Generalkonsul Stenzel und sein gefährliches Ich - Max Halbe - E-Book

Generalkonsul Stenzel und sein gefährliches Ich E-Book

Max Halbe

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Beschreibung

"In der Stadt verbreitete sich schnell das Gerücht, bei Johann Sebastian Stenzel, dem Generalkonsul von Honduras, sei eines Schraube los." Es ist seine Vorahnung, in gut einem Jahr nicht mehr auf dieser Welt zu weilen, die ihn antreibt nachzuholen, was er bislang versäumt hat. Und da passt es gut, dass er gerade jetzt seine Jugendfreundin Helene van Düren und ihre bezaubernde Tochter Ginevra kennengelernt hat.AUTORENPORTRÄTMax Halbe (1865-1944) studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und promovierte 1888 in München. Anschließend ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er gehörte zu den wichtigen Exponenten des deutschen Naturalismus. 1895 übersiedelte Halbe nach München und gründete das 'Intime Theater für dramatische Experimente'. Ebenso wurde er Mitbegründer der 'Münchner Volksbühne'. Mit Ludwig Thoma und Frank Wedekind pflegte Halbe eine Freundschaft.-

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Max Halbe

Generalkonsul Stenzel und sein gefährliches Ich

Roman

Saga

1

Johann Sebastian Stenzel hatte seinen schlechten Tag. Es war eigentlich der besonders schlechte Tag, der jedes Jahr wiederkam. Es war sein Geburtstag. Er wurde heute achtundfünfzig Jahre alt. Seine Laune konnte dadurch nicht besser werden. Stenzel, der Sohn eines Dorfschullehrers, nunmehr schon seit langem Generalkonsul von Honduras, hatte einen hohen Begriff vom Kurswert des Lebens. Dieses Inhaberpapier der Kommanditgesellschaft Menschheit, das jedem Aktionär in die Wiege gelegt wurde, schlug ohne Zweifel alle übrigen Börsenwerte. Er hätte es sich viel kosten lassen, wenn ihm jemand verraten hätte, wo es neuerdings zu haben sei. Denn das war das Betrübliche, daß es an jeden nur einmal abgegeben wurde. Und noch schlimmer, daß es nicht wie andere gute Papiere von Jahr zu Jahr eine höhere Dividende abwarf, sondern im Gegenteil sich langsam auffraß, einer Art von Selbsttilgungsverfahren unterlag, wodurch jedoch merkwürdigerweise sein Liebhaberwert für den jeweiligen Inhaber nicht vermindert wurde, vielmehr noch täglich zuzunehmen schien. Eigentlich ein ganz widersinniger Vorgang, dem mit aller kaufmännischen Logik nicht beizukommen war. Stenzel, als ein geborener Grübler, hatte sich oft genug darüber geärgert. Was nützt der gesunde Menschenverstand, dieser sonst so gepriesene und bewährte Universalschlüssel, wenn er in solchen Fragen versagt?

Darf man sich wundern, daß Generalkonsul Stenzel an diesem Tage, der wieder ein Jahr an seinem Lebenskalender abstrich, sich in der übelsten Laune befand? Der kleine quecksilberne Mann, der mit seinem birnenförmigen Schädel und dem schwarzen Henryquatre an Napoleon III., den Kaiser der Franzosen, erinnerte, hatte sich in das weichgepolsterte Seidensofa gegenüber seinem geräumigen Arbeitstisch geworfen. Eigentlich war das der Platz für bevorzugte Besucherinnen. Es gab ihrer nicht wenige in diesem Raum. Stenzel genoß den Ruf, in der mit verständnisvollen Gönnern nicht gerade gesegneten See- und Handelsstadt einer der zugänglichsten zu sein. Schauspielerinnen, Künstlerinnen, auch Bittstellerinnen anderer Stände fanden sich häufig ein, um dem Generalkonsul ihre Wünsche vorzutragen und ihr Leid zu beichten. Es war ja ein würdiger Herr in reiferen Jahren, mit dem man zu tun hatte. Junggeselle dazu, was allerdings die Situation wieder verwickelte, aber andrerseits auch erleichterte. Stenzel fischte aus dem Redestrom seiner Besucherinnen alles Sachdienliche auf und verwahrte die mit Notizen bedeckten Aktenblätter in dicken, längst zu Stapeln sich häufenden Mappen. Es war sein Sonntagspensum, die jedesmalige Wochenernte durchzusieben, Spreu von Korn zu sondern und danach zu entscheiden.

Johann Sebastian Stenzel — sein Vater, der Kantor und Organist, hatte ihn auf diese beiden Vornamen des größten aller Organisten taufen lassen — saß also an diesem wunderschönen, lachenden Maienmorgen zusammengekauert, fast ein Bild des Jammers, in den weichen Seidenkissen seines Damensofas und grübelte, wie alljährlich an dem Tage seiner Menschwerdung, über Sinn, Wert, Ziel, Bedeutung des Lebens nach. Ein Luxus! Gewiß! Stehle ich diese Minuten, diese Stunden, so fragte er sich, nicht eigentlich der Arbeit ab? Dem Höchsten, was es gibt? Er wußte wohl, wie man ihn in der Stadt nannte. Der Herr, der niemals Zeit gehabt hat. Nun ja! Ein Spitzname! Aber einer, auf den man stolz sein kann. Er hatte all seiner Tage nichts mehr gehaßt als Müßiggang und niemanden tiefer verachtet als den Nichtstuer. Arbeit war sein kategorischer Imperativ gewesen, seit er die Fibel in die Hand bekommen hatte. Es war mehr als fünfzig Jahre her.

Zwölfstündige Arbeit! Er hatte das durchgeführt bis heute. An diesem Maßstab gemessen, waren freilich die meisten Menschen Faulenzer. Stenzel verhehlte sich nicht, daß dies im Grunde auch seine Meinung von der großen Mehrzahl war. Vielleicht war es die Ursache, weshalb der von Natur aus gutherzige und menschenfreundliche Mann eine so ausgedehnte Hilfsbereitschaft entwickelte. Denn liebte nicht sein Herz diese selben Menschenkinder, die seine Vernunft wegen ihres Müßigganges verwerfen mußte? Und war da nicht eine Stimme, die ihm zuflüsterte, dieses Gefühl könne in einem ungewollten Pharisäertum wurzeln, in einer unchristlichen Überhebung, wofür selbstauferlegte Buße am Platze sei? So konnte es kommen, daß der Fanatiker der Arbeit, der das Wort gleichsam mit drei r aussprach, sein Ohr kaum einem der vielen Bittsteller verschloß, die doch in den meisten Fällen ihr Schicksal selbst verschuldeten, weil sie nicht wie er zwölf Stunden täglich arbeiten wollten. Er half also, wo es nur anging. Half Würdigen und weniger Würdigen, gewöhnlich aber nur mit kleineren Beträgen, um einerseits seinem Gewissen zu genügen und andrerseits doch der Faulheit nicht allzusehr Vorschub zu leisten. Und er hätte nicht der einstige Dorfschullehrerssohn sein müssen, wenn er nicht zunächst jeden dieser Besucher mit seinen Predigten beglückt hätte. Die meisten schluckten sie, ohne den Mund zu verziehen, und lachten ihn erst aus, wenn sie mit ihrer Spende in der Tasche die Tür seines Kontors wieder hinter sich hatten.

Ob Stenzel das wußte? Oder ob sich, wenn er es erfahren hätte, seine Methode geändert haben würde? Er war wohl zu klug, um an eine nachhaltige Wandlung seiner Klienten zu glauben. Geborene Grübler und Weltverbesserer, wie er einer war, müssen aus dem Triebe ihrer Natur heraus immer wieder an Weltlauf und Menschheit herumkurieren, auch wenn ihnen ihr Verstand sagt, daß alles beim alten bleiben wird. Ja, es kommt trotz der mannigfachen Enttäuschungen fast nie zu einer richtigen Menschenfeindschaft, soviel Grund dazu bestünde. Auch Stenzel konnte man eigentlich keine Menschenfeindschaft nachsagen, wenn er sich auch oft über Undank beklagte. Das Bewußtsein, im Besitze der Universalmedizin Arbeit (mit den drei r) und des Universalschlüssels Gesunder Menschenverstand zu sein, half ihm über die bittersten Erfahrungen hinweg.

So war es viele Jahre gegangen. Sein Haar hatte sich gelichtet, aber es war schwarz geblieben, bis auf den gewissen Schimmer an den Schläfen. Die Zeit hatte nicht viel über ihn vermocht. Nur einmal im Jahr versagten die bewährten Rezepte. Eben an seinem Geburtstage. Und heute war es besonders arg damit bestellt.

Wie das kam? Stenzel hatte seit dem frühen Morgen darüber nachgegrübelt (sein Tagewerk begann Punkt sieben), aber eine zureichende Erklärung hatte sich nicht gefunden. Der Sekretär, Herr Bauhofer, ein großer breitschultriger Vierziger mit langem Blähhals und vorgewölbtem Brustkasten, hatte pünktlich die Morgenpost — Zeitungen, Briefe, Aktenstücke — auf den Schreibtisch geschichtet, ein Viertelkubikmeter wie immer, und hatte sich nach einem vorsichtigen Rundblick lautlos zurückgezogen. Als sein prächtig gewölbter Brustkasten nach acht Uhr von neuem im Türrahmen des Arbeitszimmers auftauchte, stand der Generalkonsul am Fenster, das auf den Garten hinausging, und schien das Gesicht gegen die Scheiben zu drücken. Die Morgenpost lag auf der gleichen Stelle, wie vor einer Stunde. Stenzel hatte sie noch nicht angerührt. Das war unerhört! Plötzlich fiel Bauhofer ein, daß es der Geburtstag seines Chefs war. Vor einem Jahr war etwas Ähnliches gewesen. Damals hatte er seinen Geburtstagsspruch zu stammeln versucht. Aber Stenzel hatte ihn nicht zu Wort kommen lassen. Geboren worden zu sein sei eine Privatangelegenheit, die jeder mit sich allein abzumachen habe. Er wünsche keinen damit zu behelligen. Da hatte Bauhofer sich mit eingeknicktem Blähhals verbeugt und für künftighin eine Lehre daraus entnommen. Wie gut, daß ihm das wieder einfiel! Was für eine Nase hätte es sonst wieder gegeben!

Und jetzt war es neun. Bauhofer hatte, nachdem mehrmaliges Klopfen unbeantwortet geblieben, seinen Giraffenhals durch den behutsam geöffneten Türspalt geschoben und dabei den gleichen Befund wahrgenommen wie um acht. Die Frühpost lag noch immer unberührt auf dem Schreibtisch. Zu einem solchen Exzeß war es vor einem Jahr denn doch nicht gekommen. Was tun? Sollte er sich durch Räuspern bemerkbar machen? Sollte er geräuschlos verschwinden? Aber kann das nicht nachher ein Donnerwetter wegen Zeitversäumnis absetzen? fragte er sich. Stenzel stand jetzt nicht mehr mit den Händen auf dem Rücken und mit dem Gesicht gegen das Gartenfenster. Er kauerte zusammengekrümmt — ja, man konnte es nicht anders bezeichnen! — in den buntfarbigen Seidenkissen des Lustpfühls. So pflegte Bauhofer ganz privatim das Damensofa zu benennen, wo der Generalkonsul seine Besucherinnen empfing. Es war dies eine Auslegung, auf die man gelegentlich auch in der Stadt und in Stenzels Bekanntenkreis stieß, ohne daß greifbare Umstände sie bestätigten.

Der Sekretär war eben im Begriff, Kopf und Hals durch den engen Türspalt wieder in Sicherheit zu bringen, als er die Stimme des Generalkonsuls vom Sofa her vernahm.

„Sind Sie es, Herr Bauhofer? Sie wollen Arbeit? Sie haben recht! ... Immer arbeiten! Arbeiten! Kommen Sie herein!“

Bauhofer hatte beim ersten Klang der Stimme ein Schreck durchfahren, als sei er auf einer irrigen Zahleneintragung oder sonst etwas Schrecklichem ertappt worden. Aber dann fand er, daß der Tonfall des Chefs ungewohnt milde sei, und sein eben etwas eingesunkener Brustkasten straffte sich wieder zu der gewohnten stolzen Wölbung. Er trat vollends in das kleine kabinenartige Arbeitszimmer und reckte seinen Hals zu einer besonders ergebenen Begrüßung.

„Setzen Sie sich, Herr Bauhofer!“ sagte der Generalkonsul und deutete auf den niedrigen Schemel neben dem Schreibtisch, der für geringere Bittsteller bestimmt war.

Der Sekretär nahm ein bißchen zögernd Platz. Seine Stimmung hatte sich wieder verflaut. Irgend etwas war da nicht ganz geheuer. Stenzel, der wie immer den schwarzen Gehrock trug, saß jetzt aufgerichtet in dem Sofa von champagnerfarbenem Seidenrips. Der kleine Mann mit dem Monokel vor dem linken Auge sah aus wie ein modisch gekleideter Gnom. Es war sehr still zwischen den mit Ölbildern, Aquarellen, Zeichnungen bedeckten Wänden. Bauhofer fand es irgendwie schwül, obwohl ihn eigentlich fröstelte. Er fuhr sich ein paarmal verstohlen über die Stjrne. Aus dem verwilderten Garten hinter dem Hause klang Vogeltrillern.

„Machen Sie das Fenster auf, Herr Bauhofer!“ sagte plötzlich der Generalkonsul. „Warum sollen wir uns nicht auch einmal frische Luft verordnen?“

Bauhofer staunte. Offene Fenster während der Arbeit? Das war in den zwei Jahren, seitdem er hier werkelte, noch nicht vorgekommen. Er knickte gehorsam zusammen, erhob sich und stand mit einem Schritt am Fenster, dessen Verschluß nach einem im ganzen Hause benutzten Patent mit einem bestimmten Griff, aber nicht eben leicht zu öffnen war. Weiche wohlige Mailuft ergoß sich in den vom Odem unausgesetzter Arbeit stickig gewordenen Raum. Draußen im Garten, unweit des Fensters, stand ein alter rußgeschwärzter Kastanienbaum, dessen dicke grüngelbe Knospen erst seit gestern gesprungen sein mochten. Irgendwo in seinem Wipfel mußte der unermüdliche Sänger nisten. Sein Trillern, Schluchzen, Werben schien von dem Stückchen blauen Himmels herzukommen, dessen Seide über Baum und Garten gespannt war.

„Dicke Luft hier!“ bemerkte der Generalkonsul vom Sofa her. „Muffig? Was? Zu viel Stickstoff, zu wenig Ozon! Ja, ja, die Arbeit! Die Arbeit! ... Können Sie mir sagen, was für ein Vogel das ist, Herr Bauhofer? Sie sind ja Naturmensch! Schwimmen! Treiben Sport! Sind Vorturner in der Männerturnriege Stahlbrust! Erinnere ich mich recht? Nun also! Dann werden Sie auch wissen, wie sich der merkwürdige Vogel nennt, den man da hört?“

Er würde es für eine Amsel oder Drossel halten, erlaubte sich Bauhofer zu erwidern. In seinem Halse war ein verlegenes Hüsteln. Er begriff nicht, worauf das hinaus wollte.

„Amsel? So, so? Nun ja! Warum nicht? Sie kommen ja in den Wald, in die Natur! An Sonntagen! Übrigens Amsel oder Drossel! Also doch ein ‚Oder‘! Wieso oder? Läßt sich denn das in der Zoologie nicht genau bestimmen? Wieso oder?“

Es sei wohl so ziemlich das gleiche, Amsel oder Drossel, erläuterte Bauhofer, indem er seinen Schemel am Schreibtisch wiederzugewinnen trachtete. Es war doch eine Basis, auf der sich sicherer operieren ließ.

„Das gleiche! Amsel oder Drossel! Aha! So ziemlich das gleiche! Aber warum denn ‚so ziemlich’? Also doch ein Unterschied?“

Vielleicht überhaupt kein Unterschied, meinte Bauhofer gequält und erhob seine Augen zu dem gegenübersitzenden Chef, ob das nicht bald ein Ende habe.

„Überhaupt kein Unterschied? Da haben wir es! Mangel an Logik! An Begriffsunterscheidung! Ihr alter Fehler, Herr Bauhofer! Kann im kaufmännischen Leben mitunter verhängnisvoll werden.“

Bauhofer bestätigte mit stummem Nicken, daß er der Ansicht seines Herrn ergebenst beipflichte.

„Aber lassen wir das!“ meinte dieser. „Finden Sie nicht, daß in dem Gesang Ihrer Drossel oder Amsel, falls es überhaupt eine ist, etwas Aufreizendes, etwas Betörendes liegt? Wozu ist das eigentlich? Was soll das alles? Was bezweckt die Natur mit all dem Blendwerk? Können Sie mir das erklären, Herr Bauhofer?“

Bauhofer konnte das leider nicht. Er machte auch gar nicht den Versuch dazu, sondern wand sich nur stumm auf seinem Sitzbrett mit einer Art von süßem Lächeln, das je nach Bedarf ja oder nein bedeuten konnte.

Der Generalkonsul schien nicht weiter darauf achtzugeben, sondern fuhr in seinen Betrachtungen fort.

„Haben Sie sich schon einmal Rechenschaft abgelegt, warum Sie eigentlich geboren sind, Herr Bauhofer?“

Bauhofer war das noch nie in den Sinn gekommen. Er schüttelte hilflos den Kopf. Stenzel schüttelte ebenfalls den Kopf, wenn auch aus andern Gründen. Er schien sich an seinem Opfer festsaugen zu wollen.

„Sie sind doch geboren, Herr Bauhofer? Sie wissen das ganz genau? Sie täuschen sich nicht?“

Nein! Darüber täuschte sich Bauhofer nicht. Er sagte zwar noch immer nichts. Aber seine hervorquellenden Augäpfel sagten es. Sie sagten sogar noch mehr. Sie drückten qualvollen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des andern aus. Stenzel kümmerte sich nicht darum.

„Nun also! Wenn Sie geboren sind, so müssen Sie doch auch sterben, mein lieber Herr Bauhofer! Haben Sie sich diese Konsequenz schon in ihrer ganzen Tragweite klargemacht?“

Bauhofer nickte mehrmals auf eine zustimmende und traurige Weise und schien damit anzudeuten, daß jene Tatsache seiner Aufmerksamkeit nicht ganz entgangen sei.

„Stellen Sie sich vor, Herr Bauhofer,“ fuhr Stenzel fort, „Sie wären nicht auf die bekannte umständliche Weise geboren, sondern einfach durch Knospung, durch Teilung, durch Abspaltung in die Welt gekommen ...“

Wieder war es an Bauhofers Augäpfeln, herauszuquellen. Den Generalkonsul hinderte das nicht, sein Selbstgespräch weiterzuspinnen.

„So etwas gibt es doch in der Naturgeschichte, Herr Bauhofer. Sie als Sportmensch und Naturschwärmer müßten das eigentlich wissen. Und nun denken Sie einmal nach. Nehmen Sie an, Sie wären durch Knospung entstanden. Ein verhältnismäßig unkomplizierter Vorgang! Ewig leben würden Sie dann ja auch nicht. Aber Sie würden nicht sterben! Wenigstens nicht in der heutigen umständlichen und unbeliebten Weise! Sie würden ganz schlicht und unauffällig vergehen. Ohne Schmerzen! Ohne Vorherwissen! Ohne Geräusch! Kurz ohne die Explosionserscheinungen, die nun einmal mit unserer jetzigen Art von Geburt und Tod untrennbar verbunden sind! Wäre das nicht unbedingt vorzuziehen, Herr Bauhofer?“

Ehe dieser noch antworten oder auch nur seine erstarrten Augäpfel wieder in Bewegung setzen konnte, schloß Stenzel die Unterhaltung.

„Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen, Herr Bauhofer! ... Ob Sie dann freilich Sekretär bei mir wären oder ich Ihr Chef, wenn Sie oder ich oder wir beide durch Knospung entstanden wären, das ist natürlich sehr die Frage. Na, wie dem auch sei, Herr Bauhofer! Arbeiten wir! Arbeiten wir! Arbeiten wir! Es ist heute schon schrecklich viel Zeit vertan!“

2

Der Generalkonsul hatte bis gegen elf seine Frühpost so ziemlich aufgearbeitet. Es war da eine Anzahl von Geschäftsberichten der verschiedenen Gesellschaften, deren Aufsichtsrat er als Großaktionär angehörte und die um diese Zeit zu ihren Generalversammlungen rüsteten. Mancherlei Reisen standen in Verbindung damit bevor. Es wird wieder eine unruhige Zeit werden, dachte Stenzel, verbesserte sich aber sofort. Wieso unruhig? Oder vielmehr wieso unruhiger als irgendeine andere Zeit, die ich hier zu Hause am Schreibtisch oder sonstwo verbringe? Ist nicht alles unter dem gemeinsamen Generalnenner der Arbeit zu begreifen? Arbeit hier! Arbeit dort! Wo sollte der Unterschied liegen? Ich tue meine Pflicht! Das ist alles! Man muß sich vor Selbsttäuschungen hüten.

Stenzel legte die gedruckten oder mit der Schreibmaschine vervielfältigten Übersichten in das Körbchen zu seiner Rechten. Manche hatten rote oder blaue Vermerke bekommen. Nicht weniges bedurfte noch gründlicher Gedankenarbeit. Schlaflose Nachtstunden konnten auf diese Weise nutzbar gemacht werden. In dem Sammelkorb links häufte sich der Stoß der Geschäftsbriefe und Aktenstücke. Rotstift und Blaustift hatten auch hier tüchtig geackert. Das weitere oblag dem Sekretär. Es war dafür gesorgt, daß das Feld nie brach lag.

Jetzt waren noch die Privatbriefe, zehn oder elf. Meistens Geburtstagskarten von gleichgültigen Personen, die ihm irgendwie Dank schuldig waren, womöglich sich wieder in Erinnerung bringen wollten. Dank! Er brauchte keinen Dank! Man erfüllt nur seine Pflicht, sagte er sich, wenn man den Menschen hilft, sobald man in der Lage dazu ist. Danach handle ich und habe also keinen Anspruch auf Dank. Das einzige Schlimme ist, daß es soviel Zeit kostet, den Menschen zu helfen. Wertvolle Zeit, die man sich von der andern Arbeit abstehlen muß. Aber schließlich ist es gleich, was man tut, wofern man nur überhaupt und immerfort etwas tut.

Es waren noch zwei Briefe übrig. Beide offenbar von weiblicher Hand. Die steilen haardünnen Schriftzüge auf dem stahlblauen Umschlag des einen schienen anzuzeigen, daß seine Schreiberin dem jungen Geschlecht von heute angehöre. Die nachdrückliche, aber flüssige Handschrift des andern ließ auf eine Absenderin der älteren Generation schließen. Die Jugend braucht zuerst Hilfe, dozierte Stenzel. Vor allem natürlich die weibliche Jugend, wenn sie zum Theater oder sonstwie zur Kunst gehört. Man muß Grundsätze im Leben haben.

Er öffnete den stahlblauen Brief also zuerst, nicht ohne vorher festzustellen, daß ein ihm bisher fremd gebliebenes Parfüm daran hafte. Die Zeilen lauteten:

Ich unterzeichnete Ginevra van Düren (ja, so heiße ich, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz!) lebe seit sechs Monaten in dieser von den Musen und Grazien etwas stiefmütterlich behandelten Stadt und betreibe das Kunsthandwerk einer gelernten Photographin. Im Nebenberuf bin ich Malerin, wenn auch noch keine gelernte, da man hierzu ein Leben braucht und ich mich erst im Blütenalter von zweiundzwanzig Jahren befinde. Mein Vater war der Maler Gotthardt van Düren, dessen Name auch hierher und bis zu Ihnen gedrungen sein dürfte. Meine Mutter hieß mit ihrem Mädchennamen Helene Goertz und will in diesem Zustande eine Jugendfreundin von Ihnen gewesen sein. Sie hat mir, als ich vor einem halben Jahr hierherkam, Grüße an Sie aufgetragen. Ich richte sie mit einer kleinen Verspätung und schriftlich aus, da man mir sagt, daß Sie von Damenbesuch überlaufen sind. Seien Sie also in aller Form gegrüßt.

Ginevra van Düren

Stenzel fand den Brief nicht übel. Er überlas ihn ein zweites Mal und nickte mit einigem Wohlgefallen. Entschlossenheit gab sich da kund. Und Selbstbewußtsein, das doch wohl auch von Tüchtigkeit und Arbeitsamkeit zeugte. Ginevra van Düren! Natürlich kannte er den Namen. Ein paar Pastelle van Dürens, mythologische Stoffe mit Aktfiguren, hingen in eben diesem Zimmer, an der Wand da drüben. Er fühlte das Bedürfnis, sie sich wieder einmal anzusehen, obwohl das ja mitten in der Arbeit eigentlich eine Zeitverschwendung war.

Er stand nachdenklich auf und trat vor die Bilder hin. Ja, der hatte viel gekonnt! Kein Wunder, daß sein Name heute die Welt erfüllte! Der hatte gearbeitet! Immerfort an sich gearbeitet! Nun war er tot! Was hatte er jetzt eigentlich davon? Gewiß! Die Kunstgeschichte verzeichnete ihn unter ihren ersten Meistern. Wie das Kirschrot des flordünnen Schleiers um die Schenkel der Aphrodite gegen das blühende Fleisch abgesetzt war! Es stammte übrigens aus van Dürens Frühzeit, vor bald dreißig Jahren mit dem farbigen Stift gemalt. Und Aphrodites Gesichtszüge? Ja! Das war Helene van Düren, Ginevras Mutter! Damals vielleicht noch Helene Goertz! Was wußte man! Dieselbe, von der jetzt die Tochter ihm in Erinnerung bringen wollte, daß sie seine Jugendfreundin gewesen sei.

Der Generalkonsul ging kopfschüttelnd wieder zu seinem Schreibtisch. Hatte er nicht immer gewußt, daß das Urbild jener Aphrodite Helene Goertz gewesen war? Hatte er das Bild nicht vielleicht eben deshalb in seinen Besitz gebracht, als er es damals in der Berliner Ausstellung hängen sah? Brauchte man ihn wirklich an Helene Goertz zu erinnern, die beinahe ... beinahe seine Frau geworden wäre, wenn er ... wenn er ... nun ja, wenn er Zeit dazu gehabt hätte? Wie kam diese Ginevra dazu, ihm ihre Mutter ins Gedächtnis zu rufen? Dieses zweiundzwanzigjährige Küken, das ebensogut seine Tochter hätte werden können und jetzt Stenzel hieße statt van Düren, wenn die Kugel auf dem Roulettetisch des Lebens ein klein wenig anders gerollt wäre! Und doch, so schloß er seine Betrachtungen, indem er wieder Platz nahm und nach dem letzten noch übrigen Briefe griff, habe ich denn wirklich noch gewußt, daß ich Helene Goertz an der Wand habe? Mit Bewußtsein gewußt? Habe ich überhaupt noch von ihr gewußt oder an sie gedacht? Habe ich auch nur Zeit dazu gehabt?

Kopfschüttelnd öffnete er den elfenbeinfarbenen Brief, mit der flüssigen und doch nachdrücklichen Handschrift, die ihn plötzlich an irgend etwas erinnerte. In der Tat! Der Brief kam von Helene van Düren, die einst Helene Goertz geheißen hatte. Mutter und Tochter hatten ihm gleichzeitig geschrieben. Welch ein Abstand zwischen den beiden Handschriften! Und doch nicht auch eine Familienähnlichkeit? Die Natur läßt ihrer nicht spotten, allen Stilkünsten zum Trotz.

Helene Goertz — der alte Name war ihm doch lieber — schrieb ihm zu seinem achtundfünfzigsten Geburtstage, um nach so langer Zeit, wie sie selbst bekannte, wieder eine Art von äußerer Anknüpfung zu finden. Man sei durch das Leben recht auseinander gekommen. Das Leben sei überhaupt eine niederträchtige und tückische Einrichtung. Was es uns mit der einen Hand zustecke, stehle es uns mit der andern doppelt wieder weg. So habe es ihr ihren Mann gerade in dem Augenblick genommen, als nach einem Menschenalter voller Kämpfe endlich der Erfolg und der Ruhm bei ihnen eingekehrt seien. Ihr armer Mann habe noch mit brechendem Auge seinen Sieg gesehen. Aber seiner Früchte sei er nicht mehr teilhaftig geworden. Die ernte nun sie, da ja noch viele van Dürens im Atelier ständen und die Kunsthändler begonnen hätten, ihr die Tür einzurennen. Doch was nütze das alles! Wäre das Glück gekommen, als sie jung war und es mit dem hätte teilen können, den sie liebte! Das sei nun vorbei. Sie sei alt, wenn auch gewisse Freunde ihr schmeichelten, sie habe sich leidlich konserviert und sehe aus wie eine Rokokomarquise in dem gewissen Alter, wo sich nicht unterscheiden lasse, ob das Haar nur gepudert oder schon durch die Jahre so sei. Aber sie lasse sich von dem Unsinn nicht betören und wisse ganz genau, was die Uhr geschlagen habe. Es sei sinnlos, vom Apfelbaum zu verlangen, daß er Blüten bekomme, wo schon die Winteräpfel daran hängen. Sie habe sich immer gewünscht, an die Riviera oder nach Ägypten zu gelangen und sich dort von der großen Welt bewundern zu lassen, wenn auch nur, um ihren Mann mit seinen vielen Modellen etwas eifersüchtig zu machen und ihm den Wert ihres Besitzes sinnfällig zum Bewußtsein zu bringen. Aber damals, als sie schön war — ja, so hieß es von ihr — und es sich gelohnt hätte, sei sie eine arme Malersfrau gewesen, die sich ihre Fähnchen selbst habe schneidern müssen. Heute, wo sie sich das alles und noch mehr gönnen könne, sei es zu spät, noch einmal anzufangen. Und selbst, wenn es das nicht sei, so mache es ihr eben keinen Spaß mehr ohne den, der sie es erst hätte wahrhaft genießen lassen, und sie pfeife, mit Respekt zu sagen, auf den ganzen Affenkram. Es fehle auch überdies nicht an Verdruß, und den verschaffe ihr ihre einzige Tochter Ginevra zur Genüge. Diese sei ja zwar ein schönes und schneidiges Frauenzimmer, das müsse sie, obwohl ihre Mutter, zugeben, und viele behaupteten, daß sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Aber leider sei das auch die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. Im übrigen habe Ginevra Grundsätze, mit denen sie sich niemals befreunden werde, wenn es auch freilich die Grundsätze aller dieser heutigen Jugend seien. Nicht daß es gerade mit Ginevras Liebesleben so erschreckend bestellt sei. Sie wisse wenig oder nichts davon, denn Ginevra sei verschlossen wie ein Grabgewölbe und ähnle darin leider ihrem verstorbenen Vater. Im Grunde werde es sich wohl nicht viel anders damit verhalten als bei den meisten dieser verdrehten jungen Geschöpfe von heute: Viel Geschrei und wenig Wolle! Heute rede man große Töne, früher habe man den Mund gehalten und gehandelt. Was besser sei, wolle sie nicht entscheiden, ziehe aber für ihre Person das letztere vor und glaube, daß auch die Männer, selbst die heutigen, so dächten, wenigstens nach ihrem Mann zu schließen, der in diesem Punkt bis zuletzt ein Kindskopf geblieben sei. Richtigen Ärger bereite ihr jedoch Ginevras dummer und bockiger Hochmut, womit sie auf ihre Selbständigkeit in allen Dingen poche. Sie wolle ihr ganzes Leben, alles, was sie sei, nur sich selbst zu verdanken haben; als ob sie überhaupt in der Welt wäre, wenn ihr Vater und ihre Mutter sie nicht durch persönliche Bemühung hineingesetzt hätten. Dies vergäßen die heutigen jungen Leute immer wieder, so daß man wahrhaftig meinen könne, diese moderne Jugend sei eher vom Mond gefallen, als aus dem Mutterleib gekrochen. Auch Ginevra habe es nicht länger zu Hause ausgehalten, obwohl es ihr doch an nichts gefehlt habe, und sei vor sechs Monaten auf und davon gegangen, um sich in D. als Malerin und Photographin ihr Brot zu verdienen. Dorthin habe es sie getrieben, weil diese Stadt und das dazugehörige Land eben die Heimat ihrer Eltern und Vorfahren gewesen sei; und so zeige es sich doch wieder, daß Abstammung und Familiengefühl selbst in diesem entwurzelten Geschlecht noch nicht ganz erstorben seien. Seither habe sie von Ginevra nicht viel mehr gehört, als daß sie sich wohl befinde und es ihr gut gehe und wie das übliche Geschreibsel schon sei. Sie wisse nicht einmal, ob Ginevra die Grüße bestellt habe, die sie ihr für den Generalkonsul in alter Freundschaft mitgegeben habe. So werde wohl nichts andres übrig bleiben, als daß sie selbst sich aufmache und ihrer verschrobenen Tochter den Kopf zurechtsetze, was dann eine gute Gelegenheit sei, auch mit ihm, dem Generalkonsul, nach so vielen Jahren ein Wiedersehen herbeizuführen. Das werde schon in nächster Zeit geschehen, und hoffentlich werde er sie wiedererkennen, wenn sie an seine Tür klopfe. Inzwischen bitte sie ihn, sich doch einmal nach ihrer Tochter umzusehen und ihr hilfreich die Hand zu reichen, falls sie dessen bedürfen sollte: was aber nicht etwa bedeute, daß er ihr einen Heiratsantrag machen solle, da er doch immerhin sechsunddreißig Jahre älter sei als Ginevra, wie der heutige Geburtstag einwandfrei erweise.

Stenzel ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin. Ja, das war Helene Goertz in ganzer Figur! Leibhaftig so hatte er sie vor dreißig, ja, bald vor vierzig Jahren gekannt! Das kleine heißblütige Mädchen ... der heranwachsende herbe Backfisch ... die Achtzehnjährige mit den dunkelbraunen, merkwürdig sprechenden, zugleich lockenden und versagenden Augen ... Tauchte das nicht alles wie in einem einzigen Bilde verdichtet aus diesen flüssigen und doch nachdrücklichen Schriftzügen auf? Und jetzt sollte ein Wiedersehen bevorstehen? Vielleicht schon in den nächsten Tagen? War das wünschenswert? War das notwendig? Brachte das nicht unnütze seelische Belastungen mit sich? Mußte nicht, von allem andern abgesehen, die Arbeit darunter leiden, die grade in diesen Wochen noch mehr als sonst drängte? Alle diese Generalversammlungen, diese Rechenschaftsberichte, diese Sitzungen, diese Reisen! Wichtige brennende Gegenwart! Und dahinein Helene Goertz! Szenenwechsel in eine ferne Vergangenheit zurück! Was konnte Gutes dabei herauskommen?

Der Generalkonsul saß zurückgelehnt in seinem Schreibstuhl und zupfte nervös an seinem Knebelbart. Nicht genug an der Mutter! Nun auch noch die Tochter! Womöglich beide nebeneinander in dem Sofa da drüben! Wäre es noch die Tochter allein ...! Aber diesen Gedanken schüttelte er ab. Das war eines Generalkonsuls Stenzel unwürdig! Die Tochter von Helene Goertz mußte ihm heilig sein, wie es ihm einst die Mutter gewesen war.

O ja! Nur allzuheilig! dachte Stenzel und hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Der andere, der van Düren, war weniger bedenklich gewesen. Dieser Maler, von dessen Namen heute die Welt voll war, hatte mit beiden Händen zugepackt. Die Aphrodite dort mit dem kirschroten Flor um die Hüften legte Zeugnis dafür ab. Ist es nicht meine eigene Schuld? murmelte Stenzel. Hätte ich sie mir nicht ebensogut nehmen können, wenn ich Zeit dazu gehabt hätte?

Plötzlich kam ihm eine merkwürdige Erinnerung, die ihn nicht loslassen wollte, obwohl er sich dagegen wehrte. Er lehnte sich tiefer in seinen Stuhl zurück und dachte nach. War da nicht irgend so etwas wie ein Versprechen, das man sich gegeben hatte? Etwas wie eine Verabredung mit Helene Goertz und ihren beiden älteren Schwestern? Wie war das doch gleich? Ein Besuch im Lehrerhause zu Ellerndorf bei seinen schon bejahrten Eltern ... Er war junger Kaufmann damals im Industriegebiet, in schnellem Aufstieg begriffen ... Zeche Fürst Bismarck III ... Großer Gott! War das nicht wie gestern nachmittag? Jener Sommerurlaub in der Heimat? Und doch war es einunddreißig Jahre her! Drüben auf dem Gutshof die drei Schwestern Goertz ... Olga, Ottilie und die achtzehnjährige Helene ... Hatte er sie nicht alle drei der Reihe nach angebetet? Auf der Schule die brünette energische Olga. In seiner kaufmännischen Lehrzeit bei Wiedemann und Hopf, Schiffsreederei, die zarte ätherische Ottilie. Und dann in jenem heißen unvergeßlichen Juli die schöne achtzehnjährige Helene. Kaum eine Stunde am Tage, die er nicht mit den drei in Anlage und Charakter so verschiedenen und doch auf den gleichen Lebenston gestimmten Mädchen zugebracht hätte. Der alte Goertz — war der nicht jünger gewesen als er selbst heute? — hatte sie alle vier ihren Weg gehen lassen, der hatte andere Sorgen im Kopf gehabt, als sich um seine ohnehin sehr selbständig gearteten Töchter zu kümmern. Bald danach war ja auch der Zusammenbruch des Goertzschen Hofes gekommen. Die Mutter ein paar Jahre zuvor gestorben. Die drei Mädchen, ganz auf sich selbst angewiesen, hatten ihren eigenen Stil entwickelt, jedes anders und doch alle drei in einem schönen schwesterlichen Reigen verbunden. Damals — in einer der Fliederlauben des alten Goertzschen Gartens — um den gedeckten Kaffeetisch herum hatte man sich zu vieren ein Versprechen gegeben und es mit lustigem Handschlag bekräftigt. Nach fünfundzwanzig Jahren wolle man sich am selben Tage und zur nämlichen Stunde auf dem gleichen Platz wiederfinden, um zu sehen, was aus jedem von ihnen geworden sei. Und ob Länder und Meere zwischen ihnen lägen, das Versprechen müsse gehalten werden. Das hatten die vier sich Hand in Hand gelobt.

Sonderbar, wie das so lange in ihm geschlummert hatte und jetzt plötzlich mit wachen, fast vorwurfsvollen Augen ihn anstarrte! Nach fünfundzwanzig Jahren! Du lieber Himmel! Die Frist war längst verflossen. Ein Vierteljahrhundert! Damals war es ihnen als eine Ewigkeit erschienen. Jetzt war es um sechs Jahre überschritten. Niemand von ihnen hatte daran gedacht. Verjährte Schulden! Wozu sich den Kopf darüber zerbrechen! Hatten sie nicht sogar eine Art von Protokoll darüber verfaßt? Auf einem Bogen Papier von kirschroter Farbe (oder war es meergrün gewesen?) hatte er, Johann Sebastian Stenzel, Prokurist auf Zeche Fürst Bismarck III — wie die Zahlen plötzlich flackerten! — das gemeinsame Gelöbnis niedergeschrieben ... jeder von ihnen hatte seinen Namen darunter gesetzt ... Als letzter er selbst, indem er sich, er, Johann Sebastian Stenzel — war denn das möglich? — die Ader der rechten Hand aufgeritzt und einen Blutstropfen in die Goldfeder hatte fließen lassen. Der Boden hatte merkwürdig dabei geschaukelt. Kein Erdbeben übrigens. Eher eine Bootsbewegung. Man hatte sich ja auf dem Wasser befunden. Der Garten war in Wirklichkeit ein See. Wie kam denn der in die Landschaft? Man spürte deutlich das Stampfen der Schiffsschraube. Sie fuhren alle zusammen auf einem großen Überseedampfer. Es war die Normannia, Reederei Wiedemann und Hopf. Das Namensband lief quer über den Spiegel. Offenbar um den Sprung zu verdecken. Und da stand ja auch der Schreibtisch an der Kajütenwand. Sein eigener Schreibtisch, den er sich im vorigen Jahr nach persönlichem Entwurf hatte anfertigen lassen. Den hatte er also schon damals im Lehrerhause besessen. Seine Mutter — ganz jung, wie er sie nie gekannt hatte — sah ihm über die Schulter und zeigte mit dem Finger auf das Geheimfach. Man öffnete es, indem man auf eine Feder drückte, deren Vorhandensein nur ihm selbst bekannt war. Wie peinlich, daß seine Mutter auf diese Weise davon erfuhr! Er hätte ihr die Vorrichtung gern verheimlicht. Aber sie hatte eine Art, mit ihren großen fremden Augen (war es denn überhaupt seine Mutter?) durch ihn hindurchzusehen, als sei er von Glas. Da half keine Ausrede und kein Verstecken. Man mußte tun, wie sie befahl. Das Geheimfach war übrigens schon ohne sein Zutun aufgesprungen. Obendrauf lag der Brief mit den fünf schwarzen Siegeln. Er griff danach, obwohl irgendeine innere Stimme ihn warnte, hielt ihn ans Licht, las die Aufschrift. Was waren das doch für flüssige und zugleich nachdrückliche Buchstaben? Sie erinnerten ihn an jemand, den er sehr gut kannte. Nur der Name fiel ihm nicht ein, so sehr er sich auch abquälte. Er hörte sich selbst ächzen, brachte aber nichts heraus. Die Aufschrift lautete: An meinen Sohn! An seinem achtundfünfzigsten Geburtstag zu lesen. Wie gut sich das traf! Der war heute! Wiedemann und Hopf, Schiffsreederei, hatten zum Zeichen dessen auf Halbmast geflaggt. Eine große tiefviolette Fahne, die sich um den Mast bauschte. Warum nur diese Angst in ihm war? Er hörte sein Herz schneller und schneller pochen wie die letzten Hammerschläge, wenn der Sarg zugemacht wird. Da war auch wieder dieses Stöhnen! Prokurist Bauhofer, uralt und verwittert, kniete vor ihm und wies mit dem Zeigefinger auf eine Trauerkarte. Stenzel bemühte sich zu lesen, was da gedruckt war, aber es schien eine fremde Sprache zu sein. Wozu hatte man gearbeitet und gearbeitet, wenn man die nicht verstand! Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Und jetzt hatte er es! Es war seine eigene Todesanzeige. Die Worte zerflossen vor seinen Augen. Aber es war kein Zweifel über ihren Sinn. Und eine schwarzumränderte Zahl grub sich ins Hirn:

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Eine unsagbare Angst schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Ein elektrischer Schlag züngelte an ihm hinunter wie der Funke am Blitzableiter. War das das Sterben?

Er schlug die Augen auf und wußte, daß er geträumt hatte. Er, Johann Sebastian Stenzel, Generalkonsul von Honduras, hatte von seiner eigenen Todesanzeige geträumt.

3

Der Generalkonsul zog seine Uhr. Es war fünf Minuten nach halb zwölf. Seine Augen hafteten auf dem Zifferblatt. Halb zwölf hatte er noch auf dem Turm der nahen Sankt-Gudula-Kirche schlagen hören. Also hatte dieser Traum, in den ein ganzes Menschenleben wie in eine Konservenbüchse gezwängt gewesen war, höchstens ein paar flüchtige Minuten gedauert. Aber was war das? Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht von der Stelle. Er drückte die Uhr an seine Ohrmuschel, lauschte auf den geheimen Pulsschlag des Werkes. Nichts rührte sich. Soviel er es hin und her schüttelte: Das tickende Herz da drinnen stand still. Um fünf Minuten nach halb zwölf war es stehengeblieben. Hatte er nicht in dem gleichen Augenblick sein eigenes Todesdatum vorausgeträumt? Da leuchtete sie wieder auf, wie von einer glühenden Feuerzange ins Hirn gestichelt: diese

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Also heute übers Jahr! Er sah die Anzeige mit den vielen Siegeln zum Greifen deutlich vor sich. Vielleicht lag sie wirklich in dem Geheimfach obenauf. Seine Hand zuckte nach der Feder, die es öffnete. Aber das war ja Wahnsinn! Er zog die Hand mit einem jähen Ruck zurück, als habe er an einen überstarken Magneten gefaßt. Es gab Leute, die von Wahrträumen fabelten! Wenn es sich nun um solch einen Wahrtraum handelte! Das stumme Zifferblatt der Taschenuhr grinste ihn an wie ein Leichengesicht, das er einmal im Keller einer Anatomie gesehen hatte. Etwas Kaltes kroch ihm über den Rücken. Er schüttelte sich.

Nein! Das durfte nicht sein! Generalkonsul Stenzel mußte Ruhe und Haltung bewahren, auch dem Tode gegenüber. Er knöpfte seinen Gehrock fester. Wenn er alle seine Besucher so zu empfangen pflegte, warum nicht auch jenen letzten so? Heute in einem Jahr! Vormittags fünf Minuten nach halb zwölf! Traum und Wirklichkeit hatten da hübsch zusammengearbeitet. Wo fing die Wirklichkeit an? Wo hörte der Traum auf? Träumte er nicht vielleicht noch immer weiter? Träumte er nicht vielleicht, daß er dies alles nur träume? Oder träumte er, daß er wach sei? Wo war da noch ein Unterschied? Vielleicht ist beides das gleiche, dachte er bei sich und zupfte sich am Ohr.

Das schien nun doch die Wirklichkeit zu sein. Und alles andere war Traum gewesen. Aberglauben! murmelte er. Atavistische Anwandlungen! Für einen Großkaufmann und Generalkonsul beschämend genug! Noch dazu, wenn er am hellen Vormittag über seiner Arbeit einschläft.

Stenzel erteilte sich selbst eine Rüge und wollte sich wieder seinen Papieren zuwenden, als sein Blick von neuem auf die goldene Zylinderuhr fiel, die er vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihre Zeiger standen noch immer still. Es war fünf Minuten nach halb zwölf, wie vorhin. Also das war greifbar und unwiderleglich! In dem gleichen Augenblick, wo er sein Todesdatum geträumt hatte, war die Uhr stehengeblieben. Es war unmöglich, diese Tatsache aus der Welt zu schaffen. Bleiben denn sonst Uhren in Verbindung mit Träumen stehen? Stenzel erinnerte sich nicht, je davon gehört zu haben. Man konnte diese Verbindung zufällig nennen. Man konnte von Aberglauben sprechen. Aber dem Phänomen kam man damit nicht bei. Es war wie mit Gespenstern: Man kann danach schlagen, greifen, schießen, es nützt alles nichts. Das Phantom bleibt, wie es ist, unverwundbar, unfaßbar und dennoch grauenhafte Gegenwart.

Johann Sebastian Stenzel wußte wie durch einen Akt der Intuition mit einemmal, daß ein solches Phantom in sein Leben getreten sei und bis zu seinem vermutlichen Ende, heute in einem Jahr elf Uhr fünfunddreißig Minuten vormittags, nicht mehr von ihm weichen würde. Der Mann, von dem es hieß, daß er sich niemals Zeit gelassen habe, Zeit zu haben außer für die Arbeit, vielleicht weil ihm Zeit als ein über alle Begriffe kostbares Gut erschienen war, das nur für das Höchste eingesetzt werden dürfe, erkannte plötzlich im Blitzstrahl des Augenblicks, daß eben diese Zeit jetzt im Begriffe stand, sich für immer von ihm zu wenden, wie eine schöne treulose Frau, die man allzusehr nur als Heilige behandelt hat.

Der Generalkonsul war nicht nur ein unverbesserlicher Grübler. Er war auch ein Mann des kurzen Entschlusses und der schnellbereiten Tat, sobald es des Grübelns genug geworden war. Ja, vielleicht hatte er seine großartige Laufbahn, die den Dorfschulmeisterssohn auf den Gipfel wirtschaftlicher Macht geführt hatte, eben dieser seltenen Verbindung von zerfasernder Überlegung und besinnungslosem Zuspringen zu verdanken. So kann man chemische Stoffe in der Retorte lange miteinander erhitzen und vermengen, ohne daß etwas geschieht. Aber dann ist nur ein geringfügiger Zusatz eines artfremden Elements, vielleicht auch nur die kleinste Erhöhung des Drucks nötig, und die Entladung ist da.

In Stenzels Leben waren manche solche Augenblicke gewesen. Zum Beispiel als er in jener allgemeinen Wirtschaftskrise das Aktienpaket erworben hatte, das ihm die Kontrolle über die Schwedisch-Baltische Schiffahrtsgesellschaft vormals Wiedemann und Hopf gesichert hatte. Auch in der Angelegenheit der oberschlesischen Montangruppe hatte er wochenlangem Grübeln und Überlegen den Willensakt einer Sekunde folgen lassen, indem er wie in einem Zustand hellsichtiger Blindheit seine Unterschrift unter das entscheidende Schriftstück setzte.

Aber was wollte das alles gegen den Augenblick bedeuten, der sich soeben abgespielt hatte! Vielleicht war es nötig, noch einmal die Tatsachen in unerbittlicher Nacktheit zu gruppieren, um dann die endgültigen Schlüsse daraus zu ziehen. Da waren die beiden Briefe von Mutter und Tochter, von Helene und Ginevra van Düren. Sie lagen in Augennähe vor ihm auf dem Schreibtisch. Damit hatte es begonnen. Dann war dieser Halbschlaf über ihn gekommen, dieses Traumwachen am hellichten Vormittag mitten in der Bürozeit, im Dampf der Arbeit. Nummer zwei. Was war in diesem Zustand geschehen? Er hatte geträumt, daß er mit neunundfünfzig Jahren sterben werde. Nummer drei. Dann war er aufgewacht und hatte entdeckt, daß während des Traumes seine Taschenuhr stehengeblieben war. Um elf Uhr fünfunddreißig Minuten vormittags. Nummer vier. Konnte ein Zweifel sein, daß ein geheimer und doch irgendwie durchsichtiger Zusammenhang zwischen dem allen bestand? Also Generalbilanz: In einem Jahr war es zu Ende.

Der Generalkonsul erhob sich, atmete tief auf und reckte seine Arme. Leben! Leben! Noch war es sein! Ein volles Jahr gehörte noch ihm! Oh! Er wollte diesen Becher auskosten bis zum letzten Tropfen! Was ist die Zeit? Es ging ihm durch den Kopf, daß gewisse Philosophen sich mehr als skeptisch über den Begriff der Zeit geäußert haben sollten. Ob ein Jahr ... Ob zehn Jahre ... Ob hundert, ob tausend Jahre ... Rauchwölkchen, die zwischen den Fingern zergehen. Könnte man sie auf die Goldwaage legen, alle diese Rauchwölkchen, die Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende, es ließe sich auch nicht ein Millionstel Milligramm Unterschied zwischen ihnen ablesen. Solches und Ähnliches hatten die Philosophen behauptet, wenn man den Berichten darüber glauben durfte. Er hatte in der Tiefe seines Herzens nie viel von Philosophie gehalten. Es war ja doch alles nur Zeit- und Kraftverschwendung. Aber hier war ein Punkt, wo sie recht zu haben schien. Wenn tausend Jahre nicht mehr Gewicht besitzen als ein Jahr, warum sollte dann ein Jahr nicht ebensoviel wiegen können wie tausend Jahre? Es kam nur darauf an, welchen Inhalt man ihm gab.

Johann Sebastian Stenzel hatte seine volle Ruhe und Klarheit wiedergewonnen. Er drückte auf den Knopf seines Fernsprechers. Bauhofer meldete sich sofort.

„Es sind Telegramme aufzugeben, Herr Bauhofer. An meinen Neffen in Willomin. An Frau Professor van Düren, Berlin. An Fräulein Ginevra van Düren, hier. Kommen Sie sie in fünf Minuten holen. Lassen Sie sie von Fräulein Mathias nach dem Amt hinübersprechen. Dringend. Ich schreibe sie inzwischen nieder. Und dann machen wir die Bude zu. Ich gebe Ihnen bis morgen frei. Feiern Sie meinen Geburtstag und belasten Sie mich mit den Spesen bis zu zwanzig Mark.“

Am andern Ende der Leitung legte einer, mit mäßig gesträubten Haaren und etwas schlotternden Knien, den Hörer auf die Gabel. Es war Bauhofer. Sein Weltbild — eben noch übersichtlich wie ein guter Kontoauszug — hatte plötzlich einen Riß bekommen, der sich wie eine feine Zickzacklinie durch die saubere Zahlenreihe schlängelte und die ganze Rechnung in Unordnung brachte.

4

„Findest du nicht auch, Adele, daß es mit unserem heutigen Männergeschlecht sichtlich bergab geht? ... Entschuldige! Ich will dich nicht kränken! Du denkst an deine Balkanhoheit! Kasimir Wladimirowitsch nehme ich natürlich aus! Ich lasse überhaupt alle Einzelfälle gelten! Besonders in unserer reiferen Männlichkeit gibt es noch Kavaliere und vielleicht auch noch Individualitäten. Aber was unserer Altersklasse entspricht ... Ausschuß! Dubletten! Fehldrucke! Entweder unterbelichtet ... Sport! Oder überbelichtet ... Intellektuelle! Na! Da ziehe ich beinahe noch die Unterbelichteten vor! ... Ich weiß, du hast es mit den Überbelichteten! Um so besser! Wir werden uns also nicht ins Gehege kommen! ... Nimmst du Schinkenbrötchen oder Marzipantorte? Vermutlich das letztere! Bediene dich! Sie ist von Püntschera.“

Ginevra van Düren reichte ihrer Freundin Adele Waldmann, der Liebhaberin und Sentimentalen vom Landestheater, die Platte mit der berühmten Püntscheraschen Marzipantorte. Die beiden jungen Mädchen nahmen ihren Nachmittagstee auf dem umgitterten Plätzchen ein, das Ginevra ihren Dachgarten nannte. Es war eine kleine rechtwinklige Terrasse, zu der man aus Ginevras Maler- und Photographenatelier ein paar knarrende Holzstufen emporzusteigen hatte. Man trat wie auf eine Bergkanzel oder auf einen Burgsöller hinaus und sah den Himmel über sich, die Welt unter sich. Es war eine Welt von steilen rostroten Dachfirsten, die höher oder niedriger, kreuz und quer einander überschnitten, von Schornsteinen, Luken, Mansarden, Speichern, Trockenböden, Feuermauern, Geländern, Holzgalerien, Hofschächten. Es sah aus, als habe über eine gerade im Werden begriffene Welt eine Schöpferhand sich gebreitet und dem chaotischen Augenblick Dauer geboten. Aus dem zerklüfteten Steingewoge wies ganz in der Nähe ein schlanker Turm, wie ein beziehungsvoll erhobener Zeigefinger, gen Himmel. Man unterschied deutlich das Zifferblatt der Uhr an dem schöngegliederten Unterbau des Turmes, mit dem man sich etwa in gleicher Augenhöhe befand.

Von den beiden Mädchen schien Ginevra die jüngere zu sein. Sie war groß gewachsen, von kräftigem, doch ebenmäßigem Gliederbau, so daß sie schlanker erschien, als sie war. Graugrüne Augen und kupferrotes Haar waren die Haupttöne ihrer Palette. Das länglichschmale Gesicht mit den schiefgezogenen Augenbrauen und der rechtwinkligen Frisur erinnerte an japanische Holzschnitte. Ihre ganze Erscheinung wirkte fremdartig, auffallend, wenn nicht herausfordernd, aber jedenfalls als die einer großen Dame.

Adele Waldmann konnte Mitte zwanzig sein. Schweres aschblondes Haar umrahmte kraus und wirr, in einer Art von Pagenfrisur, die gewölbte Stirn und das weiche Oval des Gesichts. Die mattblauen Augen hatten den Perlmutterglanz des abendlichen Meeres. Stark betont wirkten die roten sinnlichen Lippen, die zum Verweilen einzuladen schienen. Sie war nur wenig kleiner als Ginevra, von sinnendem, verschleiertem Wesen, ein weicher, weiblicher Typus, den die herbe amazonenhafte Schönheit Ginevras überstrahlte.

Adele ertrug das ohne Neid und Eifersucht. Sie wußte, daß sie eine geheime Anziehungskraft besaß, die die Männer zu ihr zwang. Sie hatte das im Guten wie im Schlimmen nur zu oft erfahren. Wer ihrem Bann einmal verfallen war, kam nicht so leicht mehr los! Es war nicht immer ein Glück für sie zu nennen. In Theaterkreisen wurde über ihre Erlebnisse in früheren Engagements mancherlei erzählt. Die Kolleginnen sprachen von Hemmungs- und Bedenkenlosigkeit. Sie selbst hatte Stunden, wo sie sich als Opfer empfand, wie ein hilfloses Wild, hinter dem die Meute her ist. Neuerdings war darin eine gewisse Ruhepause eingetreten. Seine Hoheit Kasimir Wladimirowitsch hatte sie zu seiner Freundin erkoren, was sich schnell in der Stadt herumgesprochen hatte. Kasimir Wladimirowitsch war der Exgroßfürst von Syrmien, der nach den Bedrohnissen und Stürmen einer dreißigjährigen Balkanregierung ein reich vergoldetes Exil in dem nahen Seebad Willomin gefunden hatte.

„Ich bewundere immer von neuem deine Unproblematik, Ginevra,“ sagte Adele, indem sie sich eine zweite Schnitte der ausgezeichneten Püntscheraschen Marzipantorte auf den Teller legte.

„Unproblematik soviel wie Borniertheit oder Dämlichkeit, willst du sagen?“