Ende einer Lesereise - Jan Spelunka - E-Book

Ende einer Lesereise E-Book

Jan Spelunka

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Beschreibung

Für ein Boulevardblatt ist Mona der Shootingstar unter den Selfpublishern. Doch das Urteil täuscht – die junge Autorin steht erst am Anfang ihrer bislang stotternden Karriere. Noch muss sie sich um alles kümmern. Auch um ihre Lesereise, die in diesem Jahr immerhin erfolgreich startet. Aber die Freude ist nur von kurzer Dauer: Wenige Stunden nach ihrer Lesung wird Mona in Bad Münstereifel erstochen, ihre Leiche erst am folgenden Morgen unter einer Erftbrücke entdeckt. Die eigenwillige Autorin hinterlässt eine kleine, treue Fangemeinde, rätselhafte Manuskripte und reichlich Geld. Von Monas Vater erhält Detektiv Andy Mücke den Auftrag, mehr über das Leben seiner ihm so fremd gewordenen Tochter herauszufinden …

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Jan Spelunka

Ende einer Lesereise

Der erste Fall für Andy Mücke

1

Es war ruhig geworden in der Fußgängerzone. Im Geschäft gegenüber gingen gerade die Scheinwerfer aus. Die noch mit Luftschlangen behangenen Trachtenjacken hatte sie sich vorhin auf der Straße angesehen, bevor ihr der eisige Wind zu ungemütlich geworden war. So etwas würde sie niemals tragen, für kein Geld der Welt. Und für einen Mann schon gar nicht. Aber die karamellfarbene Steppjacke aus einem der Läden davor würde sie sich morgen zeigen lassen. Bei dem Preis würde sie nicht widerstehen können, das wusste sie schon jetzt.

Mona war mit dem Abend in Bad Münstereifel zufrieden, auch was ihre eigene Leistung betraf. Sie war souveräner und schlagfertiger geworden, ohne überheblich zu wirken. Reinfälle wie noch vor einem Jahr hatte es auf dieser Tour nicht gegeben. Aber da waren es lediglich sporadische Veranstaltungen gewesen, die sich zufällig ergeben und die sie regelmäßig vorher nervös gemacht hatten. Die Anzahl der Lesungen hatte sie deutlich steigern können. Sie war besser organisiert und Routine war ebenfalls hinzugekommen. Eine kritische Frage konnte sie nicht mehr aus dem Konzept bringen oder erröten lassen. Heute war sie trotzdem nervös gewesen, eigentlich grundlos. Es gibt solche Tage, sagte sie sich. Mit dieser Stadt oder dem Aschermittwoch verband sie nichts, was diese Aufgeregtheit erklären könnte.

Im Amadeus wartete sie nun auf ihren gemischten Salat und bestellte ein zweites Kölsch, indem sie das leere Glas anhob. Die Bedienung nickte. Vorlesen macht durstig! Vierzehn Besucher waren gekommen – nicht gerade umwerfend, aber auch nicht schlecht. Sechs Hurensöhne hatte die Buchhändlerin verkauft, vier davon musste Mona anschließend signieren. Ihren Roman aus dem Vorjahr Phantome der Nacht konnte die Buchhandlung angeblich nicht rechtzeitig beziehen, den Band mit den achtzehn Kurzgeschichten ebenfalls nicht. Eine passende Bemerkung dazu hatte sie intuitiv im letzten Moment unterdrückt. Ans Signieren hatte sich Mona de la Mare gewöhnt. Es gefiel ihr, von Fremden darum gebeten zu werden, ihren Namen in das gekaufte Buch zu schreiben. Manche wollten eine persönliche Widmung, als wäre Mona schon eine bekannte Autorin. Aber vielleicht glaubten diese Leute, dass sie es schaffen würde – so, wie sie es selbst auch glaubte. Wie hieß noch mal die Frau mit der goldumrandeten Brille, deren Namen sie sich zweimal buchstabieren lassen musste? Mona dachte angestrengt nach, kam aber nicht mehr drauf. Es war ein altdeutscher Name, da war sie sich sicher. Ihr ließ es keine Ruhe, sie gab die Frage nach alten Frauennamen in den Laptop ein und postete auch das. Verdammt, ihr Gedächtnis schwächelte.

Dass ihre Lesung ein Erfolg war, wie sie vorhin geschrieben hatte, gefiel den Freunden im Minutentakt. Katja aus Kiel, eine junge Autorin, tat sprachlos: Dreißig Fans, du bringst es! Ich wusste es immer schon … Netter Kommentar, wie alle anderen davor. Oder wie der gerade angezeigte: Der Hammer! Die Freunde machten Mut, man kannte sich eben. Mona hatte in zwei Sätzen die Veranstaltung im Saal oberhalb der Buchhandlung Leserei kommentiert und von einem großartigen Publikum berichtet. Darunter ein Bild mit der gut gelaunten Autorin, lässig mit einem Weinglas in der Hand vor einem der länglichen Fenster. Das Foto hatte eine Besucherin mit Monas Handy geschossen – man sah deutlich, dass die Dame darin ungeübt war. Sie hätte besser jemand anderen oder diesen widerlichen Pressefritzen darum gebeten, der es gerade eine halbe Stunde ausgehalten und ihr Buch offensichtlich nicht gelesen hatte. Solange der Artikel vorteilhaft war, sollte ihr das egal sein. Hatte er überhaupt ein Foto gemacht? Sie konnte sich nur an seinen verschmutzten karierten Notizblock mit Ringelbindung erinnern. Und an seinen ekelhaft säuerlichen Geruch. Vor Beginn der Lesung hatte ihr diese Einschlafhilfe die typischen Fragen gestellt: wo sie ihre Themen findet; wie man zur Autorin wird; wer ihre Vorbilder seien und den Blödsinn mit der Zielgruppe. Das übliche Blabla! Sie log auch am zwölften Tag ihrer Lesereise, was das Zeug hielt. Ehrlich war sie lange genug gewesen, das führte in diesem Geschäft zu nichts.

Jetzt starrte ein Pärchen an ihr vorbei ins Lokal. Vorhin stand da dieser bärtige Knilch, der zu Beginn der Lesung ganz hinten gesessen hatte. Er war sofort weitergegangen, nachdem sie ihn entdeckt hatte. Irgendetwas stimmte mit dem nicht, aber was? Sein Gang kam ihr bekannt vor, das war doch nicht … Blödsinn, was sollte dieser aufgeblasene Spinner hier? Außerdem hasste er nichts mehr als Hüte, das hatte er mehr als einmal betont. Sie schaute zu viele schlechte Filme, das war alles. Sie fühlte sich halt unwohl, wenn sie von draußen so beobachtet wurde, fand es aufdringlich. Sonst gefiel ihr der Platz direkt am Fenster. Die Heizung tat ihr Bestes, nur wenige Zentimeter vom Oberschenkel entfernt. Wie angenehm! Wäre sie häufiger hier, wäre das mit Sicherheit ihr Stammplatz, allen Glotzern zum Trotz.

Der Salatteller fiel üppig aus, das Brot würde sie nicht anrühren, höchstens einmal probieren. Die Berliner Currywurst hätte sie ebenfalls gereizt, aber sie hatte sich erst gestern eine Pizza gegönnt und auch die war riesig ausgefallen. Lecker wie die Margherita war, hatte sie die komplett verputzt. Die Vernunft war zu Hause geblieben, die musste nicht überall dabei sein.

Eigentlich hätte sie ruhig jemand aus der Buchhandlung begleiten können, dachte sie. Wenigstens auf ein Bier, wo sie doch am frühen Abend deren Gast gewesen war. Wahrscheinlich waren sie froh, es überstanden zu haben, denn Mona hatte sich selbst um diese Lesung bemüht und musste mehrmals telefonisch nachfragen, bis sie endlich ihr Okay gaben. Das brauchte aber keinen zu interessieren. Lange würde sie das nicht mehr nötig haben – demnächst würde sie den Spieß umdrehen, wenn ihr Stern aufgegangen war … Als Autorin muss sie groß denken, kreativ und angriffslustig sein. Noch war sie unbekannt oder, wie ihre Freunde immer sagen, ein Geheimtipp! Die vierwöchige Lesereise hatte sie selbst organisiert, dafür verzichtete sie im Sommer auf den Mallorca-Urlaub. Aber ihre Tour war auch so etwas wie Urlaub, und an drei Orten gab es immerhin ein kleines Honorar. In Mainz hatten sie ihr sogar das Hotel spendiert. Geld hat sie zwar genug, aber diese Einnahmen waren etwas Besonderes. Das hing mit der Autorenehre zusammen – wer je etwas Künstlerisches auf die Beine gestellt hatte, verstand das.

Draußen konnte man sich immer noch nicht entscheiden, das Lokal zu betreten. Zwei Schritte vor, zweieinhalb zurück. So schwer kann es doch nun wirklich nicht sein! Schade, dass nicht wenigstens Uli hier war, heute hätte sie ihn gern bei sich gehabt. Der mit seinem blöden Handball-Training! Und wofür das alles? Er war doch sowieso nur Reservespieler in der Oberliga. Andere Männer hätten sich darum gerissen, hier mit ihr sitzen zu dürfen.

Morgen würde sie sich nach einem verspäteten Frühstück die Stadt, die Burg und natürlich die reduzierte Steppjacke anschauen, bevor es weiterging nach Nettersheim. Dort hatten sie sich nicht so lange bitten lassen und den Termin früh bestätigt. Im Literaturhaus kannte man sie anscheinend, so sollte es sein. Im Amadeus ahnte Mona de la Mare an diesem Abend noch nicht, dass sie das Frühstück nicht mehr erleben würde, geschweige denn Nettersheim.

Nach dem Essen bestellte sie sich einen Kaffee und ein stilles Wasser. Leseratte Magenta gratulierte ihr im Netz euphorisch zu der Lesung. Sie postete außerdem, dass sie gerade eine Rezension zu den Hurensöhnen geschrieben habe: Fünf Sterne für meine Liebste, das Buch ist der Knaller!Sehen wir uns in Leipzig?

Die Besprechung musste sie sich sofort anschauen. Mona überflog hastig den lobenden Text. Super! Magenta, die Süße, hatte sich richtig Mühe gegeben! Wow, auch in den Verkaufsrängen war ihr Buch im Laufe des Tages nach oben gerutscht. Mona zog den Laptop ein Stück nach vorne, dann tippte sie: *Megakreisch* Ich liebe deine Rezi!!! Dahinter setzte sie drei Smileys und einige Herzchen. Sie teilte den Beitrag in mehrere Literatur-Gruppen. Das tat sie immer – alle sollten wissen, wie toll ihr Buch bei den Lesern ankam.

Schritte trampelten durch das Lokal, langsam füllte es sich. Auf einer großen Leinwand im Nebenraum wurde ein Spiel der Champions League angekündigt. »Achtelfinale«, hörte sie jemanden sagen, der wirklich klasse aussah. Er hatte etwas Südländisches an sich – das andere konnte sie nicht so genau bestimmen. Vielleicht etwas Asoziales, irgendwie. Ein Typ wie Mustafa, aber mindestens einen Kopf größer. Und Musti war schon geil mit seinem strammen Körper und der undefinierbaren Kunst darauf. Nebenan wurde diskutiert, ob Dortmund gegen Real eine Chance hätte. Ihr war es egal, sie interessierte sich nicht dafür. Genauso wenig wie für Handball – sollten sie ruhig alle haushoch verlieren und die Fans wütend machen.

Der Kellner, möglicherweise war es auch der Inhaber, entschuldigte sich für den zerbrochenen Keks auf der Untertasse und fragte, ob der Ton störe, ob es nicht zu laut sei. Mona verneinte, sonst würde sie sich schon melden. Das solle sie ruhig machen, ermutigte er sie. Er erkundigte sich, ob sie von hier sei, er hätte sie noch nie gesehen. Nein, sie käme vom Niederrhein, antwortete sie, aus dem Neusser Raum. Aus einem Ort bei Grevenbroich, um genau zu sein. Aus einem Kaff, um bei der Wahrheit zu bleiben. Quasi aus der Pampa. Ihr zaghaftes Lächeln entblößte weiße Zähne, deren Wirkung durch den Lippenstift verstärkt wurde. Er wollte wissen, was sie denn zu dieser Jahreszeit in die kalte Eifel getrieben habe, in der sicherlich nicht mehr los sei als in ihrem Kaff. Den Faden griff sie gerne auf. Nun, sie sei als Autorin eingeladen gewesen und habe hier gelesen. Nicht in der Stadtbücherei, in der Leserei habe sie ihren neuen Roman vorgestellt. Sie deutete mit der Hand in die entsprechende Richtung, als müsste eine Fremde ihm den Weg erklären. Diesen Gedanken hatte er wohl ebenfalls. Der Mann grinste, fragte nach der Besucherzahl und ob es gut gewesen war. Lesungen wären in Bad Münstereifel nicht gerade an der Tagesordnung, schön, wenn so ein wenig kulturelles Leben in die Stadt käme. Ein bisschen würden sie auch dazu beisteuern, meinte er, und deutete auf ein A3-Plakat mit einer Eifeler Mundartband, die in sechs Wochen hier spielt. Mona nickte anerkennend, interessierte sich aber wenig für die Gruppe mit dem komischen Namen.

In der Zeitung, nahm er den Faden wieder auf, sei Monas Veranstaltung übrigens angekündigt worden. Er hatte ein gutes Gespür für seine Gäste, das gefiel ihr. Er schien auch auf alles eine Antwort zu haben. Die hatte er wenig später allerdings in Form von großen runden Augen, als sie ihm ihren Namen und den Titel des neuen Buches nannte: Passwort Hurensohn. So viel zum kulturellen Leben! Mathes wurde zum Tresen gerufen, weil die junge Bedienung, vielleicht eine Aushilfe, mit einem Cocktail nicht zurechtkam. Im Weggehen wiederholte er, jede Silbe betonend, ihren Namen: »Mo-na-de-la-Ma-re.« Sie hörte ihn »Ach, du leefer Jot!« murmeln; unklar, ob die Bemerkung noch ihr galt oder schon einem möglichen Durcheinander hinter der Theke. Bestimmt überlegte er beim Mixen, wie solch ein provozierender Buchtitel zu ihrem sanften, unschuldigen Kindergesicht, dominiert von der Stupsnase, passen könnte. Das fragten sich nämlich viele. Die zweiunddreißig, die sie vor wenigen Tagen geworden war, sah ihr keiner an. Es war noch keine acht Jahre her, als man sie in einem Restaurant vor der Bestellung gefragt hatte, ob sie schon einen Ouzo haben dürfte. Was zunächst wie ein Kompliment geklungen hatte, meinte der verunsicherte Kellner durchaus ernst. Sie orderte sofort einen zweiten hinterher, bedankte sich mit dem griechischen Efcharisto, das sie auf der Papierserviette entdeckt hatte, und beachtete ihn nicht weiter. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie sich über die dumme Frage ärgern oder freuen sollte. Am folgenden Tag hatte sie es lustig gefunden.

Eine letzte Mitteilung für heute, damit sollte es dann gut sein: Happy End? Ihr Lieben, ein kleines E-Book noch und ich kann mich über einen neuen Verkaufsrekord freuen. Mag mich jemand unterstützen? Als Mona den Laptop in die schwarze Ledertasche steckte, war die Anspannung des Abends restlos gewichen. Und plötzlich war auch der gesuchte Name wieder da: Luitgard. Sie notierte ihn sich auf dem quadratischen Bierdeckel. Man weiß nie. Irgendwann würde sie einen historischen Roman schreiben. Aussichtslose leidenschaftliche Liebe mit verdorbener Erotik im brutalen Mittelalter, so etwas lässt sich immer verkaufen.

2

Mona hatte den Mantel schon angezogen, als von der Theke her eine Frau mit einer bunten Plastiktüte unterm Arm zu ihr kam. Sie sagte, ihr habe die Lesung gefallen, sehr gut sogar, und fragte die Autorin, ob sie ihr Buch hier noch signieren würde. Mona folgte der Frau zum Tresen und kramte dabei in ihrer Umhängetasche nach einem Kugelschreiber. Zunächst tastete sie mehrmals ins Leere, dann hatte sie gleich zwei erwischt.

»Tolle Tasche.«

»Eine von vielen, muss ich gestehen. Dafür habe ich keinen Schuhtick – ist ja auch was!«

»Bei mir ist es genau umgekehrt – Schuhe ohne Ende! Schreiben Sie bitte: für Claudia.« Mona schrieb mehrere Zeilen ins Buch. Sie spürte, dass einige Gäste sie dabei beobachteten – ein angenehmes Gefühl. Die letzte Lesung, erzählte Claudia unterdessen, hätte sie vor Jahren in Köln besucht, inzwischen würde ihr meistens die Zeit für so etwas fehlen. Heute habe es sich ergeben, eine spontane Idee sei es gewesen. Eine nette Abwechslung nach dem Karnevalstrubel und dem Alkohol der letzten Tage. Sie blickte auf ihr Bierglas in der Hand und machte ein verlegenes Gesicht. Mona nickte und erkundigte sich bei Claudia, ob sie sich denn noch an die Lesung von damals erinnern könnte.

»Dass es ziemlich voll war, weiß ich noch. Und es war ein bekannter Autor, aber es ist lange her. Vielleicht, wenn ich ein Foto sehen würde … Es könnte Fitzek gewesen sein oder der Schätzing.«

»Ich erinnere mich an viele Dinge auch nicht mehr. Ein bisschen Alzheimer steckt wohl in jedem von uns. Und jetzt wohnen Sie hier in der Stadt?«

Claudia warf einen raschen Blick auf ihr Smartphone und verstaute es in der vorderen Tasche ihrer dunklen Stonewashed-Jeans. »Seit einigen Jahren schon, vor Kurzem bin ich noch einmal umgezogen. Ich wohne nun etwas oberhalb der Stadtmauer, fast fürs gleiche Geld.«

»Ist bestimmt nicht das Schlechteste.«

»Was?«, fragte Claudia. Das Weiß ihrer Augen sah entzündet aus.

»Na, hier zu wohnen. Zumindest wenn man es etwas ruhiger haben will.«

»Da ist was dran! Wenn du das nächste Mal hier bist, komme ich wieder zu deiner Lesung. Trinkst du noch ein Bier mit mir?«

»Warum nicht?«

Claudia drehte sich um. »Mathes, machst du uns noch zwei Kölsch?«

Zwanzig Minuten später verabschiedete sich Mona von ihr und den anderen Gästen, die zwischendurch immer ein Auge auf sie geworfen hatten. Sollten sie ruhig – die Frage nach einem Buch wäre ihr natürlich lieber gewesen. Draußen war es noch kälter geworden. Sie ging wenige Meter in Richtung ihres Hotels, der Wolfsschlucht. Aus deren Restaurant drangen gedämpfte Geräusche auf die Straße. Zwei Gäste standen ohne Jacke vor der Eingangstür. Sie redeten nicht miteinander, hatten ihre Pilsgläser in der Hand und rauchten. Beide machten auf Mona einen gelangweilten Eindruck, womöglich waren sie auch nur müde. Davon konnte bei ihr keine Rede sein, sie wollte sich noch etwas bewegen und den Abend irgendwo mit einem Absacker beschließen. Etwas Heißes wäre nicht schlecht, zur Not würde ein einfacher Glühwein reichen. Die andere Buchhandlung Bad Münstereifels wirkte mit ihren vielen Fenstern im Vorbeigehen geradezu friedlich. Am späten Nachmittag hatte Mona sie betreten und sich gewundert, dass der Verkäufer von ihrer Lesung nichts gewusst hatte. Seine blonden Haare standen ab, als hätte er in der Mittagspause versehentlich in die Steckdose gegriffen. Nach kurzem Nachdenken hatte er ihr schräg gegenüber den richtigen Laden gezeigt und das Missverständnis beendet. Etwa drei Dutzend Flyer und Lesezeichen hatte sie noch bei ihm auslegen dürfen. Jetzt sah sie ihr Werbematerial gut platziert auf einem Beistelltisch liegen. Es sollte sie wundern, wenn das zu keiner Bestellung führte. In einigen Jahren würden ihre Neuerscheinungen ohnehin in den Fenstern aller Buchhandlungen ausgestellt sein. Unter Umständen klappte es schon bei ihrem nächsten Buch, dem Fratzenseher, mit dem sie zuletzt so zügig vorangekommen war. Im Grunde war sie mit dem Manuskript fertig, demnächst würde sie es noch einmal lesen und korrigieren. Den Schluss bekam sie bestimmt noch überzeugender hin, aber sie spürte schon jetzt, dass sie sich diesmal selbst übertroffen hatte und fieberte der Veröffentlichung voller Vorfreude entgegen. Der Fratzenseher, sie wird das Buch so nennen. Das ziehst du jetzt durch, schwor sie sich.

In ein paar Jahren gäbe es auch keinen Clinch mehr mit solch vernebelten Gestalten wie ihrem Ex, dieser Vollkatastrophe. Sie hatte ihm unglaubliche zweihundert Euro dafür zahlen müssen, dass sie eines seiner Fotos als Buchcover verwenden durfte. Der scheinheilige Schleimer sprach von einem Freundschaftspreis, das klang gerade so, als hätte sich je einer für seine Bilder interessiert. Was hatte sie bloß damals an diesem ewig abgebrannten Typen gefunden, der ihr zeigen wollte, wie Leben geht?Wie man den Groove des pulsierenden Lebens spürt! Der blöde Waldapotheker war nicht cool, der hatte auch nichts Spirituelles an sich, wie er gerne tat – der Bursche hatte einfach nur sein Leben verpfuscht. Das reinste Sanierungsprojekt! Eine Kopie, von all den Losern, die sie schon gehabt hatte. So sah es aus. Wie hatte dieser Trottel überhaupt das Abitur geschafft?

Wäre es nicht so eilig gewesen mit dem Cover, hätte sie sich nie mit ihm verabredet und auf den Deal eingelassen. Einen Hingucker, einen Eyecatcher hatte er versprochen – lächerlich, im Gegensatz zum Inhalt war der Buchumschlag bestenfalls Mittelmaß. Sie hätte wissen müssen, dass man mit ihm besser keine Geschäfte machte. Und als Dank wollte dieser verlogene kleine Mistkerl nun erneut Kohle sehen – für die angeblich unerlaubte Verwendung seines Fotos zu Werbezwecken im Internet und in Print-Medien. Als könnte man für ein Buch werben, ohne das Cover zu zeigen! Wie erbärmlich, am Ende müsste sie sich wieder an ihren coolen Anwalt wenden. Aber vielleicht hatte er inzwischen in einem seiner wenigen, nicht zugekifften Augenblicke ihren Hinweis auf die Pflanzen in seinem Garten verstanden, die der Idiot ihr damals sogar detailliert erklärt hatte. Drohst du mir, droh ich dir! So einfach war das! Zahlen würde sie jedenfalls nicht, niemals, auch wenn ihr das nicht schwerfallen würde. Eher würde sie ihm die verdammte Hütte anzünden! Peinlich genug, dass sie so einen so lange an sich herangelassen hatte. Wenn sie daran dachte, musste sie würgen. Die Trennung vor über einem Jahr war so was von überfällig gewesen. Nicht zu verstehen, was es da zu überlegen gegeben hatte. Monas Vokabular reichte mittlerweile nicht mehr aus, um ihren Ekel und Hass auszudrücken.

Da war die Sache mit ihrem Bruder geradezu harmlos. Irgendetwas sagte ihr schon die ganze Zeit, dass sie ihm verzeihen und es dabei belassen sollte. Er hatte den Fehler eingesehen und sich mehr als großzügig gezeigt. Der Reiz, ihn weiter auszunehmen, bestand eigentlich nur darin, sich an seiner bescheuerten Alten zu rächen. Warum musste sich Frank damals ausgerechnet in dieses arrogante Miststück vergucken?

Wenige Meter vor Mona begann eine Getränkedose im Wind zu rollen. Ein Sommerurlaub würde sie auf andere Gedanken bringen, würde sie inspirieren. Mallorca, eventuell sollte sie doch nicht darauf verzichten. Mona de la Mare auf den Spuren von George Sand! Jens hatte ihr bei einem der letzten Frühen Dialoge erzählt, dass der berühmten Autorin in jungen Jahren viele Affären nachgesagt wurden. Mit Chopin hatte sie es immerhin neun Jahre ausgehalten. Die Frau muss einen starken eigenen Willen gehabt haben, so wie Mona ihn auch hatte oder haben würde. Nur waren die Zeiten damals schwieriger gewesen, das musste sie zugeben. Ohne etwas von ihr gelesen zu haben, war ihr George Sand sofort sympathischgewesen.

Trotz des wieder stärker gewordenen Windes hörte sie das Plätschern des mickrigen Flusses, der sich durch den Ort schlängelte. Wieder fiel ihr ein Name nicht ein, aber bei diesem Flüsschen war das wohl egal.

3

Die Blutung unterm Fuß beruhigte sich, nachdem Andy Mücke den Verband ein weiteres Mal gewechselt hatte. Mit dem Besen kehrte er die tausend Teile der zerbrochenen Apfelsaftflasche zusammen. Beim Putzen musste er nachher höllisch darauf achten, dass alle Splitter aufgewischt würden. Es wäre schlimm, wenn Julian sich am Wochenende daran verletzen würde. Im Radio liefen schon die Verkehrsnachrichten, als das Telefon klingelte. Der Wetterbericht hatte zuvor Schneeregen für den Abend prophezeit. Bereits die ersten Märztage waren eine Zumutung gewesen, allmählich reichte es.

»Spreche ich mit Herrn Mücke?«, fragte die unbekannte Stimme.

»Sie haben doch meine Nummer gewählt.«

»Aber Sie haben sich nur mit Hallo gemeldet.«

»Ach so, Entschuldigung! Sie reden mit Andreas Mücke. Und mit wem spreche ich?«

»Da wusste ich schließlich nicht, mit wem ich rede«, verteidigte sich der Mann am anderen Ende der Leitung.

»Das haben wir ja jetzt geklärt.«

»Das stimmt, Herr Mücke.«

»Und was kann ich für Sie tun, Herr …?«

»Töpfer, Herbert Töpfer. Wir brauchen Ihre Hilfe wegen des Mordes in Bad Münstereifel vor zwei Wochen. Sie haben das gewiss mitbekommen.«

»Oh ja, es stand groß in der Presse, und das nicht nur hier bei uns. Eine schreckliche Geschichte.«

»Sie sagen es: eine schreckliche Sache. Es ist so, dass mein Sohn von der Polizei verdächtigt wird. Aber das ist absurd.«

»Ihr Sohn?« Mückes Blick wanderte über die bunte Figurensammlung aus Ü-Eiern auf der Fensterbank. Ein Kung-Fu-Panda war dazu gekommen, das konnte nur Anna gewesen sein.

»Ja, mein Sohn Frank.«

»Wie sieht’s denn mit einem Alibi aus? Hat er eins?«

»Vielleicht, nicht direkt.«

»Also kein Alibi. Und jetzt suchen Sie einen Detektiv, der die Sache aufklären soll?« Die tiefe Schnittwunde schmerzte, aber das war kein Grund, auf die etwas verunsicherte Stimme so gereizt zu reagieren. Mücke riss sich zusammen, zumal er merkte, dass ihn die Geschichte zu interessieren begann.

»Ist das so ungewöhnlich?«

»Nein, natürlich nicht. Hat Ihr Sohn einen Rechtsanwalt, Herr Töpfer?«

»Sie wohnen doch in der Stadt. Ich möchte nichts unversucht lassen.« Ein weiteres Mal hatte Töpfer die an ihn gerichtete Frage ignoriert.

Andy Mücke ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. Mit der Fernbedienung schaltete er das Radio leiser und kurz darauf ganz aus. Er fragte Herrn Töpfer nach den Vorwürfen und seiner Sichtweise. Mit dem Unterarm verschaffte er sich gleichzeitig Platz auf dem Schreibtisch, zog den karierten Block heran und machte sich Notizen. Ein stichfestes Alibi hatte der Sohn, Frank Töpfer, nicht. Dass er den Abend in der angemieteten Scheune verbracht hatte, um einen alten VW oder was auch immer zu restaurieren, konnte niemand bezeugen. Brennendes Licht und Schleifgeräusche reichten nicht aus. Es sah schwer danach aus, als hätte Mücke die erste größere berufliche Herausforderung vor sich. Er sagte dem Doktor – wie er inzwischen erfahren hatte – zu. Eine reine Bauchentscheidung! Und möglicherweise ein weiterer Schritt nach vorn.

Nach seiner zweiten Scheidung hatte sich Mücke vor Monaten als Detektiv selbstständig gemacht, nachdem er in der Druckerei seines ehemaligen Schwiegervaters nicht hatte bleiben wollen. Daran änderten auch Ralfs bis zuletzt weichmachen wollenden Umstimmungsversuche nichts. Mücke brauchte saubere Verhältnisse, selbst wenn er scheitern sollte. Im neuen Job hatte er keine Berufserfahrung, aber immerhin die erforderlichen Kenntnisse über mehrere Monate durch einen kostspieligen Intensivkurs erworben. Er war jetzt geprüfter Privatermittler mit einem IHK-Zertifikat; dennoch blieb es eine mutige Entscheidung.

Zu seiner Erleichterung kam er finanziell einigermaßen über die Runden. Natürlich verdiente er mit dem Aufdecken von Lohnfortzahlungsbetrügern oder der Beschattung von untreuen Ehemännern keine Unsummen, aber letztlich reichte es schon zum Leben. Mit der Zeit konnte es eigentlich nur besser werden. Dass gerade er nun Licht in einen Mordfall bringen sollte, schmeichelte Mücke. Auf so einen Auftrag hatte er gewartet, der würde ihm einiges abverlangen. Wie und warum Dr. Töpfer auf ihn gekommen war, würde er später erfahren. Wahrscheinlich war es Zufall. Es traf sich gut, dass die aktuellen Observationen abgeschlossen und nur noch ein Bericht sowie zwei Rechnungen zu schreiben waren. Übermorgen würde er zu Töpfer nach Grevenbroich fahren, dann ließe sich in Ruhe über alles reden. Am Telefon war Dr. Töpfer aufgeregt gewesen, man könnte ohne Übertreibung sagen, etwas neben der Spur. Vor allem der Zusammenhang von angeblich harmlosen Fotos und der Erpressung erschien ihm schleierhaft. Bis Freitag wollte Mücke sich alle Zeitungsartikel und sonst verfügbaren Informationen zum Mord an der jungen Frau besorgen. Erst jetzt fiel ihm ein, vor einer Woche gelesen zu haben, dass der Bruder der Getöteten unter Verdacht stand. Hatte Dr. Töpfer etwa vom gleichen Mann gesprochen? Das bedeutete doch auch, dass er der Vater der Ermordeten war. Oder der Stiefvater? Davon hatte er nichts erwähnt, was bei seiner Zerstreutheit nichts besagt. Aber hieß die Tote nicht ganz anders?

4

Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, Mona de la Mare war ihr Name. Vor Mücke lagen rund zehn Artikel, die er in Zeitungen aus seiner Altpapierkiste gefunden und ausgeschnitten hatte. Im Netz war er auf weitere Berichte gestoßen. Deren Ausdrucke lagen gestapelt neben der Tastatur. Der Mord an der jungen Autorin hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, obwohl sie als Schriftstellerin erst am Anfang ihrer Karriere gestanden hatte und den wenigsten ein Begriff war. Für ein Kölner Boulevardblatt war Mona allerdings der uneingeschränkte Shootingstar unter den Selfpublishern – klar, dass deren Leute wieder mal genau im Bilde waren. Die meisten Artikel wiederholten sich jedoch in Aufmachung und Inhalt. Nach dem fünften Bericht hatte Mücke das Gefühl, alle zu kennen und seine Zeit zu vergeuden. Es kam einfach zu wenig Neues hinzu. Lediglich ein Nachrichtenmagazin erwähnte in einer umrandeten Notiz, dass es sich bei Mona um die Urenkelin des britischen Schriftstellers Walter de la Mare handelt, der mit seinem Tod im Jahre 1956 ein imaginäres Werk hinterlassen habe, das teilweise ins Deutsche übersetzt worden war. Wie die Ermordete habe sich auch der britische Autor erst mit dreißig auf die Schriftstellerei konzentriert. Er sei kein Freund modischer Trends gewesen. Mona de la Mare habe darunter gelitten, hieß es abschließend, weit nach seinem Tod geboren worden zu sein. Sie hätte immer, nicht nur als Autorin, eine kaum zu beschreibende, tiefe Sehnsucht nach ihm verspürt. Irgendwann würde sie an dieser unerfüllten Sehnsucht zerbrechen, hätte sie in Freundeskreisen prophezeit.

Einige Ausschnitte legte Mücke auf den Lederhocker; er würde sie später sortieren und Wichtiges mit einem Textmarker hervorheben. Die anderen Blätter und Schnipsel warf er zu den Zeitungsresten in die Ecke. Zum Wochenende würde er ohnehin aufräumen, wenn Julian kam, sein Sohn aus zweiter Ehe, die seit einem halben Jahr geschieden war. Jetzt musste er erst etwas essen. Zwei Käsebrote und ein bisschen Obst würden reichen, vielleicht noch ein Joghurt und ein Bier dazu. Entgegen dem gängigen Klischee über einsame Detektive war sein Kühlschrank meist gut gefüllt und auch die Drei-Zimmer-Wohnung in der Ashfordstraße drohte nicht zu verwahrlosen. Als Jessica das erste Mal bei ihm war, nannte sie seine Wohnung ein Gedicht. Und damit meinte sie nicht nur die bevorzugte Wohnlage oberhalb Bad Münstereifels, denn sie sprach auch von äußerer Ordnung und innerem Frieden. Das hatte ihn zunächst etwas verwirrt, später fühlte er sich geschmeichelt. Er war nicht der Typ, sich nach einer gescheiterten Ehe erst einmal hängen zu lassen. Das hätte er auch seinen Kindern nicht zumuten wollen. Neben Julian hatte er noch eine Tochter aus der ersten Ehe mit Agnes. Mittlerweile war Anna vierzehn, neun Jahre älter als ihr kleiner Bruder. Sie kam oft zu ihm, aber nicht regelmäßig jedes zweite Wochenende, wie Julian das tat. Anna hatte gerne ihre Freundinnen aus Euskirchen um sich, außerdem sagte sie ganz offen, dass Bad Münstereifel für Jugendliche voll langweilig – oder wie sie es neulich nannte: zum Abkacken – wäre. Anna hatte es inzwischen aufgegeben, ihren Vater zu einem Umzug nach Euskirchen zu bewegen. Andy Mücke wollte das allein wegen seiner beiden Ex-Frauen nicht – er hatte wenig Lust, ihnen ständig zu begegnen. Zwar war die Trennung von Paula für Außenstehende nahezu harmonisch verlaufen. Gemeinheiten hatte es auch bei Agnes nicht gegeben, aber die Distanz von gut vierzehn Kilometern war ihm ganz lieb. Im Übrigen mochte er sein beschauliches Städtchen, wo er bereits zur Schule gegangen war, besonders wenn es ihm abends beim Blick aus dem Fenster erleuchtet zu Füßen lag. Dass man daraus vor Kurzem ein Outlet-Dorf gemacht hatte, hat ihn bis auf die übertriebenen Erwartungen nicht gestört. So gewaltig waren die Veränderungen gar nicht ausgefallen, da der historische Kern innerhalb der Stadtmauer komplett unter Denkmalschutz stand. Jedenfalls hatte die Zeit der leer stehenden Ladenlokale vorerst ihr Ende gefunden. Seitdem wurde Bad Münstereifel neues Leben eingehaucht.

Mücke breitete die beiseite gelegten Blätter und Ausschnitte großflächig vor sich aus. Den PC erlöste er dabei unbeabsichtigt aus dem Ruhemodus, aber das spielte keine Rolle, weil er ihn ohnehin brauchte. Der Zeitungsartikel zu Monas Lesung war ein absoluter Witz. Einige belanglose Zeilen und kein Hinweis auf den Mord, über den auf der Titelseite groß berichtet wurde. Leider wurde kein Foto geschossen, so wiederholten sich überall die gleichen Profilbilder der recht hübschen Autorin. Er markierte trotzdem den Namen des Redakteurs, vielleicht hatte er doch fotografiert oder konnte sich an irgendwas Besonderes erinnern. Andreas Mücke bedauerte, nicht vorher von der Lesung erfahren zu haben. Hätte er die Veranstaltung besucht, gäbe es jetzt bestimmt eine Menge Anhaltspunkte für ihn. Er musste sich eingestehen, dass er zu 99 Prozent sowieso nicht hingegangen wäre. Mücke hatte noch nie eine Lesung besucht, warum hätte er es ausgerechnet bei der unbekannten Mona de la Mare machen sollen? Bis heute hatte er nicht einmal die Leserei betreten, auch in Josef Mütters Buchhandlung war er höchstens drei Mal gewesen. Die wenigen Krimis und Fachbücher, die er sich zulegte, ließen sich bequem im Internet besorgen. Ihm war klar, dass gerade diese Bequemlichkeit dem Einzelhandel das Leben schwer machte. Andy hatte sich oft vorgenommen, sein Kaufverhalten zu ändern. Irgendwann würde das auch klappen, keine Frage.

Bei YouTube war am 20. Februar, gerade zwei Tage nach dem Verbrechen, ein Video der Lokalzeit aus Köln eingestellt worden. Unter anderem war im Innenraum des Café T. gefilmt worden, das Mona am späten Abend noch besucht hatte. Das kannte Mücke bestens, es gab Zeiten, da war er mit Paula mindestens einmal im Monat dort gewesen, obwohl sie ein Haus im rund fünfzehn Kilometer entfernten Großbüllesheim bei Euskirchen bewohnt hatten. Die weibliche Bedienung des Cafés erinnerte sich daran, dass die durchgefrorene Schriftstellerin ein heißes Getränk bestellt hatte. Es trug den Namen Frauenglück, was angesichts ihres nahenden Todes geradezu höhnisch klang. Es muss auch eine kurze, aber laute Auseinandersetzung mit einem älteren Mann gegeben haben. Um die fünfzig sei er gewesen, eventuell älter, so genau hatte sich die Bedienung ihn nicht angeschaut. Soweit sie sich erinnerte, hatte er nichts bestellt und war auch nicht geblieben. Die letzte Tagesabrechnung für diesen Tisch wies tatsächlich nur dieses eine Getränk aus. Von dem Streit wusste Mücke bereits aus den Zeitungen. Die Kripo hatte nach einem Hinweis einen gewissen Jens K. aus Bonn vernommen, ihm aber nichts nachweisen können. Er bestritt, in Bad Münstereifel gewesen zu sein. Mona de la Mare hätte er höchstens zehnmal getroffen, allerdings ausschließlich in Köln. Mücke notierte sich Name und Wohnort. Er würde diesen Jens demnächst ausfindig machen und ihm einen Besuch abstatten. Gegen Ende des Beitrags wurde gezeigt, wo die junge Autorin in den Fluss geworfen worden war, nämlich am Salzmarkt. Die gerade viel Wasser führende Erft spülte Mona noch fünfundvierzig Meter weiter bis zur Flussbiegung am Brauhaus, wo sie sich im Gestrüpp verfing. Von der Fußgängerzone aus war die Leiche unter der Brücke nicht zu sehen gewesen. Sie wurde gegen zehn Uhr vom Personal des Wirtshauses entdeckt, das jeden Tag um diese Zeit öffnet. Mücke wusste, dass man zur Toilette die Treppe hinuntergehen musste. Dort unten war die Erft dann zum Greifen nah.

Das Presseportal der Kreispolizeibehörde Euskirchen hatte für ihn im Netz keine Neuigkeiten parat. Die gängigen Einbruchsdelikte interessierten ihn jetzt nicht. Aber endlich dachte er daran, die Presse-App der Polizei auf sein iPhone zu laden. Das war mehr als überfällig.

Er wechselte zu Facebook und sah, dass Frederik Schmalbauch ihm vor einigen Tagen eine Freundschaftsanfrage geschickt hatte. Frederik war ebenfalls privater Ermittler und maßgeblich an Mückes Entscheidung beteiligt. Als Andy seinen Schulfreund vor anderthalb Jahren in Düsseldorf besucht hatte, zeichnete sich das Ende der Ehe ab. Im Brauhaus Zum Schlüssel hatten sie über seine möglichen beruflichen Alternativen gesprochen. Die Arbeit als Sachbearbeiter in einer Druckerei würde ihm noch immer gefallen, weil sie abwechslungsreich war und man mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun hatte. Im Grunde genau das Richtige für Mücke. Einen vergleichbaren Job im Printgewerbe zu finden, war aber nahezu unmöglich – jedenfalls dann, wenn er in der Nähe seiner Kinder bleiben wollte. Etwas anderes stand nicht zur Diskussion, eher wäre er beim Schwiegervater geblieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er an einen Sprung in die Versicherungsbranche gedacht, das erschien ihm realistisch, wenn auch wenig spannend. Der Job als privater Ermittler war allerdings ebenfalls meist alles andere als aufregend. Stundenlange Observationen erforderten ein hohes Maß an Geduld und Disziplin.

Andreas Mücke klickte das Profil seines Freundes an, um ihm eine Nachricht zu schicken: Hi Frederik, alter Schnüffler, hat FB dich nun doch gekriegt? Komm bloß nicht auf die Idee, unsere Jugendsünden zu posten! Bei mir ist soweit alles okay, auch im Job. Wenn du gerade etwas brauchst, ich hätte einen Auftrag abzugeben. Nichts Besonderes: Einlasskontrolle bei einem Event in Köln. Wäre etwas für drei Tage oder so: 225 pro Tag plus Spesen, wahrscheinlich nichts für dich … Bis demnächst!

Dann suchte er nach Mona de la Mare. Ihre Seite war noch nicht gelöscht worden. Ganz oben hatten einige ihrer 2.432 Freunde ihre Trauer und Fassungslosigkeit ins Profil gepostet. Juli Sternenbraut schrieb: Das ist doch nicht wahr, was wir lesen? Mona schreib sofort, dass das nicht wahr ist! Weiter unten meinte eine andere, die sich Leseratte Magenta nannte: Habe es gerade bei den Buchstabenjunkies erfahren. Vorgestern um diese Zeit hast du dich noch so über die Buchbesprechung gefreut. Wir sind alle unendlich traurig!

In Monas öffentlichen Beiträgen ging es fast nur um ihre Bücher und die Lesereise. Mücke hätte gerne erfahren, was sie nur ihren Facebook-Freunden mitgeteilt hatte, aber dazu war es jetzt wohl zu spät. Das vermutlich letzte Foto von ihr zeigte sie am Fenster der Münstereifeler Buchhandlung. Es befanden sich viele Kommentare unter ihrem Beitrag, einige ergänzende auch von Mona. Den Link zu einer Rezension hatte sie in mehrere Gruppen geteilt. Im Beitrag darunter hatte sie den Tisch im Bistro beschrieben, an dem sie hungrig wie ein Zirkuspferd auf den Salat wartete und fragte, ob denn niemand ihrer Freunde in der Nähe wäre. Davor hatte sie sich über den Fuzzi vom Käseblatt beklagt, der nur blöde Fragen gestellt und wie abgestandene Milch gestunken habe. Weiter unten stand, dass der Buchhändlerin Monas Bücher ausgegangen waren. Ärgerlich, überall die gleiche übertriebene Vorsicht.

Am Tag vor dem Unglück war Mona in Koblenz gewesen. Sex in my mouth!, sie hatte einige Fotos von der Lesung und ihrer wohlverdienten Pizza am Abend gepostet. Einer hatte darunter geschrieben, dass es in Deutschland gar keine richtigen Pizzen gäbe. In Italien würden sie auf riesigen Blechen gebacken, in viereckige Stücke geschnitten und ganz klassisch nach Gewicht berechnet. Damit hatte der Schreiber eine regelrechte Pizza-Diskussion entfacht – die folgenden Beiträge drehten sich um nichts anderes. Mücke schüttelte den Kopf; solche kleinkarierten Typen gingen ihm gehörig auf den Geist.

Als er sich weiter durch ältere Beiträge scrollte, traf eine Nachricht von Frederik ein: Hallo Freund Anfänger, weißt du, dass du uns die Preise versaust? So wird das nichts! Oder wolltest du mir bloß die Hälfte geben, dann wär’s in Ordnung! Also, mein Lieber, nicht so zaghaft, unter vierhundert am Tag läuft nichts! F.

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Nur sechzig Minuten hatte Mücke bis zur Parkstraße in Grevenbroich benötigt, die A 1 und A 61 hatten eine zügige Fahrweise zugelassen. Jetzt stand er vor dem Haus von Dr. Töpfer und checkte noch die SMS, die alle kurz hintereinander am Bliesheimer Kreuz eingetroffen waren. Anna hatte eine Zwei plus in Biologie geschrieben, das Thema wäre spannend gewesen: Die Reise des Blutes im menschlichen Körper. In einer zweiten SMS teilte sie mit, dass sie am geplanten Wochenende keine Zeit hätte. Aber in der übernächsten Woche würde sie mit ihm nach Köln fahren wollen. Allerdings ins Sport- und Olympiamuseum – nicht ins Schokoladenmuseum, das wäre ziemlich out. Sollte Julian da sein, könnte er mit ihm ruhig ins Schokohaus gehen. Die Gebäude lägen nebeneinander und Stress mit dem Kleinen müsse ihretwegen nicht sein.

Geht doch, dachte Mücke. Er hatte Anna letztens darum gebeten, auf die vielen Abkürzungen in ihren Mitteilungen zu verzichten, da er keine Lust zu ewigen Rätselspielchen hätte. Die würde außer ihm jeder verstehen, erwiderte sie schnippisch. Natürlich, was sollte BDF