Die Drogenkammer - Jan Spelunka - E-Book

Die Drogenkammer E-Book

Jan Spelunka

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Beschreibung

Auf dem Campingplatz wird eine Leiche entdeckt. Die in Bad Münstereifel aufgewachsene Vietnamesin Hang-Marie Gerber sang zusammen mit ihrer Kollegin Jessica Reinders im heimischen Frauenchor Miss Klänge. Nachdem kurz darauf auch ihr Mann ermordet wird, bittet Jessica ihren Freund, Andy Mücke, um Hilfe bei der Aufklärung der Verbrechen. Aber auch der Chor beklagt ein weiteres Opfer. Detektiv Mücke fragt sich, ob dort wirklich nur gesungen wurde. Als er in Hang-Maries geräumigem Elternhaus auf Drogen und 80.000 Euro Bargeld stößt, ist Jessica plötzlich wie vom Erdboden verschwunden. Mücke befürchtet das Schlimmste – ein dramatisches Rennen gegen die Zeit beginnt …

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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Jan Spelunka

Die Drogenkammer

Ohne Musik

wäre das Leben

ein Irrtum.

1

Auch wenn solch ein Wohnmobil nichts für Andy Mücke war, konnte er sich durchaus vorstellen, dass es seinen Reiz hatte, damit durch die Gegend zu tuckern, so wie Heike Haibach es zurzeit tat. Seine ehemalige Schulfreundin war Ostermontag in Hamburg aufgebrochen, hatte zwei Nächte auf einem Campingplatz bei Vlotho und eine weitere in Xanten verbracht, bevor sie um die Mittagszeit in ihrer Heimatstadt Bad Münstereifel eingetroffen war. Morgen oder spätestens übermorgen sollte es dann in einer Tour weitergehen bis an den Bodensee.

Andy saß mit Heike am Tisch und fuhr einige Male mit der Hand über die glatte Fläche des rotbraunen Kirschbaumholzes. Er fragte sich, ob er sie nach all den Jahren in der Stadt wiedererkannt hätte. Wahrscheinlich nicht, so vertraut sie ihm einst auch gewesen sein mochte. Ihr Gesicht war runder geworden und ihre inzwischen so markant ausgeprägten Züge besaß Heike damals nur im Ansatz. Natürlich trugen die Kurzhaarfrisur und die leicht mollige Figur zu ihrem veränderten Aussehen bei. Gedankenverloren schaute er aus dem Seitenfenster. Draußen spiegelte sich die Aprilsonne in der gelben Rutschbahn des Münstereifeler Schwimmbades. Einhundertzwanzig Meter soll das geschlängelte Teil lang sein. Von der anderen Seite drang das heftiger gewordene Stimmengemurmel durch die geöffnete Tür zu ihnen ins Innere des Hymer-Eriba, begleitet vom sich abwechselnden Gebell einiger Hunde. Erkennen ließ sich nichts, weil ein abgestellter Wohnwagen den Blick in die Richtung unterbrach, aus der der Lärm kam.

»Ist das hier immer so laut?«, fragte Heike und nippte an ihrem Cappuccino.

»Woher soll ich das wissen? Für mich ist es das erste Mal, dass ich Gast auf dem Campingplatz bin und Kaffee trinke, und das auch erst seit etwas mehr als einer Stunde.«

»Logisch, nur weil du im Ort wohnst, musst du das nicht zwangsläufig wissen. Es sei denn, du hättest hier mal einige Nächte oder sogar eine längere Zeit verbracht. Aber dafür bist du viel zu solide, warst du damals schon.«

»Hm.« Andy überlegte, ob an Heikes seltsamer Schlussfolgerung etwas dran war. Konnte man ihn nach zwei Scheidungen tatsächlich als solide bezeichnen, noch dazu bei seinem unberechenbaren Leben als Privatdetektiv? Wohl kaum, er entschloss sich zum Gegenangriff: »Es ist mir neu, dass ausgerechnet eine Fachanwältin für Familien- und Arbeitsrecht das Gegenteil darstellt. Hältst du dich allen Ernstes für unsolider als mich?«

»Das habe ich doch gar nicht behauptet«, verteidigte sie sich.

»Es klang so!« Etwas schelmisch Anmutendes huschte über Andys Gesicht: »Jede Wette, du genießt die größere Kreditwürdigkeit.«

»Mag sein, aber was interessiert mich Geld – das ist doch nebensächlich, dem wird viel zu viel Bedeutung beigemessen. Vergiss das dumme Wort, ich bin ein wenig unkonzentriert.«

»Außerdem wäre ein längerer Aufenthalt auf dem Platz, wie du es damals nach dem Zoff mit deinen Eltern vorhattest, nicht unbedingt günstiger als eine Mietwohnung – wir befinden uns schließlich nicht in Hamburg.«

»Da sagst du was! Ach, es ist einfach toll, nach all den Jahren wieder in Bad Münstereifel zu sein. Nach Mutters Tod 2013 gab es dazu wenig Anlass.«

»Und was ist mit deiner Freundin? Ab und an sehe ich sie noch in der Stadt.«

»Tanja? Die Klassenqueen? Nein, unser Kontakt ist längst abgebrochen – sie wohnt in Kommern, sofern das noch aktuell ist.« Heikes in sich gekehrtes Lächeln war das alte geblieben: »Bei der Ankunft ist mir aufgefallen, dass sich hier einiges getan hat, und damit meine ich nicht nur das neu entstandene Einkaufszentrum. Wahnsinn, hoffentlich erkenne ich nachher in der City noch was wieder.«

»Da kann ich dich beruhigen – die Häuser haben sie nahezu unverändert gelassen.«

»Stehen die in der Kernstadt nicht sowieso unter Denkmalschutz?«

»Eben!«, antwortete Andreas knapp.

»Dann gibt es das Heino-Café also auch noch?«

»Nicht mehr am Rathaus, da ist jetzt ein Puma-Store drin.«

»Och nee – und Heino?«, stieß sie hervor.

»Man sagt, Heino lebt jetzt in Kitzbühel. Sein Café war zuletzt oben im Kurhaus.«

»Von dessen Wiese haben wir früher oft das Kirmesfeuerwerk beobachtet: Du, Eddy, Tanja, Steffi und ich, weißt du noch?«

»Und ob! Du hast Claudia mit ihrem verpeilten Hund vergessen«, murmelte Andy vor sich hin, »und den Stadtpirat mit der gewaltigen Lockenmähne.« Seine Stimme wurde ernst: »Eddy lebt übrigens nicht mehr – er wurde auf dem Hennesweg von einem zwielichtigen Spielerberater erschossen, dem er auf die Schliche gekommen war.«

»Ich weiß, die Geschichte habe ich selbst bei uns in den Medien verfolgen können. Das Gesicht kam mir gleich bekannt vor. Ich wusste vorher gar nicht, dass Eddy Journalist war.«

»Enthüllungsjournalist nannte er sich.«

Heike grübelte: »Es hatte wohl auch eine Zeit lang gedauert, bis der Fall geklärt war. So war das doch, oder?«

»Exakt!« Andreas hatte keine Absicht ins Detail zu gehen, zu schmerzhaft waren seine persönlichen Erinnerungen, die darin gipfelten, dass seine Freundin Jessica um ein Haar Geisel dieses holländischen Spielerberaters geworden wäre. Er hatte sie bereits in sein Auto gezerrt. Zwei Jahre war das nun her und noch immer kam es vor, dass Jess aus dem Schlaf mit entstellten Gesichtszügen aufschreckte. Zu allgegenwärtig waren die verstörenden Bilder, die seitdem auf sie einströmten und sie verfolgten – und nicht nur sie!

»War bestimmt ein Riesenthema in eurer verträumten Stadt …«

»Was?«

»Na, das mit Eddy natürlich!«

»Das kannst du laut sagen!«

»Etwas Oberschlaues hatte er schon damals an sich gehabt«, meinte Heike. »Er machte immer gerne einen auf dicke Hose.«

»Kann schon sein.«

»Gemocht habe ich ihn nie so richtig. War Eddy nicht auch schwul?«

»Der tat nur so.«

»Echt?«

»Hundertprozentig. In Paris hatte er mir die französische Freundin ausgespannt, danach war ich fertig mit ihm.«

»Er dir? Das glaub ich nicht!« Heike schüttelte ungläubig den Kopf.

»War aber so!« Andy erinnerte sich an Charlotte und den unglückseligen Sommer von 1990. Dann fiel ihm sein blauer Rucksack ein, den er bei ihr vergessen hatte und den er zu Schulzeiten bei jedem Feuerwerk mit Dosenbier und drittklassigen Frikadellen vom Discounter befüllt hatte.

»Die waren nur mit scharfem Senf essbar«, säuselte Andy vor sich hin. »Unsere Jugend war so unerträglich süß, dass wir sie ständig mit Senf, Zigaretten und Bitter Lemon neutralisieren mussten.«

»Wovon redest du?«

»Ich musste gerade an unsere legendären Feuerwerks-Frikadellen denken.«

»Stimmt, auf den Senf ließen wir nichts kommen!« Heikes Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen, bevor ihre Augen zu leuchten begannen: »Was hältst du von einem Glas Wein, einem halbtrockenen Sauvignon Blanc, auch wenn es noch früh am Tag ist?«

»Okay, ich mag ihn jedoch nur kalt.«

»Selbstverständlich ist er das, exakt zehn Grad!«

»Sagt die Unsolide!«

»Fängst du schon wieder an?«, feixte sie und wischte sich einen Krümel vom Mund. »Erzähl mir lieber, warum du deine Freundin allein auf Korfu zurückgelassen hast. Habt ihr euch gestritten?«

»Quatsch, wir verstehen uns nach wie vor gut – bei meinen beiden Ehen begann es dagegen schon im sechsten Jahr zu kriseln.«

»Davon kann ich ein Lied singen«, meinte sie trocken.

»Vielleicht liegt es auch an den getrennten Wohnungen, dass das Feuer noch so brennt.«

»Da ist was dran – das höre ich häufig. Wie lange bist du jetzt mit ihr zusammen?«

»Seit Oktober 2015. Und wie sieht’s bei dir aus?«

»Keine Langstreckenliebe in Sicht! Trotz Parship, Single-Treffen und Chatroomsbin ich laufend nur unerwidert verliebt – das ist scheinbar meine Bestimmung. «

»Du übertreibst.«

»Garantiert nicht! Für die Liebe eines Mannes habe ich sogar zu beten angefangen.« Langsam zog ein Lächeln über ihre Lippen: »Echt, bis mir die Kniescheiben weh taten. Thomas hieß er.«

»Das tut mir leid, ehrlich.« Etwas Besseres als diese Floskel wollte ihm zu dem Gesagten gerade nicht einfallen.

»Tja, irgendwie hab ich kein Händchen für die richtigen Männer!« Es dauerte eine Weile, bis Heike fortfuhr: »Dann waren es also berufliche Gründe, die dich vorzeitig haben abreisen lassen?«

»Genau«, antwortete er leise. »Auch wenn du als Anwältin sicherlich andere Erfahrungen machst, komme ich den finanziellen Verpflichtungen gegenüber meinen Kindern nach.«

»Ich hatte nichts anderes von dir erwartet«, sagte Heike, »schieß los …«

Eigentlich war ihm nicht danach, über seine Arbeit und den trostlosen, aber immerhin gut bezahlten Auftrag zu reden. Andreas war erleichtert, dass er endlich abgeschlossen war. Hätte die lästige Unternehmerin ihm nicht diese lukrative Sonderprämie geboten, wäre aus dem Geschäft nichts geworden, und er wäre bei Jess und ihrem Vater auf Korfu geblieben und hätte die Einweihung des Pools am Ostersonntag miterlebt. So war er bereits am dritten Tag abgereist – das Geld hatte ihn rumgekriegt. Das mochte legitim sein. Dennoch sprach er nicht gern über Observierungsaufträge, die unzuverlässige Mitarbeiter oder untreue Partner ans Messer lieferten. Mücke hoffte auf den Tag, wo er es sich leisten konnte, derartige Arbeiten abzulehnen.

Er überlegte, ob er Heike stattdessen die Geschichte von dem Tierquäler erzählen sollte, den er im Vormonat nachts auf einem Ponyhof überführt hatte. Auch wenn mit den handfesten Beweisen sein Job erledigt gewesen war, hatte er nicht anders gekonnt, als dem perversen Arschloch noch ordentlich eine reinzuhauen. Dass Andreas sich dermaßen vergaß, war ihm selten passiert. Immer wenn er daran zurückdachte, konnte er froh sein, dem Drecksack nicht ähnliche Stichverletzungen verpasst zu haben, wie der es in seiner krankhaften Lust seit geraumer Zeit bei hilflosen Tieren gemacht hatte. Wer weiß, wie die Sache sonst ausgegangen wäre? So war der Täter fürs Erste mit einer Nasenbeinfraktur davongekommen, alles Weitere hatte das Gericht zu entscheiden. Gerade als Andy sich seine Sätze zurechtgelegt hatte, erschrak er, weil eine imposante Halbglatze unmittelbar nach einem leisen, kaum hörbaren Klopfen durch die Tür des Wohnmobils zum Vorschein kam.

»Entschuldigung, Kleinelsen mein Name, Kripo Bonn, waren Sie vergangene Nacht schon hier? Ist Ihnen etwas aufgefallen, haben Sie eventuell Schreie oder einen Schuss gehört? Irgendwas Merkwürdiges eben?«

Heike Haibach unterbrach das Eingießen in die Weingläser, drehte den Kopf kurz zu Andreas, bevor sie sich wieder dem Polizisten zuwandte: »Sie stellen sehr viele Fragen – dabei kann ich bereits die erste verneinen.«

»Sorry«, nuschelte der Beamte, der aussah, als hätte er gegen Kaffee, Kuchen oder Wein ebenfalls nichts auszusetzen. Vielleicht war sein zermürbter Gesichtsausdruck nur ein Zeichen fehlenden Schlafs.

Andy beugte sich nach vorn: »Frau Haibach ist vor vier Stunden in Bad Münstereifel eingetroffen, Herr Kleinelsen. Was ist denn passiert?«

»Mensch, Andreas Mücke, natürlich – ich hätte es mir denken können. Ich hab Sie gar nicht gleich erkannt!«

»Macht nichts, ist die Chefin auch hier?«

»Ja, am Flüsschen – an der Stelle, wo die Frau gefunden wurde.«

»Eine Frau gefunden?«, Andreas glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Wann?«

»Der Anruf ist um 14:20 Uhr eingegangen!« Kleinelsen mit seiner hässlichen Kassenbrille aus grauer Vorzeit beobachtete ihn mit Falkenaugen.

Andy kombinierte. Das war ungefähr die Zeit, als er zu Fuß hier angekommen war. Jetzt konnte er sich die kleine Menschenansammlung erklären, die ihm an den Büschen vor dem Erftufer aufgefallen war.

»Lebt die Frau noch?«, fragte Mücke leise.

Kleinelsen antwortete mit einer leichten Kopfbewegung: »Kommen Sie mit!«

»Bin gleich wieder da«, entschuldigte sich Andreas bei Heike, sprang aus dem Fahrzeug und stiefelte dem Kripobeamten mit der tief hängenden Jeanshose hinterher.

Nach zwanzig Metern blieb Freddy Kleinelsen stehen und drehte sich zu ihm um: »Wissen Sie was ich merkwürdig finde?« Seine Mimik verriet, dass er die Frage genoss.

»Verraten Sie es mir«, gab Mücke gleichgültig zurück. Er wusste, dass der Bonner Kriminalhauptkommissar wenig von ihm hielt. Das hatte er ihm oft genug zu verstehen gegeben – wahrscheinlich war Neid im Spiel oder es war seine Methode, die eigene Unfähigkeit auf andere zu projizieren.

»Immer, wenn in Bad Münstereifel etwas Nennenswertes passiert, sind Sie nicht weit entfernt.«

»Was wollen Sie denn damit sagen?«

»Nichts – nichts will ich damit sagen, gar nichts!«

Warum hält er dann nicht einfach seine Klappe, dachte sich Andy. Dauernd diese unverschämten Anspielungen von dem Kerl. Zum Glück hatte er zu Kleinelsens sechs Jahre jüngerer Vorgesetzten Thea Oleknavicius einen wesentlich besseren Draht. Im November wurde sie vierzig.

Zwei Wohnmobile mussten gerade auf Anordnung der Polizei ihre nahe am Fluss gewählten Stellplätze verlassen und sich auf dem Campingplatz neue suchen, welcher nach Mückes Einschätzung zur Hälfte belegt war. Auch der Wagen des Grünflächenamtes sollte weg. Eine junge Streifenpolizistin trieb den Fahrer mit Kommandos und Handzeichen zur Eile. Kaum hatten sich die Fahrzeuge mehr oder weniger schwerfällig in Bewegung gesetzt, wurde der Bereich zur Erft hin großzügig abgesperrt.

2

Thea Oleknavicius und Sarah Böll redeten lebhaft miteinander, als sie in geduckter Haltung aus dem Gebüsch hervorkamen. Thea drückte das gerade gespannte rot-weiße Absperrband tiefer, damit ihre Kollegin und sie besser darübersteigen konnten. Danach kratzte sich Sarah Böll an der Wade, verfluchte die Brennnesseln und zückte ihr Telefon. Bevor sie zu sprechen begann, kramte sie etwas aus der Seitentasche ihrer smaragdgrünen Jacke hervor und drehte den neugierig diskutierenden Campingplatzbesuchern rabiat den Rücken zu.

»Schau mal, Thea, wen ich hier gefunden habe«, rief Kleinelsen der Ersten Kriminalhauptkommissarin zu und lächelte dabei dreckig.

»Getroffen habe«, korrigierte Andy Mücke ihn laut. Er schaute seinen unfreundlichen Begleiter an: »Oder hatten Sie gezielt nach mir gesucht?«

Die Antwort des Kripobeamten bestand aus einer abfälligen Handbewegung, ganz so, wie Andreas ihn zuletzt erlebt hatte.

»Grüß dich, Andreas. Wenn es irgendwo eine Leiche gibt, braucht man dich wenigstens nicht lange zu suchen.« Es gab originellere Begrüßungen, fand Andy.

»Ganz meine Meinung«, mischte Kleinelsen sich im Weggehen noch einmal ein. Sein Lächeln schien gerade auf Stand-by zu stehen.

»Nun fang du auch noch an! Ist das euer neuester Running Gag?«

»Wir sind nicht zum Scherzen hier – komm, du weißt, wie es gemeint ist«, grinste Thea, betrachtete an ihrer Hand kurz die Kratzverletzungen vom Geäst und strich sich die glatten braunen Haare hinters Ohr. »Freuen wir uns, dass wir leben!«

Mücke erkannte durchs Gebüsch die Konturen eines in weißer Dienstkleidung hockenden Mitarbeiters, der offensichtlich am Fundort seinem Job nachging. Andy deutete mit dem Kopf in die Richtung: »Die Frau ist also tot?«

»Ja, seit mindestens achtzehn Stunden, grob geschätzt.«

»Wisst ihr schon, wer sie ist?«

Thea antwortete mit einem Achselzucken. »Aber ich zeige sie dir, möglicherweise kannst du uns weiterhelfen – auch auf die Gefahr hin, dass Benno erneut einen Tobsuchtsanfall bekommt«, sagte sie kurz darauf.

»Benno?«, fragte Andreas.

»Spurensicherung!« Thea Oleknavicius senkte die Stimme. »Die Gäste des Campingplatzes hätten alles plattgetrampelt, behauptet er. Andererseits ist Benno für sein ewiges Gezeter bekannt. Wir haben von ihm noch nie gehört, dass auch nur eine Sache halbwegs einfach gewesen wäre.«

Mücke spürte, dass es ihn Überwindung kosten würde, sich einen toten Menschen anzuschauen. Allzu oft war das in seinem Leben nicht vorgekommen. Vier Mal vielleicht, zuletzt vor über fünfundzwanzig Jahren. Andy erinnerte sich an seine Oma und an die Zeit als Zivildienstleistender im Krankenhaus, als er hin und wieder um Mithilfe gebeten wurde, einen Verstorbenen in die Leichenkühlkammer zu bringen. Es hatte immer gedauert, bis die Bilder aus seinem Kopf verschwunden waren. Warum musste er ausgerechnet zu dieser verhängnisvollen Stunde hier sein? Warum hatte er Heike am Telefon nicht ein Restaurant oder Café als Treffpunkt vorgeschlagen? Dann wäre auch der Kaffee besser gewesen.

Thea Oleknavicius schnappte ihn am Ärmel und deutete nach rechts: »Komm, lass uns diesen Pfad nehmen, da ist nach Bennos Meinung sowieso schon alles ruiniert.«

Beinahe ehrfürchtig stieg Mücke über das Absperrband und schaute sich um. Als der Spurensicherer die beiden kommen sah, ließ er verärgert die Kamera sinken: »Thea, ich dachte, das wäre mittlerweile klar: Sobald und solange ich hier bin, ist das mein Tatort!«

»Hab dich nicht so, ich muss wissen, wer die Tote ist – außerdem sind wir den gleichen Weg gekommen, den vor uns alle genommen haben.«

»Ihr lernt es nie«, hörte man ihn beleidigt zischen.

Nun sah Andy die mit Jeans und einem dunkelroten Pullover bekleidete tote Frau am Boden. Während ihre Arme schlaff am Körper lagen, waren die Beine lang ausgestreckt. Beide Fußspitzen zeigten leicht abgewinkelt nach oben. Sekundenlang fixierte Mücke sie. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Leiche hierhin geschafft worden war. Mit etwas Phantasie ließen sich in der Verlängerung ihrer Beine Schleifspuren erkennen. In drei Metern Entfernung floss die Erft in sanften Wellen dahin.

»Warum liegt die Kette neben ihrem Arm?«, fragte Andy während er in die Hocke ging.

»Das haben wir uns auch gefragt. Ich weiß es nicht«, antwortete Thea nachdenklich, die ein weiteres Mal den Fundort auf sich wirken ließ. Sie bemühte sich wie immer, nichts zu übersehen, jedes Detail musste sich ihr einprägen. »Ich glaube nicht, dass sie ihr gehörte.«

»Sinn macht das keinen – man könnte fast annehmen, der Täter wollte sich mit einem Geschenk entschuldigen.«

»Oder ihr Glück wünschen. Schau dir mal den Anhänger genau an: ein Schutzengel!«

»Den hätte sie vorher gebraucht«, seufzte Andreas.

»Makaber ist das schon. Als hätte er sie mehr geliebt als gehasst …«

Mücke erhob sich, ließ aber die Augen nicht vom Opfer: »Es kann auch ganz anders sein: Dass er sich über sie lustig gemacht hat oder euch mit dem Schutzengel nur irritieren will.«

»Hm, Theorien gibt es viele – wie immer, das ist nichts Neues.« Vom Platz wehte der Duft von Gegrilltem zu ihnen herüber. Die Kommissarin schnupperte in die Luft und schüttelte den Kopf: »Ich fass es nicht!«

Andy verkniff sich einen Kommentar. Der Anblick der Toten machte ihm immerhin nicht so zu schaffen, wie er es befürchtet hatte. Bedauern verspürte er allerdings, schließlich war sie nicht älter als er, wahrscheinlich sogar jünger.

»Sag mal«, nach einer halben Minute ergriff Thea Oleknavicius wieder das Wort, »kennst du denn jetzt die Frau oder nicht?«

»Ja, nein – das heißt, ich glaube es«, antwortete Andy zögerlich. »Wie ist sie umge…«

»Erschossen«, brummte Benno dazwischen, obwohl die Frage nicht an ihn gerichtet war und er im Grunde so tat, als interessierten ihn die beiden Störenfriede einen Dreck.

»Was heißt, du glaubst es?«, wollte Thea wissen.

»Es könnte eine Kollegin meiner Freundin sein. Ebenfalls eine Lehrerin …«, sagte er und rätselte. Je länger Andy die Tote betrachtete, umso sicherer war er, dass er das Gesicht kannte. Dass er es nicht oft, aber einige Male gesehen hatte.

»Hat sie auch einen Namen?«

»Den Nachnamen weiß ich nicht – und der Vorname ist sehr ungewöhnlich, irgendwas mit Marie.«

»Annemarie, Rosemarie«, schoss es Thea heraus.

»Was ist an diesen Namen denn ungewöhnlich?«

Benno blickte aus der Hocke nach oben: »Marie-Claire oder Marie-Luise?«

»Auch nicht, es ist etwas Asiatisches.«

»Puh, dann mal viel Vergnügen!«, spottete der Spurensicherer und wandte sich der weiteren Beschriftung einer Plastiktüte zu, die er anschließend in seinem Koffer verschwinden ließ.

»Ich dachte mir schon, dass es sich um eine Japanerin oder so handelt«, sagte Thea Oleknavicius.

»Wenn es die ist, die ich meine, kommt sie aus Vietnam und wurde, soweit ich mich erinnere, als kleines Kind adoptiert.«

»Meinst du«, grübelte die Kommissarin, »wir könnten Jessica nach ihrer Kollegin und dem Namen fragen?«

»Im Prinzip schon, aber sie ist bei ihrem Vater in Griechenland.«

»Ein Leben habt ihr«, sagte sie mit Bewunderung in der Stimme. Leise fügte sie hinzu: »Würdest du das für uns machen, Andreas?«

»Bin schon dabei«, aufgeregt drückte er die Verbindung und hoffte, dass Jess das Gespräch annahm. Tagsüber ist das bei ihr mitunter schwierig. Oft hat sie das Handy gar nicht dabei, dafür wird es dann abends umso häufiger benutzt.

3

Bibbernd stieg Jessica aus dem Schwimmbecken, das ihr Vater bis zum späten Vormittag erstmalig befüllt hatte. Eigentlich war die Einweihung schon für Ostern vorgesehen gewesen, aber das von Albanien gekommene Unwetter hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. In einem Monat schon würde sich das Wasser ganz anders anfühlen. Aktuell, Mitte April, erinnerte ein Bad im Pool eher an ein Neujahrsschwimmen für Hartgesottene, auch hier auf Korfu. Aber immerhin hatte sie ihr mutiges Vorhaben in die Tat umgesetzt und die Wette gegen ihren Vater gewonnen. Jess hatte es sogar satte zehn Minuten im Becken ausgehalten – ihr Pluskonto wuchs, es konnte sich freuen! Sie war stolz auf sich und genoss jetzt im Badetuch eingewickelt die leicht wärmenden Sonnenstrahlen. Wohin sie auch schaute, sie spürte den bevorstehenden Sommer förmlich kommen. Ein unbeschreiblich tolles Gefühl! Der Zitronenbaum neben ihr trug wieder viele Früchte, noch hatten sie allerdings wenig Saft und waren besonders bitter. Jessica würde trotzdem welche mit nach Hause nehmen. Korfu bekam Farbe, endlich! Auch die Sonnenliegen waren neu – im letzten Jahr hatte sie sich noch mit einem Liegestuhl aus den Neunzigern einen filmreifen Zweikampf geliefert.

Obwohl die Saison noch nicht begonnen hatte, hatten sich für morgen bereits die ersten Urlauber angekündigt. Ein älteres Ehepaar aus Passau kam mit ihrem vierjährigen Enkel. Es machte ihnen nichts aus, die einzigen Gäste im Haus zu sein. Jessica würde sie am Flughafen der Inselhauptstadt Kérkyra abholen. In der Stadt war ihr neulich auch die Asiatin begegnet, die demnächst wieder den Touristen am Strand zwischen Acharavi und Roda Massagen anbieten würde. Noch handelte die Frau auf beliebten Plätzen Kérkyras mit akkubetriebenen Plüschtieren aus Fernost.

Jessica schnappte sich das Smartphone, es gab einige neue Nachrichten seit gestern Abend. Ihr Vorschlag, für das Bad Münstereifeler Sommerkonzert der Miss Klänge den Song Ich war noch niemals in New York ins Repertoire aufzunehmen, hatte mit Renate und Lena zwei weitere Befürworterinnen gefunden. Gestern hatten schon Monika und Hang-Marie dafür gestimmt, während Luise für Merci Cherie war, wenn denn schon unbedingt etwas von Udo Jürgens dabei sein müsste! Das musste es nicht, und unbedingt schon gar nicht – Jessica ging es um den Song, nicht um den Sänger. Leise summte sie die Melodie ihres Vorschlags vor sich hin.

Was denn nun mit Dance Monkey wäre, wollte Lena wissen – Jessica stimmte dafür. Das wird bestimmt ganz lustig, dachte sie sich. Die Umsetzung stellte sie sich nicht einfach vor, aber schließlich wuchsen die Miss Klänge mit jeder Aufgabe.

Dann gab es noch eine längere Nachricht von Ina, der Chorleiterin, die daran erinnerte, dass sich wirklich alle geschichtlich und inhaltlich mit den Liedern auseinandersetzen sollten. Diesen Eindruck, hieß es, hätte sie zuletzt beim Song Of Joy nämlich nicht gehabt. Jessica hörte ihren Vater vom Einkauf heimkommen. Sie rief ihm zu, dass die Tür hinten offen sei und las den zweiten Teil von Inas Nachricht: Im nachzuholenden Beethoven-Jahr, darüber waren wir uns alle einig, wollen wir auf dieses Stück nicht verzichten – aber man hört uns an, ob wir verinnerlicht haben, was wir singen. Denkt immer daran: Wir sind zwar nur ein kleiner Chor, doch wir präsentieren große Musik!

Jessica beobachtete wie ihr Vater mit zwei Einkaufstüten ins Haus verschwand. Inzwischen hatte sich auch der Wind vom Morgen komplett verzogen. Das Glockenspiel, das am Eingang der Terrasse hing, bewegte sich nicht die Spur. Jess legte das Mobiltelefon wieder auf das Plastiktischchen neben der Creme und streckte sich auf der Sonnenliege. Das tat gut – schade, dass Andy nicht hier war. Entspannt betrachtete sie ihre zuletzt rissig gewordenen Füße. Demnächst musste sie sich unbedingt von Juli einen Pflegetermin geben lassen, auch ihre Fußnägel hatten es nötig.

Jessicas Gedanken blieben beim Frauenchor, bei dem sie nun schon im dritten Jahr sang, nachdem sie zuvor einen VHS-Musikkurs mit dem Schwerpunktthema Gospel und Pop besucht hatte. Ihr war als Jugendliche schon klar gewesen, dass Musik ein wichtiger Lebensinhalt sein kann, dass sie das Leben ändern und vielleicht sogar bestimmen kann. Leider hatte ihr lange der Mut gefehlt, dieses Wissen auch zu praktizieren, obwohl ihre Mutter sie immer dazu ermutigt hatte. Das bewusste Benutzen der Stimme und der Umgang mit der Stimmbildung sind für sie mittlerweile etwas Spannendes geworden und mitunter eine richtige Herausforderung. Aber das ist ja das Besondere am Singen, dass man eigentlich kein zusätzliches Instrument benötigt. Das Instrument steckt bereits in ihr, sie muss lediglich die entsprechenden Muskeln richtig einsetzen.

Im Chor hatte sie enorm viel gelernt, dabei hatte sie anfangs geglaubt, dass ihr das alles zu viel werden würde. Fast jede Sangesschwester hatte einen Ratschlag für sie, die Neue. Oft kam es Jessica so vor, als würden sich diese Tipps sogar gegenseitig widersprechen, mochten sie noch so gut gemeint sein. Auch die Grüppchenbildung missfiel ihr, weil sie das Gefühl hatte, nicht so richtig dazuzugehören. Als sie nach einigen Wochen Ina Tesche darauf ansprach, haben sie nach der folgenden Probe zwei Stunden in Jessicas Wohnung zusammengesessen und alle Themen rund ums Singen und die Gemeinschaft besprochen. Ina hatte ihr vorgeschlagen, einfach forscher zu werden und sich selbst mehr in die Gruppe einzubringen, zumal sie einige Sängerinnen doch schon länger kannte. Die Chorleiterin hatte ihr auch erklärt, worauf es ihr neben dem Spaß und der nötigen Disziplin besonders ankam. Vor allem das Einsingen und die richtige Atmung seien wichtig, genauer gesagt die Bauchatmung. Wie bei jedem Instrument ist die Atemtechnik auch für einen sauberen Klang beim Singen verantwortlich, hatte sie gemeint. Deshalb achte sie auf eine gute Körperspannung sowie eine vernünftige Körperhaltung der Sängerinnen. Generell ließe sich sagen, dass engagiertes Singen mit einer guten Atmung einhergeht. Und nicht zu vergessen: Aktives Singen stellt eine Verbindung zur Seele her – sie werde das noch merken!

Jessica winkelte das linke Bein an. Auf dem Oberschenkel entdeckte sie einen blauen Flecken, von dem sie nicht wusste, woher er stammte. Die Berührung der Stelle ließ sie nichts spüren. An diesem Abend hatte ihr Ina ebenfalls erzählt, dass sie davor bereits einen Kirchenchor geleitet hatte. Aber sie kannte eben auch viele Frauen, die zwar gerne sangen, zu denen eine Kirche oder ein Pfarrsaal nicht passte. Schließlich wäre sie mit einer leider zu früh verstorbenen Freundin auf die Idee eines neuen Chors mit zeitgemäßen, klassischen und poppigen Arrangements gekommen. Wenig später waren die Miss Klänge geboren.

Es klingelte nur kurz, selten hatte Andy sie so schnell am Apparat. Okay, wenn Jessica neben dem Teil auf der Sonnenliege lag, war das nicht verwunderlich. Nachdem er sich nach ihrem Befinden erkundigt und zum gewonnenen Essen gratuliert hatte, nahm er schon den ungeduldigen Blick Theas wahr. Er versuchte, die Kurve zum Grund seines Anrufs zu kriegen. Das war nicht so einfach – ein Satz, der auch von Benno hätte kommen können. Es wäre leichter, wenn Andreas wie beim Telefonieren gewohnt auf- und abgehen dürfte, aber da hätte der Spurensicherer ihm was gehustet.

»Was ist denn nun mit Hang-Marie?« Andy glaubte, ihren Atem durchs Telefon zu spüren. »Es muss doch einen Anlass geben, wenn du mich ihretwegen hier anrufst.«

Natürlich gab es den, wie recht sie hatte! Mücke eierte herum wie schon lange nicht mehr. Er wollte es Jessica schonend beibringen, was unmöglich war, denn die Tote vom Campingplatz musste erwähnt werden, ebenso der Verdacht, dass es sich höchstwahrscheinlich um Hang-Marie handelte. Er sagte, dass die Bonner Kommissarin neben ihm stehe, als würde das seine Aufgeregtheit erklären.

»Du machst mich noch irre – was heißt denn höchstwahrscheinlich?« Jessica klang verzweifelt.

»Ich bin ihr nur wenige Male begegnet!«, entschuldigte sich Andy. »In größeren Zeitabständen, man könnte es an einer Hand abzählen. Deshalb will ich mich nicht festlegen – woran kann ich Hang-Marie denn erkennen? Irgendwas Besonderes …«, endlich schien er den roten Faden gefunden zu haben.

Jess überlegte, dann fiel ihr etwas ein: »Sie trägt seit Jahren Rainbow Looms, das sind diese bunten, kurz in Mode gekommenen Armbänder aus Kunststoff, die sogar Prinz William und Kate eine Zeit lang am Handgelenk hatten.«

»Bunte Freundschaftsarmbänder«, wiederholte Andy knapp in Richtung der Kommissarin.

»Trägt sie«, bestätigte Thea. »Frag deine Freundin nach dem Kinn!«

»Jess, was ist mit ihrem Kinn?«

»Dem Kinn?«, es dauerte wenige Sekunden mit der Antwort. »Genau, da hat sie ein Muttermal, dem einige borstige Härchen entwachsen – ziemlich zentral, dort, wo du ein Grübchen hast.«

Andreas nickte und wiederholte die Worte.

»Dann ist sie es, darf ich mal?« Thea deutete auf sein Smartphone. Mücke reichte es ihr.

»Hallo Frau Reinders, hier ist Thea Oleknavicius, Kripo Bonn. Wir sind uns ja schon mehrmals begegnet.«

»Ich weiß.«

»So, wie es aussieht, handelt es sich bei der Toten um Ihre Kollegin. Verraten Sie mir etwas über sie?«

»Oh Gott, das ist jetzt nicht wahr!« Mit einem Schlag wurde Jessica wieder kalt.

»Ich fürchte doch.«

»Können Sie mir kein Foto von der Frau schicken?«

»Tut mir leid, das machen wir nicht!«

»Ausgerechnet Hang-Marie«, schluckte Jessica, »sie ist ein wahnsinnig lieber und hilfsbereiter Mensch, der die Interessen ihrer Kollegen oft wichtiger sind als die eigenen.«

»Einen Ehering trägt sie nicht, ist Hang-Marie dennoch verheiratet?«

»Ist sie, ihr Mann heißt Hermann-Josef oder Heinz-Josef. Sie nannte ihn nur Hejo.«

»Nachname?«

»Gerber.«

»Beruf?«

»Ich glaube, er ist Immobilienmakler.«

»Wissen Sie, ob es Probleme in der Ehe gab?«

Jessica zögerte einen Moment: »Nicht, dass ich wüsste!« Dass Hang-Marie vor zwei, drei Jahren eine Affäre mit einem jüngeren Mann hatte, behielt sie für sich. Sehr lang kann die nicht gedauert haben. Nachdem Jess ihn einmal flüchtig gesehen hatte, war kurz darauf auch Schluss.

»Ob die beiden Kinder hatten?«, die Kommissarin wiederholte ihre Frage.

»Entschuldigung, ich war in Gedanken! Ja, eine Tochter haben sie. Pia geht in die dritte Klasse. Das arme Kind – wie schrecklich …«

»Tja, ich empfinde sehr gut, wovon Sie reden«, Thea Oleknavicius machte eine Pause. »Kennen Sie ihre Freunde?«

»Nur Juli fällt mir ein, ich meine Juliane Neupert. Soweit ich weiß, ist das ihre beste Freundin. Vielleicht auch noch die Elke aus unserem Chor … Ich glaube, sie hat nicht viele private Kontakte, sie scheint sie auch nicht zu wollen.«

»Welche Fächer unterrichtet sie?«

»Vorrangig Physik und Chemie. Und einige Stunden Musik, auch wenn viele glauben, das passt nicht zusammen.«

»An welcher Schule?«

»Kaplan-Kellermann-Realschule in Euskirchen.«

»Danke! Hören Sie, Jessica, das muss wirklich unter uns bleiben. Bitte reden Sie vorerst mit keinem darüber. Ihr Ehemann muss sie ohnehin noch identifizieren.« Thea durfte nicht an ihre bevorstehende Aufgabe denken: Schlimme Nachrichten zu überbringen, zählte für alle Polizisten zu den meistgehassten Pflichten ihres Berufs. Wortlos reichte sie Andreas das Handy zurück. Er wollte Jessica noch etwas sagen, aber das Gespräch war bereits von einer der beiden Frauen weggedrückt worden.

Als Thea mit Andy den gleichen Weg zurückging, wartete Heike Haibach hinter der Absperrung auf ihn. Sie hatte sich an einen Zaun gelehnt und schaute geistesabwesend in die Gegend. Vor ihr stand ein Knäuel aus etwa dreißig Leuten, von denen jemand im Begriff war, scheinbar gelangweilt, eine Coladose zu zerdrücken. Ansonsten herrschte jedoch eine gespannte Atmosphäre – Andreas spürte, dass so mancher misstrauische Blick auf ihn gerichtet war.

Die Lust auf Wein war ihm in der letzten Viertelstunde vergangen. Er wollte jetzt schnell nach Hause, die aktuellen Erlebnisse sacken lassen, danach würde er bestimmt noch einmal mit Jessica telefonieren. Mit Heike verabredete er sich zum Abendessen im Restaurant En de Höll. Mit einer knappen Umarmung verabschiedete sich Andy von ihr. Noch bevor er den Aldi-Parkplatz sehen konnte, begegnete ihm mit langsamer Geschwindigkeit ein Leichenwagen. Mücke dachte an Benno, dessen Laune sich durch die wartenden Bestatter sicherlich nicht bessern würde.

4

Hejo Gerber war zufrieden. Bei diesem Bilderbuchwetter haben sich heute sehr gute Verkaufsgespräche führen lassen – das wissen glücklicherweise die wenigsten, dass das Wetter für einen raffinierten Makler ein wichtiger Aspekt ist, nicht der entscheidende, aber gewiss kein unbedeutender. Doch kaum zu Hause angekommen, erlebte Hejo Gerber ein Wechselbad der Gefühle. Er kratzte sich im Schritt. Waren denn jetzt alle bekloppt geworden? Erst der monatelange Ärger mit dem verdrehten Vogelheini, der es geschafft hatte, ein Bauvorhaben zu verhindern, und nun das. Gerber las den Brief ein zweites Mal, diesmal gründlicher, studierte ihn Satz für Satz. Der aufgeblasene Rechtsverdreher drohte ihm allen Ernstes mit einem Strafantrag wegen Körperverletzung. Die Familie seines Mandanten, schrieb der Anwalt, atme seit Jahren den hochgiftigen Bleistaub ein, der unstrittig zur Aufnahme des Schwermetalls im Blut führe. Noch viel kritischer sei der unakzeptable Zustand für das vierjährige Kind der Familie Klein, das im vergangenen Sommer nicht nur die dicken Staubwolken der Nachbarbaustelle eingeatmet, sondern auch die rotversandeten Finger immer wieder in den Mund gesteckt habe, wie Kinder dies nun mal machten. Der Rechtsanwalt warf dem Immobilienmakler vor, dass er den Kleins beim Kauf des Hauses bewusst verschwiegen habe, dass das gesamte Gebiet mit äußerst bleibelastetem Boden versehen sei. Der erlaubte Höchstwert von vierhundert Milligramm pro Kilogramm Erde werde um mehr als das Zwölffache überschritten, doch davon war weder im Kaufvertrag noch im Gutachten die Rede gewesen. Gerbers Argument, jeder wisse, dass in Mechernich bis 1957 ein Bleibergwerk in Betrieb gewesen sei, gelte eben nicht für jedermann. Schon gar nicht für zugezogene Familien, wie die seines Mandanten, hieß es in dem Schreiben. Es sei gerade deshalb die Aufgabe des Verkäufers oder seines Stellvertreters gewesen, der aus Niedersachsen gekommenen Familie Klein, ein Gutachten mit toxikologischen Werten vorzulegen. Stattdessen habe Gerber alles unternommen, den wahren Sachverhalt zu verschleiern und mit Hinweisen auf die angeblich so gesunde Eifeler Landluft zu beschönigen. Wo seriöse Fakten erforderlich gewesen wären, habe sich der Immobilienmakler bei ausgedienten Bauernweisheiten bedient.

»Ich habe es doch selbst nicht gewusst«, raunte Hejo Gerber düster. »Du tust gerade so, als hätte ich das absichtlich gemacht.«

Der Anwalt konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Die geforderte Entschädigung konnten sie sich abschminken, damit kamen sie nicht durch, nie im Leben – wenn überhaupt, konnte allenfalls die Stadt dafür haftbar gemacht werden.

Der frühe Feierabend war dennoch fürs Erste versaut, wie sehr er seinen Job doch manchmal hasste. Als wenn er keine anderen Sorgen hätte! Die ihm von einer Freundin zu Ohren gekommenen Gerüchte um seine Frau beschäftigten ihn dabei noch am meisten – sie hatte einfach den falschen Umgang. Tausendmal hatte er ihr gesagt, sie solle sich mit Leuten aus seinem Kreis umgeben, dann hätte sie auch weniger Probleme. Nicht ein einziges Mal war sie bereit gewesen, auszuprobieren, ob Tennis oder Golf nicht doch etwas für sie wäre. Stattdessen hieß es immer, dass sie mit dem Literaturkreis und dem Frauenchor in ihrer knapp bemessenen Freizeit mehr als ausgelastet sei. Aber selbst in ihrem Chor gab es, wie man hörte, das ein oder andere Flittchen. Andere übten sich in Neid und Missgunst oder schnürten Intrigen – eine feine Gemeinschaft war das. Vielleicht sollten die Miss Klänge einmal über eine andere Schreibweise ihres Namens nachdenken. Doch Hang-Marie ließ sich nichts sagen, wusste sowieso alles besser, blieb stur und ging ihre eigenen Wege. Nicht selten entpuppten sich diese Wege als Sackgassen.

Es war, als prasselte momentan alles auf ihn ein. Missmutig warf er das Schreiben auf den schweren Eichentisch – da konnte sich demnächst Manni, sein Rechtsanwalt, drum kümmern. Hejo empfand es obendrein als Frechheit, ihm derartige Briefe an seine Privatadresse zu schicken. Er nahm sich einen Schokohasen aus dem Nest, das Hang-Marie und Pia ihm zubereitet hatten, betrachtete ihn und legte ihn nach kurzer Überlegung zurück. Nach Süßem stand ihm nicht der Sinn – es war Zeit für einen Drink.

»Es wäre auch ein Wunder, wenn die einmal keinen Wind davon bekommen hätten«, Thea klang verärgert, nachdem Radio Euskirchen in den Nachrichten über den Fund einer Frauenleiche am Münstereifeler Campingplatz berichtet hatte.

»Du weißt doch wie das läuft«, meinte Sarah zu ihrer Vorgesetzten. »Am besten parkst du hinter dem Mondeo.« Gleichzeitig wies die Stimme des Navis die beiden darauf hin, dass das erreichte Ziel links lag. Um fünf nach siebzehn Uhr stiegen Thea Oleknavicius und Sarah Böll aus ihrem Dienstwagen. Die Sonne hatte sich inzwischen komplett verzogen, wodurch es um einiges frischer geworden war. Das Einfamilienhaus am Ende des Mechernicher Rosengrabens befand sich in zentraler, aber dennoch ruhiger Wohnlage, wie Thea vor dem Klingeln feststellte. Lief man nur einhundert Meter weiter, befand man sich im Wald. Sie sollte sich jetzt aber auf das Wesentliche konzentrieren, ermahnte sie sich.

»Tag«, ihr Gegenüber hatte die denkbar kürzeste Begrüßung gewählt – sie klang wie Tach!

»Herr Gerber?«

»Wen erwarten Sie, wenn Sie an meiner Tür schellen?« Die Verärgerung bei Heinz-Josef Gerber war nicht zu übersehen, als er ihnen die Tür öffnete. »Was kann ich denn für Sie tun?«,, fügte er etwas freundlicher hinzu, immerhin konnte er potenzielle Kunden vor sich haben.

»Tja«, seufzte Thea Oleknavicius. Sie stellte sich und ihre Kollegin vor, bevor sie fortfuhr: »Es ist wegen Ihrer Frau, wir müssen mit Ihnen reden. Dürfen wir reinkommen?«

Als hätte er es geahnt! Mit einer Kopfbewegung forderte Gerber die Kriminalbeamtinnen auf, ihm zu folgen. »Nun verraten Sie mir doch, weshalb Sie gekommen sind«, sagte er schroff, noch bevor sie im Wohnzimmer angelangt waren. Er legte die Lesebrille auf einer Kommode ab, drehte sich zu den beiden um, betrachtete sie skeptisch und fragte in deutlich sanfterem Ton: »Pardon, ich hoffe, es ist nichts Schlimmes – hatte sie wieder einen Unfall?« Beim Reden fuchtelte er unruhig mit den Armen.

Sarah und Thea tauschten einen ratlosen Blick, warteten aber mit der Antwort, bis sie auf dem Ledersofa Platz genommen hatten. Nachdem Gerber das Fenster geschlossen und sich ihnen gegenüber hingesetzt hatte, veränderte sich noch einmal sein Gesichtsausdruck. Man sah, dass plötzlich Angst in ihm steckte, dass ihm ein schrecklicher Gedanke gekommen war.

»Es ist hoffentlich nicht das, was ich befürchte«, sagte er wenig später mit belegter Stimme.

»Das können wir nicht ausschließen«, meinte Thea Oleknavicius. Sie beugte sich leicht nach vorn und senkte die Stimme: »Herr Gerber, wir haben heute Mittag in Bad Münstereifel eine Frauenleiche gefunden, und es deutet leider einiges darauf hin, dass es sich bei der Toten um Ihre Frau handelt.«

Nahezu bewegungslos verblasste seine Gesichtsfarbe, seine ausdruckslosen Augen starrten ins Leere. Heinz-Josef Gerber stützte kurz den Kopf mit der rechten Hand, schüttelte ihn und murmelte etwas Unverständliches.

»Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?«, wollte Sarah Böll wissen.

»Gestern.«

»Wann genau?«

»Am Morgen, um halb zehn. Anschließend war ich den ganzen Tag mit Kunden unterwegs und hatte danach noch im Büro zu tun. Als ich am Abend nach Hause kam, war Hang-Marie schon weg und Pia bereits im Bett.«

»Wissen Sie denn, wo Ihre Frau war oder hinwollte?« Thea Oleknavicius stellte ihre Frage mit mitfühlender Stimme – nicht so mechanisch, wie Sarah das gerade gemacht hatte, auch wenn die Chefin sonst in ihrem Team die Ungeduldigste war.

»Sie wollte zu einer Kunstausstellung nach Mainz und dann bei einer Freundin übernachten.«

»Ob sie angekommen ist, wissen Sie aber nicht, oder?«

»Das weiß ich nicht. Es gab keine besondere Veranlassung, sie anzurufen.«

»Kennen Sie die Mainzer Freundin?«

»Berit Wuttgen? Nur flüchtig! Sie war einige Male bei uns, aber meist haben die beiden dann gemeinsam etwas unternommen. Ich hatte in der Regel zu tun oder kümmerte mich um Pia.«

Sarah Böll mischte sich wieder ein: »Kam das häufiger vor?«

Hejo Gerber starrte erneut ins Leere, er schwieg betreten.

»Meine Kollegin meint mit der Frage«, erklärte Thea, »ob Ihre Frau öfter über Nacht wegblieb.«

»Nur hin und wieder, vielleicht zuletzt etwas vermehrt. In den letzten Jahren war sie aber tagsüber viel unterwegs – am Samstagnachmittag war sie ebenfalls lange weg. Als sie wiederkam wirkte sie irgendwie irritiert, total in sich gekehrt, anders als sonst.«

»Wieso?«, hakte Thea Oleknavicius nach.

»Ich habe sie nicht darauf angesprochen und es auf ihre Depressionen zurückgeführt, damit hat sie seit längerer Zeit zu kämpfen. Sie hatte mir ansatzweise davon erzählt, weigerte sich aber immer, ins Detail zu gehen. Auf ihre Art war sie leider sehr verschlossen.«

»Gab es Probleme in der Ehe?«

»Nein! Das habe ich damit nicht sagen wollen.« Gerber hielt sich die Hände vor den Kopf: »Oh Gott, wie bringe ich das nur unserer Tochter bei?«

»Ist sie zu Hause?«

»Nein.«

Die beiden Frauen sahen sich fragend an, sagten aber nichts.

»Wie jeden Donnerstag fährt Pia nach Schulschluss zu meinen Schwiegereltern nach Bad Münstereifel – meine Frau oder ich holen sie in der Regel nach dem Abendessen ab.« Er zögerte kurz: »Nun ja, meistens war es Hang-Marie.«

Thea Oleknavicius ließ die Augen auf ihn ruhen, bevor sie Luft holte: »Herr Gerber, wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Sie bitten, mit uns zu kommen und sich die tote Frau anzuschauen.«

»In Bad Münstereifel?«

»Nein, wir fahren nach Bonn. In der Universität befindet sich das Institut für Rechtsmedizin.«

Gerber nickte, ohne den Kopf zu heben. »Sofort?«, fragte er unsicher, als ließe sich die Wahrheit noch ein Stück weit aufschieben.

»Das wäre gut«, antworteten die beiden Kripobeamtinnen sinngemäß fast gleichzeitig.

Kaum hatten sie mit Gerber dessen Haus verlassen, erreichte Thea durch Kriminaloberkommissar Carsten Schnitzler die wenig erfreuliche Nachricht, dass es auf dem Campingplatz tatsächlich nur die eine Überwachungskamera gab, die sie am Mittag nach kurzer Suche entdeckt hatte. Allerdings war Thea dabei nicht die blaue Farbe entgangen, mit der die Linse übersprayt worden war. Nach Aussage ihres Kollegen war die Kamera schon einige Wochen defekt, die letzten Aufnahmen stammten vom 11. März. Thea Oleknavicius verzog die Mundwinkel nach oben und stieß einen leisen Fluch aus. Sie flüsterte Sarah den Grund ins Ohr.

5

Vor fast fünf Jahren hatte sich Jessicas Vater, Werner Reinders, ein ziemlich herunter gekommenes Haus in Acharavi auf Korfu gekauft, das er nach und nach zu einer kleinen Familienpension umbauen wollte. Zunächst deutete nichts darauf hin, dass er dieses Ziel erreichen würde – noch im Frühjahr des vorletzten Jahres glich seine Villa mehr einer Baustelle als alles andere. Jess hatte lange Zeit nur abfällig von einer Kaschemme gesprochen. Erst Mitte Juni vergangenen Jahres konnten nach längerer Pause wieder die ersten der insgesamt fünf Gästezimmer vermietet werden, und das auch nur, weil Andy das Kommando bei den Renovierungsarbeiten übernommen hatte. Davon hatte Mücke seine Unterstützung abhängig gemacht – außerdem musste Werner sich bereit erklären, dass Jessica und ihm jederzeit das blaue Zimmer zustand, wenn ihnen nach einem Abstecher auf die grüne Insel zumute war. Die Räume nach Farben zu benennen und entsprechend einzurichten war Andys Vorschlag gewesen. Genau genommen hatte er sich die Idee bei einem kleinen Münstereifeler Hotel in der Heisterbacher Straße abgeguckt, aber das hatte er Werner nicht auf die Nase gebunden. Wahrscheinlich wäre er dann dagegen gewesen, weil er stets das Außergewöhnliche suchte. Das war krankhaft und mit ein Grund dafür, weshalb Jessicas Vater über zwei Jahre lang überhaupt nicht in die Pötte gekommen war, von seiner eigenen Ungeschicklichkeit und Sparsamkeit einmal abgesehen.

Andreas war auf der Couch eingenickt, bevor er durch Jessicas Anruf geweckt wurde. Er hatte sie nicht vergessen, aber mit neuen Nachrichten über den Mord in Bad Münstereifel konnte er noch nicht dienen, so verständlich ihre Angst um Hang-Marie auch war. Er hatte erst vor einer halben Stunde mit der Ersten Kriminalhauptkommissarin gesprochen, doch Thea war nur kurz angebunden gewesen, da sie gerade im Begriff war, mit Hejo Gerber dessen Haus in Mechernich zu verlassen. Die Tote war also noch nicht identifiziert, es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich weiter zu gedulden. Andy erzählte seiner Freundin dafür die komplette Geschichte des Nachmittags: Vom Treffen mit der ehemaligen Klassenkameradin Heike Haibach auf dem Campingplatz, von der Menschenansammlung, der Begegnung mit Thea Oleknavicius, selbst den Schmuck-Anhänger neben ihrem Arm und den plötzlich aufgekommenen Grillgeruch ließ er nicht unerwähnt.

»Hauptsache, es schmeckte schon wieder«, Jessicas Verärgerung spürte man deutlich.

»Vielleicht sind hungrige Kinder der Grund gewesen«, gab er zu bedenken.

»Ach, was«, widersprach sie, »ich kann mir das so richtig gut vorstellen, dieses typisch deutsche Verhalten.« Andy hatte allgemein seine Probleme mit diesem ständigen typisch dies, typisch das – er versuchte das Thema zu wechseln, indem er sich nach ihrem Vater erkundigte und danach, was Jess in den letzten Tagen auf Korfu gemacht hatte. Fast bedauerte er es, nach Erledigung seines Auftrages vor zwei Tagen nicht noch einmal zurückgeflogen zu sein. Er hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, aber auf die Schnelle keinen bezahlbaren Flug ergattern können. So freute er sich jetzt auf übermorgen, wenn er Jess am Flughafen Köln-Bonn abholen konnte.

Die Bedienung hob die herunter gefallene Einkaufstüte auf und legte sie zu den anderen zurück auf den freien Stuhl. Andreas bestellte ein Pils zum Eifeler Döppekooche mit Räucherlachs, während sich Heike Haibach für ein Rumpsteak und Rotwein entschied. Was für eine Wohltat, strahlte sie, endlich zu sitzen und den aufregenden Tag mit ihm ausklingen zu lassen. Im Moment fühlte sie sich ziemlich erschlagen. Heike hatte ihn zwanzig Minuten warten lassen, war beim Betreten des Lokals etwas außer Atem gewesen, hatte sich entschuldigt und vom unerwartet großen Angebot der Outlet-Läden geschwärmt. In drei Stunden hatte sie es geschafft, mehr als siebenhundert Euro auszugeben. Andy Mücke schmunzelte und musste an ihre Bemerkung vom Mittag denken, dass Geld sie nicht interessiere, sie ihm keinerlei Bedeutung beimesse. Au Mann, das erinnerte ihn an seine letzte Auftraggeberin, die einen vierhundertfünfzig PS starken Porsche 911 Targa fuhr, jedoch viel lieber einen schnuckeligen Kleinwagen in der Garage gehabt hätte. Leider, so hatte sie seufzend beteuert, würden die Kunden und Mitarbeiter dann aber glauben, es ginge mit ihrem Unternehmen den Bach hinunter. Andy verstand nicht, warum so viele Leute nicht einfach zu dem standen, was sie taten. Stattdessen schwafelten sie herum, sorgten für die Verbreitung selbstverliebter Therapeutenparolen und machten eine Show, als müssten sie sich für ihren Reichtum entschuldigen. Warum genossen sie ihn nicht einfach stillschweigend?

Die Wartezeit hatte allerdings auch etwas Gutes gehabt, denn plötzlich war Andy ein fast vergessener Anruf eingefallen, den er Thea Oleknavicius mitteilen musste. Auf seinem Smartphone hatte er geschrieben: Leider habe ich nicht sofort daran gedacht, es Dir zu sagen. Herr Gerber hatte mich vor etwa eineinhalb Jahren gebeten, Hang-Marie zu observieren, weil er das Gefühl hatte, von ihr betrogen zu werden. Mehr kann ich dazu nicht sagen, weil ich als Partner ihrer Lehrerkollegin den Auftrag abgelehnt habe.

Der Mann vom Nachbartisch linste wieder zur Eingangstür hinüber. Bis vor einer halben Stunde hatten sie dies gemeinsam getan, bis Heike aufgetaucht war und Andy die unausgesprochene Wette gewonnen hatte. So wie es aussah, schien Marco Krumm – wenn er es denn war – heute leer auszugehen. Andreas war sich immer noch nicht sicher, er hatte Krumm bestimmt fünfzehn Jahre nicht gesehen, und richtig gekannt hatten sie sich auch nie.

Nachdem sie das Essen serviert bekamen, bemerkte Andreas an Heikes Bewegungen und den folgenden Geräuschen, dass sie sich vorsichtig die Schuhe von den Füßen streifte. Sie tat das in der gleichen Art, wie er es von Jessica kannte. Auch der Mann vom Nebentisch schien das beobachtet zu haben. Heike nickte ihm zu, woraufhin er den Kopf wieder verlegen zur Seite drehte.

»Kennst du ihn?«, fragte Andy sie erstaunt. »Wenn es der ist, für den ich ihn halte, war er im St. Angela ein oder zwei Klassen unter uns.«

»Das ist Marco Krumm, aber er war nicht auf unserem Gymnasium«, flüsterte Heike.

»Dein Gedächtnis möchte ich haben!«, nuschelte er mit vollem Mund.