Zwentibolds Wut - Jan Spelunka - E-Book

Zwentibolds Wut E-Book

Jan Spelunka

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Beschreibung

Claudia und Bernd Bödecker feiern mit Bekannten ausgelassen ihren zehnten Hochzeitstag. Mit dabei ist Andy Mücke, Bernds bester Freund. Alles passt an diesem Juniabend in Bad Münstereifel zusammen, wäre da nicht der angetrunkene Schriftsteller Philipp Scharner aus Rheinbach. Nachdem er diverse Frauen angebaggert hat, wirft der Gastgeber ihn schließlich raus. In der gleichen Nacht wird Bödecker brutal zu Boden geschlagen. Der tatverdächtige Autor bittet ausgerechnet Privatdetektiv Mücke um Hilfe. Vieles spricht gegen den Schriftsteller – nur das Motiv überzeugt Andy Mücke nicht. Er nimmt den Auftrag an und stößt auf weitere Spuren. Doch auch mit Scharner stimmt etwas nicht …

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Seitenzahl: 320

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Jan Spelunka

Zwentibolds Wut

1

Jessicas Blick wanderte von den blühenden Gladiolen durch den dreihundert Quadratmeter großen Garten der Bödeckers. Die Sonne der letzten Tage hatte dem Rasen ordentlich zugesetzt, an vielen Stellen war er verbrannt. Bestimmt wurde er zu wenig oder falsch bewässert. Wie alle anderen Pflanzen sollte auch der Rasen erst am Abend Wasser bekommen, das wusste sie von ihrem Vater. Sie würde Claudia oder Bernd darauf ansprechen, eventuell heute noch. Die Menge der gedämpften Stimmen hatte zugenommen, vor allem auf der Terrasse, wo das Buffet aufgebaut war und mittlerweile dichtes Gedränge herrschte.

Mit gleichgültiger Miene drehte Jessica Reinders den Kopf erneut in Scharners Richtung. »Wie bitte?« Sie hatte vor einigen Minuten aufgegeben, ihm zu folgen. Er redete einfach zu viel und fast jeder seiner Kommentare endete mit einer an sie gerichteten Frage.

»Ich sagte: Wie rasant es sein Grün verändert hat.« Philipp Scharner setzte seinen Sommerhut wieder auf, nachdem er sich die Schweißperlen von der Stirn getupft hatte. Das Taschentuch verstaute er in die Hosentasche. »Wahnsinn, und das alles in diesem kurzen Zeitraum. Ist Ihnen das auch aufgefallen?«

»Das Grün?« Sie wusste nicht, wovon er redete. Es war anstrengend mit ihm, langsam reichte es ihr.

»Na, das Laub dort drüben, oberhalb der Burg.« Scharner zeigte auf den gegenüberliegenden Hügel, »das hat in der letzten Viertelstunde ganz andere, beinahe sich widersprechende Farbtöne angenommen. Ist das nicht faszinierend?«

»Ach so. Ich hatte vergessen, dass ich einen Schriftsteller vor mir habe. Sie haben bestimmt ein geschultes Auge für solche Veränderungen.«

»Na ja, mehr oder weniger, aber lassen wir das. Reden wir nicht über mich. Es gibt interessantere Menschen, zum Beispiel …«

»Wieso?«, unterbrach jetzt Jessica ihn einmal. Sie hatte keine Lust, sich von ihm aushorchen zu lassen, außerdem hatte sie drüben am Tisch der Gastgeber endlich ihren Freund entdeckt, der ihr verstohlen zuwinkte. »Ich wette, hier weiß jeder, wer Sie sind«, lächelte sie. Jessica wollte das Gespräch freundlich beenden.

»Ganz sicher nicht – ich halte dagegen!«

»Die Wette würden Sie garantiert verlieren. Und sagen Sie nicht, dass Ihnen das nicht gefällt. Das glaube ich Ihnen nämlich nicht.«

»Warum so misstrauisch, Jessica? Ich bin auch nur ein Mensch. Natürlich schmeichelt es mir. Es freut mich, wenn man mich für begabt hält. Doch, doch, das sage ich ganz offen! Aber glauben Sie mir, die Leute wissen nichts über mich, gar nichts! Insofern bedeuten mir die Schmeicheleien nicht wirklich viel.« Seine Mimik unter dem Hut drückte Bedauern aus, das künstlich wirkte.

»Nicht? Ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Das ist schade. Aber Sie kennen mich ebenfalls nicht – vielleicht kommt das noch …« Den letzten Teil des Satzes zog er in die Länge.

»War das nun eine Frage?« Sie stellte ihr Weinglas auf der marmorierten Platte des Stehtisches ab und schaute neugierig in die Runde. Gott sei Dank! Jetzt, nachdem er mit Claudia und Bernd die ersten Sätze gewechselt hatte, kam Andy auf sie zu.

»Das ist eher ein Wunsch«, grinste Scharner. »Sie sehen bezaubernd aus, geradezu atemberaubend, wenn ich das so sagen darf. Erzählen Sie mir bitte nicht, dass Ihnen das nicht schmeichelt. Ich für meinen Teil glaube nämlich auch nicht alles, aber ich würde liebend gern herausfinden, was dahinter vor sich geht.« Er tippte mit zwei Fingern zaghaft auf ihre Stirn, was sie als unangenehm empfand.

»Ist das nicht zu gewöhnlich?«, fragte Jessica nach kurzem Schweigen. »So klingen doch eher die Annäherungsversuche der billigen Sorte, meinen Sie nicht?«

»Das ist wahr, liebe Frau Reinders. Auf Sie trifft das Kompliment nun mal zu! Was soll ich machen?« Philipp breitete die Arme hilflos aus.

»Hallo.« Andreas Mücke kam mit dem Smartphone in der Hand um die Ecke. Um ein Haar wäre er gegen die üppige Palme im Blumenkübel gestoßen. Er nickte den beiden zu und steckte das Handy weg.

»Darf ich vorstellen?«, fragte Jessica. »Das ist Andy, mein Mann.«

»Angenehm«, antwortete Scharner, nur unwesentlich irritiert. Er hatte sich schnell unter Kontrolle und reichte Mücke die Hand. »Sind Sie immer so schwungvoll?«

»Leider nicht. Ich wünschte, ich wäre es.«

»Mir reicht es, ehrlich gesagt.« Jess schaute belustigt erst Andy, danach den Autor an.

»Dann arbeiten Sie weiter dran!«, schmunzelte Philipp Scharner mit jovialem Blick. »Nun ja, ich muss sowieso weiter. Meine Bekannten warten schon auf mich. Ich hoffe, man sieht sich noch.«

»Besser nicht«, murmelte Jessica Sekunden später. Dann fiel sie ihrem Freund um den Hals und gab ihm einen ausufernden Begrüßungskuss. Nicht, dass er sich geziert hätte, aber derartige Gefühlsausbrüche hatte er von Jess in den fast zwei Jahren selten erlebt.

»Seit wann bin ich dein Mann?«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie roch nach dem Parfüm, das er ihr neulich aus Düsseldorf mitgebracht hatte.

»Du kamst genau richtig, lange hätte ich es mit dem nicht mehr ausgehalten. Die Labertasche fragte mich nach Einwohnerzahlen, woher die Stadt ihren Namen habe, wann die Burg fertiggestellt worden sei und all solchen Müll. Der redete ohne Punkt und Komma, furchtbar.«

»Und? Konntest du ihn aufklären?«

»Du weißt genau, dass ich es nicht mit den Zahlen habe, außerdem hätte es ihn eh nicht interessiert. Der fragte nur, um zu reden.«

»Wer war das überhaupt?« Andreas legte seinen Arm um ihre Hüften.

»Philipp … schießmichtot, du weißt schon, der Schriftsteller aus Rheinbach; im Moment soll er gut im Geschäft sein, behauptet er zumindest. Ich mag ihn nicht. Er macht auf überlegen und wichtig und hat gleichzeitig so eine schleimerische Tour.«

»Gehört habe ich von ihm. Ich wusste gar nicht, dass unsere Freunde solch prominenten Umgang haben.«

»So prominent, dass mir der Name nicht einfällt.« Jess lachte und nippte am Wein. »Claudia leitet doch diesen Euskirchener Literaturkreis. Dort hat er Mittwoch vorvergangener Woche gelesen, und deshalb hat sie ihn wohl zu dieser Feier eingeladen. Hoffentlich bereut sie es nicht.«

Unter den Gästen wurde es unruhig und dann plötzlich ganz still. Jemand brüllte vom Gehweg etwas in den Garten der Bödeckers hinein. »Nanu!«, sagten Jessica und Andy fast gleichzeitig. Sie blickten sich erstaunt an.

»Da sitzt er, da feiert er, der feine Herr, der skrupellose Betrüger!« Der Hund des Nachbarn bellte aufgeregt, man hörte ihn auf und ab rennen. »Gauner, verfluchter!« Die Stimme war laut und aggressiv, die dazugehörenden Augen klein und listig. Mücke verließ instinktiv seinen Platz und ging die wenigen Meter zur Hecke. Auch der Hausherr kam von hinten angerannt. »Bitte nicht hier und schon gar nicht in diesem Ton, Herr Müller!«, rief er von Weitem.

»Mit mir macht ihr das nicht! Mit mir nicht!« Sein vorstehender Kehlkopf wippte im Rhythmus seiner Pöbeleien aufgeregt auf und ab.

»Warum haben Sie gestern den vereinbarten Termin nicht wahrgenommen? Morgen bin ich nicht in Euskirchen; kommen Sie nächste Woche ins Geschäft, wir regeln das, keine Sorge. Und jetzt gehen Sie«, hörte man Bernd Bödecker zischen. Er gab sich Mühe, ruhig zu wirken, aber man sah ihm an, dass er eine weitere Auseinandersetzung mit dem impulsiven Mann fürchtete. Mücke blickte sich um. Wie gelähmt verfolgten die anderen die provozierende Vorstellung.

Von hinten rief ein vorlauter Gast: »Verpiss dich – du, du, du …«

»Zwentibold«, ergänzte die Frau neben ihm und erntete damit einige Lacher. Bernd besänftigte mit ausgebreiteten Händen die Gemüter.

»Zwentibold?«, fragte Philipp Scharner interessiert, der sich plötzlich wieder neben Mücke befand.

»König Zwentibold hat Münstereifel das Markt- und Zollrecht verliehen, um es knapp auszudrücken«, sagte Andreas. »Das ist schon über eintausend Jahre her.«

»Momentan scheint es eher, als wolle er es einem entziehen.«

»So kann man das sehen.« Andy nickte ihm zu.

»Heißt der Mann tatsächlich Zwentibold?«, hakte Scharner nach.

»Natürlich nicht!«

»Verbrecherpack, elendes!« Mit drohender Faust stiefelte der unzufriedene Kunde den Windheckenweg weiter hinunter. Der mächtige Oberkörper wurde von extrem dürren Beinchen getragen. Seine kurze Hose machte diese unverhältnismäßige Verteilung deutlich sichtbar, ließ sie lächerlich aussehen. Mücke schätzte den Mann auf Ende fünfzig, er kannte ihn vom Sehen. Der Hund nebenan hatte sich noch immer nicht beruhigt.

»Entschuldigt bitte«, sagte Bödecker in die Runde. Ihm war der Vorfall peinlich. »Da ist jemand nicht mit seinem Neuwagen zufrieden. Wir werden das am Montag regeln.« Seine Stimme klang zittrig.

»Der Alte stänkert auch regelmäßig in Kneipen rum; mach dir nichts draus, Bernd«, meinte jemand, der Jürgen von der Lippe ähnelte, aber gut und gerne dreißig Jahre jünger war. »Ein richtiger Dämel ist das!«

»Was war denn los?«, wollte Claudia wissen. Routiniert steckte sie sich ihre italienische Sonnenbrille ans Dekolleté.

»Ach, der blöde Müller musste seinen Zorn loswerden, als hätte ich sein Auto montiert.« Bernd war aufgewühlt, sein Gesicht hatte sich gerötet.

»Und muss das ausgerechnet hier passieren? Vor allen Leuten.« Sie legte den Kopf schief. Auch ihr sah man die Verärgerung an.

»Ich habe ihn nicht hierhergebeten.« Bernd zuckte mit den Schultern.

»Claudia, ich hoffe, unsere Schüler wissen nicht, wo sie uns finden können. Dann wäre hier vor lauter Unzufriedenheit aber richtig was los, das sag ich euch!« Von der Lippe versuchte, den Vorfall herunterzuspielen, die meisten lachten über seinen Kommentar. »Und die Eltern dieser Hochbegabten erst …«

Noch einige Minuten, schätzte Andy, danach sollte die Sache halbwegs vergessen sein. Mücke nahm Bödecker beiseite: »Bernd, was ich dich schon lange fragen wollte – hast du noch mal was von den Stiweck-Brüdern gehört?«

»Komm mir nicht noch mit denen!«

»Sag schon!«

»Nein, keinen Mucks. Du weißt ja: Hunde, die bellen, beißen nicht!« Bernd zeigte auf seinen Platz, zu dem er zurückwollte. »Wir sehen uns nachher, ich habe für uns noch einen ganz besonderen Tropfen …« Seine Mimik versprach etwas Gutes.

»So ein doofer Zwischenfall.« Andy schaute auf Jessicas Armbanduhr. Kurz vor neun, es war später, als er gedacht hatte. »Hast du schon gegessen?«

»Nein, aber wir holen uns am besten jetzt etwas, solange der Grill noch heiß ist«, sagte Jessica und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.

»Wenn ich mich so umsehe: Die beiden haben zum Zehnjährigen an nichts gespart. Sehr großzügig und einladend, das alles.«

»Das kannst du laut sagen. Claudias Neffen und ihre Nichte kümmern sich um die Getränke. Die Emma ist eine ganz Liebe. Das ist die mit den hellblonden, schulterlangen Haaren im Bayern-Trikot, die gerade die Cola einschüttet. Siehst du sie?«

»Ja, klar, was ist mit ihr?«

»Wie meinst du das?« Jessica hatte anscheinend den Gesprächsfaden verloren.

»Du sagtest, Emma sei ganz lieb – und was noch?«

»Ach so, die hatte ich früher in meiner Klasse gehabt. Willst du auch einen Wein? Soll ich ihr winken?«

»Ich nehme ein Bier, aber gleich erst.« Andreas drehte sich wieder um. Aus den Lautsprechern im Hintergrund erklang Mark Forsters Au Revoir. Eine Handvoll junger Leute in ihrer Nähe tanzten und grölten den Refrain: »Es wird nie mehr sein, wie es war.«

»Ich mag das nicht«, sagte Jess nach einer Weile. »Wenn ich die so sehe, so ausgelassen …«

»Was dann?«

»Ich weiß nicht, ich habe so ein komisches Gefühl.«

»Wie denn?«

»Weiß nicht, als würde etwas passieren.«

»Was soll denn passieren?«, fragte Andy, der die plötzlichen Gemütsbewegungen seiner Freundin kannte.

»Du hast recht – ich schon wieder!« Jess lächelte verlegen, danach schaute sie sich um und zeigte auf einen zur Hälfte besetzten Tisch: »Wir können uns mit dem Essen dahinten hinsetzen, da bekommen wir noch die letzten Sonnenstrahlen mit. Lass uns gehen!«

2

Nachdem sie sich beide zwei Mal am Buffet und am Grill bedient hatten, war Jessica vom Tisch aufgestanden, um mit ihren Kollegen wenigstens einen Wein zu trinken. Andreas liebäugelte mit einer weiteren Portion dieser herrlichen Avocadocreme, aber eigentlich war auch er längst satt. Er hatte offengelassen, ob er Jess folgen würde. Es gab Spannenderes, als sich Gespräche unter Lehrern anzuhören. Verlieren konnte man sich auf dem Grundstück schließlich nicht.

»Noch ein Bier?« Es war Emma, die ihn unerwartet von der Seite ansprach.

»Klar doch!« Er nickte ihr zu. »Immer!«

»Sind Sie der Mann von Frau Reinders?«

»Ich bin ihr Freund. Ich habe schon gehört, dass Sie früher ihre Schülerin waren.«

»Sie können mich ruhig duzen. Sind Sie auch Lehrer?«

»Nein. Ich bin … Nun ja, ich bin Privatdetektiv.«

»Cool. Wollen Sie auch einen Schnaps haben?« Ein kleines Spuckebläschen kam aus ihrem Mundwinkel zum Vorschein.

»Das ist eine prima Idee nach dem guten Essen. Eventuell einen Ouzo oder einen Stephinsky, falls ihr das habt.«

»Wir haben alles!« So plötzlich, wie sie aufgetaucht war, so schnell war Emma auch wieder verschwunden. An einem der Stehtische erkannte er Sabine Kulik, die Frau des bekannten Literaturprofessors. Im vergangenen Jahr war er im Rahmen seiner Ermittlungen um eine getötete Autorin bei ihnen in Bonn gewesen, aber der Professor hatte den Termin vergessen und befand sich im Ausland. Nach stockendem Beginn war Mücke mit Sabine angeregt ins Plaudern geraten und hatte sogar die Nacht bei ihr verbracht. Der ausgezeichnete Wein hatte alle Hemmungen beseitigt. Der Alkohol hatte jedoch dafür gesorgt, dass nichts zwischen ihnen passiert war, auch am folgenden Morgen nicht. Als er aufgewacht war, war Sabine in der Küche mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt gewesen. Es war auch besser so. Gesehen hatten sie sich danach nicht wieder, nur noch einige E-Mails miteinander ausgetauscht. Es war während seiner Beziehung mit Jess die einzige Sache gewesen, die seine Freundin nicht zu erfahren brauchte. In seinen Augen gab es auch nichts zu gestehen; außer Verwirrung würde die Offenheit nichts bewirken. Das machte keinen Sinn. Er fragte sich, ob Sabine ihn bereits erkannt hatte. In seine Richtung schaute sie jedenfalls nicht. Die Unterhaltung mit dem erfolgreichen Autor schien sie ebenfalls nicht zu begeistern. Es sah nach unverbindlichem Small Talk aus. Sabine trug ein asymmetrisches dunkelblaues Kleid, das eine Schulter frei ließ. Gleich würde er zu ihr gehen, sie begrüßen und vielleicht einen Drink mit ihr oder den beiden trinken. Diesmal wird es sicher bei ein, zwei Gläsern bleiben. Ihren Mann konnte er nirgendwo entdecken. Mücke kannte ihn ohnehin nur von Fotos und aus einer Talkshow im TV. Zwei Mal hatten sie miteinander telefoniert; am Ende brauchte er den Professor zur Aufklärung des Mordes nicht mehr.

»Bitte schön, der Herr!« Das Mädchen kam mit den kalten Getränken wie gerufen.

»Vielen Dank, Emma. Das sieht ja richtig klasse aus.«

»Sind Sie wirklich Detektiv? Das stelle ich mir total aufregend vor.«

»Klar, zum Frühstück gibt es was aufs Auge und abends eine Messerstecherei, dazwischen ein Saufgelage oder Ärger mit der Polizei.« Andy versuchte, witzig zu sein.

»Jetzt verarschen Sie mich, ich bin nicht blöd.«

»Entschuldige, das wollte ich nicht! Im Ernst: Meistens ist es eher eintönig, aber so richtig langweilig wird es eigentlich nie. Es kommt auf den Auftrag an, logisch.«

»Aber heute sind Sie privat hier, oder?«

»Natürlich, noch privater geht es gar nicht. Allerdings habe ich dich beobachtet und mir gedacht, dass dir ein Gladbach-Trikot viel, viel besser stehen würde.«

»Nie im Leben!« Sein zweiter Scherz kam offensichtlich besser an. »Ich dachte immer, Frau Reinders wäre FC-Fan.«

»Oh, der FC ist ein ganz heikles Thema in unserer Beziehung! Jessica Reinders hält auch eine Viererkette für protzigen Schmuck – so was kommt dann dabei heraus, da darf man sich nicht wundern!«

»Hauptsache, Ihre Gladbacher holen einen Titel nach dem anderen.« Emma reckte die Nase in die Höhe und verschwand mit dem Tablett voller Gläser. Nach zehn Metern schaute sie sich noch einmal um, grinste und schüttelte energisch den Kopf. Er prostete ihr mit gespielter Enttäuschung zu und kippte den Schnaps hinunter.

Philipp Scharner hatte die Szene beobachtet und lächelte. Für einen flüchtigen Moment trafen sich ihre Blicke, dann fühlte sich Scharner ertappt und wandte sich wieder Sabine Kulik zu.

3

Jess schob Andy mit dem Hinterteil zur Seite, damit er Platz machte auf der Bank. Die Dämmerung war in Dunkelheit übergegangen. Kein Lüftchen wehte, es herrschten an diesem Freitagabend angenehme Temperaturen, so wie man sie sich für den gesamten Juni gewünscht hatte. Der grauhaarige Lockenkopf am Tisch erkundigte sich nach der Zeit, denn er hatte, wie auch seine Frau, Uhr und Handy zu Hause in Arloff liegenlassen. Sabine Kulik antwortete ihnen, dass es gleich elf sei.

»In Arloff wohnen auch meine Eltern«, flüsterte Mücke ihr zu.

»Der Name klingt lustig!«, meinte Sabine.

»Der Ort ist allerdings so unbedeutend, dass meine Word-Rechtschreibprüfung ihn als Fehler unterstreicht«, spottete Andy. Sabine und Jessica grinsten.

»Das wollen wir nicht gehört haben«, meinte sein Tischnachbar augenzwinkernd. »Wussten Sie, dass ich 1968 Ihre Mutter auf der Bühne gesehen habe?«

Andreas wunderte sich vor allem darüber, dass der Lockenkopf wusste, wer seine Mutter war. »Die wohnte doch damals noch in Duisburg.«

»Trotzdem bin ich mir sicher: Ilse war die erste Gitarristin, die ich live erlebt habe! Das Festival fiel mit dem Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko zusammen.«

»Da war ich noch nicht geboren«, antwortete Mücke.

»Ich auch nicht«, mischte sich Jessica ein. »Bist du etwa die ganze Zeit beim Bier geblieben?«, fragte sie. »Schau mal, was ich hier Tolles habe.«

»Wie heißt das?«

»Keine Ahnung! Aber ich glaube, der Cocktail knallt richtig rein.« Jess hielt ihm zum Probieren den zweiten Strohhalm hin. Es stimmte, das farbenprächtige Zeug hatte es in sich und schmeckte selbst ihm, der sich sonst nichts aus Mixgetränken machte. Ein ordentlicher Schuss Rum war auf jeden Fall im Glas, eine gute Grundlage, die für die entsprechenden Umdrehungen sorgte.

»Cheers!« Der zwei Meter entfernt sitzende Lockenkopf nannte Jessica den Namen: »Hot Caribic Night!« Er prostete Mücke kumpelhaft zu.

»Nichts dagegen«, nuschelte Andy mehr zu sich selbst, aber dennoch für alle hörbar. Emma konnte im Schein der Lichterkette erkennen, welches Getränk er wünschte. Sie nickte und gab die Bestellung an einen älteren Jungen mit zu groß geratenen Ohren, Pferdeschwanz und Ziegenbärtchen weiter, der scheinbar für die raffinierten Drinks zuständig war.

»Ich glaube, ich werde allein von diesem Früchtespieß betrunken«, prophezeite Jessica. Das Papierschirmchen legte sie im fast leeren Aschenbecher ab.

»Ach was, tu nicht so – beim Wein verträgst du auch einiges, und gut gegessen hast du ebenfalls«, winkte Andreas ab. »Sabine, darf ich dir übrigens Jessica vorstellen? Vorhin hat sie mich mein Mann genannt. Ich werde sie beim Wort nehmen!«

»Das bekomme ich jetzt ewig zu hören«, lachte Jess und reichte Sabine die Hand. »Hi, ich bin Jessica Reinders und, wie du hörst, verzweifelt auf der Suche nach einem Ehepartner. Dabei hatte ich das nur gesagt, um diesen Volltexter abzuwimmeln.«

»Ich kann mir schon denken, wen du meinst. Sabine Kulik ist mein Name.«

»Kulik? Kulik? Das sagt mir doch was.« Man sah, wie es in ihr arbeitete.

»Im vergangenen Jahr haben wir über Sabines Mann gesprochen, diesen Literaturwissenschaftler aus Bonn«, sagte Andy.

»Klar doch, jetzt weiß ich wieder. Der Fall Mona de la Mare! Der Mord hatte in Münstereifel richtig für Furore gesorgt, so etwas kommt schließlich nicht alle Tage vor. Ist dein Mann auch hier?«

»Nein, das ist nichts für ihn – aber dafür hatte ich vorhin ebenfalls das Vergnügen, mit Philipp Scharner zu sprechen.«

»Hat er dich auch angebaggert?«

»Nein, das nicht – wir kennen uns schon etwas länger. Er kritisierte vor allem meine Besprechung im Radio. Was ich nicht verstehe, denn sein Buch ist bei mir verhältnismäßig gut weggekommen. Das können nicht alle Autoren behaupten.«

»Nach meinem Geschmack ist der Hut mit dem Lederband so ziemlich das Interessanteste an ihm«, grinste Jessica.

»Immerhin etwas«, sagte Sabine.

»Du bist Kritikerin?«, fragte Jessica, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Mit den Vorderzähnen zog sie dezent eine Traube vom Spieß.

»Kann man so sagen. Und da ist es natürlich nicht mein Job, es allen recht zu machen. Aber Scharner ist nicht schlecht – als Schriftsteller, meine ich. Ein Verlegersohn bekommt es halt mit in die Wiege gelegt, jedenfalls manchmal.«

»Ach, das wusste ich gar nicht.«

»Seinem Vater gehört in Rheinbach der Alesch-Verlag.«

»Den kenne ich, die machen doch auch diese Gesundheitsratgeber mit dem bunten Dreieck auf dem Cover«, sagte Jess.

Sabine schaute sich um, bevor sie ihre Apfelreste unauffällig ins Gebüsch warf. »Genau, das ist seit drei oder vier Jahren eine weitere Reihe neben den bewährten Reiseführern und der Belletristik. Und Alesch steht ganz einfach für Alexander Scharner. Alter Rheinbacher Landadel, erzkonservativ, so bezeichnet sich der Chef gern selbst. Aber das stimmt nicht, überhaupt nicht. Das trifft nicht auf das Verlagsprogramm zu und noch viel weniger auf ihn. Es ist bekannt, dass er früher zur Frankfurter Hausbesetzer-Szene gehörte und danach bis Ende 1985 als Aufbauhelfer in Nicaragua war. In einer Zuckerfabrik bei Tipitapa hatte er auch Dietmar Schönherr kennengelernt. Da er den Schauspieler nicht sofort erkannt hatte, hatten sie ihr Gespräch minutenlang auf Spanisch geführt. Darüber lacht Alexander noch heute gern.«

Andreas wollte Sabine Wein nachgießen, sie bedeckte jedoch ihr Glas mit der Hand. »Im Augenblick nicht; später vielleicht, danke!«

Emma kam erneut mit einem Dutzend gefüllter Biergläser und Mückes Cocktail vorbei. Der Lockenkopf bediente sich beidhändig. Seine Frau schaute dem Mädchen lange hinterher und seufzte in die Runde: »Ich möchte noch einmal die Figur einer Achtzehnjährigen haben. Mit dem Verstand und der Erfahrung einer Mittsechzigerin.« Sie rollte mit den Augen. »Und dann so richtig schön aus Liebe leiden.«

»Emma ist erst fünfzehn«, protestierte Jessica.

»Nur ein einziges Mal möchte ich das!«

Ihrem Mann war es egal. Er wäre schon zufrieden gewesen, wenn sie endlich ihre Perlenkette in Ruhe ließe. »Das Geklimper geht mir auf die Nerven«, murmelte er.

»Ach, Schorschi!«

»Finde dich einfach damit ab, dass wir keine Teenager mehr sind!«

»Das Gegenteil sind wir aber auch nicht«, konterte die Gattin. »In mir steckt noch jede Menge Leben.« Den anderen am Tisch erzählte sie, dass ihr Schorschi sie bereits vor zwanzig Jahren mit dem Kauf eines Doppelgrabes überraschen wollte.

»Ich denke halt praktisch!«

Jessica japste nach Luft und ruderte mit den Armen, wie sie es sonst nur beim Niesen tat. Andy hatte unterdessen mitbekommen, dass es auf der Terrasse Ärger mit Philipp gab. Jess hatte wohl die richtige Vorahnung gehabt. Bernd gestikulierte und zeigte schließlich energisch zum Ausgang. Auch sein Schwager schimpfte. Wie es aussah, war Scharner Claudias Schwester zu nahe gekommen. Mücke ging nach kurzer Überlegung zu Philipp und versuchte, ihn zum Gehen zu überreden. Es war nicht zu übersehen, dass der Schriftsteller angetrunken war. Entweder hatte er tatsächlich zu viel gebechert oder er vertrug nichts – im Moment spielte es keine Rolle.

»Der soll sich hier nicht wieder sehen lassen; kommt zu uns, spielt sich auf wie ein Lehrmeister, frisst und säuft und will obendrein noch unsere Frauen, das ist ja wohl das Allerletzte«, maulte Bernd. »Hast du gehört, du Penner? Mir ist egal, wer du bist.« Bödecker war außer sich. »Zisch ab!«

Ich mach das schon, signalisierte Mücke und legte den Arm um Scharners Schulter. Er hoffte, dass seine beruhigenden Worte ihn einsichtig machten, ganz so, wie er es auf dem Deeskalationsseminar neulich gelernt hatte. Als ungleiches Paar bewegten sie sich fast normal. Philipp sagte auch nichts mehr, er wirkte kleinlaut. Es schien, als hätte er realisiert, sich danebenbenommen zu haben. Die Frauen in der Ecke schauten ihm misstrauisch, aber auch neugierig hinterher. »Komm, lass es gut sein.« Sie hatten die Straße erreicht. »Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Brauch ich nicht! Glückwunsch übrigens zu deiner Frau, pass gut auf sie auf!«, nuschelte Scharner. Sein Atem roch nach einer Kombination von Tabak und Alkohol.

»Klar doch! Da entlang, und mach keinen Scheiß.«

Als Mücke sich am Gartentor noch einmal nach ihm umdrehte, kam Philipp wieder auf ihn zugetorkelt und stotterte etwas von Claudias Geburtstag.

»Nein, man gratuliert nicht vorher! Das weißt du doch!« Er zeigte ihm erneut den schwach beleuchteten Weg.

»Das, das … wäre nicht passiert, wenn Hannah mitgekommen wäre. Scheiße!« Den Fluch schrie Philipp Scharner durch die nächtliche Straße.

»Sei still, reiß dich zusammen! Soll ich nicht doch ein Taxi bestellen?«, vergewisserte sich Andreas. Er war sich sicher, dass das die beste Lösung wäre.

Philipp biss sich verlegen auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Brauch ich nicht – sonst kommt sie immer mit.«

»Geh jetzt, du kommst hier sowieso nicht mehr rein. Mach es nicht schlimmer!« Andy gab ihm einen versöhnlichen Klaps mit auf den Weg. Dass Philipp die Schuld bei anderen suchte, machte ihn nicht gerade sympathischer. Dennoch, so allein und niedergeschlagen, wie er nun davonschlurfte, tat er ihm irgendwie schon leid. In diesem Moment hätte ihn kein Mensch für einen erfolgreichen Künstler gehalten. Der Alkohol hatte seinen Siegerblick zunichtegemacht.

Als Scharner nicht mehr zu sehen war, ging Mücke zurück in den Garten. Bernd stand mit einigen Leuten am ersten Tisch. »Den sind wir los«, sagte Andy erleichtert. Jörg Sellnick, den er schon lange aus Bernds Autogeschäft kannte, reichte ihm ein frisches Kölsch, das er dankbar annahm.

»Danke, Jörg! Sonst alles in Ordnung bei dir?«

»Abgesehen davon, dass ich nachher arbeiten muss … Prost!«

»Du hast dich selbst aufgedrängt, erinnere dich«, korrigierte ihn sein Chef. »Nun beklag dich auch nicht.«

»Wer beklagt sich denn? Aber deshalb muss ich nicht noch begeistert darüber sein.«

»Stimmt auch wieder«, meinte Bernd. Er hob das Glas in die Runde.

»Habt ihr übrigens schon unseren grandiosen Eifeler Sternenhimmel gesehen?«, fragte Claudia und nippte am Wein. »Wie geschaffen für die heutige Nacht, oder?«

Alle Augenpaare wanderten zum Himmel, zustimmendes Gemurmel war zu vernehmen.

»Und das Beste: Die Meteorologen versprechen weiterhin gutes Wetter«, jubelte eine Frau, die Mücke als Bedienung aus irgendeinem Geschäft für Herrenbekleidung kannte.

»Mir ist es eigentlich schon jetzt zu heiß, da kann der Plöger im Fernsehen schwärmen, wie er will«, meinte ihr Begleiter. »Die Hitze kam einfach zu plötzlich.«

Na, klasse, dachte Andreas, erst jammern sie, und wenn der Sommer dann endlich da ist, ist es auch nicht recht.

»Wenn ich das heutige Theater hätte kommen sehen …«, entfuhr es Bernd. Er trank einen Schluck, bevor er weiterredete: »… hätten wir einen Monat früher geheiratet.«

»Oder gar nicht«, meinte einer seiner Freunde.

»Oder gar nicht, du sagst es, Manni.« Bernd warf einen verstohlenen Blick auf seine Frau, die beschlossen hatte, das nicht gehört zu haben.

»In meinen Geburtstag hätte ich trotzdem hineingefeiert«, sagte sie, nachdem sie das leere Glas abgestellt hatte. »Kommt, vergessen wir es einfach. Ich schau mal, ob Daniel oder Emma schon den Sekt aus dem Keller geholt haben.«

»Ach, du hast auch noch Geburtstag?«, fragte Bernd überrascht, wofür sie ihren Mann im Weggehen boxte. Er spielte den Verletzten, erntete von Claudia jedoch bloß einen zur Gruppe angedeuteten Kussmund.

4

Sein gottverdammter Schädel hämmerte gnadenlos. So eine miese Ratte, von hinten hatte er ihm eine verbraten, womit auch immer. Aber das musste schon vor der Kreuzung passiert sein. Warum war der Typ noch hier, was wollte der noch von ihm? Bernd sah ihn dreißig, vielleicht vierzig Meter von sich entfernt stehen. Der Schweinehund mit dem Hut zögerte, blickte zu ihm herüber, dann warf er in hohem Bogen etwas auf die Wiese. Was hatte Claudia nur bewogen, diesen Scharner einzuladen? Das sieht man doch, dass der nichts taugt! Nicht einmal informiert hatte sie ihn darüber, dabei wollte sie selbst dauernd über alles im Bilde sein. Das war wieder einmal typisch Claudia! Wie oft hatte sie ihm vorgeworfen, ihr nicht alles zu erzählen? Darüber wird noch zu reden sein … Tausend Flüche wollten nicht heraus, da konnte er machen, was er wollte. Die trockene Kehle war wie zugeschnürt.

Jetzt lief der Spinner weiter, die Entfernung wurde größer. Marke Stetson, einer seiner Kunden hatte im letzten Jahr den gleichen Hut auf einem Autodach abgelegt und anschließend vergessen gehabt. Bödecker hatte ihn am Lederband mit dem Schriftzug wiedererkannt. Tagelang hatte das blöde Teil in seinem Büro gelegen, bis der Kunde es abgeholt hatte. Er überlegte, ob das seinerzeit sogar Scharner gewesen sein könnte. Ihm fehlte ein Gesicht zu dem Hut. Nein, diese Fresse vergisst man nicht.

Drei lächerliche Laternen versuchten mehr schlecht als recht, die Straße bis unten auszuleuchten. Links oder rechts – was macht der Kerl, wenn er unten ist? Links, er bog links in die Kneipp-Promenade ein. Eilig hatte er es, logisch. Wenn er es war. Seine Augen nahmen alles nur verschwommen wahr. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Natürlich war es Scharner! Um diese Zeit treibt sich hier kein Mensch herum, deshalb hatte ihm noch niemand geholfen. Autos kamen auch nicht vorbei, in der schneefreien Phase machte die Stadt die Straße zur Sackgasse. Darüber hatte er sich oft geärgert, umso stärker war dadurch der Anliegerverkehr im Windheckenweg. Seinen Nachbarn war auch das egal, wie ihnen alles egal war.

Das würde Scharner ihm büßen, das würde ihm noch lange leidtun. Der Typ war so gut wie erledigt. Wenn nur dieser Schmerz nicht wäre … Mist, verfluchter!

Nur eines konnte er sich nicht erklären: Was sollte dieses Getue, er wolle das schriftlich haben? Er hatte diese unverschämte Forderung deutlich gehört – sonst konnte er sich an nichts erinnern. Er überlegte, fand allerdings zum Verrecken keine Erklärung. Hatte er mit dem Deppen diskutiert oder verhandelt, ihm etwa sogar freundschaftliche Konditionen zugesagt? Er? Ihm? Es war zu spät, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Alkohol zeigte seine Wirkung, genau wie der hinterhältige Schlag. Verklagen wollte er den Feigling, direkt am Montag, die Presse würde sich auf ihn stürzen, auf den Herrn Bestsellerautor.

Sirenengeheul in der Ferne ließ ihn aufhorchen, er musste für einige Minuten weggedöst sein. Jetzt wusste er wieder, wo er war. Es hatte so schöne Stunden an diesem Abend gegeben. Das Essen war perfekt gewesen, allein diese Vielfalt. Und wie Moritz, Emma und Daniel sich um die Getränke der Gäste gekümmert hatten, das war schon klasse. Die jungen Leute: alle drei schön, aufgeweckt, blitzgescheit und erwachsen – na ja, auf jeden Fall kurz davor. Zehn Jahre sollten sie schon verheiratet sein; auch seine Freunde weigerten sich, das zu glauben. Er hätte seine damalige Begrüßungsrede bei der Hochzeitsfeier noch Satz für Satz aufsagen können. Sie hätte nicht wesentlich anders geklungen als damals in der Steinsmühle. Und gepasst hätte sie trotz allem ebenfalls noch: An Claudia schienen die Jahre spurlos vorübergegangen zu sein, man sah ihr die Zeit kaum an. Das konnte er von sich nun nicht behaupten, aber demnächst würde er kürzertreten. Einen Gang zurückschalten, wie es ihm sein Arzt geraten hatte. Er würde Claudia oder Andy häufiger ins Fitnessstudio begleiten, nicht nur davon reden. Er schaffte keine dreißig Treppenstufen, ohne dass ihm die Puste ausging. Die monatlichen Mitgliedsbeiträge der letzten Jahre waren rausgeworfenes Geld gewesen, doch damit war bald Schluss.

Bödecker wunderte sich plötzlich, warum er ausgerechnet hier lag. Hier, im mittleren Teil der Dr.-Friedrich-Haass-Straße, etwa fünfhundert Meter von seinem Haus entfernt. Wie war er hierhin gekommen? Oder hatte der arrogante Blödmann aus Rheinbach ihm doch erst hier den Schlag verpasst? Wo steckte Claudia eigentlich? Waren die Gäste alle schon gegangen? Er wusste es nicht, hielt sich die Hand vor die Augen. Das Angetrocknete schmeckte nach Blut. Auch das Hemd war voller Schmutz, seine Kleidung feucht. Warum waren die Hosentaschen leer? Den ganzen Abend hatte er sein Mobiltelefon, die Schlüssel und das Portemonnaie dabeigehabt, obwohl es überflüssig gewesen war. Selbstverständlich war es das. »Gewohnheit eben«, hatte er Claudia geantwortet. Gelacht hatte sie auf ihre überlegen besserwisserische Art, die er manchmal hasste und manchmal liebte: »Du mit deinen Gewohnheiten!«

Die Sirenen waren irgendwo in der Nähe. Gleichbleibende Töne, gleichbleibende Entfernung. Stillstand. Warum kamen sie nicht zu ihm?

Er erschrak. Katzenaugen starrten ihn aus einem Meter Entfernung neugierig an. »Du hast es gut«, krächzte er unverständlich. Auf der Stelle machte sich das Tier aus dem Staub und jagte die steile Straße hinunter. Auf halber Strecke verschwand es links auf ein Grundstück. Wie gut er plötzlich sah in der Dunkelheit. Erst jetzt realisierte Bödecker, dass er direkt vor einem Auto lag. Ein A5 Coupé 3.0 TDI, das erkannte er selbst aus seiner üblen Position. Die schlichten Felgen beleidigten das Auto – der Besitzer müsste dafür bestraft werden.

Bernd verspürte starke Übelkeit – wenn schon, dann erwischte ihn immer das volle Programm. Er versuchte mit aller Macht, sich an dem weißen Audi hochzuziehen. Scheiße! Es gelang ihm nicht. Irgendwann stand er dennoch gebückt über der Motorhaube. Stolze 245 Pferde darunter, wenn er sich nicht täuschte. Er atmete tief ein und aus. Bödecker fühlte Schwindel in sich aufsteigen. Dass der Abend so enden musste … Blaue Lichtfetzen wurden oben links in die Straße geworfen. Ein Auto näherte sich. Als die Blaulichter endlich um die Ecke kamen, sackte er zusammen.

5

10:23 Uhr zeigten die roten Ziffern des Digitalweckers, auf dessen Gehäuse er eine dünne Staubschicht entdeckte. Andreas hörte Jess duschen, nahm die neben dem Bett stehende Wasserflasche und setzte sich damit auf den Balkon. Er dachte, dass Frischluft seinem müden Kopf guttun würde. Die Sonne nahm ihm die Illusion von der Frische; es wäre vernünftiger, zu Jessica unter die Dusche zu steigen. Er blieb trotzdem sitzen, fühlte sich noch ein wenig schlapp und hing seinen Gedanken nach. Zu Fuß hatten sie in der milden Juninacht keine zehn Minuten bis zu seiner Wohnung in der Ashfordstraße benötigt. Nach dem obligatorischen Absacker waren sie um halb drei ins Bett gefallen. Beide hatten tief und lange geschlafen, nur Andy war vor dem Einnicken durch die Sirene eines Polizei- oder Notarztwagens gestört worden. Er hatte sich sowieso noch etwas aufgekratzt gefühlt. Ohne auf die Uhr zu blicken hatte Andreas die Gelegenheit genutzt, um noch einmal zur Toilette zu gehen und ein halbes Glas Wasser zu trinken. Jessica hatte von alldem nichts mitbekommen. Wenig später hatte auch seine kurzfristige Schlaflosigkeit ihr Ende gefunden.

Während Andreas die Reste des kleinen Frühstücks beseitigte, holte Jessica aus ihrer Wohnung in der Dr.-Friedrich-Haass-Straße eine Kühltasche, ihre Badesachen sowie zwei Handtücher. Sie wollten eine Fahrradtour unternehmen und dabei möglicherweise auch einen See oder ein Freibad ansteuern. Auf dem Rückweg zu Andy fragte sie sich, wie lange das blaue Bauarbeiter-Klo den Windheckenweg noch schmücken sollte. Seit Christi Himmelfahrt stand es dort, über fünf Wochen war das nun her, mindestens. Wo man auch hinsah, die Rollläden waren fast überall heruntergelassen. Alle bemühten sich, der Hitze zu entkommen. Ihr fielen Kreidemarkierungen auf dem Bürgersteig und der Straße auf. Vorhin hatte sie die gar nicht wahrgenommen, auch gestern nicht. Beim Vorbeifahren warf sie einen Blick in den Garten der Bödeckers. Tische und Stühle standen noch unverändert auf ihren Plätzen, auch den großen Schwenkgrill hatten sie stehen lassen. Alles andere war bereits weggeräumt, ein wenig hatten Andy und sie noch mit dazu beigetragen. Es war ein gelungener Abend gewesen, mal abgesehen von dem stänkernden Alten, der vorübergehend die Stimmung getrübt hatte. Am Ende hatten ihn alle vergessen, bis auf Bernd vielleicht. Als Gastgeberin wäre ihr so etwas auch extrem peinlich gewesen; Claudia hatte das scheinbar ganz gut weggesteckt. Ach ja: Philipp Scharner gab’s noch. Den würde sie kein zweites Mal mehr einladen. Wie kann man sich nur so schrecklich danebenbenehmen? Er hatte das doch gar nicht nötig. Eventuell sollte er es einfach mal mit Natürlichkeit versuchen, so schwer konnte das doch nicht sein. Jessica hatte richtig getippt, ihr Gedächtnis hatte sie nicht im Stich gelassen: Das ältere Paar an ihrem Tisch waren Claudias ehemalige Vermieter gewesen. Sie tauten erst spät in kleiner Runde richtig auf, das hätte Jessica nicht mehr für möglich gehalten. Sie waren ihr sogar noch sympathisch geworden. Genau wie Sabine Kulik, eine absolut kluge, attraktive und bodenständige Frau. Es fiel Jess schwer, sie sich an der Seite eines älteren Professors vorzustellen, auch wenn sie ihren Mann nicht kannte und ihm unrecht tat. Trotzdem fand sie, dass zu dieser Frau ein anderer Mann gehörte, einer, der sie auch begleitete und eine ähnliche Power ausstrahlte. Sabine hatte ihr von zahlreichen Kinobesuchen und Städtereisen erzählt, die sie allein oder mit Bekannten unternommen hatte. Auch gestern war ihr Mann nicht dabei gewesen.

Ihr Kollege Sven hatte ein heimliches Auge auf Sabine geworfen, das war Jessica nicht entgangen. Schade, dass der nette Kerl vor lauter Schüchternheit – oder warum auch immer – bei den Frauen nicht in die Pötte kam. Happy to be single – das glaubte er ja selbst nicht! Warum hatte er sich nicht einfach zu ihnen gesetzt? Er wusste doch genau, dass Andreas zu ihr und nicht zu Sabine Kulik gehörte. Unter einem Vorwand hätte sie Sven auch an ihren Tisch bitten können. Warum fiel ihr das erst mit einem Tag Verspätung auf dem Fahrrad ein? Wer weiß, womöglich wäre damals sogar aus Sven und ihr etwas geworden, wenn Jessica nicht zufällig Andy im Little Bit kennengelernt hätte, damals im Oktober, genau drei Tage vor ihrer Scheidung von Nils. Das Schicksal hatte sie mit Andy zusammengebracht, ihre Freundinnen beneideten sie darum. Eigentlich war sie glücklich – manchmal wusste sie selbst nicht, was sie wollte. Nein, Sven wäre für sie keine Option gewesen.

6

Nachdem sie eine gute halbe Stunde unterwegs waren, musste Andy in Schönau beim Blick in die Kühltasche feststellen, dass er zu Hause Wasser und Wein vergessen hatte. Sonst hatte er an alles gedacht, selbst an eine zweite Luftpumpe, aber das war natürlich kein Ersatz für die fehlende Flüssigkeit. Kein Wunder, dass die Tasche so leicht gewesen war – er hätte sich treten können.

Die Fahrradtour führte sie dennoch erst einmal weiter zur Erftquelle nach Holzmülheim. Zu bestaunen gab es dort nichts, abgesehen von der mickrigen Quelle und einem Dutzend imposanter Ameisenstraßen. Ende Mai waren Lea und Tim da gewesen, wie eine noch frische Bauminschrift mit kitschigen Herzchen verriet. Zehn Meter weiter schwirrten Wespen um einen überquellenden Mülleimer. Jess und Andy suchten sich einen schattigen Platz, legten sich auf die Wiese, aßen einen Apfel und ihre Milchschnitten und genossen die Ruhe. Später betrachteten sie die Wolken und das Laub der Bäume.

»Können sich Farbtöne eigentlich widersprechen?«

»Keine Ahnung – wie kommst du denn darauf?«, fragte Andy.

»Nur so. Es ist nicht wichtig.«

»Meinst du wegen der grünen Streifen auf meinem Poloshirt?«

»Nein, nicht deshalb, vergiss es.« Jessica wollte nicht weiter auf ihre Frage eingehen. Manchmal war sie schon merkwürdig. Langsam fielen ihm die Augen zu; die letzten Tage hatten es in sich gehabt. Er nahm noch einen in der Nähe stehenden Rohbau mit bunten Bändern am Richtkranz wahr. Die sporadischen Flattergeräusche und die unebene Wiese hinderten beide nicht daran, für einige Minuten einzudösen.