Die dünne Frau - Dorothy Cannell - E-Book

Die dünne Frau E-Book

Dorothy Cannell

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Beschreibung

Ellie Simons ist Innenarchitektin, voller Selbstzweifel, humorvoll und übergewichtig. Um nicht allein zum Familientreffen zu müssen, mietet sie Mr. Bentley Haskell als männlichen Begleiter … Die dünne Frau ist ein süffi ger, spannender und witziger Roman über Tagträume und Gewichts probleme. Er wird besonders Leserinnen erfreuen, die die Anziehungskraft einer Schachtel Pralinen kennen.

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Ähnliche


Dorothy Cannell

Die dünne Frau

Deutsch von Heidi Zerning

Ariadne Krimi 1016

Argument Verlag

Seit es Krimis gibt, haben Frauen Krimis geschrieben. Trotzdem ermittelten früher meist harte Kerle und distinguierte Herren, Frauen hingegen waren Opfer oder wurden gerettet. Ende der 1980er Jahre entstand die Ariadne-Krimireihe, als feministische Autorinnen ins Genre drängten, und inzwischen bevölkern zahllose weibliche Hauptfiguren die Krimiwelt in Buch und Film. Themen wie Kinder, Essen, Tagträume und Sehnsüchte sind nicht mehr ausgeklammert. Der Krimi ist keine reine Männerwelt mehr, er hat vielfältigere Facetten bekommen.

Bei Ariadne erscheinen heutzutage vor allem sehr politische Krimis und Noirs von Frauen, die das Genre nutzen, um Widersprüche und Missstände unserer Gesellschaft offenzulegen. Die dünne Frau hatte diesen Anspruch noch nicht: Auch wenn der Titel deutlich auf Hammett anspielt, ist es eher eine romantische Komödie mit Schauerroman-Elementen. Betont verspielt unterläuft Dorothy Cannell die althergebrachten Genre-Konventionen, wobei ihr scheinbar harmloser Humor durchaus subversive Ecken und Schnörkel hat. Das erstmals 1991 erschienene Buch wurde in der wundervollen Übersetzung von Heidi Zerning flugs zum Bestseller. So hat die verschmitzte, zutiefst für Frauen eingenommene Kriminalburleske Hunderttausende von Leserinnen beglückt und tut das noch heute, in der mittlerweile sechzehnten Auflage. Darum halten wir es lieferbar.

Else Laudan

Dorothy Cannell wurde 1943 in Nottingham (England) geboren. 1963 wanderte sie in die USA aus und lebt bis heute in Peoria, Illinois (USA). Sie scheut das Rampenlicht, aber ihre zahlreichen Familienmitglieder und Freunde fallen oft zum Teetrinken und Katzenstreicheln bei ihr ein. Längst ist sie Großmutter, doch ihre Krimis schreibt sie weiterhin in der Besenkammer neben dem Katzenklo.

Inhalt

Cover

Titel

Zum Buch

Zur Autorin

Impressum

1

2

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4

5

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7

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9

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Epilog

Weitere Bücher

Ariadne Kriminalromane

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Neuausgabe 2009

Alle Rechte vorbehalten

Titel der englischen Originalausgabe: The Thin Woman

© 1984 by Dorothy Cannell

© Argument Verlag 1991

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann,

www.herstellungsbuero-hamburg.de

Satz: Iris Konopik

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

ISBN 978-3-86754-992-9

Sechzehnte Auflage 2016

1

Nette Menschen in aller Welt wissen, dass Familientreffen Anlässe harmlosen Vergnügens sind und mehr rechtschaffenes Behagen spenden als Wäscheschränke voll lavendelduftender Betttücher oder Speisekammern voll selbstgemachtem Brombeergelee. Darum hoffe ich, die Nachwelt wird mich nicht verurteilen, wenn ich gestehe, die Einladung in Merlins Schloss hatte auf mich die gleiche Wirkung wie eine amtliche Aufforderung, mich zu meiner Hinrichtung einzufinden. Der liebenswürdig formulierte Brief auf dünnem veilchenfarbenem Papier lud mich zu einem Sippentag auf den Stammsitz eines betagten Onkels. Mir wurde mit Schrecken bewusst, dass ich mein schändliches Geheimnis vor der Verwandtschaft, die ich in den letzten Jahren so sorgfältig gemieden hatte, nicht länger verbergen konnte. Die Werbung belegt solche wie mich mit dem beschwichtigenden Attribut »vollschlank«. Aber machen wir uns nichts vor. Ein einfaches Wort mit vier Buchstaben sagt alles.

Gab es irgendeine Verschleierungstaktik? Nicht in Form neuer Garderobe (mein Vertrauen in Kleidungsstücke war dahin), sondern allenfalls in Gestalt eines breitschultrigen Mannes an meiner Seite. Zum Beispiel ein gutaussehender, liebevoller Ehemann sowie eine Schar entzückender, goldblonder Kinder, die stets mit geschlossenem Mund kauen und in Gegenwart Fremder nie unanständige Wörter benutzen. Mit deren Unterstützung konnte ich vielleicht dem Blick meiner deprimierend hübschen Cousine Vanessa standhalten. Ach, alles Tagträume! Ich war natürlich alleinstehend und würde es – es sei denn, Zeus stiege plötzlich vom Olymp herab und machte mir einen Heiratsantrag – aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben.

Das Wetter an diesem Abend entsprach meiner Laune. Es war nasskalt und stürmisch, typisch für Ende Januar in London. Ich kam mit einem Gesicht so rau wie ein Reibeisen von der Arbeit und fand den Brief auf der Fußmatte. Meine Wohnung lag im obersten Stockwerk eines düsteren viktorianischen Hauses. Es wurde von einer geisterhaften Hauswirtin verwaltet, die immer, wenn die Wasserhähne tropften, unauffindbar war, bei Fälligwerden der Miete jedoch plötzlich Gestalt annahm.

Nachdem ich meinen Mantel an den Haken neben der Wohnungstür gehängt und den Regenschirm so drapiert hatte, dass er meine Geranien bewässern konnte, strebte ich der Küche zu und tat, was ich in Zeiten der Heimsuchung immer tue – ich öffnete die Kühlschranktür. Diesmal war ich versucht, hineinzukriechen und die zudringliche Welt einfach auszusperren. Doch das hätte keins meiner Probleme gelöst. Das Ergebnis wäre eine Neuauflage vom Besuch Puh des Bären bei dem Kaninchen gewesen, der nach Verzehr eines üppigen Mahles bekanntlich in der Tür stecken blieb und eine Woche lang ausgehungert werden musste, in welcher Zeit das praktische Kaninchen seine Beine als Handtuchhalter benutzte. Meine Beine sollte niemand als Handtuchhalter benutzen! Also tat ich etwas anderes Tröstendes und sehr Puh-Bärenhaftes. Ich häufte Baguettebrot und sechs Liebesknochen auf einen Teller, klemmte mir Mrs.Biddles Beste Erdbeermarmelade unter einen Arm und schnappte mir die Butterdose. Dann packte ich meine Beute auf den gescheuerten Holztisch neben die Morgenzeitung mit den Kaffeeflecken und das vom Kater umgestoßene Usambaraveilchen, steckte eine Kerze in eine Colaflasche und entzündete sie mit Schwung. Ich verdrückte zwei Liebesknochen und vier Scheiben krosses Brot dick mit köstlicher gelber Butter bestrichen. So gestärkt las ich noch einmal die Einladung in Merlins Schloss – mein Spitzname für den Wohnsitz meines verknöcherten Oheims. Der richtige Name war irgendwas Banales wie Fliederheim oder Villa Immergrün, was zur Verschrobenheit des Hauses überhaupt nicht passte.

Der Brief war natürlich nicht vom hohen Herrn selber zu Papier gebracht worden. Solche Aufmerksamkeit hätte mir ja ein übertriebenes Gefühl von Wichtigkeit geben können. Tante Sybil, die bei dem alten Schatz lebte und jede seiner Schrullen vergötterte, hatte das Schreiben in ihrer wunderlichen viktorianischen Handschrift verfasst, mit hauchfeinen Schleifen und Schnörkeln wie gesenkte Wimpern. Ich hatte Angst, auf das Papier zu atmen, damit die Schrift nicht verschwand. Das gesellige Wochenende sollte am Freitagabend, dem dreizehnten Februar, beginnen und am Sonntag nach dem Vier-Uhr-Tee zu seinem (zweifellos unverzüglichen) Schluss kommen. Eine Ablehnung dieser noblen Einladung wurde offenbar für undenkbar gehalten. Falls ich in Herrenbegleitung käme, war ich gebeten, Tante Sybil zu verständigen, damit ein getrenntes Schlafzimmer vorbereitet werden konnte.

Herrenbegleitung – was für ein reizendes Wort! Da denkt man an Strandpromenaden, an Zylinder und wirbelnde Spazierstöcke und an herrliche junge Männer mit schlimmen Hintergedanken. Die letzte Herrenbegleitung, die mir zuteil wurde, war ein Krankenpfleger, der mich an jenem Abend, als ich mir auf der Jagd nach einem Taxi den Fuß verstaucht hatte, in die Ambulanz rollte. »Iss noch einen Liebesknochen, Ellie!« – »Habe nichts dagegen.« Dicke gelbe Creme troff mir von den Fingern. Ich wischte einen Klecks von der Zeitung, und da stand es in großen fetten schwarzen Lettern, extra für mich:

KULTIVIERTE HERREN- UND DAMENBEGLEITUNG

Höchst seriöses Institut. Nie mehr allein ausgehen!

Wenn sonst niemand kann, rufen Sie uns an.

»Und du wirst ermordet«, sagte ein feines Stimmchen in meinem Ohr.

»Weswegen?«, sagte ein anderes feines Stimmchen. »Du hast kein Geld. Du bist keine Schönheit.«

Ich verputzte den letzten Liebesknochen, was sehr bedauerlich war. Wie viel würde es kosten, einen Mann übers Wochenende zu mieten? Zweifellos einen Batzen. Aber ich hatte Mutters Geld. Ich kaufte mir selten etwas zum Anziehen oder Sachen für die Wohnung. Als Innenarchitektin zog ich meinen Lustgewinn daraus, anderer Leute Häuser zu möblieren. Wählerisch zu sein war mein Beruf. Diese Fertigkeit konnte ich jetzt darauf verwenden, einen Mann auszusuchen, einen, der jede Saloneinrichtung schmückend ergänzte. Hochgewachsen sollte er sein und elegant, mit fein geschnittenen Zügen und einem Paar dunkler, sardonisch geschwungener Augenbrauen. Ich war solchen Exemplaren schon oft begegnet: zwischen den Seiten höfischer Liebesromane; sie hatten so artige Namen wie Julian St. Trope oder Eduard Van Heckler und galten als perfektes Accessoire junger Damen, die einen guten Eindruck machen wollten.

»Blöde Gans.« Ich zerknüllte die Zeitung und räumte den leeren Teller ab. »Du würdest an jemand namens Fred Potts geraten, der ohne Steuerkarte an der Haustür Bohnerwachs verkauft.« Wie aufs Stichwort klingelte es. Es war mein Mitbewohner Tobias Katertier. Ein ausgesprochen spießiger Kater, der sich weigerte, die Feuerleiter zu benutzen und durchs Fenster zu kommen. Er pflegte auf dem Tischchen im Flur vor meiner Wohnung zu thronen und so lange auf die Klingel zu stupsen, bis bei mir der Groschen fiel und ich aufmachte.

Tobias war nicht allein. Meine Nachbarin von unten, Jill, kam hinter ihm herein, was ihm nicht passte. Tobias mag keinen Besuch. Seine finstere Miene sagte: »Schmeiß die Hexe raus.« Er schnupperte angewidert an seinem Fressnapf und stolzierte davon, um in meinem winzigen Wohnzimmer seine Krallen am Sofa zu schärfen. Die arme Jill sah wirklich ein bisschen hexenhaft aus. Sie hatte ihr kurzes Stoppelhaar einmal zu oft gefärbt (sie benutzt die Alle-zwei-Tage-Sorte), und es war jetzt schmutzig grün, was sich mit ihren Augenbrauen biss.

Ich habe versucht, Jill zu hassen, weil sie winzig ist mit einem großen W (eins achtundvierzig), weniger wiegt als ich bei meiner Geburt, immer ihren nicht vorhandenen Bauch einzieht und ständig davon redet, dass sie unbedingt abnehmen muss. Aber sie ist auch nett mit einem großen N.

Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen, schleuderte ihre Zwergschühchen von den Füßen, stellte eine Flasche Pflaumenwein auf den Tisch, streckte ihre mageren Ärmchen über den Kopf und sagte, sie sei total erschöpft. Was mich nicht wunderte. Sie bringt Frauen, die Angst haben, abends alleine vor die Tür zu gehen, Selbstverteidigung bei und hat einen Judohieb drauf, der Mr.Universum krachend durch drei Stockwerke befördert hätte und wieder zurück.

»Puuh! Was für ein Wetter. Und dieser Wind! Ich bin praktisch nach Hause geflogen. Zeit zum Aufwärmen. Hol zwei Becher, Ellie-Schatz, und wir kriegen beide einen Schuss von dem Pflaumen-Gaumen-Traum.«

»Macht’s dir was aus, alleine zu trinken?« Ich holte ein Glas aus dem Geschirrschrank, auf dem Ein Geschenk aus Blackpool stand. »Ich möchte nämlich nicht, dass meine Liebesknochen gerinnen.«

»Was ist los? Du siehst sowieso schon sauer aus.« Jill füllte ihr Glas und sah mich durchdringend an. Sie bildet sich ein, Amateurpsychiaterin zu sein, und hat sich in den letzten drei Jahren durch meine Neurosen gearbeitet. Bis jetzt hat sie mir Gruppentherapie verordnet, Meditation, Knüpfarbeiten, Yoga und eine Brieffreundschaft mit einem Guru.

Ich gab ihr die Einladung und genehmigte mir eine doppelte Dosis Andrews Lebertinktur.

»Na und? Hört sich zwar nicht an wie die aufregendste Fete des Jahres, aber immerhin ein Wochenende am Meer. Langweilig, aber harmlos.«

»Du kennst meine Tante Astrid nicht oder ihre teure Tochter, die betörende Vanessa, von klein auf zum Männermagneten herangezogen – keine Spur von Hirn, aber wer merkt das schon?«

»Miau!« Jill fuhr mit dem Finger auf dem Rand ihres Glases entlang und goss sich noch einen Schluck ein.

Tobias steckte ein Ohr um die Ecke, kam zu dem Schluss, dass er nicht gemeint war und zog sich wieder zurück.

»Bosheit ist eine der wenigen Freuden in meinem Leben. Ich rauche nicht, ich trinke kaum, und ich habe keine losen Affären mit Männern, die lediglich nach meinem Körper lechzen.«

»Wenn du nicht für sechs futtern würdest, gäb’s noch Hoffnung. Hör auf, dir leidzutun. Ich kann nur immer wieder sagen, wenn du mitmachst, mache ich eine Abmagerungskur. Zusammen packen wir’s. Frühmorgens zur U-Bahn joggen und zurück, während der Arbeit Gymnastik und pro Tag drei klitzekleine Mahlzeiten – ohne Schummeln!«

»Vielen Dank, Jill, aber die Nummer mit Tomaten, Essig und altbackenem Kuchen halte ich nicht noch mal durch. Außerdem ist eh schon alles zu spät. Die Galaveranstaltung ist nur noch drei Wochen hin. Und schlag bloß nicht vor, ich soll die Einladung ablehnen. Die wissen doch alle, warum ich nicht wage, mich zu zeigen.«

»Obwohl sie dich seit über zwei Jahren nicht gesehen haben? Damals warst du noch nicht so massig wie heute.«

»Nein, aber rundlich war ich immer. Schon als Teenager hat mir Tante Astrid prophezeit, ich kriegte mal den gleichen Umfang wie die Kuppel der Paulskathedrale. Und dass ich Briefe und Weihnachtskarten nicht mehr beantwortet habe, wird sie in ihrem schlimmsten Verdacht bestärkt haben.«

»Hast du mir nicht erzählt, dein Onkel Merlin lebt völlig zurückgezogen und hat dich seit deiner Kindheit nicht mehr gesehen? Woher plötzlich die Sehnsucht nach der lieben Familie?«

»Weiß der Himmel. Vielleicht ist der alte Knabe dabei, den Löffel abzugeben, obwohl, als Letztes hörte ich, dass er damit gedroht hat, hundert zu werden. Du kennst die Sorte – seit fünfzig Jahren nie beim Arzt und nie erkältet. Aber Onkel Merlin ist nicht mein Problem; er interessiert sich nicht für Frauen. Der kann auf seinen Mottenkugeln hocken, bis er abkratzt. Die anderen machen mir Sorgen, nicht bloß die göttliche Vanessa und ihre Mammi, auch Onkel Maurice, Tante Lulu und mein Vetter Frederick. Ich will nicht, dass sie mich fragen, was tut ein so nettes Mädel wie du in einem solchen Körper!«

»Flotte Sprüche helfen dir auch nicht weiter, Ellie. Du musst in den Griff kriegen, was dich in die Selbstzerstörung treibt. Wahrscheinlich irgendein Schockerlebnis in frühester Kindheit …«

»Gut und schön. Aber Wunder brauchen ihre Zeit, und die hab ich nicht. Dafür hab ich das!« Ich schob die Zeitung über den Tisch, zeigte auf das Inserat für die Kultivierte Herrenbegleitung und wartete auf ihre Reaktion. Wenn Jill lästern würde … aber sie tat es nicht.

»Ellie, das ist doch super! Probierst du’s? Du bist immer so steifleinen.«

»Nur, wenn ich weiß, dass die Agentur seriös ist. Viele von den Dingern sind doch bloß Tarnung.«

»Für unanständige Absichten? Hast du Angst, du musst für die Rolle der Königin der Nacht vorsingen? Ellie, den Job kriegst du nie.«

»Vielen Dank.«

»Nicht nur weil du, sagen wir mal, voluminös bist. Es ist deine deprimierende Ausstrahlung lupenreiner Ehrbarkeit.« Jill goss sich noch ein Glas ein und schwenkte es vor meinem Gesicht. Das ist einer der Gründe, warum ich sie mag, sie macht keinen Bogen um das Thema meines Gewichts. »Auf Ellie! Möchte mal wissen, wie so ein Laden funktioniert. Mietest du den Mann stundenweise, tageweise? In deinem Fall würde ich mal fragen, ob sie eine Wochenendpauschale im Sonderangebot haben.«

»Sei nicht albern.« Ich hatte wieder Hunger, entschied mich aber stattdessen für den Rest Wein. »Ich rufe morgen an. Ganz unverbindlich, nur ein paar diskrete Erkundigungen. Wenn die Person am anderen Ende sich vernünftig anhört, bitte ich um einen Termin. Ich kann mich immer noch in letzter Minute entscheiden, nicht hinzugehen.«

»Du wirst hingehen. Dabei fällt mir ein, meine Cousine Matilda ist mal zu so was gegangen oder zu was Ähnlichem. Sie musste die Zeit bis zum nächsten Ehemann überbrücken, und sie kann buchstäblich nicht aufrecht stehen, wenn sie keinen männlichen Arm zum Anklammern hat. Sie fand, wenn sich der Bräutigam Anzug und Zylinder mieten kann, ist nichts dagegen zu sagen, wenn sie sich einen Mann mietet. Ich glaube, er wurde für den Vater der Braut gehalten oder für den Oberkellner, eins von beidem.«

»Trinken wir auf ansehnliche Männer, egal woher«, rief ich und erhob das Glas. »Egal, was es kostet.«

Am nächsten Tag fühlte ich mich nicht mehr ganz so locker und überlegen. Ich verschob den Anruf bei der Kultivierten Herrenbegleitung bis in den späten Nachmittag. Dann ging ich in den hinteren Teil des Ausstellungsraumes, in dem ich arbeitete, goss mir aus der Kaffeemaschine, die gefährlich auf einer Kiste balancierte, eine Tasse ein, spitzte drei Bleistifte, bis sie tödlich waren, setzte mich an meinen Schreibtisch, stand auf, besorgte mir eine Schachtel Büroklammern, nahm den Hörer ab, legte ihn wieder hin und wählte schließlich die Nummer. Besetzt. Fünf Minuten später kam ich durch und wurde von einer anonymen Stimme am anderen Ende der Leitung informiert, dass eine Terminvereinbarung nicht nötig sei. Geschäftsstunden von acht Uhr dreißig bis siebzehn Uhr dreißig, und drei Empfehlungsschreiben müsse ich vorweisen, maschinegeschrieben, in dreifacher Ausfertigung. Klick.

Nicht sehr freundlich, aber ausgesprochen geschäftsmäßig. Langsam ging es mir besser. Ich sagte meinen letzten Termin mit einer Frau ab, die ihr Vorkriegs-Siedlungshäuschen in ein französisches Château verwandelt haben wollte, fuhr mit der U-Bahn bis Strand, überprüfte zum vierten Mal die Adresse in meinem Portemonnaie und machte mich auf den Zehn-Minuten-Fußweg zur Goldfinch Street.

Meine Füße dehnten ihn auf zwanzig Minuten. Ferner trugen sie mich zu Woolworth, wo ich einen Lippenstift erstand, den ich nicht brauchte, in einer Farbe, die ich nie trug, sowie eine Tüte Kartoffelchips, die ich als Rückhalt in meine Handtasche stopfte.

Unglücklicherweise hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten, das Gebäude zu finden, das die Kultivierte Herrenbegleitung beherbergte. Es war nicht zu verfehlen. Der Architekt hatte kein postmodernes Mätzchen ausgelassen. Die Fahrt im Fahrstuhl – einer gläsernen Röhre, die ohne sichtbare Abstützung um ihre eigene Achse rotierte – durch einen Dschungel von Treibhauspflanzen war ein Erlebnis für sich. Jetzt noch ein gutgelaunter Tenor, der selbstvergessen losträllerte – ein einziger Schmetterton und alles würde in tausend Splitter zerspringen. Ich wandte die Augen nicht von einem korpulenten Herrn mit olivfarbenem Teint und schwarzem Operettenbart, am liebsten hätte ich ihm das Atmen verboten. In letzter Sekunde kam die kugelförmige Kabine zum Stillstand, hing einen Moment in der Luft und öffnete dann mit geräuschlosem Gähnen ihre Pforten. Ich erwog kurz, auf der Stelle die Rückreise anzutreten. Aber ich verachte Feiglinge, auch wenn ich meist selbst einer bin.

Ich bog um eine Ecke und fand mich unmittelbar vor einer Glastür, die in auffälligen Lettern von der Kultivierten Herrenbegleitung kündete. Darunter war eine ekelerregende Abbildung von zwei ineinander verschlungenen Herzen.

Ich kramte in meiner Handtasche, fischte eine Sonnenbrille heraus und klappte den Kragen meines Kamelhaarmantels hoch. Vor wem wollte ich mich verstecken? Vor mir selbst? Mein Innenleben implodierte. Ich machte ein bisschen Lamaze-Atemtechnik, die ich im Fernsehen aufgeschnappt hatte, und öffnete die Tür.

Wie so oft, wenn man mit dem Schlimmsten rechnet, lauerte auch hier nichts Unheimliches. Es war die übliche Art Empfangsraum, wo astronomische Honorare kassiert werden: skelettfarbene Wände, Bambusrollos und sparsamster Einsatz ausgesuchter Utensilien. Optischer Mittelpunkt des Raumes war eine silikongepolsterte, geschickt als Empfangsdame getarnte Blondine. Sie saß hinter einem sichelförmigen orangefarbenen Kunststoffschreibtisch, feilte ihre bereits rasierklingenscharfen Nägel, kaute affektiert Kaugummi und blies niedliche kleine Blasen, die genau zu ihrem bonbonrosa Lippenstift passten. Sie sah nicht auf, als ich auf den Wogen einer Engelbert-Schnulze eintrat.

Ich räusperte mich und schluckte vernehmlich. »Entschuldigen Sie.«

»Ja?« Goldlöckchen sog den kleinen Ballon ein und schaute noch gelangweilter drein als vorher. »Wenn Sie wegen der Stellung gekommen sind«, die Nagelfeile schmirgelte weiter, »die ist schon weg. Bedaure, aber wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

»Welche Stellung?«

Sie hielt mich für begriffsstutzig. »Na, Putzhilfe, männlich oder weiblich, Berufserfahrung nicht erforderlich, keine Nebenleistungen, Alter Mitte vierzig …«, sie unterbrach sich, »oder wollten Sie die nicht?«

Konnte ich innerhalb weniger Stunden derartig gealtert sein? Das versprach ja heiter zu werden mit dieser chemieblonden, zuckerlasierten Pute. Ihrem Röntgenblick nach hätte ich eine Raupe sein können, die gerade von einem Silbertablett mit hübsch dekorierten Gurkenschnittchen kroch. Nerven hin, Nerven her, ich würde mich nicht behandeln lassen wie Katzenfutter.

Ich nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Tasche. »Ich bin als Kundin hier, nicht als Ganztagsangestellte. Vielleicht erinnern Sie sich«, ich blickte mich in dem leeren Wartezimmer um, »ich habe heute Nachmittag angerufen und Sie sagten, ich könne ohne Termin vorbeikommen. Hoffentlich habe ich meine Zeit nicht verschwendet. Ich habe nämlich auch Kunden, die deswegen zurückstehen mussten.« Das schluck mal, dachte ich, während ich spürte, wie ihre verschlagenen Äuglein mich langsam von oben bis unten musterten, meinen fallschirmförmigen Mantel, mein solides Schuhwerk. Warum tat ich mir das an?

»Die Anforderungen der Geschäftsleitung sind, fürchte ich, recht hoch –«

»Wie hoch? Hätte ich gewusst, dass Sie 92–61 – 89 verlangen, hätte ich kein Mittagbrot gegessen.«

»Schauen Sie, Fräulein, ich hab die Regeln nicht gemacht. Das Leben ist nicht immer fair.« Der Tiefsinn des Tages.

»Wenn ich so aussehen würde, wie ich Ihrer Meinung nach sollte, wäre ich nicht hier. Also, können Sie mir helfen oder ist jemand zu sprechen, der es kann?«

Ihr Seufzer ließ die Büroklammern scheppern. »Ich treffe hier nicht die Entscheidungen … Na schön, Mrs.Swabucher will die ausgefüllt haben, bevor Sie reingehen.« Ein Bündel Aufnahmeformulare, deren obere rechte Ecken die unvermeidlichen Herzchen zierten, wurde mir in die Hand gedrückt. »Gehen Sie in das Kabuff neben dem Fenster.«

Goldlöckchen machte sich nicht die Mühe, aufzustehen; sie winkte lediglich mit einem Kaugummipäckchen. »Da finden Sie, was Sie brauchen, Kugelschreiber, Bleistifte und einen Taschenrechner.« Ich hörte, wie eine Tür am anderen Ende des Raumes auf- und wieder zuging, dazwischen schnappte ich die Worte auf: »Puuh, wir haben Miss World im Wartezimmer.«

Bis dahin hatte ich Bewerbungsformulare stets gerne ausgefüllt. Sie bescheinigen einem schwarz auf weiß, dass man eine Person ist, die Leistungen, Pläne und Ziele aufzuweisen hat – fein säuberlich tabelliert. Kreuzen Sie Kästchen A, B oder C an und unterschreiben Sie. Kein Platz für Seelenbekenntnisse.

Ich habe keine Vorstrafen, nicht in Bigamie gelebt und keiner obskuren exotischen Sekte angehört. Aber dieser Fragebogen war offensichtlich das Geisteskind eines Freudianers, der wollte, dass ich mir mein eigenes Grab schaufelte und mich dann auch noch hineinlegte.

Ob ich bei Benutzung des Badezimmers immer die Tür schloss.

Ob ich anderer Leute Zigaretten rauchte.

Welche Art von Nachtgewand ich bevorzugte.

Irgendwo zwischen diesen kunstgerecht punktierten Linien waren Bomben versteckt, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit hochgehen konnten. Ich hatte bereits die Enden von zwei Bleistiften zerkaut und musste befürchten, wenn nicht von diesem Schwachsinn, dann von Bleivergiftung dahingerafft zu werden. Also übersprang ich zwei Zeilen und kam zu einer Frage in größerer Schrift, die mehrmals unterstrichen war. Offensichtlich das Kernstück. »Was war mir im Leben am wichtigsten?«

A. Eine sexuell befriedigende Beziehung.

B. Geld.

C. Die Achtung meiner Mitmenschen.

Ich war versucht zu antworten: »Bratfisch und Pommes mit viel Majo und Erbsen, eine große Cola und ein Schokoladeneisbecher mit extra Sahne, zwei Kirschen, keine Nüsse.«

Eine Alarmglocke schrillte, dass mein rechtes Trommelfell platzte. Goldlöckchen war wieder da, fachmännisch hielt sie eine poppige Stoppuhr in ihren kirschroten Krallen.

»Am besten gehen Sie gleich zu Mrs.Swabucher rein. Sie verreist übermorgen zu einer Konferenz.« Dem blöden Grinsen nach war ich für Goldlöckchen der Witz des Tages. Haltet euch den Bauch und wälzt euch am Boden vor Lachen, hier kommt Miss Wollene Unterwäsche auf der Suche nach Mr.Tadellos.

Das innerste Heiligtum glich einer gigantischen Puderquaste, kuschelig und rosa und dezent duftend. Alles war rosa – der Teppich, die Tapete, die Vorhänge, der Lampenschirm in Form eines Sonnenschirmchens; sogar der große Schreibtisch in der Mitte des Zimmers war perlmuttrosa und natürlich herzförmig. Hinter dem Schreibtisch saß eine kuschelige ältere Dame, die selber ein bisschen wie eine Puderquaste aussah. In dem rosigen Licht hatte ihr Haar einen rosa Schimmer.

»Miss, äh, Ellie Simons.« Goldlöckchen knallte meine Testformulare auf den Schreibtisch und stöckelte auf ihren Zwanzig-Zentimeter-Pfennigabsätzen hinaus.

»Kommen Sie, kommen Sie, meine Liebe. Ach je, Sie sehen ja zu Tode erschrocken aus, Sie Arme.« Mrs.Swabucher kam hinter ihrem Schreibtisch hervorgewatschelt. Zu meiner Überraschung entdeckte ich an ihren Füßen bequeme Pantoffeln mit dicken rosa Seidenpompons, die die Wirkung ihres rosa Wollcomplets zunichtemachten.

Sie fing meinen Blick auf und zwinkerte mir heftig zu. »Ich weiß, ich sehe damit aus wie eine alte Miezekatze, aber meine Füße machen mir so zu schaffen und meine Tochter Phyllis hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. Sie ist das hochgewachsene Mädchen hier auf dem Foto neben dem Jungen mit dem Hamster – meinem Enkel Albert. Geben Sie mir Ihren Mantel, meine Liebe, und ziehen Sie sich den Stuhl heran, damit wir gemütlich plauschen können. Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Das sollte nun der führende Kopf hinter allem sein? Zu meinem Erstaunen merkte ich, dass meine Hände nicht mehr zitterten. Ich war in der Lage, die zierliche Kaffeetasse mit dem zarten Rosenknospenmuster ruhig zu halten. Das Zimmer war wunderbar warm, trotz des Regens, der draußen niederprasselte. Es hätte ein behaglicher Abend bei einer älteren Freundin oder Verwandten sein können, nur dass meine Verwandten alle so behaglich waren wie Giftschlangen.

»Hat das Mädchen Sie schikaniert?« Mrs.Swabucher nahm wieder hinter den Fotos Platz und nippte an ihrem Kaffee. »Ich wusste vom ersten Moment an, sie ist die Falsche. Aber was soll man machen? Heutzutage ist es absolut unmöglich, gute Kräfte zu finden: schlampig, unverschämt und schrecklich ungebildet. Aber Sie, Miss Simons, Sie sind eine Dame, das sehe ich sofort.«

»Und der Test?«

»Ach, zerbrechen Sie sich bloß nicht den Kopf über diesen Unsinn. Das war eine Idee von meinem Sohn Reginald. Er ist Wirtschaftsprüfer, und Sie wissen ja, wie die sind –›Mutter, du musst rationell arbeiten, auf dem neuesten Stand sein, dich an die Bestimmungen halten.‹ Ich halte mich an meinen Instinkt und ich irre mich nie. Dadurch bin ich ja überhaupt erst in diese Branche geraten. Ich verstehe mich auf Menschen. Mein lieber verstorbener Mann sagte immer, ich wäre die geborene Ehestifterin, und als er von mir ging … was hatte ich schon anderes zu tun?«

Sie setzte vorübergehend aus wie eine zu schwach aufgezogene alte Uhr, und ich murmelte, es ginge mir eigentlich nicht um etwas so Dauerhaftes wie einen Ehemann.

Mrs.Swabucher strahlte mich an. »Man kann nie wissen! Nehmen Sie ein Konfekt, alle mit Cremefüllung. Meine Spezialmarke.«

Ich beäugte sie gierig, lehnte aber dankend ab.

»Sie machen sich Sorgen wegen Ihrer Figur, stimmt’s? Sollten Sie nicht. In Ihrem Alter ist das wahrscheinlich nur Babyspeck.«

»Ich bin siebenundzwanzig.«

»Oje, oje! Sie sterben gleich an Altersschwäche!« Mrs.Swabucher kicherte kehlig. »Kommen Sie, seien Sie kein Frosch! Amüsieren Sie sich! Ach, Sie haben Angst – Sie denken, das ist wieder ein Test wie der Mumpitz da draußen. Lassen Sie mich etwas klarstellen, Miss Simons. Ich bin nicht doppelzüngig, dazu bin ich einfach nicht schlau genug. Jetzt essen Sie, und dann kommen wir zum Geschäft. Erzählen Sie mir alles über sich.«

Es war gar nicht schwer. Ich aß ein Konfekt, ich aß noch eins. Mrs.Swabucher gab mir die ganze Schachtel und sagte, ich sollte sie auf dem Schoß behalten. Sie goss mir immer wieder Kaffee ein. Ich erzählte ihr von der Einladung in Merlins Schloss, beschrieb Vanessa und wie grässlich minderwertig ich mir in ihrer Gegenwart vorkam, wie ich mein Gewicht hasste, aber unfähig war, es unter Kontrolle zu halten, und wie ich glaubte, selbst eine vorgetäuschte Beziehung würde mir genügend Selbstvertrauen geben, um das große Wochenende zu überstehen.

Am Ende meines Vortrages hatte Mrs.Swabucher Tränen in den Augen und putzte sich mit einem rosa Seidentaschentuch geräuschvoll die Nase. »Wie schade, dass mein Jüngster, der arme William, nie Gelegenheit hatte, Sie kennenzulernen.«

Mir gingen Bilder von einem frühen und tragischen Tod durch den Kopf. Doch Mrs.Swabucher erklärte, letzten Juni habe ihr Sprössling eine unmögliche, emanzipierte Person geheiratet, die für getrennte Ferien sei und gegen Kinder.

Ich aber war die Gegenwart, mir konnte geholfen werden. Die liebe Frau machte sich umfangreiche Notizen in einer sonderbaren Kurzschrift, die mit Kringeln und Pfeilen durchwoben war: Arbeitsstellen, Hobbys, Vorlieben und Abneigungen, alles kam in einen Topf, wo es eine Weile schmoren sollte, wie Mrs.Swabucher sich ausdrückte. In der Zwischenzeit würde sie ihre Kartei durchgehen und ihre Grübelkappe aufsetzen. Irgendwo da draußen war der Mann, dessen Leben kurz das meine berühren würde.

»Fahren Sie nicht in ein paar Tagen zu einer Konferenz?«, fragte ich, denn mir fiel plötzlich auf, wie spät es war. Seit zwei Stunden saß ich in diesem Zimmer.

»Das Mädel ist unfähig, die Wahrheit zu sagen, selbst wenn ihr Leben davon abhinge. Konferenz! Hört sich großartig an, was? In Wirklichkeit besuche ich ein paar Tage meine Enkelkinder. Aber vor dem Vergnügen kommt die Pflicht. Bevor ich irgendwohin fahre, werde ich diesen Mann für Sie finden.«

Wir erhoben unsere Kaffeetassen und tranken auf Mr.Tadellos, egal, wo er war.

2

In der Woche nach meinem Besuch bei der Kultivierten Herrenbegleitung versuchte ich mich damit zu trösten, dass keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten sind, aber selbst in meinen Ohren hatte der Spruch einen falschen Klang. Entweder war Mrs.Swabucher übertrieben wählerisch oder ihre Suchexpedition war kläglich gescheitert. Ich hatte ihr Jills Nummer gegeben, denn mein eigenes Telefon, das einem Trappistenkloster Ehre gemacht hätte, war längst abgeschafft. Jedes Mal, wenn ich Jills Schritte auf der Treppe hörte, hielt ich die Luft an, bis ich Sternchen sah. Meistens kam sie nur rauf, um sich von mir ein Ei zu borgen. Ihre neueste Masche war, eins in Salzwasser zu verrühren und damit um Mitternacht zu gurgeln. Ansonsten berichtete sie nur von drei obszönen Anrufen einer Dame aus dem vornehmen Knightsbridge, die Jill für ihren Zeitungsjungen hielt. Am Mittwoch endlich rief sie mich herunter und drückte mir den Hörer in die Hand. Er klinge traumhaft! Falscher Alarm, es war nicht er, sondern nur Mr.Green von der Reinigung an der Ecke, der mir überglücklich verkündete, er habe den Gürtel von meinem blauweiß gepunkteten Seidenkleid gefunden. Ich war drauf und dran, ihm zu sagen, er solle ihn als Wäscheleine behalten, aber er war ein freundliches Männlein und pflegte eine alte Mutter.

Der Samstag kam herauf und Jill bestand auf einem Einkaufsbummel. Ich müsse unbedingt neu eingekleidet werden für das Wochenende. All mein Jammern, sobald ich den Rücken drehte, werde er anrufen, half nichts und so trottete ich hinter ihr her nach Soho in eine schmuddelige Boutique. Die Besitzerin, eine Schlampe mit verfilztem schulterlangem Haar und einem tätowierten kopflosen Huhn auf dem linken Unterarm, begrüßte uns überschwänglich. Sie, Serena, werde mich verwandeln! Fragte sich nur, in was. Trotz passiven Widerstandes wurde mir ein bodenlanger purpurroter Seidenkaftan aufgezwungen, dessen Ausschnitt mit Perlenstickerei prunkte, während Ärmel und Saum von Goldborte glänzten. Serena und Jill behaupteten, ich sähe märchenhaft aus. Ich hätte es anders ausgedrückt: der Schrecken Arabiens. Aber ein Quäntchen Rückgrat bewahrte ich und verweigerte die Schnabelpantoffeln aus Goldbrokat.

»Was gluckert denn da so?«, fragte ich, als wir endlich Jills Tür erreicht hatten, völlig durchnässt, denn auf dem Weg von der U-Bahn hatte uns ein Wolkenbruch überrascht. »Hört sich an wie Tobias. Er ist irgendwo eingesperrt. Er erstickt!« Sie nahm ihren Schlüssel raus. »Das ist nicht Tobias. Du weißt ja, wie Miss Renshaw im Souterrain sich aufregt, wenn den ganzen Tag das Telefon klingelt und keiner rangeht. Deshalb schieb ich’s immer, wenn ich länger weg bin, unter den Sitzsack.«

Ihre Hand verharrte vor dem Türschloss. Wir blickten uns an. »Das Telefon!«, kreischten wir im Chor. »Es klingelt!«

Ich grapschte nach dem Schlüssel. Jill ließ ihn fallen und mit leisem, metallischem Klackern trudelte er über das dunkle Linoleum. »Rindvieh«, sagten wir gleichzeitig. Auf allen vieren krabbelten wir im Kreis herum, in unserer Panik prallten wir aufeinander.

»Zu spät!«, schrie Jill.

»Ist er in eine Spalte gerutscht?«

»Nein, du Trampel! Das Telefon hat aufgehört. Ah! Hab ihn!« Sie hielt den Schlüssel so weit wie möglich von mir weg und verbot mir, mich zu rühren, bevor sie die Tür aufgeschlossen hatte.

»Soll ich vielleicht ewig hier kauern? Ich kriege einen Krampf in den Knien.«

Jill knurrte nur kurz, als ich mich aufrappelte und ihr in die Wohnung folgte. Da standen wir nun in unseren tropfnassen Mänteln traurig mitten im Zimmer; das Telefon hockte da und sagte keinen Ton.

»Klingle, du schwarze Kröte«, befahl ich und es gehorchte.

»Geh du ran.« Jill schälte sich aus ihrem Mantel. »Und wenn das wieder diese Labortante ist und fragt, ob ich meinen Körper für Versuchszwecke spende, sag ihr, geben tu’ ich nur im Leben.«

»Riverbridge 6890«, krächzte ich. Wie kann einer Frau mit siebenundzwanzig schon die Stimme brechen?

»Ellie Simons?«, kam es vorwurfsvoll vom anderen Ende.

»Em, äh, was, ah, wer …?«

»Bentley Haskell. Den ganzen Vormittag versuche ich, Sie telefonisch zu erreichen. Ich habe Mrs.Swabucher im Büro so verstanden, dass es sich um eine Art Notfall handelt. Sollten Sie inzwischen anders disponiert haben, wäre mir das durchaus recht, allerdings weiß ich bei diesen Aufträgen gern, woran ich bin.«

»Ja, natürlich! Ich kann Sie vollkommen verstehen.« Vor lauter Schreck ließ ich den Hörer fallen, er polterte zu Boden.

Jill hockte auf einem Stuhl neben meinem linken Ohr. »Hör auf zu katzbuckeln.«

»Sst.« Ich entriss ihr die Schnur und sprach ins Mundstück. »Keine Sorge, mir ist nur das Telefon runtergefallen, nicht das Gebiss.«

Ungeduldiges Atmen kam durch den Draht. »Miss Simons, ich nehme pro Monat nur wenige Aufträge an. Die Begleitung alleinstehender Damen ist nicht mein Hauptberuf, deshalb trachte ich, meinen Terminplan so weit wie möglich im Voraus aufzustellen. Um welche Zeitspanne handelt es sich bitte, und wann?«

»Wann?«, echote ich. »Ich dachte, Mrs.Swabucher hätte Ihnen – einen Moment bitte. Sie müssen vielmals entschuldigen. Ich weiß, ich hab die Einladung hier irgendwo in meiner Handtasche. Sie wollen die Daten wissen?«

»Leiden Sie an Gedächtnisschwund, Miss Simons?«

»Wie witzig, Mr. äh …!« Ich kicherte wie ein blondes Doppeldummchen. »Ich mag Männer – Leute – mit Sinn für Humor.«

Ich hielt die Hand über den Hörer und zischte Jill verzweifelt zu: »Wann fahre ich?«

Sie schloss schmerzlich berührt die Augen. »An was erinnern dich schwarze Katzen und Spinnen am Morgen? Freitag, der dreizehnte! Und hör auf, so zu winseln, das ist menschenunwürdig.«

Jill hatte recht. Schluss mit dem Unsinn! Ich reckte die Schultern und ahmte meinen Bankberater nach, wenn er mir klarmacht, dass er meine Schecks mit einer Hand platzen lassen kann. »Mr.Hammond, ich habe alle Informationen parat. Die Daten sind dreizehnter bis fünfzehnter Februar.«

»Haskell. Bentley T. Haskell. Wie ich von unserer gemeinsamen Bekannten Mrs.Swabucher erfahre, ist Ihre Situation etwas ungewöhnlich und Sie suchen mehr als lediglich einen Begleiter. Ich soll mich als der getreue Lebengefährte ausgeben?«

»Kostet das extra? Kein Problem. Sie können das Geld in bar haben, wenn Sie wollen.«

»Vielen Dank, und zwar in nicht registrierten Scheinen, wenn’s geht.«

Komischer Mensch. Verachtete er seine Arbeit, fand er sie erniedrigend? Er klang in Eile, sich rasch wieder einem Zeitvertreib zuzuwenden, wie er kultivierten Herren ansteht.

»Sollen wir uns treffen, bevor wir losfahren?«, fragte er. »Dann können Sie mich über die Einzelheiten ins Bild setzen.«

»Nein, das wird nicht nötig sein.« Ich sah keine Veranlassung, diesem ohnehin feindseligen Herrn einen Grund zu liefern, sich zu drücken. Mrs.Swabuchers barmherzige Beschreibung von mir mochte von der Wirklichkeit abweichen. »Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, Mr.Haskell, schicke ich Ihnen den Terminplan – Abfahrtszeit, Reiseziel usw.«

»Vielen Dank, aber richten Sie alle Korrespondenz an das Büro. Meine Privatadresse gebe ich Klienten nicht.«

Hatte der Mann Angst, ich könnte in einer stürmischen Nacht auf seiner Türschwelle erscheinen und ihn vergewaltigen? »Wunderbar.« Wo hatte ich nur meine Gedanken? »Wie Sie, Mr.Haskell, möchte ich das Ganze rein geschäftlich behandeln.« Ich lachte silberhell auf, um ihm zu zeigen, wie spaßig ich alles fand.

»Störe ich Sie gerade beim Essen?«

»Nein.« Wollte er das Visier herunterlassen und mich einladen?

»Ich dachte schon, Sie hätten sich verschluckt.« So viel zu meinem Charme! Bevor er auflegte, erwähnte ich Transportmittel. Ich hatte daran gedacht, mit dem Zug zu fahren, aber als er sein Auto vorschlug, fand ich das Angebot unwiderstehlich. Sofort hatte ich vor Augen, wie wir majestätisch durch die Tore von Merlins Schloss rauschten.

»Gut«, sagte ich zu Mr.Haskell. »Setzen Sie das Benzin mit auf die Rechnung.«

Was er zusicherte, bevor er auflegte.

Ich saß neben dem Telefon, starrte die Decke an und presste die Knie zusammen. Sie schlotterten schlimmer, als meine Zähne klapperten.

»Wie heißt er?«, fragte Jill. Ich sagte es ihr. »Hört sich an wie ein Auto«, fand sie.

»Jill, du weißt, ich reagiere sehr empfindlich auf Namenswitze.«

»Entschuldige. Hatte vergessen, dass Ellie eine Abkürzung ist. Wie wär’s, wenn wir zur Feier eine Flasche Rhabarberwein köpfen?«

Sobald ich mich von dem Schock erholt hatte, wurde es ein schöner Abend. Ich ließ das Telefongespräch noch einmal Revue passieren und redete mir ein, jemand, der so schroff und unhöflich war wie Bentley Haskell, musste ein Prachtexemplar sein. Weniger attraktive Männer geben sich mehr Mühe. In jedem Lore-Roman ist der ansehnliche Held anfangs ein abweisendes Raubein, bis die Heldin ihn sich mit samtweichen Pfötchen gekrallt hat. In Gedanken versah ich Mr.Haskell mit einem interessanten Hinkegang und einer Narbe auf gebräunter Wange – Überbleibseln des unvermeidlichen Jagdunfalls.

Nach dem dritten Glas Wein war ich richtig gut drauf. Wieder nüchtern fiel mir am nächsten Morgen ein, dass all diese Heldinnen aussehen wie Vanessa. Sollte ich je in einem Lore-Roman besetzt werden, dann mit der drallen Minna, die als treuer Dienstbolzen durchs Leben trudelt. Das ist die Wirklichkeit.

Die nächste Woche verging in einem Taumel der Entschlusslosigkeit. Ich verbrauchte meinen gesamten Vorrat an Briefpapier – Geschenke aus drei Jahren – für Entwürfe an Mrs.Swabucher mit der Anweisung, meinen Auftrag zu streichen; alle wurden wütend zerrissen und im Küchenherd verbrannt. Tobias, dieses furchtlose Raubtier, wagte nicht mehr, »miau« zu sagen. Ich war barsch zu Jill. Mit einem Wort, ich war völlig fertig und wurde von Minute zu Minute fetter. Die Zeit wurde knapp. Ich schrieb Tante Sybil, ich käme in Begleitung, und schickte der Agentur den Terminplan mit der Bitte, ihn an Mr.Haskell weiterzuleiten.

Als der Schicksalstag heraufkam, waren meine Augen blutunterlaufen und meine Haut – meine einzige Attraktion – übersät mit roten Flecken. Die Minuten verrannen unaufhaltsam und brachten den geisterhaften Mr.Haskell immer näher. Ich konnte die Schlüssel zu meinem Koffer nicht finden, und die Haferschleim-Eiweiß-Gesichtsmaske, die mir Jill verpasst hatte, war zu Beton erstarrt. Eine Weile hatten wir Angst, wir müssten jemand von der nächsten Tankstelle holen, um mich rauszumeißeln.

»Schade, dass es kein Kostümfest ist«, seufzte Jill. »Du könntest prima als Felsbrocken gehen.«

Glücklicherweise musste ich lachen und der Fels bröckelte. Jetzt kam die nächste schwierige Prozedur – mich in neue Strumpfhosen zu quetschen, ohne dass sie platzten wie zu stark aufgeblasene Ballons.

Jetzt noch den Kaftan über den Kopf.

»Meinst du wirklich, ich bin passend angezogen?« Ich mühte mich mit einem widerspenstigen Perlohrring ab.

»Klar!« Jill stopfte meinen linken Fuß in einen schwarzen Ripsschuh, den ich seit Jahren nicht getragen hatte.

»Heutzutage kannst du in Packpapier rumlaufen und keiner zuckt auch nur mit der Wimper.«

»Wie spät ist es?« Ich suchte meine kleine goldene Uhr. Meine normale im Big-Ben-Format passte nicht zu der Aufmachung. »Er kommt um halb vier.«

»Du hast noch Zeit. Obwohl ich finde, du solltest nicht ewig diesen Oma-Dutt tragen oder wenigstens was mit deiner Haarfarbe machen. Mittelbraun ist dies Jahr nicht angesagt.« Jill war beim rechten Fuß angekommen. »Noch zehn Minuten.«

Es klingelte, und Jill büßte beinahe ihre Hand ein, als ich zurückwich. Ich hasse Zufrühkommer. Pünktlichkeit steht ganz oben auf meiner Liste unverzeihlicher Sünden. Es klingelte wieder, hartnäckig. Jill machte die Tür auf, während ich zwischen Schlaf- und Wohnzimmer hin- und herflatterte wie eine riesige rote Motte.

»Miss Simons?« Er hörte sich nett an und irgendwie – erleichtert?

»Nein, Jill, eine Freundin aus dem Haus; Ellie ist da drin.«

Tusch und Trommelwirbel – meine verflixten Knie schlotterten wieder. Endlich standen wir uns Auge in Auge gegenüber. Er war nicht groß, dafür dunkel und gutaussehend, und zwei von drei möglichen Punkten sind immerhin was. Seine Körpergröße war höchstens durchschnittlich, vielleicht eins fünfundsiebzig, drei Zentimeter mehr als ich auf hohen Absätzen. Sein Haar war lockig und dunkel, fast schwarz. Bei seiner olivfarbenen Haut hätten seine Augen von Rechts wegen braun sein müssen, aber sie waren intensiv blaugrün. Er trug eine Nickelbrille, die ihm keineswegs Minuspunkte einbrachte (später erfuhr ich, dass er sie nur zum Autofahren aufsetzte), und er war schlank, schlank und noch mal schlank. Vielleicht nicht hübsch, wie es im Buche steht, aber entschieden attraktiv. Angesichts seines gut geschnittenen Mantels über dem Anzug aus dunklem Wolltuch, dem weißen Hemd und der gestreiften Seidenkrawatte wurde mir klar, wie ich aussah – wie die Dicke vom Rummelplatz, nuttig, ordinär und grotesk.

Der arme Mann, was für eine Art, sein Geld zu verdienen! Ich nahm mir vor, nett zu ihm zu sein. Morgen würde ich zu meinen Tweedsachen zurückkehren und ihm am Schluss des Wochenendes ein anständiges Trinkgeld geben, damit er seine Mutter oder seine Freundin zum Essen ausführen konnte – oder seine Frau. Gab es vielleicht ein Gesetz, dass Begleiter ledig zu sein hatten?

Ich band mir mein bestes Lächeln um, ging auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Er hatte einen angenehm festen Griff, aber seine Augen waren kalt und unpersönlich. Absurderweise nahm ich ihm das übel. Kein Mensch hatte ihn gezwungen herzukommen.

Er entdeckte meinen Koffer und ergriff ihn schwungvoll mit einer Hand. »Ich bringe ihn ins Auto, während Sie sich fertig anziehen.«

Ich bedachte ihn mit einem frostigen Blick. »Sie stehen vor dem Endprodukt.«

Die leuchtend graugrünen Augen musterten jeden purpurroten Quadratzentimeter; seine Lippen verzogen sich. »Sie müssen verzeihen«, sagte er, »aber Damenbekleidung war mir immer ein Rätsel. Ich hielt das für den Morgenmantel. Sie sind so weit?«

»Nicht ganz.« Meine Stimme verrutschte um eine Oktave, aber das war mir egal. »Bevor wir aufbrechen, möchte ich etwas klarstellen. Mr.Haskell, Sie sind hier, um Ihre Arbeit zu tun, so gut wie irgendein Angestellter. Da ist nichts dabei, die meisten von uns sind gezwungen, sich ihr tägliches Brot zu verdienen. Ich habe mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die ich nicht auf eine Tasse Kaffee gebeten hätte, selbst wenn ich auf einer einsamen Insel mit ihnen gestrandet wäre, aber ich habe eine wichtige Lektion gelernt.«

»Ja?«

»Sorgen Sie immer dafür, dass die Chefin zufrieden mit Ihnen ist, denn sonst kriegen Sie womöglich kein Geld, weder per Scheck noch in bar noch sonst wie.«

Seine Brauen waren ein einziger schwarzer Strich. Einen Augenblick dachte ich, er würde den Koffer nach mir werfen, und athletisch, wie er war, hätte er ins Schwarze getroffen – meine Nase.

»Amüsiert euch gut«, zwitscherte Jill und reichte mir meinen Mantel.

Wir machten uns auf den Weg.

3

Ich war an diesem Tag noch nicht draußen gewesen, ja ich hatte noch nicht mal die Vorhänge zurückgezogen, und so wurde ich unsanft davon überrascht, dass es schneite. Dicke weiche Flocken wie aus Seifenschaum wirbelten durch die Luft. Badewetter? Dieser irrigen Ansicht war offenbar Bentley Haskells Auto. Das übel zerschrammte rostig graue Gefährt stand mit runtergeklapptem Verdeck am Rinnstein. Ich wusste, dass Kabrios einen Hang dazu haben, aber doch bitte nicht mitten im Schneegestöber bei eisigem Ostwind. Mr.Haskell hatte meinen Koffer verstaut und hielt mir die Tür auf.

»Darf ich beim Einsteigen behilflich sein, Schatz?« Er lächelte grimmig. »Ich übe schon mal.«

»Nein. Sie dürfen den Deckel von diesem Ding zumachen.«

»Das geht leider nicht. Die Scharniere sind seit Jahren festgerostet. Keine Sorge – Sie werden nicht nass.«

Als ich mich auf einem sehr feuchten Sitz niederließ, drückte er mir einen rotweiß gepunkteten Sonnenschirm in die Hand, löste die Verriegelung und schon wölbte sich über mir ein riesiger Fliegenpilz. Meine Füße trafen auf eine Wärmflasche, aber auch das besänftigte mich nicht. Ich hätte jetzt in einem gemütlichen Zugabteil sitzen können, indes die Landschaft an mir vorbeiglitt und der Schaffner zum Abendessen in den Speisewagen bat. Es gab nur eine Erklärung: Der Mann, der ruhig an meiner Seite saß und die Straßenkarte studierte, war aus Dartmoor entflohen. Mrs.Swabucher hätte ausnahmsweise auf Sohn Reginald, den Wirtschaftsprüfer, hören und ihre Hausaufgaben machen sollen.

»Zu Ihrer Linken finden Sie zwei Reisedecken.« Mr.Haskell faltete die Karte säuberlich zusammen, steckte sie in die Ledertasche unter dem Armaturenbrett und setzte das Monstrum in Gang. Es antwortete mit Geheul, das sich zu wütendem Knurren steigerte. Wir schossen vorwärts, verfehlten knapp eine Frau auf einem schwankenden Fahrrad, drückten uns an einem Laster und einem Doppeldeckerbus vorbei und schwammen mit im abendlichen Berufsverkehr, der London vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich lassen wollte.

»Behaglich, Schatz?« Er hatte kleine, schneeweiße Zähne. Einer stand ein wenig über und betonte das Ebenmaß der übrigen.

»Ich erfriere.«

»Wickeln Sie sich die andere Decke um. Mein Problem ist, ich finde dieses Wetter erfrischend und vergesse, nicht alle teilen meine Begeisterung für die Natur im Rohzustand.«

»Im Zug wäre es sicher zu heiß?«

»Zum Ersticken.«

So sollte ich also Einzug in Merlins Schloss halten? Die Finger festgefroren an diesem lächerlichen Sonnenschirm, das Haar schneeweiß und vor der Zeit gealtert? Männer! Und nach so einem hatte ich mich all die Jahre gesehnt!

»Versuchen Sie, in Bewegung zu bleiben«, sagte er, den Blick fest auf die Straße geheftet.

»Na toll! Ich stehe auf und jogge um den Rücksitz. Halten Sie ja nicht an, wenn ich über Bord gehe. Ein rascher Unfalltod ist mir lieber als zentimeterweise zu erfrieren.«

»Ich meinte, wackeln Sie mit den Zehen, wedeln Sie mit den Händen – nicht die mit dem Schirm.« Er blinzelte. »Für diese Fahrt brauche ich beide Augen – die Sicht wird immer schlechter.«

»Ist Ihnen das auch schon aufgefallen?« Ich schloss die Augen und sofort wurden mir die Lider schwer. Schnee drückte sie nieder, nicht süßer Schlaf. Eingemummelt in meine Decken kam ich nicht an die Tafel Nussschokolade, die in meiner Handtasche steckte und inzwischen mit klagender Stimme nach mir rief. »Kann ein Mensch in Leichenstarre fallen«, fragte ich, »obwohl er noch lebt?«

Er schnaubte ärgerlich, fügte dann aber recht sanft hinzu: »Vielleicht hilft es, wenn wir uns unterhalten.« Schmolz der Eisberg? »Um überzeugend zu sein«, fuhr er fort, »muss ich in etwa wissen, wer wer ist auf dem Anwesen, dem wir unseren Besuch abstatten. Ist es ein Landhaus?«

»Eher ein Schloss. Kein echtes natürlich«, fügte ich hastig hinzu, als ich sah, wie seine Brauen in die Höhe schossen. »Eine Miniaturausgabe, die Onkel Merlins Großvater vor über hundert Jahren erbaut hat. Familienlegenden behaupten, dass er bereits an Altersschwachsinn litt, als die Pläne gezeichnet wurden. Nur jemand im Endstadium der zweiten Kindheit besitzt diese Art Phantasie. Das Haus ist schnurstracks aus dem Märchen entsprungen – jede Menge Türme, efeubewachsene Mauern, ein Schlossgraben, nicht größer als ein Goldfischteich, und sogar ein winziges Fallgitter zum Schutz der Eingangstür, obwohl sie das jetzt offen lassen.«

»Wiedersehen mit Dornröschen?«

»Genau. Es gibt sogar ein richtiges Schlossgespenst.«

»Lassen Sie mich raten. Onkel Merlin höchstselbst?«

»So ist es. Seine Verworfenheit besteht darin, was er dem Haus angetan oder vielmehr nicht angetan hat. Er hat es verrotten lassen. Streng genommen ist er kein Onkel – mehr ein Vetter zigsten Grades, aber meine Mutter war eine praktische Frau. Sie bestand darauf, die Verbindung zu unserem einzigen begüterten Verwandten aufrechtzuerhalten. Als Kind musste ich ihm jede Weihnachten Bettsöckchen stricken und wurde nur zweimal eingeladen. Beide Male flog ich vorzeitig raus. Er sagte, ich fräße ihm die Haare vom Kopf und für den Rest des Jahres bliebe ihm nur trocken Brot.«

»Hoffentlich wird das nicht unsere Wochenenddiät.« Bentley Haskell lenkte das Auto um eine rutschige Kurve. Wir näherten uns der Londoner Peripherie. Ich wechselte den Schirmarm und verkroch mich so tief wie möglich in meinen Deckenkokon. Bedauerlicherweise zeigte mein Begleiter keinerlei Frostschäden.

»Welchen faszinierenden Persönlichkeiten werde ich sonst noch begegnen?«

»Allen möglichen.« Ich zitterte vor Kälte. »Einem Vierer mit Partnertausch aus dem East End, einem Wunderdoktor, dem kürzlich die Approbation entzogen wurde, weil er …«

»Wenn Sie rumalbern«, sagte Mr.Haskell durch die Nase, »konzentriere ich mich eben aufs Fahren.«

Zusammengestaucht saß ich da wie ein dicker runder Wackelpudding, der auf seinem Teller zittert. Großmütig reichte er mir einen Ölzweig.

»Wohl alles Verwandte?«

»Da ist Onkel Maurice«, plapperte ich wie ein Kind, das aufsagen muss. »Er ist Börsenmakler und Mitte fünfzig – ziemlich klein mit Schmerbauch, die drei Haare, die er noch hat, kleistert er sich mit stark parfümierter Pomade an. Onkel Maurice riecht man durchs ganze Haus.«

»Bei Mord ein schönes Indiz. Ist ihm zuzutrauen, dass er den Butler erschlägt?«

»Wohl kaum. Sonst hätte er schon vor Jahren seine Frau beseitigt, Tante Lulu, ein Puttputt.«

»Ein was?«

»Ein Huhn. Tante Lulu könnte man das Gehirn entfernen und keiner würde was merken, sobald die Frisur wieder drauf ist. Sie bohnert ihre Böden stündlich, bügelt das Klopapier, bevor sie es aufhängt, und lebt nur für ihre Friseurbesuche dreimal die Woche. Sie und Onkel Maurice haben einen Sohn namens Freddy. Der kommt nach keinem von beiden. Freddy ist ein Freigeist: stolz darauf, dass er sich nie wäscht, trägt die Haare in einem Pferdeschwanz und lässt sich einen Bart sprießen, der aussieht wie ein alter Scheuerlappen, den der Müllschlucker wieder ausgespien hat. Unser Freddy weiß, was angesagt ist – düst auf dem Motorrad durch die Pampa, hat ein Loch im Ohrläppchen und qualmt Hasch wie ein Drache.«

»Also angepasster als sein Vater.« Bentley Haskell spähte durch das Schneetreiben nach einem halbverwehten Wegweiser, schlug an der Weggabelung einen scharfen Haken, erwischte Glatteis, kam kurz ins Schleudern und war wieder auf Kurs. Ich fühlte mich wie ein Klumpen Eiskrem, so hart gefroren, dass sich daran jeder Löffel verbiegt.

»Freddy macht Musik«, schnatterte ich, »so eine Art Garagen-Punk auf Haushaltsgeräten. Gegenwärtig pausiert er. Laut Tante Astrids letzten Katastrophenmeldungen ist der Kuckuck ins Nest heimgekehrt, und die armen Vogeleltern haben nicht die Kraft, ihn rauszuschmeißen.«

»Tante Astrid?« Mr.Haskells dunkle Augenbrauen zogen sich zu einem konzentrierten Strich zusammen, während wir durch das Städtchen St. Martin’s Mill glitten, vorbei an Fachwerkhäusern, die uns im schwindenden Dämmerlicht beäugten.

Es hatte endlich aufgehört zu schneien. Ich nahm den Schirm herunter und machte vorsichtig Armbeugen. »Tante Astrid ist Witwe, zieht sich immer zum Abendessen um und wurde noch nie ohne ihre Perlen gesehen. Ich glaube, sie hält sich für eine Reinkarnation von Königin Viktoria – sie spricht von sich stets im Pluralis majestatis. Sieht immer aus, als hätte sie sich gerade auf einen glühenden Feuerhaken gesetzt. Sie hat eine Tochter – Vanessa«, murmelte ich, da bog Mr.Haskell von der Straße ab und ersparte mir, Vanessa in all ihrer Femme-fatale-Pracht zu beschreiben.

»Zeit zum Auftanken«, sagte er.

»Benzin oder Nahrung?«

»Weder noch«, zügelte mich Mr.Haskell, während mir Visionen von Rührei mit Pommes durch den Kopf tanzten. »Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen, wenn wir Ihre Wärmflasche aufheizen.«

»Durchaus nicht«, schoss ich zurück. »Sie hat sich schon vor Stunden in einen Grabstein verwandelt. Aber wenn das da drüben ein Gasthaus ist, werde ich reingehen und mich bei einem dicken, saftigen Steak und Meeren von dampfendem Kaffee auftauen. Sie können machen, was Sie wollen, hier draußen Schneemann spielen oder mitkommen.«

Der arme Mr.Haskell sah hin- und hergerissen aus. Aber das Fleisch war schwach, denn er hielt unter dem knarrenden Gasthausschild, auf dem passenderweise Zur Zuflucht stand, entriss mir die Wärmflasche und stieß seine Tür auf. »Ich hoffe, Sie zahlen«, fauchte er, klopfte sich den Schnee von den Armen und stapfte ums Auto, um mir herauszuhelfen.

»Bleibt mir was anderes übrig? Sie entwickeln sich zu einem sehr kostspieligen Bedarfsartikel, Mr.Haskell.« Meine Würde litt etwas darunter, dass ich mich fest an seinen Arm klammern musste, damit mir nicht die Beine wegrutschten. »Mein Mantel« – zehn Jahre war er alt – »ist völlig ruiniert, und wenn Sie nicht auf die hirnrissige Idee gekommen wären, in Ihrem Frischluftauto zu fahren, säßen wir jetzt beide kuschelwarm in Merlins Schloss und könnten Tante Sybils köstlichen Kochkünsten zusprechen.«

»Was Sie nicht sagen. Nach Ihrer Beschreibung hatte ich eher den Eindruck, sie serviert sehr tote Fledermäuse in sehr kalter Suppe.«

Seine Vorstellung kam der Wahrheit ziemlich nahe, was meinen Zorn weiter anfachte. Wutschnaubend erreichten wir die Tür. Drinnen würdigten wir uns keines Blickes und gaben, während sich um uns kleine Pfützen bildeten, dem irritierten Mädchen hinter der Theke zu verstehen, dass wir einen Tisch für zwei brauchten. Die Antwort war patzig, aber ich schaute stur geradeaus.

Bald saßen wir vor einem prasselnden Kaminfeuer, um uns glänzte gut geputztes Messing vor handgeschnitzter Täfelung. Es war unmöglich, sich der besänftigenden Wirkung von so viel Achtzehntes-Jahrhundert-Charme zu entziehen. Ich beschloss zu vergessen, welch Wurm Mr.Haskell war.

»Gemütlich, nicht?«

»Reichlich übertrieben, die Altertümelei. Warum läuft das Mädchen da mit einer Lockenwickelhaube und im Nachthemd rum?«

»Die Kellnerin? Das ist kein Nachthemd, das ist die Tracht der Kammerzofen am Hofe Karls des Zweiten. Haben Sie Angst, sie enthüpft ins Bett, bevor wir bestellen können?«

Wir entschieden uns beide für Steak mit Champignons. Es war hart, auf die Kartoffeln zu verzichten, aber er sollte doch mein Problem für eine Drüsenstörung halten. Unser Essen kam, es brutzelte auf irdenen Tranchiertellern.

»Miss Simons«, sagte er und nahm die Gabel zur Hand, »ich schlage vor, wir üben uns in der Benutzung des Du, damit wir uns im Schloss nicht verplappern.«

Behutsam spießte ich einen Pilz auf. »Ihre Sorgfalt im Detail ist beeindruckend. Sehr professionell. Ist Ihr Rufname Bentley oder haben Sie eine Kurzform, Benny?«

»Ben«, sagte er frostig, »und Ellie, kommt das von Ellen?«

Ich schnitt ein Stück Fleisch ab, schob es auf dem Teller hin und her, zerschnitt es noch einmal.

»Von Ellen also nicht.«

»Da wir angeblich eng befreundet sind, werden Sie es erfahren müssen. Mein richtiger Name ist Giselle.« Ich schaute auf und erwischte ihn dabei, wie seine Lippen zuckten. Ob die Kellnerin was merken würde, wenn ich ihn mit der Gabel erstach und das blütenweiße Tischtuch Blutflecken bekam? Zu meiner Überraschung wurde sein Gesicht ernst und er berührte meine Hand.

»Eltern können sehr unreif sein. Solche Höhenflüge der Phantasie sind für Kleinkinder hübsch, die in ihren Stühlchen ruckeln und brabbeln, aber auch Herzblättchen und Heideröschen werden erwachsen. Namen sollten zur Ansicht vergeben werden – mit Umtauschrecht nach Entfaltung des Verstandes.«

»Danke.« Meine Stimme gab einen rauen Ton von sich. Ich werde unsicher, sobald Leute, besonders Männer, nett zu mir sind. »Mutter hat es gut gemeint, die Arme. Sie träumte davon, ich würde in ihre Fußstapfen treten und in einem duftigen rosa Tutu umherflattern.«

»Deine Mutter ist Tänzerin?«

»War. Nur in der Gruppe an kleinen Stadttheatern. So viele Pirouetten und Arabesken, und dann stolperte sie, als sie die Bahnhofstreppe runterrannte; genau wie ich kam sie immer zu spät. Inzwischen ist sie seit zehn Jahren tot.«

»Tut mir leid. Und dein Vater?«

»Irgendwo auf der Suche nach sich selbst. Momentan ist er Landwirt und Schafzüchter in Neusüdwales. Zuletzt hatte er zwei – Schafe, nicht Bauernhöfe – und wie ich Papas Pech kenne, nimmt das Mutterschaf die Pille. Eigentlich ist er toll; nächstes Jahr versucht er’s vielleicht als Feuerwehrmann oder Zirkusclown.«

»Was meine Theorie untermauert, dass Eltern, sie mögen noch so liebenswert sein, die wahren Kinder sind.« Ben ließ sich von der Kellnerin mit der Morgenhaube einen Kaffee servieren. Sie umschwänzelte ihn in sattsam bekannter Manier. Zeit, Mr.Haskell daran zu erinnern, dass er im Dienst war. Ich hatte ihn zur Genüge mit spritzigen Einzelheiten aus meiner Familiengeschichte – ausgenommen Vanessa – versorgt, jetzt war Bentley T. Haskell dran.

Er begann seine Erzählung mit der Eröffnung, er sei von seinen Eltern verstoßen, enterbt und zum Teufel gejagt worden. Wieder ein Familienstammsitz verloren? Dieser entpuppte sich als Gemüseladen in Tottenham. Ich sah die armen Eltern mit ihren verarbeiteten Händen vor mir, wie sie den aus der Art geschlagenen Sohn mit Kohlköpfen zur Tür hinausbombardierten, abriegelten und ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen« anbrachten. Aber warum?

Sein Vergehen war interessant. Mami und Papi konnten sich nicht damit abfinden, dass ihr Sohn praktizierender Atheist war.

»Praktizierend?«

»Ich war Mitorganisator einer Protestversammlung vor der Halleluja-Erweckungskirche. Das ist eine von diesen giftigen engstirnigen Sekten, die Ketzer immer noch am liebsten auf