Die drei von Córdoba - Edgar Wallace - E-Book

Die drei von Córdoba E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Die drei Gerechten jagen Verbrecher, die der Justiz entkommen sind. Sie sind Richter und Henken in einem. Ihr nächstes Ziel ist Mr. Black, ein Mann, der schon vieles auf dem Kerbholz hat: Erpressung, Diebstahl und Mord. Aber Black nimmt die Warnungen nicht ernst – sein Fehler. Spannend von der ersten bis zu letzten Zeile, nach bester britischer Krimitradition. Null Papier Verlag

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Edgar Wallace

Die drei von Córdoba

Edgar Wallace

Die drei von Córdoba

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Ravi Ravendro 1. Auflage, ISBN 978-3-954183-30-2

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1

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1

An ei­nem der Mar­mor­ti­sche des ›Café del Gran Ca­pitán‹ in Cór­do­ba saß ein Herr, der viel Zeit zu ha­ben schi­en. Er war von großer Ge­stalt und hat­te einen ge­pfleg­ten Bart. Die Bli­cke sei­ner erns­ten grau­en Au­gen schweif­ten schein­bar ab­sichts­los die Stra­ße ent­lang. Ab und zu nipp­te er an sei­nem Kaf­fee und trom­mel­te mit sei­nen schlan­ken wei­ßen Hän­den einen Wir­bel auf der Tisch­plat­te.

Er trug einen schwar­zen An­zug; sein gleich­falls schwar­zer Man­tel hat­te einen Samt­kra­gen. Die Kra­wat­te war von schwe­rer schwar­zer Sei­de, die gut­ge­schnit­te­nen Bein­klei­der wur­den durch Le­der­ste­ge un­ter den spitzaus­lau­fen­den Schu­hen ge­strafft, wie es in ge­wis­sen Krei­sen der Ca­bal­le­ros be­liebt war.

Er hät­te Spa­nier sein kön­nen, denn graue Au­gen traf man dort un­ten häu­fig an. Die aus­ge­las­se­nen Ir­län­der, die da­mals mit den Be­sat­zungs­trup­pen Wel­ling­tons ins Land ge­kom­men wa­ren, hat­ten sich ja gar nicht so sel­ten mit den feu­ri­gen Mäd­chen von An­da­lu­si­en ver­hei­ra­tet.

Er sprach ein ta­del­lo­ses Spa­nisch, und auch die Art, wie er den weh­lei­dig fle­hen­den Bett­ler be­han­del­te, der auf ihn zu­hum­pel­te und ihn mit aus­ge­streck­ten ver­krüp­pel­ten Fin­gern um ein Al­mo­sen bat, zeug­te von sei­ner süd­län­di­schen Ab­stam­mung.

»Im Na­men der Jung­frau und der Hei­li­gen und des all­mäch­ti­gen Got­tes fle­he ich Sie an, Señor, ge­ben Sie mir ein paar Cén­ti­mos.«

Der Herr an dem Tisch rich­te­te sei­ne Bli­cke auf die aus­ge­streck­te Hand.

»Gott wird dir hel­fen«, sag­te er dann in dem Küs­ten­ara­bisch, das in Spa­nisch-Marok­ko ge­spro­chen wird.

»Wenn mir der Him­mel ein Le­ben von hun­dert Jah­ren schen­ken soll­te«, er­wi­der­te der Bett­ler mit mo­no­to­ner Stim­me, »so will ich doch nie­mals auf­hö­ren, für Ihr Wohl zu be­ten.«

Der Herr in dem Man­tel be­trach­te­te jetzt den Al­ten.

Der Bett­ler war ein Mann von mitt­ler­er Grö­ße und hat­te scharf­ge­schnit­te­ne Ge­sichts­zü­ge. Sein Kopf war durch einen großen Ver­band ent­stellt, der auch das eine Auge be­deck­te. Sei­ne Füße wa­ren un­för­mi­ge Klum­pen, mit vie­len Ban­da­gen um­wi­ckelt. In sei­nen schmut­zi­gen Hän­den hielt er einen Stock.

»Señor«, wim­mer­te er, »ein paar Cén­ti­mos kön­nen mich von den schreck­li­chen Hun­ger­qua­len be­frei­en. Sie wer­den die­se Nacht kei­nen Schlaf fin­den, wenn Sie an den ar­men, kran­ken Greis den­ken, der sich hung­rig auf sei­nem La­ger wälzt.«

»Geh in Frie­den«, sag­te der vor­neh­me Herr ge­dul­dig.

»O Er­ha­be­ner«, seufz­te der Bett­ler wie­der, »bei dem Knäb­lein, das auf dem Schoß der Mut­ter ruh­te« – bei die­sen Wor­ten be­kreu­zig­te er sich –, »bei al­len Hei­li­gen und dem wun­der­tä­ti­gen Blut der Mär­ty­rer, ich fle­he Sie an, las­sen Sie mich nicht am Wege ver­hun­gern, wenn ein paar Cén­ti­mos, die Ih­nen nicht so­viel be­deu­ten wie der Rand un­ter dem Fin­ger­na­gel, mir den Ma­gen mit Es­sen fül­len könn­ten.«

Der Herr an dem Mar­mor­tisch ließ sich nicht er­schüt­tern; ru­hig trank er sei­nen Kaf­fee aus.

»Geh mit Gott«, sag­te er nur.

Aber der Alte zö­ger­te im­mer noch. Hilf­los sah er die Stra­ße auf und ab, dann blick­te er in den dunklen, küh­len Raum des Cafés. Am an­de­ren Ende saß ein Kell­ner nach­läs­sig an ei­nem Tisch und las den ›He­rol­do‹.

Der Bett­ler beug­te sich vor und streck­te lang­sam die Hand aus, um ei­ni­ge Ku­chenkrü­mel vom nächs­ten Tisch auf­zu­le­sen.

»Kennst du Dok­tor Ess­ley?« frag­te er plötz­lich in per­fek­tem Eng­lisch.

Der an­de­re schau­te nach­denk­lich auf.

»Nein, ich ken­ne ihn nicht. Wa­rum?« ent­geg­ne­te er in der glei­chen Spra­che.

»Du soll­test sei­ne Be­kannt­schaft ma­chen, er ist in­ter­essant.«

Wei­ter sag­te der Bett­ler nichts; er dreh­te sich um und schlurf­te lang­sam da­von.

Der vor­neh­me Herr be­ob­ach­te­te neu­gie­rig, wie er sich dem nächs­ten Café zu­wand­te. Dann klatsch­te er laut in die Hän­de. Der Kell­ner, der in­zwi­schen über sei­ner Zei­tung ein­ge­nickt war, fuhr in die Höhe und nahm die Zah­lung und das üb­li­che Trink­geld ent­ge­gen.

Ob­gleich sich der Him­mel wol­ken­los zeig­te und die Son­ne schi­en, war es in den blau­grau­en Schat­ten der Stra­ße noch emp­find­lich kalt in die­sen ers­ten Vor­früh­lings­ta­gen.

Der Herr er­hob sich vom Tisch, er­griff einen Zip­fel sei­nes fal­ti­gen Man­tels und warf ihn sich leicht über die Schul­ter. Dann ging er lang­sam hin­ter dem Bett­ler her.

Sein Weg führ­te ihn durch wink­li­ge Stra­ßen, die so eng wa­ren, daß die Wa­gen­na­ben tie­fe Rin­nen in die Mau­ern der Häu­ser ge­gra­ben hat­ten, wenn sich zwei Fuhr­wer­ke be­geg­net wa­ren.

In der Cal­le Pa­raí­so hol­te er den al­ten Mann ein; er ging an ihm vor­über und bog in eine der Gas­sen ein, die zu der San-Fer­n­an­do-Kir­che führ­ten. Ge­mäch­lich ging er dort hin­un­ter; dann wand­te er sich der Car­re­ra del Puen­te zu und ge­lang­te bald in den Schat­ten der Ka­the­dra­le, die ur­sprüng­lich als Mo­schee er­rich­tet wor­den war.

Un­ent­schlos­sen blieb er vor den of­fe­nen To­ren zu den Hö­fen ste­hen; er schi­en im Zwei­fel zu sein, wo­hin er sich wen­den soll­te. Schließ­lich dreh­te er sich um und ging zur Cala­hor­rabrücke hin­un­ter, die den Fluß mit ih­ren sech­zehn Bo­gen schnur­ge­ra­de über­spann­te. Sie stamm­te noch aus der Zeit der Mau­ren und war von die­sen er­baut. Als er die Mit­te der Brücke er­reicht hat­te, lehn­te er sich über das Ge­län­der und schau­te läs­sig auf die an­ge­schwol­le­nen gel­ben Flu­ten des Gua­dal­qui­vir hin­ab.

Heim­lich aber be­ob­ach­te­te er, wie der Bett­ler auf ihn zu­hum­pel­te. Es dau­er­te sehr lan­ge, denn der Alte kam nur lang­sam von der Stel­le. End­lich stand er an sei­ner Sei­te und hielt ihm die Hand ent­ge­gen. Sei­ne Hal­tung war die ei­nes ge­wöhn­li­chen Bett­lers, aber sei­ne Spra­che die ei­nes ge­bil­de­ten Eng­län­ders.

»Man­fred«, sag­te er ernst, »du mußt die­sen Ess­ley se­hen. Ich bit­te dich aus ei­nem ganz be­stimm­ten Grund dar­um.«

»Wer ist denn das?« Der Bett­ler lä­chel­te.

»Ich muß mich zum größ­ten Teil auf mein Ge­dächt­nis ver­las­sen. Die Biblio­thek in mei­ner arm­se­li­gen Woh­nung ist et­was be­schränkt. Aber ich habe die dunkle Erin­ne­rung, daß er Arzt in ei­ner Vor­stadt Lon­d­ons ist. Scheint ein klu­ger Kopf zu sein.«

»Und was macht er hier?«

Gon­sa­lez, der sich hin­ter der Mas­ke die­ses un­schein­ba­ren Bett­lers ver­barg, lä­chel­te wie­der.

»Hier in Cór­do­ba lebt ein Dok­tor Ca­ja­los. In die vor­neh­me Um­ge­bung des Pa­seo del Gran Ca­pitán, wo du dei­ne lu­xu­ri­öse Woh­nung hast, dringt na­tür­lich kein Gerücht aus der Un­ter­welt von Cór­do­ba. Hier«, – er zeig­te auf die bau­fäl­li­gen Dä­cher und die schmut­zi­gen, schie­fen Häu­ser am an­de­ren Ende der Brücke – »im Cam­po de la Ver­dad, wo die Leu­te mit zehn Pe­se­ten die Wo­che zu­frie­den le­ben kön­nen, kennt man den Dok­tor Ca­ja­los. Er wird in al­len Häu­sern und Fa­mi­li­en ver­ehrt – ein be­wun­de­rungs­wür­di­ger Mensch, der mit sei­ner Kunst Wun­der voll­bringt. Er macht die Blin­den se­hend, ent­larvt durch sei­ne Macht die Schul­di­gen, be­rei­tet un­fehl­ba­re Lie­bes­trän­ke, be­spricht War­zen und Ge­schwü­re.«

»Selbst in der Ge­gend des Pa­seo del Gran Ca­pitán wird er ge­ach­tet.« Man­fred zwin­ker­te mit den Au­gen. »Ich habe ihn selbst auf­ge­sucht und um Rat ge­fragt.«

Der Bett­ler war ein we­nig er­staunt.

»Du bist tüch­ti­ger, als ich dach­te«, sag­te er be­wun­dernd. »Wann warst du bei ihm?«

Man­fred lach­te lei­se.

»Vor ei­ni­gen Wo­chen stand in ei­ner be­stimm­ten Nacht ein Bett­ler vor der Haus­tür des Arz­tes auf der Stra­ße und war­te­te ge­dul­dig auf das Wie­de­rer­schei­nen ei­nes ge­heim­nis­vol­len Be­su­chers, der sich bis zur Na­sen­spit­ze in sei­nen Man­tel ein­gehüllt hat­te.«

»Ja, ich kann mich be­sin­nen.« Gon­sa­lez nick­te. »Es war ein Frem­der aus Ron­da, und ich war neu­gie­rig. Hast du be­ob­ach­tet, daß ich ihm folg­te?«

»Ich sah dich von der Sei­te«, ent­geg­ne­te Man­fred ernst.

»Warst denn du der Frem­de?« frag­te Gon­sa­lez, aufs höchs­te über­rascht.

»Ja. Ich ver­ließ da­mals Cór­do­ba, um nach Cór­do­ba zu­rück­zu­kom­men.«

Gon­sa­lez schwieg einen Au­gen­blick.

»Ich gebe mich ge­schla­gen«, sag­te er dann. »Du kennst also Dok­tor Ca­ja­los. Be­greifst du nun, warum ein ge­wöhn­li­cher eng­li­scher Arzt nach Cór­do­ba kommt? Ess­ley ist auf dem schnells­ten Wege und ohne Auf­ent­halt mit dem Al­ge­ci­ras-Ex­preß ge­reist. Mor­gen früh bei Ta­ge­s­an­bruch wird er Cór­do­ba auf die­sel­be ei­li­ge Wei­se wie­der ver­las­sen. Er ist hier­her­ge­kom­men, um Dok­tor Ca­ja­los zu kon­sul­tie­ren.«

»Poic­cart ist hier; er in­ter­es­siert sich auch für die­sen Ess­ley – und zwar so sehr, daß er sich, den Rei­se­füh­rer in der Hand, fried­lich von Frem­den­füh­rern um­her­füh­ren läßt, die ihm ja doch nur un­ge­naue Aus­kunft ge­ben kön­nen.«

Man­fred strich sei­nen klei­nen Bart, und sei­ne klu­gen Au­gen hat­ten wie­der den­sel­ben erns­ten, nach­denk­li­chen Aus­druck wie vor­her, als er Gon­sa­lez von sei­nem Platz im ›Café del Gran Ca­pitán‹ aus nach­ge­se­hen hat­te.

»Ohne Poic­cart wür­de das Le­ben lang­wei­lig sein«, sag­te er.

»Ja, da hast du recht – o Señor, mein gan­zes Le­ben soll Ihrem Lobe ge­weiht sein, und mei­ne Ge­be­te für Sie sol­len wie Weih­rauch­wol­ken zum Thro­ne des All­mäch­ti­gen em­por­stei­gen.«

Er ver­fiel plötz­lich wie­der in sei­nen jam­mern­den Ton­fall, denn ein Po­li­zist der Guar­dia Mu­ni­ci­pal nä­her­te sich ih­nen und warf einen miß­traui­schen Blick auf den Bett­ler, der mit aus­ge­streck­ter Hand er­war­tungs­voll da­stand.

Man­fred schüt­tel­te den Kopf, als der Po­li­zist her­an­kam.

»Geh in Frie­den.«

»Du Hund«, rief der Po­li­zist und pack­te den Bett­ler mit rau­her Hand an der Schul­ter, »du Sohn ei­nes Die­bes, mach, daß du fort­kommst, da­mit dei­ne übel­rie­chen­de Ge­gen­wart nicht die Nase die­ses ho­hen Herrn be­lei­digt!«

Er stemm­te die Arme in die Sei­te und sah dem da­von­hin­ken­den Krüp­pel nach, dann wand­te er sich an Man­fred.

»Wenn ich die­sen Lum­pen nur eher ge­se­hen hät­te, Señor, hät­te ich Sie schon längst von ihm be­freit.«

»Es ist nicht der Rede wert«, er­wi­der­te Man­fred in her­kömm­li­cher Wei­se.

Der Po­li­zist strich sich mit der einen Hand den klei­nen Schnurr­bart.

»Ich habe es nicht leicht, die rei­chen und frei­ge­bi­gen Ca­bal­le­ros vor die­sen Ker­len zu be­wah­ren …«

Man­fred ließ ein Geld­stück in die Hand des Po­li­zis­ten glei­ten.

Der Mann ging bis zum Ende der Brücke ne­ben ihm her. Sie blie­ben dann plau­dernd an dem Haupt­por­tal der Ka­the­dra­le ste­hen.

»Sie sind wohl nicht aus Cór­do­ba, Señor?«

»Aus Mala­ga«, er­wi­der­te Man­fred ohne Zö­gern.

»Mei­ne Schwes­ter war mit ei­nem Fi­scher in Mala­ga ver­hei­ra­tet«, er­zähl­te der Po­li­zist. »Ihr Mann ist er­trun­ken. – Sind Sie schon ein­mal in Gi­bral­tar ge­we­sen?«

Man­fred nick­te. Er blick­te in­ter­es­siert auf eine Ge­sell­schaft von Tou­ris­ten, de­nen die Pracht der Pu­er­ta del Perdón ge­zeigt wur­de.

Ei­ner der Frem­den lös­te sich von der Grup­pe der üb­ri­gen und kam auf sie zu. Er war ein Mann von mitt­ler­er Grö­ße und kräf­ti­ger, un­ter­setz­ter Ge­stalt. In sei­nem We­sen lag eine son­der­ba­re Zu­rück­hal­tung, und in sei­nem Ge­sicht drück­te sich eine ge­wis­se me­lan­cho­li­sche Ruhe aus.

»Kön­nen Sie mir den Weg zum Pa­seo del Gran Ca­pitán sa­gen?« frag­te er in schlech­tem Spa­nisch.

»Ich gehe selbst dort­hin«, er­klär­te Man­fred höf­lich. »Wenn Sie mich be­glei­ten wol­len …«

»Ich wäre Ih­nen zu großem Dank ver­pflich­tet«, ent­geg­ne­te der an­de­re.

Man­fred dank­te dem Po­li­zis­ten noch­mals, dann gin­gen die bei­den Män­ner da­von.

Sie spra­chen über die ver­schie­dens­ten Din­ge, über das Wet­ter und den schö­nen An­blick der Ka­the­dra­le.

»Du mußt mit­kom­men und Ess­ley se­hen«, sag­te der Tou­rist plötz­lich un­ver­mit­telt in per­fek­tem Spa­nisch.

»Er­zäh­le mir doch et­was von ihm«, er­wi­der­te Man­fred. »Im Ver­trau­en ge­sagt – du hast mei­ne Neu­gier­de ge­weckt.«

»Es ist eine wich­ti­ge An­ge­le­gen­heit«, ent­geg­ne­te Poic­cart ernst. »Ess­ley ist Arzt in ei­ner Vor­stadt von Lon­don. Ich habe ihn seit Mo­na­ten be­ob­ach­tet. Er hat nur eine klei­ne, recht un­be­deu­ten­de Pra­xis; au­gen­schein­lich ist das nicht sein Haupt­be­ruf. Au­ßer­dem hat er eine merk­wür­di­ge Ver­gan­gen­heit. Er hat in Lon­don stu­diert und ist gleich nach dem Ex­amen mit ei­nem ge­wis­sen Hen­ley nach Aus­tra­li­en ge­gan­gen. Hen­ley war ganz her­un­ter­ge­kom­men und im Ex­amen durch­ge­fal­len, aber die bei­den wa­ren gute Freun­de. Das er­klärt wahr­schein­lich auch, daß sie zu­sam­men aus­wan­der­ten, um ihr Glück in der Frem­de zu su­chen. Ess­ley stand völ­lig al­lein, und Hen­ley hat­te nur einen rei­chen On­kel ir­gend­wo in Ka­na­da, den er aber nie­mals ge­se­hen hat­te. Sie ka­men in Mel­bour­ne an und gin­gen ins In­ne­re des Lan­des. Sie woll­ten in den neu­en Gold­fel­dern ihr Heil ver­su­chen, die da­mals ge­ra­de er­schlos­sen wur­den. Drei Mo­na­te spä­ter kam Ess­ley al­lein dort an – sein Freund war un­ter­wegs ge­stor­ben!

Er scheint in den nächs­ten drei oder vier Jah­ren kei­ne Pra­xis be­gon­nen zu ha­ben. Ich habe sei­ne Wan­de­run­gen von ei­nem Gold­su­cher­la­ger zum an­de­ren ver­fol­gen kön­nen. Er ar­bei­te­te ein we­nig und ver­spiel­te dann wie­der al­les. Er wur­de all­ge­mein ›Dok­tor S.‹ ge­nannt – wahr­schein­lich eine Ab­kür­zung für ›Ess­ley‹. Erst als er nach Westaus­tra­li­en kam, mach­te er den Ver­such, sich als Arzt nie­der­zu­las­sen. Sei­ne Pra­xis war nicht ge­ra­de groß, aber sie brach­te ihm doch et­was ein. Nach ei­ni­ger Zeit ver­schwand er je­doch aus Cool­gar­die, und erst acht Jah­re spä­ter tauch­te er in Lon­don wie­der auf.«

In­zwi­schen hat­ten sie den Pa­seo del Gran Ca­pi­tan er­reicht. Die Stra­ßen wa­ren jetzt be­leb­ter.

»Ich habe ein paar Zim­mer hier ge­mie­tet«, sag­te Man­fred. »Komm mit und trink eine Tas­se Tee bei mir.«

Sei­ne Woh­nung lag über ei­nem Ju­we­lier­la­den in der Cal­le Mo­rería. Die Räu­me wa­ren schön aus­ge­stat­tet.

»Be­son­de­ren Wert habe ich auf Be­quem­lich­keit ge­legt«, er­klär­te Man­fred, als er auf­schloß. Gleich dar­auf setz­te er einen sil­ber­nen Kes­sel auf eine elek­tri­sche Koch­plat­te.

»Der Tisch ist ja für zwei ge­deckt?« frag­te Poic­cart er­staunt.

»Ich er­war­te Be­such«, er­wi­der­te Man­fred lä­chelnd. »Manch­mal wird un­se­rem lie­ben Leon das Bett­ler­le­ben läs­tig, dann kommt er als re­prä­sen­ta­bles Mit­glied der Ge­sell­schaft mit der Bahn in Cór­do­ba an, um den Lu­xus des Le­bens wie­der ein­mal zu ge­nie­ßen – und mir sei­ne Ge­schich­ten zu er­zäh­len. Aber ich möch­te gern noch mehr von Ess­ley hö­ren, lie­ber Poic­cart, ich in­ter­es­sie­re mich sehr für ihn.«

Der ›Tou­rist‹ setz­te sich in einen tie­fen und be­que­men Ses­sel.

»Wo war ich doch gleich ste­hen­ge­blie­ben? Ach ja – Dok­tor Ess­ley ver­schwand aus Cool­gar­die und tauch­te dann acht Jah­re spä­ter in Lon­don wie­der auf.«

»Un­ter au­ßer­ge­wöhn­li­chen Um­stän­den?«

»Nein, das ge­ra­de nicht. Er wur­de da­mals von ei­nem neu­en Ge­wal­ti­gen der Lon­do­ner Ge­schäfts­welt lan­ciert.«

»Etwa von Oberst Black?« frag­te Man­fred stirn­run­zelnd.

»Ja. Die­sem Mann ver­dankt Ess­ley sei­ne Pra­xis. Er er­reg­te zum ers­ten­mal mei­ne Auf­merk­sam­keit –«

Es klopf­te an der Tür, und Man­fred hob war­nend den Fin­ger. Er ging hin und öff­ne­te. Der Por­tier stand drau­ßen, die Müt­ze in der Hand. Hin­ter ihm, ein we­nig wei­ter un­ten auf der Trep­pe, war ein Frem­der zu se­hen – an­schei­nend ein Eng­län­der.

»Señor, ein Herr möch­te Sie spre­chen.«

»Ich ste­he zu Ihren Diens­ten«, ant­wor­te­te Man­fred, in­dem er den Be­su­cher auf spa­nisch an­re­de­te.

»Ich kann lei­der nicht gut Spa­nisch«, sag­te der Mann auf der Trep­pe.

»Wol­len Sie bit­te nä­her tre­ten?«

Man­fred sprach nun eng­lisch.

Der Frem­de stieg lang­sam her­auf.

Er war etwa fünf­zig Jah­re alt, hat­te lan­ges grau­es Haar und bu­schi­ge Au­gen­brau­en. Sein stark her­vor­tre­ten­der Un­ter­kie­fer mach­te sein Ge­sicht nicht ge­ra­de ein­neh­mend. Er trug einen schwar­zen An­zug und hielt einen breit­krem­pi­gen, wei­chen Filz­hut in der be­hand­schuh­ten Hand.

Als er ein­ge­tre­ten war, blick­te er for­schend von ei­nem zum an­dern.

»Mein Name ist Ess­ley«, stell­te er sich dann vor.

Er zö­ger­te et­was bei dem dop­pel­ten S, so daß das Wort zi­schend und hart klang.

»Ess­ley«, sag­te er noch ein­mal, als ob er eine be­son­de­re Ge­nug­tu­ung bei der Wie­der­ho­lung sei­nes Na­mens emp­fän­de.

Man­fred wies mit der Hand auf einen Stuhl, aber der Frem­de schüt­tel­te den Kopf.

»Ich möch­te mich nicht set­zen«, sag­te er schroff. »Wenn ich ge­schäft­lich ver­hand­le, ste­he ich lie­ber.«

Er sah arg­wöh­nisch auf Poic­cart.

»Ich möch­te Sie in ei­ner pri­va­ten An­ge­le­gen­heit spre­chen«, sag­te er mit ei­ner ge­wis­sen Be­to­nung.

»Mein Freund ge­nießt mein vol­les Ver­trau­en«, ent­geg­ne­te Man­fred.

Ess­ley nick­te un­wil­lig.

»Ich habe ge­hört, daß Sie Kri­mi­nal­wis­sen­schaft­ler sind und auch ein­ge­hen­de Kennt­nis­se über Spa­ni­en be­sit­zen.«

Man­fred zuck­te die Schul­tern. In der Rol­le, die er au­gen­blick­lich spiel­te, ge­noß er ei­ni­ges An­se­hen als wis­sen­schaft­li­cher Schrift­stel­ler. Er hat­te un­ter dem Na­men ›de la Mon­te‹ ein Buch ›Mo­der­nes Ver­bre­cher­tum‹ ver­öf­fent­licht.

»Als ich dies er­fuhr, reis­te ich nach Cór­do­ba«, er­klär­te Dr. Ess­ley. »Ich habe hier zwar noch an­de­re Din­ge zu er­le­di­gen, aber die sind nicht so wich­tig.«

Er sah sich jetzt doch nach ei­nem Ses­sel um. Man­fred bot ihm einen an, und sein Be­su­cher nahm Platz, in­dem er sich mit dem Rücken zum Fens­ter setz­te.

»Mr. de la Mon­te, Sie be­sit­zen eine um­fas­sen­de Kennt­nis des Ver­bre­chens.«

Der Dok­tor lehn­te sich vor und fal­te­te sei­ne Hän­de über dem Knie.

»Ich habe ein Buch dar­über ge­schrie­ben, aber das be­sagt noch nicht un­be­dingt, daß ich große Kennt­nis­se be­sit­zen muß«, er­wi­der­te Man­fred.

»Das habe ich be­fürch­tet«, ent­geg­ne­te der an­de­re barsch. »Ich war auch be­sorgt, daß Sie viel­leicht nicht Eng­lisch sprä­chen. Nun möch­te ich eine of­fe­ne Fra­ge an Sie rich­ten, und ich er­war­te von Ih­nen eine eben­so of­fe­ne Ant­wort.«

»So­weit ich dazu im­stan­de bin, will ich sie Ih­nen ger­ne ge­ben.«

Das Ge­sicht des Arz­tes zuck­te ner­vös.

»Ha­ben Sie je­mals et­was von den ›Vier Ge­rech­ten‹ ge­hört?«

Es trat eine kur­ze Pau­se ein.

»Ja, ich habe von ih­nen ge­hört.«

»Sind sie in Spa­ni­en?« frag­te der Dok­tor mit schril­ler Stim­me.

»Das weiß ich nicht ge­nau. Wa­rum fra­gen Sie?«

»Weil ich …« Der Arzt zö­ger­te. »Nun, ich in­ter­es­sie­re mich für die Leu­te. Man sagt, daß sie Ver­bre­chen auf­spü­ren, die die Ge­rich­te nicht be­stra­fen. Sie … sie … tö­ten ihre Op­fer auch – wie?«

Sei­ne Stim­me war noch schär­fer ge­wor­den, und er kniff die Au­gen­li­der so weit zu­sam­men, daß er nur noch durch Schlit­ze zu se­hen schi­en.

»Es ist be­kannt, daß eine sol­che Or­ga­ni­sa­ti­on be­steht«, ant­wor­te­te Man­fred, »und man weiß auch, daß die ›Vier Ge­rech­ten‹ sich mit un­ge­sühn­ten Ver­bre­chen be­schäf­ti­gen – und daß sie Stra­fen ver­hän­gen.«

»Auch – die To­dess­tra­fe?«

»Sie wen­den auch die To­dess­tra­fe an«, er­wi­der­te Man­fred ernst.

»Und da­bei lau­fen sie frei her­um?« Dr. Ess­ley sprang er­regt auf und ges­ti­ku­lier­te hef­tig mit den Hän­den. »Sie lau­fen frei her­um und wer­den nicht be­straft? Bei al­len mo­der­nen Metho­den der Po­li­zei kann man sie nicht fas­sen? Sie wa­gen es, sich selbst zu Rich­tern auf­zu­wer­fen und an­de­re Leu­te zu ver­ur­tei­len? Wer hat ih­nen das Recht dazu ge­ge­ben? Es gibt doch noch Ge­set­ze, und wenn sich je­mand ge­gen sie ver­geht –«

Er hielt plötz­lich inne, zuck­te die Schul­tern und sank schwer in sei­nen Ses­sel zu­rück.

»So­weit ich er­fah­ren habe«, fuhr er nach ei­ner Wei­le fort, »bil­den sie kei­ne Macht mehr. Sie sind in al­len Län­dern ge­äch­tet – alle Po­li­zei­be­hör­den ha­ben Steck­brie­fe ge­gen sie er­las­sen.«

Man­fred nick­te.

»Das stimmt«, sag­te er höf­lich, »aber ob sie kei­ne Macht mehr ha­ben, das kann nur die Zeit leh­ren.«

»Es sind drei.« Der Dok­tor schau­te bei die­sen Wor­ten schnell auf. »Für ge­wöhn­lich fin­den sie noch einen vier­ten – einen Mann, der großen Ein­fluß hat.«

Man­fred nick­te wie­der.

»Das habe ich auch ge­hört.«

Dr. Ess­ley rück­te un­ru­hig in sei­nem Ses­sel hin und her. Man sah deut­lich, daß er nicht die ge­wünsch­te Aus­kunft oder Ver­si­che­rung er­hal­ten hat­te und nun stark be­un­ru­higt war.

»Und sie sind in Spa­ni­en?« frag­te er.

»Man sagt es.«

»Sie sind nicht in Frank­reich, nicht in Ita­li­en, nicht in Deutsch­land, in kei­nem der skan­di­na­vi­schen Län­der«, rief Dr. Ess­ley. »Sie müs­sen in Spa­ni­en sein.«

Eine Wei­le brü­te­te er schwei­gend vor sich hin.

»Ver­zei­hen Sie«, sag­te Poic­cart, der bis da­hin still zu­ge­hört hat­te, »Sie schei­nen sich au­ßer­or­dent­lich für die ›Vier Ge­rech­ten‹ zu in­ter­es­sie­ren. Neh­men Sie bit­te mei­ne Fra­ge nicht übel – warum liegt Ih­nen so­viel dar­an, ih­ren Auf­ent­halts­ort zu er­fah­ren?«

»Es ist rei­ne Neu­gier­de«, er­wi­der­te der Arzt schnell. »In ge­wis­ser Be­zie­hung stu­die­re ich näm­lich auch das Ver­bre­chen – wie Mr. de la Mon­te.«

»Da sind Sie aber ein er­staun­lich eif­ri­ger Stu­dent«, mein­te Man­fred.

»Ich hat­te ge­hofft, daß Sie in der Lage sein wür­den, mir zu hel­fen«, fuhr Ess­ley fort, ohne Man­freds an­züg­li­che Be­mer­kung zu be­ach­ten. »Aber ich habe nur von Ih­nen er­fah­ren, daß die ›Vier Ge­rech­ten‹ in Spa­ni­en sind, und auch das ist wei­ter nichts als eine Ver­mu­tung.«

»Vi­el­leicht sind sie auch gar nicht in Spa­ni­en«, sag­te Man­fred, als er sei­nen Be­su­cher zur Tür be­glei­te­te. »Vi­el­leicht exis­tie­ren sie nicht ein­mal. Ihre Furcht ist wahr­schein­lich völ­lig un­be­grün­det.«

Der Dok­tor fuhr her­um. Er war krei­de­bleich ge­wor­den.

»Furcht?« Ess­ley at­me­te schnell. »Sag­ten Sie et­was von Furcht?«

»Es tut mir leid«, ant­wor­te­te Man­fred la­chend, »viel­leicht kann ich mich eng­lisch nicht so kor­rekt aus­drücken.«

»Wa­rum soll­te ich sie denn fürch­ten?« frag­te der Dok­tor ge­reizt. »Ihre Wor­te wa­ren wirk­lich un­glück­lich ge­wählt. Ich brau­che mich we­der vor den ›Vier Ge­rech­ten‹ noch vor sonst je­mand zu fürch­ten.«

Er stand keu­chend in der of­fe­nen Tür. Mit sicht­li­cher An­stren­gung riß er sich zu­sam­men; er zö­ger­te noch einen Au­gen­blick und ver­ab­schie­de­te sich dann mit ei­ner stei­fen Ver­beu­gung.

Er ging die Trep­pe hin­un­ter, trat auf die Stra­ße und eil­te zu sei­nem Ho­tel hin­über. An der Ecke stand ein Bett­ler, der müde die Hand hob.

»Um Got­tes und der Hei­li­gen wil­len«, wim­mer­te er.

Flu­chend schlug Ess­ley mit sei­nem Stock nach der Hand, traf sie aber nicht, denn der Bett­ler war au­ßer­ge­wöhn­lich schnell. Gon­sa­lez war zwar be­reit, alle mög­li­che Un­bill auf sich zu neh­men, aber Nar­ben und Strie­men wünsch­te er kei­nes­falls an sei­nen zar­ten Hän­den zu ha­ben.

*

Als Ess­ley in sei­nem Zim­mer an­ge­kom­men war, schloß er die Tür ab und ließ sich in einen Ses­sel fal­len, um nach­zu­den­ken. Er ver­wünsch­te sei­ne ei­ge­ne Tor­heit – es war ein wahn­sin­ni­ger Feh­ler, die Fas­sung zu ver­lie­ren, selbst in Ge­gen­wart ei­nes so un­be­deu­ten­den Men­schen wie die­ses spa­ni­schen Di­let­tan­ten, der et­was von Kri­mi­nal­wis­sen­schaft ver­ste­hen woll­te.

Der ers­te Teil sei­ner Auf­ga­be war be­en­det – er muß­te sich ein­ge­ste­hen, daß er kei­nen Er­folg ge­habt hat­te. Aus der Ta­sche sei­nes Man­tels nahm er einen Rei­se­füh­rer für Spa­ni­en und blät­ter­te dar­in, bis er den Stadt­plan von Cór­do­ba fand. An der glei­chen Stel­le lag noch ein an­de­rer Plan in dem Band; er war an­schei­nend von je­mand ge­zeich­net wor­den, der bes­ser mit der Ört­lich­keit selbst als mit der Kunst des Kar­ten­zeich­nens ver­traut war.

Von Dr. Ca­ja­los hat­te er zum ers­ten­mal durch einen spa­ni­schen An­ar­chis­ten ge­hört, den er auf sei­nen merk­wür­di­gen nächt­li­chen Streif­zü­gen durch Lon­don ge­trof­fen hat­te. Nach­dem er mit dem Mann eine Fla­sche Wein ge­trun­ken hat­te, er­zähl­te die­ser von den ans Wun­der­ba­re gren­zen­den Kräf­ten des He­xen­meis­ters von Cór­do­ba und er­wähn­te da­bei Din­ge, die das leb­haf­tes­te In­ter­es­se des Arz­tes fan­den. Er hat­te dar­auf­hin einen Brief­wech­sel mit Dr. Ca­ja­los be­gon­nen, und nun war er hier, um ihn per­sön­lich auf­zu­su­chen.

Ess­ley schau­te auf die Uhr. Es war bei­na­he sie­ben. Er woll­te erst zu Abend spei­sen und sich dann um­zie­hen. Schnell wusch er sich, doch dreh­te er trotz der her­ein­bre­chen­den Dun­kel­heit das Licht nicht an. Dann ging er in den Spei­se­saal.

Er saß an ei­nem Tisch für sich al­lein und ver­tief­te sich so­fort in eine eng­li­sche Zeit­schrift, die er mit­ge­bracht hat­te. Ab und zu mach­te er bei der Lek­tü­re No­ti­zen in ein klei­nes Buch, das ne­ben sei­nem Tel­ler lag. Sei­ne Auf­zeich­nun­gen stan­den aber we­der in Be­zie­hung zu dem Ar­ti­kel, den er las, noch zu den me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaf­ten; sie han­del­ten viel­mehr von der fi­nan­zi­el­len Sei­te ei­nes Plans, der ihm eben in den Sinn kam.

Nach dem Es­sen be­stell­te er noch Kaf­fee. Dann er­hob er sich, steck­te das klei­ne No­tiz­buch in die Ta­sche, nahm die Zeit­schrift und ging auf sein Zim­mer zu­rück. Dort dreh­te er das Licht an und zog die Vor­hän­ge zu. Er stell­te einen klei­nen Tisch un­ter die Lam­pe und hol­te aus sei­nem Kof­fer eine Men­ge eng­be­schrie­be­ner Blät­ter, die er vor sich aus­brei­te­te. Auch sein No­tiz­buch hol­te er wie­der her­vor. Er ar­bei­te­te meh­re­re Stun­den. Dann hielt er plötz­lich inne, als ob er von ei­nem un­sicht­ba­ren We­cker an sei­ne Verab­re­dung er­in­nert wor­den wäre.

Schnell pack­te er die Pa­pie­re fort, zog einen Man­tel an und drück­te sich den wei­chen Filz­hut tief ins Ge­sicht. Er ver­ließ das Ho­tel und schlug den Weg nach der Cala­hor­rabrücke ein. Die Stra­ßen, die er durch­schritt, la­gen ein­sam und ver­las­sen da; er zö­ger­te nicht im ge­rings­ten, denn er hat­te sei­nen Plan vor­her ein­ge­hend stu­diert.

Er tauch­te in ei­nem Ge­wirr von en­gen Stra­ßen un­ter, und erst am Ein­gang ei­ner dunklen Sack­gas­se hielt er einen Au­gen­blick an. Eine düs­te­re Stra­ßen­lam­pe im Hin­ter­grund mach­te die Gas­se noch un­heim­li­cher. Zu bei­den Sei­ten er­ho­ben sich hohe, fast fens­ter­lo­se Häu­ser, de­ren Tü­ren in fins­te­ren Ni­schen la­gen. Nach kur­z­em Zau­dern klopf­te Ess­ley zwei­mal an eine Tür zur Lin­ken.

Sie öff­ne­te sich so­fort ge­räusch­los.

Wie­der zö­ger­te er.

»Tre­ten Sie ein«, sag­te eine Stim­me auf spa­nisch, »Sie brau­chen sich nicht zu fürch­ten.«

Ess­ley ging hin­ein, und die Tür schloß sich hin­ter ihm.

»Kom­men Sie mit.«

Der Dok­tor konn­te in der Dun­kel­heit nur un­deut­lich die Ge­stalt ei­nes klei­nen al­ten Man­nes wahr­neh­men. Er ging wei­ter und wisch­te sich da­bei den Schweiß von der Stirn.

Der alte Mann knips­te eine Lam­pe an, und Ess­ley be­trach­te­te ihn nun ge­nau­er. Er war zwer­gen­haft klein. Ein un­ge­pfleg­ter, lan­ger wei­ßer Bart be­deck­te sei­ne Brust; der Kopf war völ­lig kahl, so glatt wie eine Ku­gel. Das schmut­zi­ge Ge­sicht, die un­sau­be­ren Hän­de, die gan­ze Er­schei­nung zeug­ten da­von, daß er kein Freund von Was­ser war.

Ein paar schwar­ze, tief­lie­gen­de Au­gen fun­kel­ten den Dok­tor an. Die vie­len klei­nen Lach­fält­chen um die Au­gen­win­kel deu­te­ten an, daß er auch lus­tig sein konn­te. Das war also Dr. Ca­ja­los, ein Mann, der in Spa­ni­en be­rühmt war.

»Neh­men Sie Platz«, sag­te Dr. Ca­ja­los. »Wir wol­len in Ruhe mit­ein­an­der spre­chen. Für spä­ter hat sich eine vor­neh­me Dame an­ge­mel­det, die mich kon­sul­tie­ren will.«

Ess­ley ließ sich nie­der, und Dr. Ca­ja­los setz­te sich auf einen ho­hen Sche­mel. Er bot einen son­der­ba­ren An­blick mit sei­nen her­un­ter­hän­gen­den klei­nen Bei­nen, sei­nem stein­al­ten Ge­sicht und sei­nem kah­len, glat­ten Schä­del.

»Ich schrieb Ih­nen über ge­wis­se to­xi­ko­lo­gi­sche Ex­pe­ri­men­te –«, be­gann Ess­ley, aber Dr. Ca­ja­los un­ter­brach ihn.

»Sie kom­men we­gen ei­nes Mit­tels, das ich be­rei­tet habe«, sag­te er. »Es ist ein Prä­pa­rat aus …«1

Ess­ley sprang auf. »Ich … ich habe … Ih­nen da­von nichts ge­schrie­ben«, stam­mel­te er.

»Der grü­ne Teu­fel hat mir das er­zählt; ich un­ter­hal­te mich oft mit den Bett­lern, und da er­fah­re ich vie­les von Be­deu­tung«, er­wi­der­te Dr. Ca­ja­los ernst.

»Ich dach­te –«

»Se­hen Sie her!«

Der Alte klet­ter­te be­hen­de von sei­nem ho­hen Sche­mel her­un­ter und ging in eine dunkle Ecke des Zim­mers, wo ei­ni­ge Kis­ten stan­den. Ess­ley hör­te ein schar­ren­des Geräusch. Nach ei­ni­ger Zeit kam Dr. Ca­ja­los mit ei­nem zap­peln­den Ka­nin­chen zu­rück, das er an den Ohren ge­packt hat­te.

Mit der frei­en Hand ent­kork­te er eine klei­ne grü­ne Fla­sche und stell­te sie auf den Tisch. Dann nahm er eine Fe­der, tauch­te sie be­däch­tig in die Flüs­sig­keit und be­rühr­te mit ih­rer Spit­ze vor­sich­tig die Nase des Ka­nin­chens, die je­doch kaum be­netzt wur­de.

So­fort wur­de das Tier ohne ir­gend­wel­chen Krampf steif, als ob durch die Berüh­rung plötz­lich al­les Le­ben aus dem Kör­per ge­wi­chen sei. Ca­ja­los ver­schloß die Fla­sche und warf die Fe­der in den Ofen, der in der Mit­te das Rau­mes stand und mit Holz­koh­le ge­heizt wur­de.

»Es ist ein Gift«, sag­te er zu Ess­ley, »das ich ent­deckt habe.«

Er leg­te das ver­gif­te­te Ka­nin­chen sei­nem Be­su­cher vor die Füße.

»Señor«, sag­te er stolz, »neh­men Sie das Tier und un­ter­su­chen Sie es; stel­len Sie alle nur ir­gend mög­li­chen Pro­ben da­mit an – Sie wer­den nicht die ge­rings­te Spur des Al­ka­lo­ids ent­de­cken kön­nen, durch das es ge­tö­tet wur­de.«

»Das stimmt nicht«, ent­geg­ne­te Ess­ley, »denn es bleibt eine Zu­sam­men­zie­hung der Pu­pil­le, und die ist ein ab­so­lut si­che­res Zei­chen.«

»Su­chen Sie doch da­nach! Se­hen Sie sich doch die Au­gen des Tie­res an!« rief der Alte tri­um­phie­rend.

Ess­ley un­ter­such­te das Ka­nin­chen, aber er konn­te selbst die­ses sonst so untrüg­li­che Merk­mal nicht fin­den.

*

Eine dunkle Ge­stalt drück­te sich drau­ßen dicht an die Wand und lausch­te. Der Mann stand an dem Fens­ter­la­den und hielt ein Hör­rohr ans Ohr. Das an­de­re Ende, das von ei­ner Gum­mihül­le um­ge­ben war, preß­te er ge­gen den höl­zer­nen Fens­ter­la­den.

Eine hal­be Stun­de stand er fast reg­los dort, dann zog er sich lei­se zu­rück und ver­schwand im Schat­ten der Oran­gen­sträu­cher, die in der Mit­te des lan­gen Gar­tens stan­den.

Gleich dar­auf wur­de die Haus­tür auf­ge­schlos­sen; Dr. Ca­ja­los ge­lei­te­te sei­nen Be­su­cher wie­der auf die Stra­ße.

»Die Teu­fel sind mäch­ti­ger als je«, sag­te der Alte und ki­cher­te un­heim­lich. »Es wer­den sich bald ver­schie­de­ne Din­ge er­eig­nen, mein Lie­ber!«

Ess­ley er­wi­der­te nichts. Er war be­gie­rig, wie­der ins Freie zu kom­men, und zit­ter­te vor Un­ge­duld, als der Alte die schwe­re Tür öff­ne­te. Nach­dem sie sich end­lich auf­ge­tan hat­te, eil­te er auf die Stra­ße.

»Le­ben Sie wohl!« sag­te er.

»Sie auch, mein Freund!« ent­geg­ne­te der Alte und schloß laut­los die Tür.

In der ers­ten Auf­la­ge die­ses Bu­ches wur­de der Name des Gif­tes ge­nannt. Es ist dem Au­tor aber von ver­schie­de­nen Sei­ten be­deu­tet wor­den, daß es nicht wün­schens­wert er­schei­ne, den ge­nau­en Na­men an­zu­ge­ben. Der Au­tor hat sich die­sen Vor­stel­lun­gen nicht ver­schlie­ßen kön­nen. Das Gift ist den Au­ge­n­ärz­ten wohl­be­kannt, und sei­ne Wir­kung ist in die­sem Buch rich­tig be­schrie­ben.  <<<

2

Die Fir­ma Black & Gram ge­noß in der Lon­do­ner City ein ge­wis­ses An­se­hen. Was Gram be­traf, so war er ein Mensch ohne Ta­del – ein edel­mü­ti­ger Mann und ein groß­zü­gi­ger Wohl­tä­ter. Aber Black be­klag­te sich mit ei­ni­ger Ent­rüs­tung, daß Gram ihn durch sei­ne ver­rück­te Frei­ge­big­keit ei­nes Ta­ges noch rui­nie­ren wer­de.

Gram er­laub­te sei­nem gu­ten Her­zen, sei­nen Ver­stand zu re­gie­ren; er war zu weich und nach­gie­big als Ge­schäfts­mann. In der City be­ur­teil­te man Gram da­her skep­tisch; man ver­glich ihn mit ei­ner gut­mü­ti­gen al­ten Dame. Aber Black küm­mer­te sich nicht wei­ter dar­um, son­dern lä­chel­te nur ge­heim­nis­voll zu all den An­züg­lich­kei­ten, die er zu hö­ren be­kam, und fuhr fort, über sei­nen Kom­pa­gnon zu kla­gen. Er miß­bil­lig­te Grams of­fen­sicht­li­che An­stren­gun­gen, trotz der vie­len Gerüch­te, die über Oberst Black im Um­lauf wa­ren, für einen gu­ten Ruf der Fir­ma zu sor­gen.

Die­sen Ti­tel hat­te sich Black selbst bei­ge­legt, ob­gleich er in der Ran­glis­te des Hee­res nicht ge­führt wur­de. Auch in den um­fang­rei­chen Ver­zeich­nis­sen von Ehren­ti­teln der ame­ri­ka­ni­schen Ar­mee fand man sei­nen Na­men nicht.

Die Fir­ma Black & Gram hat­te sich ur­sprüng­lich auf den Han­del mit Ef­fek­ten und Ak­ti­en be­schränkt. Sie emp­fahl ih­ren Kun­den be­stimm­te Pa­pie­re, und die Leu­te kauf­ten oder ver­kauf­ten je nach dem Rat, den die Fir­ma gab. Nach ei­ner ge­wis­sen Zeit er­hiel­ten sie dann von Black & Gram ein höf­li­ches Schrei­ben, worin be­dau­ert wur­de, daß ihr bei der Fir­ma hin­ter­leg­ter Be­trag er­schöpft sei. Gleich­zei­tig wur­den die Kun­den drin­gend auf­ge­for­dert, ihre Ver­bind­lich­kei­ten, die auf nicht nä­her er­klär­te Wei­se ent­stan­den wa­ren, so schnell wie mög­lich zu re­geln.

Aus die­sen be­schei­de­nen An­fän­gen er­wuchs eine Fir­ma, die es noch zu be­deu­ten­der Grö­ße brin­gen soll­te. Gram trat aus. Er war über­haupt nie­mals Teil­ha­ber ge­we­sen – um die Wahr­heit zu sa­gen. Man­che be­zwei­fel­ten so­gar, daß die­ser Mann wirk­lich exis­tiert hat­te. Aber Black war je­den­falls wei­ter er­folg­reich, und sein Name er­lang­te in ge­wis­sen Krei­sen einen fast ma­gi­schen Klang.