Die Elixiere des Glücks - Max Halbe - E-Book

Die Elixiere des Glücks E-Book

Max Halbe

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Beschreibung

Der Diplomat und Schriftsteller Waldemar Lewerenz hat sich nach dem Ersten Weltkrieg in München niedergelassen, fernab von dem väterlichen Gut Barkoschin nahe Danzig und getrennt lebend von seiner Frau Sabine. Das München der Zwanziger Jahre ist in Bewegung geraten. Revolution, okkultistische Treffen, rauschende Feste wecken die Geister. In dieser Phase lernt Waldemar Angele Moradelli kennen und lieben - bis Sabine in München auftaucht. Max Halbe (1865-1944) studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und promovierte 1888 in München. Anschließend ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er gehörte zu den wichtigen Exponenten des deutschen Naturalismus. 1895 übersiedelte Halbe nach München und gründete das 'Intime Theater für dramatische Experimente'. Ebenso wurde er Mitbegründer der 'Münchner Volksbühne'. Mit Ludwig Thoma und Frank Wedekind pflegte Halbe eine Freundschaft.

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Max Halbe

Die Elixiere des Glücks

Roman

Saga

Wo die aus der Kaschubei südwestwärts heranziehende Landstraße sich mit der aus der Weichselniederung heraufsteigenden Straße in einem schrägen Kreuz schneidet, dort liegt Barkoschin.

Es ist eine teils lehmige, teils sandige, vielerorts auch aus Kies und Geröll sich aufbauende Hügel- und Höhenlandschaft, und ein großer, weiträumiger, fast zu allen Jahreszeiten schwermütiger Himmel spannt sich darüber.

Das Barkoschiner Herrenhaus steht auf einer der runden, abgeschliffenen Lehm- und Sandkuppen, am Rande einer flachen Schlucht, durch die ein aus den Waldhöhen tiefer landeinwärts daherrinnender Bach sich nach der Niederung hinunterschlängelt. Es ist ein langgestreckter, einstöckiger Backsteinziegelbau von sandfarbigem Anstrich, im Charakter der Landschaft und keineswegs von hohem Alter, wahrscheinlich erst in der Biedermeierzeit aufgeführt.

Nur wenige Wegstunden entfernt wuchs aus dem Schutt der zu Tale schießenden Bergbäche und aus dem Schlamm des mündungsnahen großen Stromes eine stolze, um sich greifende See- und Handelsstadt empor, versah sich mit rüstigen Wällen, Mauern, Bastionen und machte sich Land und Leute vor ihren Toren dienst- und zinspflichtig. Danziger Bürger- und Patriziergeschlechter drangen tief in das pommerellische Hinterland, bauten sich von ihren schnell wachsenden Handelsgewinnen neue Landhäuser und Stammsitze oder kauften die alten, halb verfallenen des verschuldeten, heruntergekommenen Landadels. So war auch Barkoschin in den Besitz Danziger Patrizier gelangt.

Seit dem Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte es die Familie Lewerenz inne. Das Haus Daniel Lewerenz und Söhne war in Danzig um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts gegründet worden, aber verschiedene seiner Vorfahren waren bereits viel früher urkundlich nachweisbar. Es hatte seinen Wohlstand mit dem landesüblichen Holz- und Getreidehandel begründet und hatte sich bis in unsere Tage dieses als unerschütterlich geltende Fundament erhalten. Etwa um 1800, wie gesagt, hatten es besonders die Frauen des Hauses Lewerenz für unerläßlich gehalten, Landbesitz zu erwerben, um der patrizischen Stellung der Familie durch die Inhaberschaft eines Rittergutes auch nach außen hin den gebührenden Glanz zu verleihen. So war Barkoschin an die Lewerenz gelangt. Es wurde Brauch in der Familie, daß Barkoschin den jüngeren Söhnen des Hauses zur Nutznießung diente, ansonsten aber Familienbesitz blieb. Da es ähnlich so auch mit der Firma selbst gehalten wurde und jeweils der Älteste nur dem Namen nach der Chef des Hauses, für die Führung der Geschäfte aber allen übrigen verantwortlich war, so konnte dieser Betrieb als eine Art von Familienaktiengesellschaft gelten, wie sie ja öfter in alten Häusern vorkommen.

Erschwernisse und Zwistigkeiten konnten dabei unter den oft sehr verschiedenartigen Charakteren nicht ausbleiben. Das Ende war, daß man vor etwa vierzig Jahren diese Art von Familiengemeinschaft aufgehoben und die entfernteren Verwandten auf gütlichem Wege abgefunden hatte. Es traf sich dabei günstig, daß die Hauptlinie des Hauses Lewerenz, das Los aller alten Geschlechter teilend, nur noch auf wenigen Augen stand. Theodor Lewerenz, der damalige Chef des Hauses, traf die letztwillige Verfügung, daß von seinen beiden Söhnen Benno, der ältere, das altberühmte Handelshaus weiterführen, dagegen Waldemar, der jüngere, das Rittergut Barkoschin überkommen solle, um mit dessen Erträgnissen die für die jüngeren Söhne selbstverständliche Juristenlaufbahn einzuschlagen.

Benno war nach den üblichen Lehr- und Wanderjahren, vor allem in England und Übersee, als Teilhaber in das väterliche Handelshaus eingetreten und hatte dem schon früh kränkelnden Vater die Hauptlast des Geschäftes abgenommen. Hier schien also die Rechnung des alten Herrn — er war es schon mit fünfzig Jahren — bis auf die letzte Dezimalstelle zu stimmen. Das eigentliche Sorgenkind der Eltern, dann — nach dem frühzeitigen Tode der Mutter — des Vaters allein, war Waldemar gewesen. Nicht etwa, daß es ihm auf dem Gymnasium an Begabung oder an Fleiß gefehlt hätte; aber schon damals hatten die Lehrer des Knaben einen nicht unbedenklichen Hang zur Träumerei in ihm entdeckt.

Studienjahre an verschiedenen Universitäten, die entscheidenden in München und Berlin, waren gefolgt. Der junge Jurist hatte neben den vorgeschriebenen Kollegs sich viel mit Philosophie, Ästhetik, Kunst- und Literaturgeschichte abgegeben, hatte die kleinen und die großen, die Zwischen- und die Endprüfungen glücklich und über dem Durchschnitt bestanden; sonach wäre für eine verheißungsvolle Beamtenlaufbahn alles aufs beste angelegt gewesen. Aber auch hier wieder hatten aufmerksame Beobachter unter seinen juristischen Lehrern oder Vorgesetzten dem angehenden Referendar, späteren Assessor eine gewisse Gleichgültigkeit gegen die juristischen Grundbegriffe schon vom Gesicht abgelesen. Der übermittelgroße, schlanke, junge Mensch mit dem steinfarbenen, graublonden Haar schien stets ein bißchen abwesend, stets ein bißchen zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, wie jemand, der sich immerfort um seine eigene Achse dreht und von den Dingen der Außenwelt eigentlich nichts wahrzunehmen scheint. Wie er dann doch zwischen all den juristischen Klippen hindurch in den Hafen des glücklich bestandenen Staatsexamens gelangt war und auch oft genug Proben einer scharfen Beobachtungsgabe in praktischen Fragen ablegte, dies war das Überraschende für alle, die mit Waldemar Lewerenz beruflich oder freundschaftlich zu tun gehabt hatten.

Wieder wurden so manche abträgliche Prophezeiungen über ihn zuschanden, als er nach dem notwendigen Vorbereitungsdienst in das Auswärtige Amt berufen und einer Überseeabteilung zugewiesen wurde. Man hatte damit einem besonderen Ansuchen von Lewerenz stattgegeben. Auch in ihm, dem jüngsten Sprossen der alten Kaufmanns- und Seefahrerfamilie, meldete sich die durch Jahrhunderte überkommene Unruhe des Blutes. Eine nie erblickte und doch der heimlichen Sehnsucht wohlvertraute Ferne lockte mit Gefahr und Abenteuer, mit leuchtenderen Farben, mit heißeren Augen, mit einer wohltätigeren Sonne.

Vielleicht lag hier auch der tiefste, Lewerenz selbst kaum bewußte Grund, warum seine Ehe mit der schönen Sabine Ortland nicht hatte von Bestand sein können. Es war eigentlich eine Liebesheirat gewesen. Lewerenz hatte sie bald nach seinem Eintritt in den Staatsdienst geschlossen, nicht gerade gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters und seiner Familie, aber auch nicht zu deren besonderer Zufriedenheit. Sabine Ortland stammte aus kleinstädtischen Verhältnissen. Ihre Vorfahren waren ehrsame Handwerker und Ackerbürger gewesen, nicht ohne einen gewissen Wohlstand, der ihrem Vater erlaubt hatte, seine Tochter früh nach Berlin auf die Schule zu schicken. Sie hatte bei Verwandten gewohnt, denen sie eine kleine Pension bezahlte. Auch als sie erwachsen war, hatten die Mittel gerade hingereicht, ihr eine bescheidene Unabhängigkeit zu sichern.

Sie war mit ihren großen, dunkelbraunen Augen, deren rätselvoller Schimmer aus dem mystischen Urgrund der Seele zu kommen schien, mit ihrem weinrot-kastanienbraunen Haar und mit den zarten Farben ihres weichen, ovalen Gesichts ein auffallend hübsches Mädchen, das sich vielleicht einmal zur Schönheit entfalten würde. Aber Schönheit ist nicht nur eine Gnade und ein Geschenk. Schönheit kann auch oft genug zum Verhängnis werden. Schon als Sabine siebzehn Jahre alt war, liefen ihr die Männer auf der Straße nach. Sie war, trotz ihrer Berliner Schulerziehung, in gewissen Dingen noch immer ein naives Kind der Kleinstadt geblieben, nahm alles, was man ihr sagte oder vorhielt, blutig ernst, war durch jedes auch nur andeutende Wort in tiefster Seele verwundet und verschloß sich immer mehr in ihren inneren Bezirk, je weniger sie sich von den anderen verstanden glaubte.

Natürlich waren auch ernste Bewerber des schönen Mädchens da. Sie wollte von keinem etwas wissen, schlug alle. Anträge aus und zog sich nun wiederum den Unwillen der ewig nörgelnden Verwandten zu.

Sabine mußte ihr Herz sprechen lassen. Sie sagte es sich nicht mit klaren Worten, aber sie war ganz von dem Gefühl durchdrungen, daß es kein anderes Gesetz für sie geben dürfe. In einer Zeit, wo die meisten jungen Mädchen ihrer Altersklasse, Freundinnen und frühere Mitschülerinnen, entweder sehr ungebundene oder sehr praktische Vorstellungen über Liebe, Ehe, Verhältnisse an den Tag legten, huldigte Sabine einer Gefühlsromantik, die ihrer ganzen Umgebung unbegreiflich erschien. Zum wenigsten war sie ein Luxus, der nicht geduldet werden dürfe. Es war eine harte und dunkle Zeit für Sabine, voll Nadelstichen, Demütigungen, Schikanen. Aber Sabine ertrug es, weil sie es nicht anders wußte, als daß sie sich die Reinheit des Herzens bewahren müsse.

Und dann war eines Tages Waldemar Lewerenz in ihr Leben getreten. Eine zufällige Begegnung irgendwo in der märchenhaften Stadt, die wie eine ungeheure Lotterietrommel die Lose von Millionen in sich beherbergte und sie mit jeder Umdrehung ihres kunstvollen Mechanismus wahllos, millionenfach durcheinanderwirbelte. Sabine liebte zum erstenmal. Ihr war, als sei plötzlich die Welt um sie herum in Flammen aufgegangen und sie befinde sich mit dem Geliebten allein in der Schöpfung, das erste und zugleich das letzte Menschenpaar. Sie konnte nicht begreifen, daß sie schon vordem gelebt hatte und daß sie nach diesem, wenn es denn einmal enden müsse, noch werde leben können. Sie hatte bis zu ihrem neunzehnten Jahre nichts von ihrem Herzen gewußt. Jetzt war nichts mehr in ihr als das Gefühl dieses Herzens, diese einzige und einmalige Liebe, an die sie sich ganz und für immer verschenken wollte. Schon in der ersten Minute jener Begegnung mit Lewerenz hatte der Blitzstrahl des Wunders ihre Seele getroffen. Alle Herbheit, Sprödigkeit, Eigenwilligkeit ihres Wesens war mit einem Schlage in seinem Feuer dahingeschmolzen. Durch und durch verwandelt, als ein ganz neuer, sich selbst wesensfremder und dennoch — hier eben war das unbegreifliche Wunder — mit diesem fremden, neuen Wesen bereits völlig eins gewordener Mensch verließ Sabine den Ort ihres ersten zufälligen Zusammentreffens, eine kleine Vorstadtkonditorei.

Vielleicht war es doch nicht so ganz zufällig, daß Lewerenz den Platz neben dem schönen Mädchen gefunden hatte, nachdem ihn die Unruhe seines Blutes wieder einmal, wie so oft, von der Arbeit fortgetrieben und durch halb Berlin nach dem Rosentaler Viertel versprengt hatte. Mehr Frauenkenner als Frauenliebling, der er war, hatte er, als seine Augen über das schwatzende und gaffende Sonntagspublikum der Konditorei hinglitten, sofort in der Fülle gleichgültiger Alltagsgesichter das eine und einzige Menschenantlitz herausgefunden, um dessentwillen es sich lohnte, von der Arbeit aufgesprungen und wie besinnungslos durch die Straßen gerannt zu sein. Auch auf ihn war mit dem ersten Anblick Sabines eine Feuergarbe jenes Blitzstrahls niedergefahren und hatte sein Innerstes um und um gewühlt.

So war es gekommen. Noch ehe sie das erste Wort zusammen sprachen, hatten die beiden sich ineinander verliebt. Wo hörte hier der Zufall auf? Wo fing das Walten des persönlichen Geschicks an? Lewerenz legte sich nachmals oft diese Frage vor, aber er konnte nie zu Ende mit ihr kommen, ein so gewiegter Psychologe und Selbstbeobachter er auch war.

Die beiden Menschen waren ein Paar geworden; nicht vor dem Gesetz, aber vor ihrem Gewissen. Lewerenz gehörte nicht zu jener weitverbreiteten Art von Männern, die in der Hingabe einer Frau so etwas wie einen Makel erblicken. Aber er wußte nur zu gut, wie man in seinen Kreisen über derartige Beziehungen dachte. Seiner ganzen Natur nach neigte er mehr zur Anschauung und Betrachtung als zum aktiven Handeln. Aber er war nicht gesonnen, das Mädchen, das er liebte und das sich ihm mit aller Reinheit seiner Seele geschenkt hatte, vor den Menschen herabwürdigen und zum Opfer der öffentlichen Klatschsucht werden zu lassen. Sabine wäre es gleich gewesen, wie man über sie urteilte. Sie überließ sich ganz nur ihrem entfesselten Gefühl und zweifelte nicht, daß es sie schon den richtigen oder wenigstens den notwendigen Weg geleiten werde, mochte er auch an Abgründen entlang führen oder gar darin enden. Die Stimme des geliebten Mannes gab natürlich den Ausschlag für sie: es sollte, wenn möglich, niemand von ihren Beziehungen erfahren. Erstes Gebot war, sich nicht zusammen in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. In der Tat gelang es Lewerenz, das Verhältnis mehr als zwei Jahre geheimzuhalten.

Aber das Leben steht nicht still. Gerüchte und Klatschereien tauchten auf. Man wurde eben doch beobachtet. Das tausendköpfige Ungeheuer der öffentlichen Meinung hatte seine Augen überall, selbst da, wo man am sichersten vor ihm zu sein glaubte. Überraschend plötzlich kam der Moment, wo klare Entscheidungen fallen mußten: Heirat oder Trennung. Denn die dritte Möglichkeit, das Verhältnis nun in aller Öffentlichkeit fortzusetzen, glaubte Lewerenz vor der Geliebten nicht verantworten zu können. Er entschloß sich schnell, noch ehe die Geschichtenträger, vor allem die Herren Kollegen im Amt, richtig Zeit gefunden hatten, ans Werk zu gehen. Eines Vormittags standen Lewerenz und Sabine vor dem Standesbeamten in der Genthiner Straße.

Hätte man nicht überzeugt sein müssen, daß ein Liebesbund, auf solche Weise begonnen und vollendet, alle Gewähr einer glücklichen Dauer in sich tragen werde? Und doch sollte der Verlauf der Entwicklung sich ganz anders gestalten. Die Gründe dafür waren von allem Anfang an im Charakter der beiden Menschen vorgezeichnet gewesen. Die äußeren Umstände hatten nur bisher ihre Entfaltung verhindert oder doch nicht begünstigt.

Erst jetzt im gleichförmigen Nebeneinander der gemeinsamen Häuslichkeit, unter dem eintönigen Tropfenfall der aufeinanderfolgenden Tage wurde es anders. Lewerenz und Sabine begannen sich zu erkennen, wie einst den ersten Menschen gegenseitig die Augen über sich aufgegangen waren, als sie von der verbotenen Frucht genossen hatten. Sabine war eifersüchtig, und Lewerenz gab ihr auch öfters Veranlassung dazu, so sehr er es ihr gegenüber und schließlich auch vor sich selbst bestritt.

Von jeher hatte unter den Urelementen seines Wesens die Phantasie die Vormacht gehabt. Sie hatte ihm ferne Länder, fremde Völker, vergangene Kulturen, weitentlegene Zeitalter in einem unwirklichen Zauberlicht erscheinen lassen, vor dem alle Gegenwart verblaßte, jeder augenblickliche Besitz oder Genuß seinen Reiz verlor. Wo du nicht bist, dort ist das Glück! Dieser Sinnspruch, den er irgendwann einmal gelesen hatte — es war sehr lange her —, hatte ihm nie aus dem Sinn kommen wollen. War es nicht ähnlich so auch mit seinem Verhältnis zur Frau, richtiger vielleicht zu den Frauen? Zur Vielheit der Frauen, die dann doch wieder eine Einheit war? Also zum Frauengeschlecht überhaupt?

Sabine verstand ihren Mann immer weniger. In jedem Wort, jedem Blick, die er einer anderen schenkte, empfand sie eine Untreue gegen sich selbst, einen Verrat am Heiligsten, was sie hatte: an ihrer Liebe zu diesem Manne, dieser einen einzigen, großen, alles erfüllenden Liebe. Sie war ihr Leben, ihr Schicksal geworden, ihr Anfang und ihr Ende. Vorher war nichts gewesen, und nachher konnte nichts mehr kommen, dies war von Gott so bestimmt. Und jetzt war er es, dieser selbe, trotz allem noch immer blindlings geliebte Mann, der verklärte Held ihrer Mädchenträume — er war es, der sie verriet, der alles in ihr zertrat und den sie fortan hassen mußte, wie sie ihn vordem geliebt hatte. Und dies war kein leeres Wort für sie. Sabine konnte von ganzer Seele hassen, wie sie von ganzer Seele liebte. Eigentlich war es nur die Kehrseite eines und desselben Gefühls. Eine Stunde kam, in der Sabine dies mit Schrecken erkannte.

Wieder wurde es mit ihr, von außen gesehen, wie in den Tagen ihrer Mädchenzeit, ehe jener Blitz aus der Hand des Ewigen niedergezuckt war und ihre Seele um und um geschmolzen hatte. Sie erschien im letzten Abschnitt dieser Periode den Menschen, die sie sahen, dem Kreise, in dem sie verkehrte, nicht zuletzt auch Lewerenz selbst oft fremd und unbegreiflich. Und je bestimmter ihr selbst diese Meinung der anderen über sie zum Bewußtsein kam, desto mehr bestärkte und verhärtete sich ihr Trotz gegen jene anderen und vor allem gegen den gehaßten und dennoch ewig geliebten Mann. Niemand wußte, wie ihr zumute war. Niemand drang bis zu den Toren vor, die das Geheimnis ihrer Seele hüteten. Gut! So wollte sie es ihr Leben lang für sich behalten, und wenn sie die Zähne zusammenbeißen mußte! Sie war in diesen Jahren eine schöne Frau geworden, aber es war die Unnahbarkeit einer Amazone um sie, die die Männer gleichzeitig anzog und abschreckte.

Dieser Zustand der Schwebe, des Schweigens, der immer zunehmenden Zurückhaltung und Entfremdung zwischen Waldemar und Sabine währte drei Jahre. Es war jene üppigste deutsche Zeit, nicht lange vor dem großen Kriege. Alle Welt wetteiferte in Wohlleben und Luxus miteinander. Die im Reichtum schwimmende Hochfinanz ging natürlich voran. War es nicht selbstverständlich, daß die hohen Beamtenkreise dem Beispiel folgten? Den Angehörigen des Auswärtigen Amtes oblag es schon von Berufs wegen, größere gesellschaftliche Aufwendungen zu machen.

Auch im Hause Lewerenz ging es oft lebhaft und festlich zu. Man pflegte, wie es die Umstände mit sich brachten, weniger den kleineren Familienverkehr als den großen gesellschaftlichen Umgang von ausgesprochen repräsentativem Charakter. Der Frack und die große Abendtoilette neben der selbstverständlich herrschenden Uniform und der flimmernden Ordenspracht der exotischen Diplomatie verliehen diesen Abendeinladungen und Bällen die äußerlich bestimmende Note.

Lewerenz galt als ein Mann von künstlerischem Geschmack und starken literarischen Neigungen, das wußten seine Kollegen und Vorgesetzten schon lange. Worüber man sich wunderte, das waren die gesellschaftlichen Talente, die Sabine entfaltete. Es war ja doch schon ein heimliches Geflüster über die Beziehungen der beiden gewesen. Sabines Herkunft aus kleinen, bürgerlichen Verhältnissen stand ohnehin fest, wurde von ihr und Lewerenz auch nicht einmal verborgen gehalten. Als nun Sabine sich schnell in ihre Rolle hineinfand und mit großer Sicherheit in diesem maßlos skeptischen und ironischen Kreise sich bewegte, war zuerst des Kopfschüttelns und Nichtbegreifenwollens kein Ende. Aber Sabines gute Haltung, ihr sicheres Gefühl, ihr untrüglicher Takt halfen ihr über diese erste und schwerste Zeit des Klatsches und der Nachrede hinweg. Den Sieg entschied, wie natürlich, ihre Schönheit, ihr Reiz als Frau. Die spöttischen Zungen der Männer verstummten schnell. Etwas länger dauerte es bei den Damen. Aber auch sie wurden allmählich still. Der Ehebund zwischen Waldemar und Sabine Lewerenz war zu einer feststehenden, nicht mehr abzuleugnenden Tatsache geworden.

Und doch: um dieselbe Zeit, wo sich die Anerkennung der Lewerenzschen Liebesheirat in der Gesellschaft vollzogen hatte, war die Ehe der beiden Menschen innerlich beinahe völlig zerstört. Vor der fernerstehenden Öffentlichkeit galt ihre Ehe noch lange als ein mustergültiges Beispiel. Die Freunde des Hauses blickten freilich tiefer. Sie sahen, wie Waldemar und Sabine sich immer mehr aus dem Wege gingen, aneinander vorbeisprachen, jeder sein eigenes Leben lebte.

Und eines Tages war es zu Ende. Von beiden längst geahnt, oft ersehnt und dann doch gefürchtet kam der Bruch, wie meistens in solchen Fällen, von einer unerwarteten Seite und ganz überraschend. Lewerenz hatte seine Ernennung zum Legationsrat bei der Gesandtschaft in Tokio erhalten. Man war lange auf so etwas vorbereitet gewesen, es war eine Etappe in der vorgesehenen Laufbahn. Dann hatte sich die Versetzung immer wieder hinausgezögert; als jetzt das amtliche Schreiben ins Haus kam, war es beinahe wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Einer von Lewerenz’ Freunden machte daraufhin im größeren Kreise zu dem neuen Legationsrat Bemerkungen über den Liebesmarkt in Yoshiwara, den kennenzulernen sich ihm nun hinreichende Gelegenheit bieten werde, und Lewerenz gab eine seiner ironischen Antworten, die man wohl auch als Zustimmung deuten konnte. Bereits am nächsten Tage wußte es Sabine. Ihr Entschluß, mit dem sie schon lange gerungen hatte, stand von diesem Augenblick an unerschütterlich fest. Ihr Mann sollte allein nach Japan gehen. Sie wollte ihn freigeben, wollte ihn unbeschwert, ledig jeder Fessel seine Straße in die Welt ziehen lassen: so wie er es sich längst, davon war sie überzeugt und ließ sich nicht davon abbringen, ja, wie er es sich längst ersehnt und erträumt hatte.

Die entscheidende Stunde kam schnell. Sabine sagte Waldemar alles, was sie auf dem Herzen hatte. Aber es erleichterte sie nicht. Es verhärtete ihren Trotz nur um so mehr. Ja, wäre nur ein einziges liebendes oder um Verzeihung bittendes Wort aus seinem Munde gekommen! Vielleicht wäre sie ihm noch jetzt um den Hals gefallen, und alles wäre vergessen gewesen. Aber nichts dergleichen geschah. Nur in seinen Augen hatte etwas gestanden ... War es Liebe, Reue? War es Bitterkeit, Trotz? Sabine bedachte nicht, ja sie wollte nicht einmal bedenken, daß eben das, was ihr selbst den Mund verschloß, auch ihm, dem Geliebten, Angefeindeten, nun für immer Verlorenen, die Lippen versiegelte. Diese beiden Menschen, die in zwei ganz verschiedenen Sprachen zueinander redeten, vielmehr in ihnen schwiegen, hätten nur auf ein Wörtchen der einen, urewigen Elementarsprache des Herzens zu kommen brauchen, und alles hätte noch Verstehen und Harmonie werden können. Aber vielleicht müssen Lebensläufe, wie Flüsse und Ströme auf diesem Stern, einander noch so nahe, doch immer wieder sich voneinander entfernen, um schließlich erst in dem ewigen Meer sich ganz und für immer zu vereinigen.

Waldemar und Sabine kamen überein, fortan getrennt voneinander leben zu wollen. Man wünschte keine Scheidung. Man wollte nur eine Trennung, wozu ja die Verhältnisse die einfachste und selbstverständlichste Handhabe boten. Lewerenz würde in Japan sein oder wohin sonst ihn der Wirbelwind des Außendienstes verschlüge. Sabine wollte nach Barkoschin gehen, dem Stammgut ihres Mannes, wo sie die glücklichsten Wochen ihrer jungen Ehe mit ihm verlebt hatte. Waldemars alter Oheim Julius, ein Inventarstück des Hauses Lewerenz, waltete dort an Stelle des fast immer abwesenden Gutsherrn als Administrator und wirtschaftete mit seiner vierzigjährigen Erfahrung das Menschenmögliche aus dem zwar großen, aber doch von der Natur nur karg bedachten Besitz heraus.

Lewerenz reiste nach Japan ab. Der Abschied zwischen den beiden Ehegatten war kühl und förmlich. Es war zuviel Bitternis in dieser Stunde, als daß es anders hätte sein können. Der hochherrschaftliche Haushalt in der Regentenstraße, wo sie tief in Gärten gewohnt hatten, wurde aufgelöst. Sabine ging nach Barkoschin. Trotzig, verschlossen, menschenfeindlich, wie sie in der letzten Zeit geworden war, sehnte sie sich nach Einsamkeit, nach Stille, Selbstbesinnung und vermied, so gut es ging, den Verkehr mit den Nachbarn.

Nur mit Onkel Julius verstand sie sich ausgezeichnet. Es war schon damals, als sie in Barkoschin ihre Flitterwochen verbracht hatte, eine Freundschaft auf den ersten Blick gewesen. Bei der sehr kritischen Veranlagung des scharfzüngigen, alten Herrn konnte sich Sabine etwas auf diesen Erfolg einbilden. Julius Lewerenz war eins von jenen jüngeren Mitgliedern des Hauses gewesen, denen in dem früheren Stande der Dinge das Erträgnis von Barkoschin gewissermaßen als Leibrente zugestanden hatte. Nach der vor einem Menschenalter erfolgten Abfindung und Neuordnung hatte Julius Lewerenz die Verwaltung des Gutes übernommen und sie zuerst für Theodor Lewerenz senior, nach dessen Tode für Waldemar Lewerenz bis zu diesem Tage geführt. Beide, Vater und Sohn, hatten sich ja um Barkoschin nicht kümmern können und wären ohne Onkel Julius auf fremde Hilfe angewiesen gewesen.

Waldemar Lewerenz blieb zwei Jahre in Tokio, ging dann als Konsul nach Tientsin, und hatte gerade seine Versetzung nach Buenos Aires erhalten, als der Weltkrieg ausbrach. Während der drei Jahre, die er in Ostasien zubrachte, hatte sich, zuerst stockend und zögernd, dann offener und häufiger, ein Briefwechsel zwischen ihm und Sabine entwickelt, der schließlich den Ton ehrlichen Vertrauens, herzlicher Kameradschaft annahm. Von wem der Anstoß dazu ausgegangen war, wußten beide nachher nicht mehr zu sagen oder wollten es sich nicht eingestehen. Vielleicht hatte Lewerenz ein erstes Lebenszeichen von unterwegs geschickt, vielleicht war um die gleiche Zeit ein kurzer Wirtschaftsbericht von Sabine abgegangen; irgendwo im Indischen Ozean, vielleicht zwischen Colombo und Singapore, hatten die Schiffe sich gekreuzt, die zwischen den beiden Botschaft hin- und hertrugen.

Waldemar Lewerenz hatte es unternommen, als China mit in den Krieg eintrat, sich von Ostasien nach Deutschland durchzuschlagen. Er hatte Glück und gelangte im Frühling des zweiten Kriegsjahres in die Heimat, gerade noch rechtzeitig genug, um an dem großen Vorstoß in Galizien und am Durchbruch bei Tarnow-Gorlice teilzunehmen. Aber der Aufregungen und Strapazen der letzten Monate waren zu viele gewesen. Seine niemals allzu feste Gesundheit hatte stark darunter gelitten. Er erkrankte und mußte längere Zeit erst im Feldlazarett, dann im heimatlichen Spital eine Lungenentzündung mit ihren Folgen auskurieren.

Der mehrwöchige Erholungsurlaub hatte ihn zum erstenmal wieder mit Sabine zusammengeführt. Die Begegnung fand in Berlin statt. Waldemar machte dort auf dem Wege nach Barkoschin halt. Sabine wiederum, die bei der Ankündigung von Waldemars Kommen Barkoschin verlassen hatte, wollte für eine Zeitlang in Berlin Aufenthalt nehmen. Das Zusammentreffen zwischen den beiden Ehegatten war in der ersten Stunde etwas beklommen, wurde dann wärmer, ungezwungener, ohne doch über den kameradschaftlichen Ton hinauszugelangen. Sie hatten sich vier Jahre nicht gesehen. Waldemar fand Sabine schöner als vordem. Sie hatte sich in diesen Jahren der Einsamkeit, der Abseitigkeit erst voll entfaltet. Aber auch ihre Herbheit, Verschlossenheit, Sprödigkeit schien noch gewachsen zu sein. Etwas Neues hatte sich entwickelt, was Lewerenz überraschte. Man hätte es als eine gewisse Bodenständigkeit und Landfrauenart bezeichnen können. Man spürte in allem, was sie sagte, die Tapferkeit und Entschlossenheit der Gutsbesitzerin, die es mit ihrer Verantwortung ernst nahm.

Wenn sie auf diese Fragen zu sprechen kam, so verlor sich sogar ihre sonst gewohnte Zurückhaltung und Schweigsamkeit. Die Züge der „Marmorbraut“ belebten sich (dies war der Spitzname, den man ihr auf den Nachbargütern gegeben hatte), sie konnte sich sehr lebhaft und temperamentvoll über dies alles auslassen. Im fortwährenden Verkehr mit Onkel Julius hatte sie viel gelernt und sich seine praktischen Erfahrungen zunutze gemacht. Wenn die beiden nicht die Zügel fest in der Hand gehalten, fremde Leute statt dessen in Barkoschin gewirtschaftet hätten, so hätte Lewerenz bei seiner Rückkehr vielleicht eine zusammengebrochene Wirtschaft vorgefunden.

Waldemar und Sabine schieden nach diesen Berliner Tagen als gute Freunde und Kameraden. Warum es nicht mehr wurde? Warum der geheime Unterton, der manchmal schalkhaft in ihren höchst sachlichen Gesprächen über Milchwirtschaft und Rübenschnitzelverwertung hervorblinzelte, nicht als siegreicher Sonnenstrahl die Nebelschwaden dieses nun schon viele Jahre währenden Herbstes ihrer Seelen durchbrechen konnte? Vielleicht hätte es, wie damals, als Lewerenz die Reise nach Japan antrat, nur eines kleinen, schlichten Wörtchens, nur eines Blickes, nur einer instinktiven Bewegung bedurft, um sie wieder zueinanderzuführen. Aber weder damals noch jetzt wurde das Wort gesprochen, kam es zu dem einen lösenden Blick, zu der alles erklärenden, alles beschließenden Umarmung. Zweimal hatten die beiden Menschen, die doch geglaubt hatten, füreinander geboren zu sein, den richtigen Augenblick des Wiederfindens versäumt. Würde er noch jemals von neuem erscheinen?

Lewerenz’ diplomatische Fähigkeiten hatten sich in Tokio und Tientsin aufs beste bewährt und waren auch höheren Orts anerkannt worden. So kam es, daß er nach seiner Wiederherstellung von der Obersten Heeresleitung für besondere Dienstleistungen angefordert wurde. Ein unstetes, nicht immer gefahrloses Wanderleben begann und währte bis zum Kriegsende. Bald tauchte er in geheimer Mission in Wien oder Sofia auf, dann wieder in Bern. Er war sogar einige Tage in England. Er hatte schon in seinem Danziger Kaufmannshause Englisch gelernt und sprach es wie seine Muttersprache. Trotzdem wäre es ihm beinahe an den Kragen gegangen. Er entkam nur wie durch ein Wunder. Aber dies war ja die Erfahrung, die er schon so oft in seinem Leben gemacht hatte. Das Wunder oder dasjenige, was wir so nennen, weil wir zufolge der unzureichenden Spannweite unserer irdischen Erkenntnis seine geheime Verflechtung mit unserem Geschick nicht mehr zu durchschauen vermögen — das Wunder war ihm mit einer Art von unbegreiflicher Zuverlässigkeit noch immer zur Seite getreten, wenn es wirklich am notwendigsten war und auch nicht der geringste Lichtschimmer mehr sich in dem finsteren Labyrinth seines Schicksals gezeigt hatte. Dann war dieser Schutzengel, diese Fee oder wie man es bezeichnen wollte, plötzlich von der Höhe herabgestiegen oder aus der Tiefe emporgetaucht; ein ungewiß phosphoreszierendes Licht gleichsam hatte die verzweifelte Finsternis erhellt und ihn auf eine nicht mehr erhoffte Weise ins Freie geführt. Gerade das Kriegserlebnis in England bestätigte ihm auf das nachdrücklichste jene schon früher gemachte Erfahrung, an die er doch mit nüchternen Sinnen nie so recht hatte glauben wollen. Immer fester verwurzelte sich in Lewerenz das Gefühl, daß wir nicht nur aus dem Geheimnis kommen und wieder in das Geheimnis eingehen, sondern daß auch die Spanne dazwischen, unser Leben, vom tiefsten Geheimnis umgeben ist.

Lewerenz hatte seine politisch-diplomatische Aufgabe während der letzten düstersten Periode des Krieges öfters nach Wien und München geführt. Besonders in Wien hatte er herzbeklemmende Studien für den bevorstehenden Zusammenbruch machen können. Das Gespenst des Hungers schlich durch die Straßen, man begegnete ihm auf Schritt und Tritt. Erschütternd war in den nebligen Morgenstunden dieses letzten Kriegsherbstes der Anblick der in Reih und Glied geformten, von Wachleuten kommandierten Menschenhaufen vor den Bäckertüren: Männer in abgerissenen, geflickten, zerflederten Anzügen, die fast schon Lumpen waren, Frauen in Umschlagetüchern oder armseligen, zerschlissenen Kleidchen.

Lewerenz’ Aufgabe brachte es mit sich, daß er auch viel in Literaten- und Pazifistenkreisen zu verkehren hatte. Er hatte bald die Erfahrung machen können, daß beides ungefähr gleichbedeutend war. Nicht wenige von diesen schreibenden und dichtenden Pazifisten trugen noch die militärische Uniform, hatten teilweise sogar Offiziersrang und füllten die Schreibstuben des Kriegspressequartiers. Von ihnen hörte man die lautesten und heftigsten Reden gegen den mörderischen Krieg.

Lewerenz war nicht der Mensch, der die furchtbare Last der Zeit auf die leichte Achsel nahm. Er hatte genug des Grauens gesehen und erlebt, um nicht den Gedankengängen seiner pazifistischen Bekannten ihre theoretische Berechtigung zuzuerkennen. Aber er glaubte aus dem bisherigen Verlauf der Menschengeschichte auch nicht den leisesten Anschein einer Hoffnung entnehmen zu können, daß es mit der Menschennatur jemals werde anders werden. War der Krieg denn im Grund wesensverschieden von den übrigen Gottesgeißeln, die in kleineren oder größeren Zeitabständen immer wieder über die Menschheit dahinfegten? War er, nur aus geistiger Quelle stammend, nicht ebenso eine Seuche wie jene anderen, die Welt verpestenden und dezimierenden Seuchen körperlicher Natur? In den verräucherten Ecken, auf den verschmutzten Polstersofas der alten Wiener Kaffeehäuser, wo die uniformierte und nicht uniformierte Boheme ihre Stammsitze hatte, wurde Abend für Abend bis zur Polizeistunde über diese Fragen gestritten, ohne daß man jemals zu einem schlüssigen und beweiskräftigen Resultat gekommen wäre. Oft wurden diese Symposien noch in irgendeinem Privatquartier fortgesetzt. Man stieg in den imposanten Mietshäusern des Ringstraßenviertels vier oder fünf Marmorstiegen hinauf, drang in den nächtlichen Frieden einer Familie ein und lagerte sich auf den vorhandenen Sitzgelegenheiten. Die aufgescheuchte junge Frau oder Freundin hatte Kaffee zu kochen. Auch an Schnäpsen und einem anständigen Tropfen Wein fehlte es trotz der Not der Zeit noch immer nicht. Dann wurde über Krieg und Pazifismus weitergestritten, obwohl eigentlich kaum Meinungsverschiedenheiten darüber waren. Später kamen Erotik und galante Abenteuer an die Reihe, natürlich nicht um ihrer selbst willen, sondern „unter weltanschaulichen Gesichtspunkten“. Auch die anwesenden Damen beteiligten sich eifrig daran.

Lewerenz hielt sich gerade in einer Sondermission in München auf, als die Nachricht vom deutschen Waffenstillstandsangebot eintraf. Es waren finstere Spätoktobertage, die er in der altvertrauten und geliebten Stadt verlebte. Sie war kaum wiederzuerkennen, hatte ihr sonst so heiteres, lebensfrohes Antlitz in finstere, drohende Falten gelegt. Ein Brandgeruch lag in der Luft, irgendwo im geheimen schien es zu knistern, zu schwelen. Überall auf den Straßen, in den Elektrischen, in Wirtschaften und Geschäften wurden lärmende und aufsässige Reden geführt. In großen Volksversammlungen wurde laut zum Umsturz aufgerufen und sein nahe bevorstehender Termin angekündigt.

Und dann war jener Novembertag da, dessen bleiche Nebelsonne das lange Erwartete geschehen sah: der König und die Regierung auf der Flucht, unbestrittener Sieg der „Revolution“. Lewerenz hatte das Ereignis bereits am Abend vorher in einem Kreise der Schwabinger Boheme voraussagen hören. Nach allem, was er selbst mitgemacht und beobachtet hatte, bezweifelte er nicht, daß die Ankündigung sich bewahrheiten werde. Er war mit seiner Nervenkraft am Ende. Diese Jahre hatten alles, was an aktiven Fähigkeiten, an handelnden Energien in ihm lebte, auf das äußerste angespannt und zur Entladung gebracht. Jetzt lechzte er nach Ruhe, Sammlung, Einsamkeit. Die gleich darauf auch in Berlin eintretende Umwälzung erfüllte in dieser Beziehung alle seine Wünsche. Neue Männer zogen in das Auswärtige Amt ein. Lewerenz erbat seinen Abschied und erhielt ihn innerhalb achtundvierzig Stunden. Der dreiundvierzigjährige Mann trat als Geheimer Legationsrat in einen vorzeitigen Ruhestand. Aber er hatte Augenblicke, wo er sich vorkam, als sei er hundert Jahre alt.

Was ich nie für möglich gehalten hätte, sagte er zu sich selbst: jetzt ist es da. Ich bin reif für Barkoschin. Ich werde meinen Kohl bauen und meine Erinnerungen schreiben. Vielleicht sind von dem Häufchen Asche, das mir von meinem Leben geblieben ist, noch ein paar Funken übrig, die es sich verlohnt anzufachen.

So kam er nach Barkoschin. Es war sein fester Vorsatz, sich für immer hier einzugraben und nach den Stürmen des letzten Jahrzehnts, nach all dem blutigen Wahnsinn, den er mitgemacht hatte, sich ganz der Einsamkeit und seinem eigenen Menschentum zu ergeben.

„Also wann soll’s denn wieder losgehen mit der Reise ins gelobte Land?“ fragte der kleine, alte Herr in der Pelzjoppe, der neben Waldemar Lewerenz auf dem Wirtschaftshof von Barkoschin stand und aus einem halbgefüllten Sack den Gänsen, Enten und Hühnern Getreide hinstreute. Er war breitschultrig, untersetzt, sein Kopf schien fast ohne Hals in den Schultern zu stecken, wie man es bei Buckligen und Verwachsenen sieht. Aber wer dies von Julius Lewerenz — auch Onkel Julius genannt — gedacht hätte, der wäre im Irrtum gewesen. In seiner Jugend war er von ganz geradem Wuchs und unverbildeten Gliedmaßen gewesen und hatte in dem Ruf gestanden, ein rechter Schwerenöter und Mädchenjäger zu sein. Erst die Jahre und „das verfluchte Reiß-mantüchtig“ hatten seinen Rücken wie ein Krummholz gebogen und diese sattelartige Vertiefung zwischen Kopf und Schultern hervorgebracht, die wie geschaffen schien, einen Zentnersack aufzuladen.

Onkel Julius hatte auch in der Tat in den vierzig Jahren, die er nun schon in Barkoschin, nicht als eigener Herr, immer nur im Namen eines anderen wirtschaftete, viele solcher Zentnersäcke auf seine stämmigen Schultern gehoben und sie den ziemlich weiten Weg von der Scheune zum Speicher und noch die Speichertreppe hinaufgetragen, ohne in die Knie zu knicken. Dies war ganz aus seinem freien Willen geschehen; es war niemand da, der es ihm etwa hätte befehlen können. Julius Lewerenz, wenn auch dem Namen nach nur angestellter Administrator des Gutes, war ja doch der unumschränkte Herr auf Barkoschin gewesen; wie er kommandierte, so geschah es. Aber gerade weil dies so war, deshalb hatte Julius Lewerenz, der immer mehr in die Rolle des alten Familienfaktotums hineinwuchs, es auch für seine Pflicht und Schuldigkeit gehalten, den Knechten und Instleuten, der ganzen Schar des Gesindes mit gutem Beispiel voranzugehen und besonders dem jungen, rotznäsigen Volk zu zeigen, daß es auch unter den Alten und gerade unter ihnen noch Männer von Schrot und Korn gab.

„Also wann soll’s losgehen ins Vergnügen?“ wiederholte der forsche, kleine Mann, der erst wenige graue Fäden in seinem borstenartig abstehenden, schwarzen Haar hatte, und zwinkerte seinen Neffen listig von der Seite an. Er mußte dazu ein Stück weit emporsehen, denn Waldemar war gut einen Kopf größer, von schlanker, biegsamer Figur. Es war keine Ähnlichkeit zwischen Onkel und Neffen. Wie jener schwarz war, so war dieser blond, was bei jenem in die Breite wuchs, ging bei diesem in die Höhe. Aber gerade diese Gegensätze schienen sich anzuziehen. Onkel und Neffe waren in den zwei Jahren ihres täglichen Beisammenseins aufs beste miteinander ausgekommen.

Waldemar Lewerenz, der belustigt den heranwatschelnden Enten, dem flatternden Hühnervolk, den kreischenden und zänkischen Gänsen zugesehen hatte, strich sich auf die wiederholte Frage des Onkels mehrmals über die Stirn und das volle, blonde Haar. Es schien eine beliebte Bewegung von ihm zu sein, wie man es bei zerstreuten, von ihren Gedanken hingenommenen Menschen häufig findet. „Ja, wann es losgeht, Onkel Julius?“ sagte er, sich besinnend, als müsse er erst den Faden suchen. „Wann es losgeht? Sie wissen, ich mache nicht gern Pläne über den Tag hinaus ...“

„Merkwürdig, wie du dann zu den Antipoden gekommen bist!“ unterbrach ihn Onkel Julius. „Oder sind es vielleicht nicht unsere Antipoden? Die Chinesen und die Japaner? Sie nähren sich doch von Haifischflossen und Schnepfendreck? Und zum Frühstück nehmen sie Butterbrot mit Regenwürmern!“

Lewerenz war nicht in der Laune, auf die ethnographische und gastronomische Abschweifung des Onkels einzugehen. Er kannte die bizarren Seitensprünge des alten Herrn und achtete kaum noch darauf. „Sabine kommt morgen früh an“, fuhr er fort und strich sich wieder über die Stirn. „Ich werde also höchstwahrscheinlich morgen abend abreisen. Es ist selbstverständlich, daß ich sie hier begrüße. Wir werden Zeit haben, noch alles Geschäftliche und Wirtschaftliche zu besprechen. Und abends fahre ich.“

„Piele! Piele! Piele!“ machte Onkel Julius, holte eine Handvoll Gerstenkörner und dann noch eine und noch eine aus dem offenstehenden Sack und streute sie in einem weitausholenden Kreis auf den leichtgefrorenen Boden. Alles, was an Federvieh noch auf dem Misthaufen und in den entfernteren Winkeln des Hofes gesäumt hatte, kam auf diesen wohlvertrauten Lockruf des Alten kreischend hergerannt und herbeigeflattert. Gänse und Enten stürzten sich auf die Stellen, wo die Körner am dichtesten gesät waren, und zischten die etwa sich mitbewerbenden Hennen und Hähne wütend an; diese wieder balgten sich untereinander. In wenigen Augenblicken war der ganze Körnerhaufen aufgepickt, auch nicht ein Körnchen mehr zu entdecken.

„Siehst du, mein Sohn!“ bemerkte Onkel Julius und schmunzelte. „So geht’s in der Welt zu. Wir machen’s auch nicht anders. Aber die da sind wenigstens ehrlicher. Die beißen sich gegenseitig vom Futtertrog weg, hacken sich die Augen aus und genieren sich nicht mal.“

„Kampf aller gegen alle!“ murmelte Waldemar und blickte nachdenklich zu Boden. „An historischem Anschauungsunterricht hat es uns ja nicht gefehlt. Es scheint, mindestens alle Jahrhundert einmal hat eine Art von Repetitionskurs stattzufinden, damit die Menschheit nicht vergißt, woher sie stammt. Aus dem Dreck! Und wohin sie immer wieder zurück muß. In den Dreck! In Blut und Dreck und Aberwitz der Barbarei! Wir haben gerade wieder solch einen Kursus für vergeßliche Schüler durchgemacht.“ Er schwieg und starrte vor sich hin. Dann fuhr er fort: „Glauben Sie es mir, Onkel Julius, oder nicht! Als damals alles zu Ende war, vor zwei Jahren, und ich hier in Barkoschin landete ... Es war wie nach einem Schiffbruch ... Es war das Bewußtsein, endlich einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Stellen Sie sich vor, fast zehn Jahre unterwegs auf hoher See, fast ununterbrochen Wind, Wetter und Sturm. Mußte mir da Barkoschin nicht wie eine von den glückseligen Inseln vorkommen, irgendwo dahinten im Stillen Ozean? Dreitausend Meilen von Yokohama weg?“

„Nur daß die Barkoschiner Marjellen nicht nackigt herumlaufen“, warf Onkel Julius ein und schmunzelte. „Es ist ja eigentlich schade! Aber das Klima ist eben nicht danach. Na, der Mensch muß sich behelfen, so wie es nun mal ist.“

Waldemar lächelte flüchtig. Er kannte die Schwäche des alten Herrn. Vor zwanzig, vor dreißig Jahren ... Man erzählte sich so dies und das ... Vielleicht war es ein Familienzug ... „Ja, Onkel Julius,“ begann er, den Faden wieder aufnehmend, „ich habe mir in der Tat eingebildet, Barkoschin würde meine letzte Station sein. Es war so wundervoll, sich zu sagen, hier hast du deine Heimat! Hier bist du geboren! Hier wirst du sterben! ... Ist es nicht mehr als ein Zufall, daß ich gerade hier zur Welt gekommen bin und nicht in meinem Elternhaus am Langen Markt, wie es doch im Grunde natürlich gewesen wäre? Lag darin nicht schon eine Vorbedeutung? Sprach da nicht schon mein Schicksal mit? Und jetzt ... jetzt ...! Ich halte es nicht aus! Ich ertrage es nicht länger! Dieses zweite Ich, das neben mir herläuft und alles nachmacht, was ich selbst mache, als ob es mich äffen will, und das doch wieder nichts anderes ist als ich selbst! Nein! Ich muß fort von mir! Und deshalb muß ich fort von hier! Verstehen Sie das, Onkel Julius? Es klingt etwas verrückt. Aber das liegt ja in der Familie.“ Er wandte sich ab und warf mit einer heftigen Gebärde den Kopf zurück, zum hellgrünblauen, glasigen Novemberhimmel hinauf.

„Ja, mit der Verrücktheit, mein Sohn, das stimmt auffallend“, bemerkte Onkel Julius und nickte zustimmend. „Das liegt nun mal in unserer Familie. So was liegt immer in alten Familien. Das und noch verschiedenes andere, wovon wir nicht weiter sprechen wollen.“ Er schmunzelte wieder und strich sich das stopplige Kinn. „Aber was das angeht, daß du hier in Barkoschin nicht zur Ruhe kommen würdest, das hätte ich dir schon vor zwei Jahren prophezeien können, als du mit deinen Koffern und Büchern ankamst und großartig auszupacken anfingst. Mach dir nicht solche Umstände, mein Sohn, es ist ja doch nicht von Dauer! hätt ich dir sagen können.“

„So? Und warum denn nicht, wenn man fragen darf, Onkel Julius?“

„Weil ein Mensch wie du überhaupt nicht zur Ruhe kommen kann, ehe er sich nicht vollständig die Hörner abgelaufen hat. Und dafür ist doch Barkoschin nicht der Ort. Wir Lewerenzens brauchen überhaupt lange, um uns die Hörner abzulaufen. So alt ich bin, ich glaube, ich habe auch immer noch ein paar Stummel irgendwo sitzen.“ Onkel Julius lachte in sich hinein — es klang ein bißchen, als wenn er bellen wollte — und warf seinem Neffen einen von seinen schlitzäugigen Seitenblicken zu. „Soll ich dir mal was sagen, mein Jung? Du brauchst eine Frau! Wir Mannsleute kommen nicht ohne Frauenspersonen aus. Und wenn sie auch alle zusammen vom Satan herstammen und den Deiwel im Leibe haben ... Es geht nun mal nicht ohne sie! Gott sei es geklagt! Es geht nicht!“ Er stand breitbeinig da, wie verwachsen mit dem Erdboden, stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte unzufrieden, mißbilligend den Kopf. Waldemar musterte den Alten von der Seite. War es nicht, als sei er die Verkörperung dieser Landschaft, dieses Himmels, dieses rauhen Bodens mit seiner untersetzten, verkrümmten Gestalt im kurzen, grauen Wolfspelz, mit der grauen Pelzjacke?

„Warum haben Sie dann den guten Ratschlag nicht selbst befolgt, Onkel Julius? Sie hätten sich doch auch eine Frau nehmen können?“

Julius Lewerenz hatte ein listiges Lächeln um die tief eingegrabenen Mundwinkel. „Ich eine Frau nehmen? Vielleicht hab ich mir gedacht, eine Frau ist keine Frau. Es müßten schon ein paar sein. Na, und das geht doch nicht von Gesetzes wegen. Wir sind ja hier keine Türken. Da soll es übrigens auch schon seinen Haken haben. Na, da hab ich mir gesagt, behilft man sich eben so! Und siehst du, mein Jung, es ist auch gegangen. Sogar ganz schön.“ Er schwieg ein paar Augenblicke, wandte sich dann mit einer fast unvermittelten Gebärde zu Waldemar. „Was ist denn mit Sabine los? Wann kommt sie eigentlich?“

Waldemar richtete sich auf. Ein Schatten glitt über sein Gesicht. „Was Sie sich einbilden, Onkel Julius, und was Sie andeuten wollen, das wird niemals geschehen. Das kann niemals geschehen! Sabine kommt morgen früh von Berlin. Ich selbst fahre morgen abend nach München ab.“