine Tonlage höher als sonst, doch das fiel ihr offenbar nicht auf. Marilyn war keine besonders aufmerksame Person – einer der Gründe, weshalb er sie geheiratet hatte.
Marilyn kniff die Augen zusammen. »Schatz, warum hast du denn nichts an?«
»Ich habe geduscht.«
»Schon wieder? Bei allem, was hier los ist?«
Tief durchatmen, nicht ausrasten. »Ich stand unter der Dusche, als es passiert ist.«
»Und du meinst wirklich, dass es nichts Ernstes ist?«
»Ja. Weißt du noch, was mit der Beautiful Wonder passiert ist? Das wurde im Handumdrehen repariert.«
»Oh. Wahrscheinlich … Ich denke trotzdem, wir sollten gehen. Paulie und Selena haben gesagt, dass sie auf Deck elf auf uns warten. Da ist auch unsere Sammelstation, erinnerst du dich, Schatz?«
»Wer zum Teufel sind denn Paulie und Selena?«
»Ein total nettes Pärchen. Wir sind beim Abendessen ins Gespräch gekommen. Ich hatte beschlossen, nicht in den Dreamscapes Dining Room, sondern zum Lido-Büfett zu gehen, obwohl die Schlangen an der Pasta-Bar so lang waren! So sind wir ins Gespräch gekommen: beim Anstehen. Wir saßen gemeinsam auf dem Tranquility-Deck, als es passiert ist. Und, Schatz, das wirst du niemals erraten.«
»Was?« Er gab sich alle Mühe, interessiert zu klingen und zu wirken. Seine Wangen taten ihm weh.
»Die beiden sind Silver-Foveros-Kreuzfahrtpassagiere, genau wie wir, und waren letztes Jahr auch auf der Beautiful Wonder – auf der Bahamas-Route –, nur eine Woche nach uns!«
»Unglaublich.«
»Ja, nicht wahr? Genau das habe ich auch gesagt. Sie waren echt besorgt, als ich ihnen erzählt habe, dass du dich nicht wohlfühlst.« Typisch Marilyn: Sie machte es sich zu ihrer Mission, auf ihrer alljährlichen Kreuzfahrt mit möglichst vielen Fremden Bekanntschaft zu schließen. Die meisten ihrer neuen Freundschaften waren wegen ihrer Launenhaftigkeit allerdings kurzlebig. Gary spielte mit der Idee, sie zu fragen, ob sie seine Abwesenheit am frühen Morgen zur Kenntnis genommen habe. Das wäre nicht weiter ungewöhnlich gewesen, da er seit Jahren Schlaflosigkeit vortäuschte, und sie hatte bislang noch keinen Widerspruch gegen seine Ausrede erhoben, dass diese sich einzig und allein durch einen Spaziergang heilen ließe. Doch das war etwas anderes. Wenn sie in den frühen Morgenstunden aufgewacht war und bemerkt hatte, dass er verschwunden war, wäre sie dann bereit, ihm ein Alibi zu geben? Er war sich nicht sicher. Er stellte sich vor, wie sie im Gerichtssaal saß und schluchzte, weil sie ein Monster geheiratet hatte.
»Gary!«
»Hm?«
»Ich habe gesagt, ich denke, wir sollten trotzdem gehen. Willst du dir nicht was anziehen?«
»Geh du. Ich komme nach.«
»Aber was ist, wenn …«
»Geh einfach, Marilyn.«
»Du brauchst mich nicht so anzuschnauzen.«
Reiß dich zusammen. »Keine Sorge, Baby. So was passiert auf Kreuzfahrten ständig.«
»Aber ich brauche dich, Gary.«
»Schatz, ich fühle mich immer noch hundeelend.« Das Wort ließ ihn zusammenzucken – ein Marilyn-Wort –, doch es erfüllte seinen Zweck.
»Oh, Gary, ich habe dich gar nicht gefragt, wie’s dir geht.«
»Ich habe mich wieder mal übergeben und musste dein Shampoo nehmen, um meine Klamotten auszuwaschen.«
»Oh, Baby, das macht doch nichts.«
Gary klopfte sich im Geiste selbst auf die Schulter. »Geh jetzt und triff dich mit deinen Freunden und mach dir um mich keine Sorgen. Damien hätte uns nicht gesagt, wir sollen in unseren Kabinen bleiben, wenn irgendeine echte Gefahr bestehen würde.«
»Wenn du dir sicher bist …«
»Ich bin mir sicher. Wenn sie uns sagen, dass wir uns zu den Sammelstationen begeben sollen, dann komme ich und suche dich.«
»Okay. Ich hasse es, dich allein zu lassen, es ist nur … Ich glaube nicht, dass ich es ertragen würde, hier unten zu bleiben.«
Sie wollte ihn umarmen, doch er wich zurück und ließ sich auf die Ellbogen fallen. »Lieber nicht. Vielleicht bin ich ansteckend.«
»Du bist so rücksichtsvoll. Du weißt, wohin du gehen musst, oder, Baby?«
»Hm. Ich werde mich viel besser fühlen, wenn ich weiß, dass du in Sicherheit bist.«
Er schrie beinahe auf vor Erleichterung, als sich die Tür hinter ihr schloss.
Jetzt. Behalt einen kühlen Kopf und bleib ruhig. Geh das Ganze noch mal in Gedanken durch und raste diesmal nicht aus.
Er spülte die verbliebenen Tabletten in der Herrentoilette vor der Sandman Lounge hinunter, sodass nur noch seine Bekleidung, seine Handschuhe und seine Kappe übrig waren. Diese Dinge konnte er problemlos während der Party loswerden, wenn alle ausgelassen feierten. Aber was war, wenn die Feierlichkeiten abgesagt wurden? Das hing davon ab, ob sie den technischen Defekt oder worum auch immer es sich handelte rechtzeitig würden beheben können. Sie würden ihn beheben. Er durfte sich deswegen keine Sorgen machen.
Außerdem – würden sich ihre Freunde an ihn erinnern? Er hatte keine Aufmerksamkeit erregt, hatte die junge Frau an der Bar nicht einmal angesprochen, und er war stolz auf sein unscheinbares Äußeres. Jahrelanges gewissenhaftes Beobachten hatte ihn gelehrt, dass sich die Leute auf augenfällige Merkmale konzentrierten: auf einen Oberlippenbart, eine Brille, bunte Kleidungsstücke, ein Hinken. Die Überwachungskameras und Gesichtserkennungssysteme sollten kein Problem darstellen – er hatte den Kopf gesenkt gehalten, als er ihr zu ihrer Kabine gefolgt war, und seine Kappe hatte seine kahle Stelle verdeckt. Sobald er seine Bekleidung entsorgt hätte, würde ihn niemand mehr identifizieren können. Außerdem waren sein schlichtes dunkelblaues Freizeithemd und seine kakifarbenen Shorts völlig unauffällig; man hätte sie sogar mit der Uniform des einfachen Personals verwechseln können.
Alles bestens.
Warum hatte er dann immer noch das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben? Denk nach.
Die Erkenntnis traf ihn wie Eiswasser: das Schild »Don’t Disturb, I’m Cruisin’ n Snoozing«. Er hatte den scheußlichen Verdacht, dass er seine OP-Handschuhe bereits abgestreift hatte, als er es an die Türklinke gehängt hatte. O Gott. Seine DNA und seine Fingerabdrücke befanden sich auf dem Schild. Konnte er behaupten, er habe es im Vorbeigehen berührt?
Ja. Nein. Wie sollte er erklären, was er auf ihrem Deck verloren hatte? Ihre Kabine befand sich eine Etage über seiner, lag jedoch in der Mitte eines Korridors, der nirgendwohin führte.
Das war die Strafe dafür, dass er sich nicht an den Plan gehalten hatte. Es hätte am heutigen Abend passieren sollen, am Silvesterabend, wenn alle betrunken und abgelenkt waren. Normalerweise war er enorm gewissenhaft. Berücksichtigte alle Eventualitäten. Überließ nichts dem Zufall. Schluderte nicht. Er hatte ein System. Doch da hatte sie gestanden, alleine an der Bar, und hatte wehmütig ihre Freunde angestarrt, die mit dem Rest der Single-Reisegruppe tanzten und flirteten. Die Gelegenheit war einfach zu gut gewesen, um sie verstreichen zu lassen. Er war der Versuchung erlegen, und jetzt musste er dafür büßen. Es gab einen sehr guten Grund dafür, warum er es sonst immer am letzten Abend der Kreuzfahrt tat: Bei dem Chaos, das herrschte, wenn die Passagiere am nächsten Morgen vom Schiff getrieben wurden, standen die Chancen wesentlich besser, ungeschoren davonzukommen. Die meisten seiner Mädchen erinnerten sich erst viel später in vollem Umfang, was ihnen widerfahren war. Manchmal dauerte es Tage oder sogar Wochen. Und dann war es bereits zu spät. Außerdem hatte er in zahllosen Internetforen gelesen, dass das Sicherheitspersonal angehalten war, Opfer von sexuellen Übergriffen an Bord zu überreden, keine Anzeige zu erstatten. Das Letzte, was Foveros brauchen konnte, war noch mehr negative Publicity.
Wenn sie allerdings doch gefunden worden war, mussten Nachforschungen angestellt werden. Foveros hatte bereits einen schlechten Ruf, was die Sicherheit an Bord anbetraf, und dann gab es noch all die Vorwürfe, dass sich das Unternehmen nicht an die Hygienevorschriften halten würde. Sie wären dumm, wenn sie versuchen würden, die Angelegenheit zu vertuschen.
Was war nur in ihn gefahren?
Vielleicht hatte er sich von einem trügerischen Gefühl der Sicherheit einlullen lassen, da bis dahin alles so gut gelaufen war. Am ersten Tag war er Marilyn gegenüber immer besonders zuvorkommend, fand sich früh ein und reservierte für sie im Wellnessbereich, damit sie beschäftigt war, während er sich einen ersten Überblick über die anderen Passagiere verschaffte. Foveros’ Neujahrskreuzfahrten lockten immer einen Haufen erwartungsvoller Singles an, und er war nicht wählerisch, was das Alter anbelangte. Er bevorzugte etwas fülligere Damen, Blondinen oder Rothaarige. Allzu selbstbewusst durften sie nicht sein; Mitläuferinnen waren ihm lieber als Anführerinnen. Im Lauf der Jahre war er zu einem Experten darin geworden, bei Partys das hässliche Entlein herauszupicken, das Mauerblümchen, die zusätzliche Brautjungfer bei Junggesellinnenabschieden. Bei den Neujahrskreuzfahrten waren in der Regel Hunderte von Briten dabei, die es ausnutzten, dass es preisgünstige Kabinen und billige Cocktails gab. Britinnen feierten ausgelassener als Amerikanerinnen und hatten (seiner Ansicht nach) weniger Selbstbewusstsein.
Sein Mädchen hatte er bei der Happy Hour in der Sandman Lounge entdeckt und es aus dem Augenwinkel beobachtet, während Marilyn von Mai Tais zum halben Preis kontinuierlich betrunkener geworden war. Es erstaunte ihn immer wieder, dass er seine Mädchen sofort erkannte, als würden sie ihm zurufen. Sie war genau sein Typ, fünfzehn bis zwanzig Kilo Übergewicht, strähniges blondes Haar, und sie hielt sich am Rand einer großen Gruppe von Menschen in den Dreißigern auf, über deren Scherze sie verlegen lachte. Am zweiten Tag hatte er sie in der Pizza-Schlange gesehen, ihre Oberschenkel und Schultern leuchtend rot von übermäßiger Sonneneinstrahlung, und es war noch deutlicher zu erkennen gewesen, dass sie von den anderen in ihrer Gruppe auf die Ersatzbank verbannt worden war (er freute sich über den niedergeschlagenen Ausdruck in ihren Augen). Das Ganze hatte weiter Gestalt angenommen, nachdem sie sich entschuldigt hatte und er ihr mit einigem Abstand gefolgt war, als sie sich auf den Weg zu ihrer Kabine gemacht und dabei nicht den Aufzug, sondern die Treppe genommen hatte. Gary hatte sich die Nummer ihrer Kabine gemerkt – M446 – und war daran vorbeigegangen.
Und am gestrigen Abend, na ja … war es beinahe so gewesen, als hätte es sein sollen. Marilyn war erschöpft gewesen, als sie nach dem Tag auf Cozumel wieder auf das Schiff zurückkehrten. Er hatte sie zu einer Exkursion zu einem Badeort mit anschließender Besichtigung irgendwelcher langweiligen Maya-Ruinen angemeldet (Marilyn hatte sich wie die meisten anderen Passagiere die ganze Zeit über die Hitze und die Moskitos beklagt), und von der ungewohnten körperlichen Anstrengung völlig erschöpft, war sie nach ihrer Rückkehr auf das Schiff fast sofort eingeschlafen. Er war hinausgeschlüpft und hatte eigentlich nur vorgehabt, seine Erkundung fortzusetzen, um absolut sichergehen zu können, dass es sich bei der jungen Frau, die er ausgesucht hatte, auch wirklich um die Richtige handelte.
Und da war sie gewesen und hatte auf ihn gewartet.
Sein Werkzeug trug er stets bei sich: Marilyn durfte auf keinen Fall die kleine Tasche voller toller Sachen finden. Es war ein Leichtes gewesen, in die Herrentoilette zu schlendern, seine Brille einzustecken und die Kappe aufzusetzen. Ein Leichtes, sich zu vergewissern, dass der Barkeeper und die anderen Gäste in der Umgebung abgelenkt waren. Ein Leichtes, die Tablette zu zerkrümeln und in ihr Cocktailglas zu streuen. Ein Leichtes, sich zurückzulehnen und zu beobachten, wie sie langsam den Fokus verlor. Ein Leichtes abzuwarten, bis sie aus dem Raum stolperte. Ein Leichtes, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich den Weg in den Aufzug bahnte, während er sich über die Treppe zu ihrem Deck begab. Ein Leichtes, ihr im Korridor zu folgen, zu spüren, wie sein Puls beschleunigte und wie seine Leistengegend vor Erwartung zuckte. Ein Leichtes, ihr behilflich zu sein, als sie mit der Schlüsselkarte herumhantierte. Ein Leichtes, sich in ihre Kabine zu schieben und dabei zu murmeln, er wolle ihr nur helfen. Ein Leichtes …
ENDE DER LESEPROBE
