Die Tat des Dietrich Stobäus - Max Halbe - E-Book

Die Tat des Dietrich Stobäus E-Book

Max Halbe

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Beschreibung

Der Diplomat und Schriftsteller Waldemar Lewerenz hat sich nach dem Ersten Weltkrieg in München niedergelassen, fernab von dem väterlichen Gut Barkoschin nahe Danzig und getrennt lebend von seiner Frau Sabine. Das München der Zwanziger Jahre ist in Bewegung geraten. Revolution, okkultistische Treffen, rauschende Feste wecken die Geister. In dieser Phase lernt Waldemar Angele Moradelli kennen und lieben, bis dass Sabine in München auftaucht.AUTORENPORTRÄTMax Halbe (1865-1944) studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und promovierte 1888 in München. Anschließend ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er gehörte zu den wichtigen Exponenten des deutschen Naturalismus. 1895 übersiedelte Halbe nach München und gründete das 'Intime Theater für dramatische Experimente'. Ebenso wurde er Mitbegründer der 'Münchner Volksbühne'. Mit Ludwig Thoma und Frank Wedekind pflegte Halbe eine Freundschaft.-

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Max Halbe

Die Tat des Dietrich Stobäus

Roman

Saga

1

An einem warmen Augustabend der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lustwandelte der alte Justizrat Märchenschön mit seinem jungen Kollegen und Kompagnon Leonhardi an dem Strandbogen, der in anmutiger Überschneidung sich von Zoppot nach der bewaldeten Landspitze Adlershorst herumzieht. Die beiden Männer hatten sich eigentlich nur ein Stückchen von Kurhaus und Steg entfernen wollen, wo das letzte Badefest der Saison bunte Menschenscharen dichtgedrängt beisammenhielt. Aber wie sie schweigend nebeneinander fortschlenderten und die Walzerweisen der Kurkapelle immer ferner verklingen hörten, schien es, als wolle der schmeichelnde Sommerabend, der apfelsinenfarben über Wald und Meer hingegossen lag, sie tiefer und tiefer in seinen lichten Frieden locken.

„Wissen Sie, woran mich der Abend heute und überhaupt dieser ganze wolkenlose Sommer erinnern?“ fragte Märchenschön mit eins in das Schweigen hinein.

Leonhardi schüttelte mechanisch den Kopf. Er wäre am liebsten so fortgegangen, getragen von der lässigen Melodie halb oder kaum gewußter Gedanken, wozu der Rhythmus der leise atmenden See die Begleitung gab. Aber er wußte, daß Märchenschön keine Unaufmerksamkeit duldete, wenn er einmal ins Reden gekommen war. Also wandte er sich resigniert zu dem kleinen spitzbäuchigen Herrn, der mit seinem vorspringenden Vogelkopf unter dem schwarzen Schlapphut und dem aus Nase, Ohren und Kinn wuchernden grauen Rundbart wie ein Zwergenkönig in Zivil aussah.

„Wissen Sie, woran mich dieser fabelhafte Sommer erinnert?“ wiederholte Märchenschön und faßte seinen jungen Vertreter fest ins Auge, ihm gleichzeitig die Hand auf den Arm legend, wie um ihm jedes Ausweichen abzuschneiden.

„Nun?“

„Er erinnert mich an die Sommer meiner Jugend.“

Märchenschöns zwinkernde Augen hefteten sich in das Gesicht des andern, um dort die Wirkung abzulesen.

Leonhardi wußte nicht recht, was er aus den Worten seines Kollegen und Chefs machen sollte.

„Die Sommer Ihrer Jugend?“ meinte er schließlich zweifelnd.

„Jawohl, mein hochzuverehrender jüngerer Zeitgenosse!“ erwiderte Märchenschön und handhabte dabei den festgehaltenen Arm des andern wie einen Taktstock, mit dem er die Worte unterstrich und die Pausen markierte. „Die Sommer ... meiner ... Jugend!“

Märchenschön ließ Leonhardis Arm mit einem kurzen Schwung los, so daß er noch einen Augenblick wie ein Pumpenschwengel weiter pendelte, und lachte meckernd vor sich hin.

„Sie bilden sich natürlich ein, Sie kürzlich aus dem Ei gekrochener Hahn, ein Sommer sei so ungefähr wie der andere? Der eine etwas nasser, der andere etwas trockener, aber alle schließlich nach demselben Rezept gearbeitet: man schwitzt, man kriecht eine Stunde früher aus den Federn, man stülpt sich einen Strohhut statt eines Filzdeckels auf, man betreut seine Klienten bei Tageslicht statt bei Lampenschein, kurz, Sommer ist eben Sommer nach Ihrer höchst unmaßgeblichen Ansicht? Nicht wahr?“

„Ja, ist es denn nicht auch wirklich so?“ warf Leonhardi mit einem zerstreuten Lächeln hin.

„Es ist nicht so!“ donnerte Märchenschön, als gälte es, den Staatsanwalt vor den Geschworenen in Grund und Boden zu schmettern. „Es ist sogar das Gegenteil! Sommer und Sommer, das kann so zweierlei sein, wie der Surius aus Bomst und der Steinberger Kabinett zweierlei sind, wenn sie auch beide unter dem Namen Wein gehen. Der eine zerreißt Ihnen die Magenwände und treibt Ihnen das helle Wasser in die Augen. Der andere schmeichelt sich wie Honig durch die Kehle und zaubert Ihnen einen Blumengarten vor die Nase. Sehen Sie, der diesjährige Sommer, das ist wieder mal ein Steinberger Kabinett nach einem Menschenalter von Kretzer-Jahrgängen! Und solche Edelwein-Sommer hab’ ich in meiner Jugend so ein anderthalb Dutzend hintereinander erlebt, ehe der große Mißwachs einbrach.“

Märchenschöns rechter Arm beschrieb einen mächtigen Bogen durch die Luft, als wolle er den ganzen Ertrag dieses Mißwachses mit einer einzigen Gebärde wegfegen und die zurückbleibende Wüstenei im übrigen sich selbst überlassen. Dann senkte sich seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern.

„Es ist, als ob manchmal auf ganze Generationen ein Fluch gelegt wird. Ich bedaure euch Spätlingsvolk, das so ohne Sonne, Licht, Wärme, kurz ohne Sommer hat aufwachsen müssen. Man sieht ja auch, was zustande gekommen ist. Lauter verkrüppeltes Knieholz! Zwergpflanzen ohne Saft und Kraft! Wir alte, stolze, eisenfeste Garde dagegen! Unsere Jugend ist von der Sonnenglut der Zwanziger- und Dreißigerjahre des Jahrhunderts beschienen worden. Wir haben als junge Kerle Licht, Wärme, Glanz tonnenweise in uns eingeschluckt. Damit haben wir in der nachfolgenden Vereisung eingeheizt! Davon haben wir gezehrt in der ägyptischen Finsternis unserer Mannesjahre. Respekt vor uns Sonnenkindern, ihr amphybischen Eiszeitprodukte!“

Märchenschöns Plädoyer hatte sich aus mystischem Abgrund durch alle Register bis zu höchsten Höhen erhoben. Die possierliche Gnomengestalt schien ins Ungeheure zu wachsen. Die Augen schleuderten Blitze in die Runde und fuhren an der anderthalb Köpfe höheren Gestalt Leonhardis hinauf und hinunter, als müßten sie sie verdoppeln und verdreifachen, um sie in ihrer ganzen mikroskopischen Winzigkeit zu ermessen.

Aber Leonhardi schien an derartige Ausbrüche gewöhnt zu sein. Nachdem der erste Sturm sich gelegt hatte, meinte er gleichmütig:

„Ob nicht sehr viel Einbildung und Illusion hinter dem allen steckt?“

Märchenschön blieb wie festgenagelt stehen, stemmte die Arme in die Hüften und lehnte sich herausfordernd zurück.

„Wohinter steckt?“ fragte er drohend.

„Hinter Ihrer Behauptung, die Sommer Ihrer Jugend wären so unvergleichlich viel schöner gewesen als alle, die Sie nachher erlebt haben.“

„Erstens habe ich das nicht behauptet!“ kreischte Märchenschön. „Und zweitens ist es natürlich Einbildung, falls ich es behauptet habe.“

„Wie sagen Sie?“ fragte Leonhardi, jetzt wirklich etwas überrascht.

„Ich sage, daß alles in dieser Welt Einbildung ist, junger Mann! Daß das ganze Leben auf Illusion beruht, verehrter Fürst! Ist deshalb das Leben weniger real? Sind die Dinge dieser Welt darum weniger körperhaft? Stößt man sich den Kopf weniger an der Wand ein, weil man weiß, daß es eigentlich gar keine Wand ist, sondern etwas ganz anderes, was man nicht weiß? Und hebt etwa nach Ihrer Ansicht die Tatsache der Illusion die Tatsächlichkeit der Illusionen auf?“

Märchenschön verschnaufte sich einen Augenblick und maß seinen Begleiter mit einem triumphierenden Blick von oben bis unten, in dem die ganze Niederlage des andern beschlossen lag. Dann fuhr er milder und versöhnlicher fort, wie man dem Besiegten goldene Brücken baut:

„Es bleibt also dabei, junger Freund, daß die Sommer meiner Jugend die schönsten sind, die es jemals gegeben hat. Wobei ich Ihnen natürlich das Recht konzediere, das gleiche von Ihrer Jugend zu behaupten.“

„Danke! Kein Bedürfnis!“

„Weil es bei Ihnen noch nicht so lange her ist!“ schrie Märchenschön. „Weil Sie noch mitten darin stehen, Sie Kuckindiewelt! Da liegt der Hund begraben! Die Erinnerung ist es, die den blauen Dunst um die Dinge her macht, als hätte wunder was dahintergesteckt. Die Erinnerung ist die größte Betrügerin, die es auf Erden gibt. Mit der Erinnerung geht es wie mit der Abendsonne, die einem den finstersten Tag nachträglich vergolden kann. So die Erinnerung das Leben. Aber ist man deshalb weniger hereingefallen?“

Leonhardi nickte bei den Worten des Alten schweigend vor sich hin. Dieser ließ ihm keine Zeit, seine Gedanken fortzuspinnen.

„Nein, man ist nicht hereingefallen! So wenig, wie man hereingefallen ist, wenn man sich von einem Maler porträtieren läßt und bekommt schließlich ein Bild geliefert, so kreuztoll in Farbe und Beleuchtung, daß man seine eigene Physiognomie nicht wiedererkennt. Würden Sie sich getrauen, den Maler auf Rücknahme des Bildes zu verklagen? Sie würden sich’s nicht getrauen, junger Mann! Denn der Maler hat recht gehabt, und die Erinnerung hat recht, und ich habe recht ...’

„Sie vor allem, Herr Justizrat!“ warf Leonhardi mit ironischem Lächeln ein.

Aber Märchenschön war so in seinen Gedankengang eingesponnen, daß er nicht darauf achtete.

„Sehen Sie mal her, junger Mann! Was mache ich hier? Ich stehe und zeichne mit meinem Stock Figuren in den nassen Sand. Da! Ein Mann! ... Eine Frau! ... Ein Haus! ... Ein Schwein! ... Die nächste Welle wird sie wegwischen. Jetzt! ... Jetzt! ... Nein, warten Sie nur ab. Die See ist zwar so ruhig heute wie eine Waschschüssel. Aber es kommt schon ... Da! Sehen Sie! Klatsch! Weg! Mann, Frau, Haus, Schwein, fortgewischt! Ausgelöscht! Tot! Nichts mehr davon übrig! ... Oder am Ende doch?“

Märchenschön erhob langsam seinen Kopf, der ihm bis auf die Brust gesunken war, und tippte sich ruhig und nachdrücklich dreimal vor die Stirn.

„Hier ... hier ... hier leben sie weiter, der Mann und die Frau und das Haus und das Schwein. In diesem Gehirn leben sie weiter. Der Abdruck bleibt. So bleibt auch unser Abdruck im Gehirn des vermutlichen Weltgeists, der uns in den Sand des Lebens skizziert hat. Bleibt, nachdem die Welle uns längst wieder verschlungen hat. Und ebenso bleibt unsere eigene Vergangenheit als Abdruck in uns selbst. Ob dieser Abdruck mit dem, was wirklich war, übereinstimmt? Dumme Frage! Die Wirklichkeit ist tot, ist unwiederbringlich dahin. Die Erinnerung aber lebt. Die Erinnerung ist das einzig Reale in dieser Welt der irrealen Wirklichkeit.“

Eine Weile gingen die beiden Männer wieder schweigend nebeneinander her. Der Himmel hatte sich aus einem tiefen Orange in flammendes Rot gefärbt. Schwarzblau standen die Wälder der Küste. Ein langer blasser Rauchstreif zog sich parallel dem Horizont über die See hin. Unendlicher Frieden nach vollbrachtem Werk schien aus dämmerigen Fernen hinwandelnd durch die Welt zu ziehen.

Märchenschön atmete aus tiefer Brust und sog mit breiten Nüstern den Salzduft des Wassers ein, den ab und zu eine Brise herübertrug. Dann schwenkte er seinen Stock durch die Luft, wie um zum letzten Schlage gegen den Feind auszuholen.

„Ich behaupte also nicht nur, daß die Sommer meiner Jugend unvergleichlich und unübertrefflich waren. Ich behaupte auch, die Frauen meiner Zeit waren schöner und verführerischer als jemals vorher oder nachher. Ich behaupte, die Mädchen waren anmutiger und zierlicher, die Männer aufrechter und entschlossener, die Geselligkeit liebenswürdiger und angeregter, das Leben im ganzen leichter, heiterer und lebenswerter, und auf der anderen Seite wieder größer, bedeutender, charaktervoller. Ich behaupte, alles und jedes trug zu meiner Zeit unendlich viel mehr seine eigene, besondere, individuelle Physiognomie, interessantere und einträglichere Prozesse wurden geführt und sogar die Mörder waren merkwürdiger und sozusagen mörderhafter. Das alles behaupte ich ganz kaltblütig und ohne mit der Wimper zu zucken. Beweisen Sie mir das Gegenteil!“

Leonhardi lachte unwillkürlich auf.

„Die Mörder waren mörderhafter? Wie meinen Sie das?“

Märchenschön deutete mit ausgestrecktem Arm auf ein weißes Landhaus, das unfern auf einer Waldhöhe zwischen Buchengehölz halb versteckt lag.

„Sehen Sie den Zopfbau da oben mit den geschlossenen Fensterläden? Etwas altmodisch im Äußeren, aber immer noch nobel und vornehm, wie ein alter Kavalier, der sich zurückgezogen hat und von den Erinnerungen seiner Jugend lebt.“

Leonhardi kannte von seinen Spaziergängen her das einsame Haus, in dem alles Leben seit langem erloschen schien.

„Was ist es eigentlich mit der Villa?“ fragte er. „So lange ich hier bin, habe ich noch nie einen Fensterladen geöffnet gesehen.“

„Wissen Sie nicht, daß das Haus im Volksmunde das ‚tote Haus‘ heißt? Sein letzter Bewohner ist vor dreißig Jahren gestorben. Die Erbschaft fiel an ganz entfernte Verwandte, die irgendwo im Reich draußen leben. Sie haben das Haus nie betreten.“

„Sonderbar! Warum denn nicht?“

„Vielleicht sind sie abergläubisch. Vielleicht knüpft sich eine Geschichte an das Haus.“

„Ah! Es spukt wohl? Nicht?“

„Lachen Sie nicht, junger Mann! Sie können es schwarz auf weiß bei mir niedergelegt sehen.“

Leonhardi war stehen geblieben und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Glauben Sie im Ernst an solche Märchen, Herr Justizrat?“

Märchenschön kreuzte die Arme über der Brust, während er die geöffnete rechte Hand dicht vor die Augen hielt, als wolle er in ihren Linien die Lösung des Rätsels finden.

„Ich will Ihnen etwas sagen, mein vielgeliebter Fürst!“

Märchenschön hielt inne und machte wie zur Erhöhung der Spannung eine längere Kunstpause, indem er unverwandt in seine Handfläche starrte. Leonhardi blieb geduldig wartend neben ihm stehen und ließ seine Blicke von dem runzligen Gesichte des alten Mannes hinüberschweifen zu der verwitterten Fassade des alten Hauses, das in dem bleicher werdenden Lichte des Abends wie ein Phantom aus den Waldbüschen hervorschimmerte.

„Ich will Ihnen etwas sagen,“ wiederholte Märchenschön nach einer Weile und setzte sich langsam wieder in Bewegung. „Ich selber glaube in diesem Punkt alles und nichts, je nachdem es mir bewiesen wird oder nicht. Und in diesem Falle ist allerdings nichts bewiesen. Nicht das allermindeste!“

„Nun also!“

„Halt, mein Verehrtester! Halt! Halt!“ donnerte Märchenschön und reckte seinen Arm hoch in die Luft, wie ein Stationsvorsteher, der einen vorbeisausenden Zug im letzten Augenblick zum Stehen zu bringen sucht. „Ich sage, bewiesen wurde nichts. Schon darum nicht, weil ja sonst mein Klient zum Tode verurteilt worden wäre. Und das wäre doch ein sehr unwürdiges Ende für den letzten Sprößling des Hauses Stobäus gewesen. Abgesehen davon, daß ich meinerseits als Verteidiger von Dietrich Stobäus alle Ursache hatte, einen Freispruch zu erzielen.“

Der alte Herr hatte sich wieder etwas außer Atem geredet. Er mußte innehalten und sich verschnaufen. Aber ehe noch der andere nach dem Zusammenhange von dem allen fragen konnte, hatte er bereits von neuem ausgeholt.

„Ja, mein teurer und hochgeachteter Adlatus, das ist uns denn auch wirklich gelungen. Damals hat sich Josua Märchenschön seine ersten Sporen als Hort aller unschuldig Verfolgten und als Schrecken aller Staatsanwälte verdient. Nehmen Sie sich ein Beispiel daran und werfen Sie nie die Flinte ins Korn, wenn der Fall auch noch so verzweifelt liegt. Vielleicht gelingt es schließlich doch, die Geschworenen einzuwickeln und den Angeklagten herauszuhauen.“

„Wovon sprechen Sie eigentlich, Herr Justizrat?“ fragte Leonhardi, als Märchenschön geendigt hatte und über den festen weiß gewaschenen Strand rüstig der dunkel aufsteigenden Landspitze entgegenschritt.

„Von dem berühmten Fall Stobäus, der sich vor reichlich einem Menschenalter hier auf dem Schauplatz zugetragen hat.“

„Ein Mordfall also? Von besonders ... wie nannten Sie es? ... von besonders mörderhaften Umständen?“

„Ja. Aber ich bestreite eben den Mord und glaube noch heute an einen einfachen Unglücksfall.“

„Wie lautete denn die Anklage?“

„Stobäus habe seine junge, dreiundzwanzigjährige Geliebte an einem stürmischen Herbstabend rücklings in die See hinuntergestürzt. Dort drüben von der Höhe herunter. Bei der sogenannten Teufelskanzel, wo man den Rundblick hat, auch nach der jenseitigen Bucht hinüber.“

„Wo die Bank steht?“ fragte Leonhardi. „Und über das Geländer blickt man senkrecht auf den Wasserspiegel hinab?“

„Ganz richtig! Das Geländer ist aber erst neueren Datums. Vielleicht stammt es sogar von der Katastrophe her. Aber an dem 19. September 1862, als Dietrich Stobäus und Karoline Bergmann dort oben standen und über die donnernde See wegsahen, war’s damit noch eine ziemlich brenzlige und gefährliche Geschichte. Ein Schritt zu weit, eine unvorsichtige Bewegung, ein Ausgleiten, ein kurzer Schwindelanfall, und das Unglück war geschehen! Der Absturz beträgt hundert Fuß. Die Wand ist aus steinhartem Ton. Das Wasser hat richtige Klippen, Kanten und Schroffen hineingewaschen. Man bricht sich unfehlbar das Genick und was etwa noch lebendig unten ankommt, das nimmt die Brandung in ihren Schoß auf. Gute Nacht und adieu!“

Ein Weilchen schwiegen die beiden Männer wieder. Der schwarze Höhenstreif, der scharf abgezeichnet gegen den hellen Himmel des Sommerabends die Küste begleitete, trat näher an die See und warf dunkle Schatten vor die Füße der einsamen Strandgänger. Aus dem schlafenden Wald hoch über ihren Köpfen schien sich die Erinnerung an eine finstere und schwermütige Begebenheit mit lastenden Flügeln auf sie herabzusenken. Die See leckte müde um ihre Füße. Minutenlang glitt kein Hauch über den blanken Wasserspiegel.

„Wer war Dietrich Stobäus?“ fragte Leonhardi, wie um die drückende Stille durch einen Laut zu unterbrechen. „Die Familie ist mir nicht erinnerlich.“

„Sagte ich Ihnen nicht, Verehrtester, die Familie ist ausgestorben? Im übrigen sieht man, daß Sie fremd hier sind. Die Familie hat nämlich keine kleine Rolle in unserer Stadtgeschichte gespielt. Ein Ahnherr war Bürgermeister im sechzehnten Jahrhundert. Ein anderer Admiral der Stadt im siebzehnten. Er hat über fünfzig Seeräuber an ihrem besten Halse aufhängen lassen. Überhaupt alles Leute, die Haare auf den Zähnen hatten, die Stobäus! Männer der Tat! Handelsherren, Seeleute, Soldaten! Eine Nachblüte der Familie fällt ins achtzehnte Jahrhundert, wo während der Schweden- und Russenzeit ein Stobäus einen riesigen Grundbesitz rings um die Stadt zusammenbringt. Später geht’s langsam wieder bergab. Unglücksfälle, Schicksalsschläge, Krankheit und Kurzlebigkeit ... Die Anzeichen der beginnenden Erschöpfung. Und die Familie, die über dreihundert Jahre lang lauter stramme, feste, sehnige Kerle produziert hat, endigt mit einem kleinen, hageren, spinnenarmigen Männchen, das unter seinen Folianten hockt und horribile dictu Gedichte macht. Was sagen Sie dazu? Ein Stobäus, der Gedichte machte! Daß eine solche Entartung kein gutes Ende nehmen konnte, daß die Abnormität in diesem und anderen Punkten den armen Kerl schließlich in Mordverdacht bringen mußte ... mußte, sage ich, ist klar.“

„Na, erlauben Sie mal!“ lachte Leonhardi. „Weil jemand Gedichte macht, soll er imstande sein, einen Mord zu begehen?“

„Wer Gedichte macht, ist zu allem imstande!“ schrie Märchenschön und wischte sich die Schweißtropfen ab, die ihm auf der Stirn perlten. „Ich habe selbst in meiner Jugend Gedichte gemacht und muß es wissen.“

„Wer hat keine gemacht?“ meinte Leonhardi wieder lachend. „Wollen Sie uns alle glattweg zu Mördern stempeln?“

„Allerdings, Eure Herrlichkeit! Das will ich. Wir sind Mörder alle zusammen. Oder können Sie sich jemanden vorstellen, der nicht schon in Gedanken jemand umgebracht hätte?“

„In Gedanken!“ warf Leonhardi ein.

„Papperlapapp! Gedanken sind Tatsachen, so gut wie alle anderen Tatsachen. Und mit dieser Tatsache heißt es sich abfinden. Dieser Tatsache heißt es ins Gesicht sehen. Sonst wirft sie uns um, und es kann uns ergehen, wie es Dietrich Stobäus gegangen ist.“

„Wie denn?“

Märchenschön erhob seinen rechten Arm und führte ihn waagrecht mit vorgestrecktem Zeigefinger wie eine eingelegte Lanze dreimal in die Stirngegend seines Begleiters.

„Man schnappt über, mein Fürst! Man verliert die Balance, herzogliche Gnaden! Man wird rappelig, Herr Zeitgenosse! Verstehen Sie mich jetzt?“

„Stobäus war nicht ganz richtig, wollen Sie sagen? Sie haben auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert?“

„Im Gegenteil!“ schrie Märchenschön. „Ich habe auf volle Zurechnungsfähigkeit und absolute Unschuld plädiert.“

„Dann verstehe ich Sie allerdings nicht,“ erwiderte Leonhardi achselzuckend. „Entschuldigen Sie meine Talentlosigkeit.“

Märchenschön blieb breitbeinig stehen und nahm über seinen erhobenen linken Daumen weg wie über ein Visier Leonhardi aufs Korn, als wolle er ihn mit einem Meisterschuß zur Strecke bringen.

„Haben Sie schon von Doppelgängern gehört, junger Mann? Sie werden natürlich behaupten, es gibt gar keine Doppelgänger. Wenigstens nicht, was man darunter versteht. Nicht Leute, die einem von weitem ähnlich sehen, sondern wirkliche Doppelgänger. Gut! Ich bin auch noch keinem begegnet. Die Natur schafft keine Dubletten, kann man sagen. Die Natur ist immer original. Aber nehmen wir einmal an, es gäbe Doppelgänger. Inkarnationen des eigenen Ichs, die außerhalb des eigenen Ichs vorhanden sind. Spiegelbilder unserer selbst, die doch nicht wir sind. Und nehmen wir an, wir begegnen solch einem Spiegelbild, solch einem Doppelgänger. Begegnen ihm in der Dämmerung auf einsamer Straße oder um Mitternacht im Korridor eines alten Schlosses ... Müßte uns der Anblick nicht total umwerfen? Müßten wir nicht aus dem Häuschen geraten? Müßten wir nicht nach der Zwangsjacke schreien? Vorausgesetzt nämlich, daß uns niemand beizeiten gesagt hat: Es gibt Doppelgänger. Man kann ihnen des Abends in der Dämmerung oder gegen Mitternacht im Ahnensaal begegnen. Denn in diesem Fall, und darauf kommt es an, würde uns die Begegnung vielleicht ein bißchen unbequem sein, man würde vielleicht unwillkürlich den Rockkragen in die Höhe schlagen, würde vielleicht dem Herrn nicht grade die Hand reichen, würde aber immerhin seinen Hut ziehen und sagen: Sehr angenehm! Und womit kann ich dienen? ... Verstehen Sie mich jetzt, junger Mann? Begreifen Sie, was das Gleichnis für den Fall Stobäus bedeutet?“

„Nicht so ganz,“ antwortete Leonhardi und lächelte.

„Worüber lachen Sie, Mensch?“ fragte Märchenschön stirnrunzelnd und in dumpfem Ton.

„Über mich selbst! Über meine fürchterliche Borniertheit! Ich komme nicht dahinter. Ich verstehe die Beziehungen nicht. Es muß wohl an mir liegen, oder ich wüßte nicht, an wem sonst.“

Leonhardi hatte so behutsam wie möglich gesprochen, denn er erwartete einen furchtbaren Ausbruch des in seiner nächsten Nähe wirkenden Vulkans.

Aber das Gegenteil geschah. Märchenschön legte seinen rechten Arm vertraulich um die Schultern des andern und sagte, während er ihn weiterzog, mit väterlicher Milde:

„Es liegt natürlich an Ihnen, liebster junger Freund! Aber man muß Nachsicht mit euch jungen Leuten haben. Ich sage ja, es hat euch an Licht, Sonne, Wärme in eurer Jugend gefehlt. Daher die Begriffsstützigkeit. Ich will Ihnen mit zwei Worten auf die Strümpfe helfen. Der Doppelgänger, das ist das Geheimste, das Tiefverborgene in uns, das, wenn es plötzlich und unvorbereitet aus seinem Schlupfwinkel vor uns hintritt, uns unbedingt über den Haufen rennt. Hätte Dietrich Stobäus gewußt, was wir wissen, nämlich, daß wir alle zusammen arme Sünder, Verbrecher, Mörder sind, sei es in Gedanken, sei es mit der Tat, was in moralischer Beziehung verdammt wenig Unterschied bedeutet, ich sage, hätte er sich beizeiten mit diesen Faktoren vertraut gemacht und abgefunden, wer weiß, ob er dann nicht, trotz des furchtbaren Schlags, seine klaren fünf Sinne behalten hätte? So aber stieß er vielleicht grade im Augenblicke der tiefsten seelischen Zerrüttung nach dem Unglücksfall auf die Tatsache des Gedankenmordes in seinem Bewußtsein, das arme erschöpfte Gehirn ging darüber aus den Fugen, und die überreizte, morbide Phantasie machte aus dem bloßen Gedankenmord einen richtigen Tatsachenmord. So wenigstens erkläre ich mir ...“

„Halt! Einen Augenblick!“ unterbrach Leonhardi. „Es scheint also, um endlich mal auf festes Land zu kommen, daß Stobäus Ihnen ein Geständnis gemacht hat ...“

„So ist es, mein hochrespektabler Kollega! Dietrich Stobäus hat mir allerdings ein Geständnis gemacht. Aber erst nach seinem Tode.“

„Nach seinem Tode?“

„Ja, sozusagen aus dem Grabe heraus. Aus der andern Welt herüber, vorausgesetzt, daß es eine gibt.“

„Wohl ein nachgelassener Brief an Ihre Adresse?“

„Ein längeres Schriftstück eigens für mich, seinen Rechtsfreund und einstigen Verteidiger abgefaßt. Jawohl. Eine eingehende Darstellung der ganzen Tragödie, so wie sie sich nachträglich in seinem Gehirn widergespiegelt hat.“

„Sie zweifeln also an seinem eigenen Bekenntnis?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten, mein Geliebter! Entweder Dietrich Stobäus war verrückt und beging in der Folge die Tat, oder er beging die Tat nicht und wurde in der Folge verrückt. Wir haben die Wahl. Ich bin für Nummer zwei, Sie, wie es scheint, für eins.“

„Erst müßte ich doch das Schriftstück selbst kennen,“ meinte Leonhardi nachdenklich.

„Das wird Ihnen zuteil werden, sobald Josua Märchenschön den Schauplatz seiner planetarischen Existenz verlassen und sich auf dem Stern Beteigeuze im Orion einen neuen Wirkungskreis geschaffen haben wird. Also binnen sehr absehbarer Zeit!“

Leonhardi wollte einen Einwand erheben, aber der alte Herr schnitt ihm mit einer kurzen Geste das Wort ab.

„Keine Widerrede, mein Bester! Ich bin ein alter Kapitän, der lange genug den Ozean befahren hat, um den Quadranten zu kennen und zu wissen, daß die Reise zu Ende geht. Deshalb keine weitere Aufregung, Geliebtester! Auch die längste Weltumsegelung kommt einmal zum Schluß, und das ist gut. Im übrigen werden Sie das betreffende Schriftstück im untern Fach meines Schreibtischs finden. Verfügen Sie darüber, wie Sie wollen. Die Leute, die es anging, sind ja dann sämtlich tot. Die Wahrheit kann in ihr Recht eintreten. Sie werden einen bemerkenswerten Beitrag zu dem Kapitel ‚Liebeswahnsinn‘ kennen lernen. Und hier,“ schloß Märchenschön, „hier befinden wir uns an der Stelle, wo am Morgen nach jener Sturmnacht die zerschmetterte Leiche von Karoline Bergmann, halb von Wasser und Schlamm bedeckt, aufgefunden wurde.“

Die beiden Männer waren unwillkürlich stehen geblieben und sahen zu der hoch über ihnen wuchtenden, dunkel drohenden Wand auf. Ausladende Tongesimse und Erdkanzeln waren mit Gestrüpp und Laubholz bewachsen und schienen halb in der Luft zu hängen. Unten hatte die Brandung bald in stürmendem Anprall, bald in stiller Gefräßigkeit ihren Zahn in den tönernen Sockel geschlagen und tiefe Löcher herausgerissen. Als ein schmaler weißer Saum schmiegte sich der kaum schrittbreite Strand zwischen dem herrisch getürmten Bergklotz und der unterwürfig kauernden See um die scharf vorspringende Nase des Kaps herum. Wenige Schritte und jenseits öffnete sich ein neuer Strandbogen, dessen äußerste Kapspitze in der jetzt schneller rieselnden Dämmerung untertauchte.

„Und die Heldin der Tragödie?“ fragte Leonhardi nach einer Pause beklommenen Schweigens. „War sie schön? Haben Sie sie gekannt?“

„Ob ich sie gekannt habe, junger Mann?“ erwiderte Märchenschön und meckerte in sich hinein. „Wer von uns allen, die damals jung waren, hätte nicht die wonnige Bergmann gekannt, wenn nicht anders, dann wenigstens von der Bühne herunter? Die entzückendste Soubrette, die jemals da war! Ich denke wie heute an den Abend, wo sie aus dem Chor heraus entdeckt wurde, anderthalb Jahre vor ihrem Tode. Ich, ich stand in der vordersten Kulisse neben dem besagten Stobäus, als sie das berühmte Zerlinenlied sang, und klatschte wie rasend Beifall, und mir, mir hat sie auch als Erstem nachher ihre bezaubernden Fingerspitzen gereicht! Und da fragen Sie mich, ob ich Karoline Bergmann gekannt habe? Mich fragen Sie? Mich? Mich?“

Märchenschön hatte Leonhardis Arm mit einem plötzlichen Polizeigriff gepackt und mißbilligend mehrmals geschüttelt, um ihn dann ebenso plötzlich wieder loszulassen und mit der Hand am Ohr in die dämmernde Stille hinauszulauschen.

„Hören Sie den Rudertakt? Offenbar ein Fischer, nicht weit von hier auf der See. Vielleicht nimmt er uns gegen Geld und gute Worte auf und bringt uns nach Hause. Strengen Sie mal Ihre Kehle an.“

Wenige Minuten später saßen die beiden Männer ein wenig müde und versunken auf der hinteren Bank des Fischerboots und ließen sich durch die laue, leise fächelnde Sommernacht den ferne grüßenden Lichtern des Seestegs entgegenrudern.

„Wissen Sie, warum mir dieser fabelhafte Sommer mit seinen wolkenlosen Tagen und seinen weichen Sternennächten so verdächtig ist?“ fragte Märchenschön, als die Landspitze längst im Dunkel verschwunden war und plätschernder Ruderschlag ringsumher und getragene Töne der Kurmusik die Nähe des Ziels ankündigten. „Wissen Sie das? Können Sie sich das zusammenreimen?“

Leonhardi schüttelte schweigend den Kopf.

„Nun, dann will ich es Ihnen verraten. Eben weil mir dieser Sommer die Sommer meiner Jugend so deutlich zurückruft, darum ist er mir verdächtig. Es ist das Ende, in dem sich der Anfang noch einmal rückblickend wiederholt. Der Ring meines Lebens rundet sich in sich selbst. Der Zirkel schließt sich. Plaudite, amici! Das Spiel ist aus! ... Und diese lauwarme Sommernacht, die einem in allen Gliedern prickelt, die sich um einen legt, wie ein nackter Frauenarm, diese Betrügerin, die uns Bilder und Geschichten vorgaukelt, die längst nicht mehr sind und nie mehr sein werden, diese Hochstaplerin und Schwindlerin soll der Teufel holen!“

2

Märchenschöns Ahnung hatte sich erfüllt. Es war das Abendrot seines Lebens, das ihm den Morgenschein junger Tage golden widergespiegelt hatte, ehe die Nacht hereinbrach. Eines Nachmittags im Februar, knapp ein halbes Jahr nach dem Spaziergang Märchenschöns mit Leonhardi, fand die Wirtschafterin, die dem alten Herrn wie gewöhnlich den Kaffee ins Arbeitszimmer brachte, ihn zurückgelehnt und still entschlummert in seinem schwarzledernen Großvaterstuhle. Die starren Augen hinter den halbgeöffneten Lidern schienen wie in unabsehbare Räume verloren. Der schlaff herunterhängenden Rechten war der Traktat Spinozas De deo et homine entsunken. Die hochgewölbte Stirn war kalt und wächsern, und um den zusammengekniffenen, blutlosen Mund, umrahmt vom wuchernden Buschwerk grauer Bartwildnis, geisterte ein letztes erfrorenes Lächeln, man wußte nicht ob ironischer Überlegenheit, ob schlichten Sichbescheidens. Der leidenschaftliche Jünglingsgeist aber, der die Seele dieser morschen Behausung gewesen, hatte die mühsame und rätselvolle Pilgerfahrt nach dem weltweiten Ziel seiner Wünsche, nach dem Stern Beteigeuze angetreten.

Wenige Tage später saß Leonhardi an dem altmodischen Schreibspind in der Hinterstube von Märchenschöns Wohnung, um als Testamentsvollstrecker des Verstorbenen dessen Papiere zu ordnen und für die Vormundschaftsbehörde der Erben, zweier minderjährigen Neffen, die gesetzliche Aufstellung des Nachlasses vorzunehmen. Ein wilder Nordsturm, der schon seit mehreren Tagen von der See herüberbrauste, rüttelte an den Türklinken und Fensterkreuzen, fuhr längs der Regenrinnen herunter und schnob durch die Schornsteine in die Ofenlöcher, daß die Funken der glimmenden Asche wie unter einem Blasebalg aufstoben und jäh verloschen. Stimmen in den Lüften heulten, kreischten, pfiffen, wimmerten und schwiegen ebenso plötzlich und geheimnisvoll, wie sie eingesetzt hatten. Ein tiefer, einförmiger Orgelton, gleich dem Rauschen eines unterirdischen Stroms, zog hoch über den Dächern hinweg und begleitete als dunkle Grundmelodie das hüpfende, springende, abreißende und aufschnellende Geknatter des Blasund Streichorchesters in den Lüften.

Leonhardi hatte stundenlang beim friedlichen Lichte der Petroleumlampe gesichtet, geprüft, geschrieben, und es war schon nach Mitternacht, als ihm im untersten Schubfach, ganz hinten in der Ecke, ein mehrfach versiegeltes und mit Schnüren umwundenes Paket in die Hand fiel. Es trug die Aufschrift: „Für meinen Testamentsvollstrecker.“ Leonhardi zerschnitt die Schnüre und öffnete mechanisch. Ein ovales Miniaturbildnis im schmalen Goldrahmen lag zu oberst, darunter ein Stoß engbeschriebener Bogen eines dünnen, vergilbten Papiers von älterer und vergessener Fabrikation.

Leonhardi, der von der langen Arbeit ermüdet war, ließ zerstreut seine Blicke über die fremden Schriftzüge gleiten. Plötzlich schlug er sich vor den Kopf. Das war ja der Abend am Strand und Märchenschöns Erzählung! Er rückte die Lampe näher und hielt das Medaillon prüfend vor die Augen. Eine jugendschlanke weibliche Gestalt lag hingestreckt mit leicht erhobenem Oberkörper, den Kopf auf einem Kanapee. Das lose, durchsichtige Gewand verriet den weichen Linienfluß der Glieder. Die nackten Füße mit den zierlichen Fesseln waren übereinandergekreuzt. Eine Spange wand sich um den linken Knöchel. Darüber sah man die volle Wade bis zum Knie herauf. Busen, Hals und Arme waren frei. Die linke Hand fiel schlank und schmal am Kanapee herunter. Die rechte hielt lässig ein Goldschnittbändchen. Das Gesicht war dem Betrachter zugekehrt. Eine feingeschnittene griechische Nase, dunkle, sehnsüchtige Augen, wirres Kraushaar um die steile Stirn, ein voller sinnlicher Mund, zwischen den halbgeöffneten Lippen ein Stückchen weißen Zahnschmelzes schimmernd, das Kinn rund und weich, Hals und Schultern blendend weiß und wie aus der Drechselbank gedreht. Die ganze Erscheinung ein Bild zierlicher und mädchenhafter Fülle, in lichten, heiteren Farben sehr glatt und porzellanhaft gemalt.

Leonhardi hatte sich in das Bildnis der Ruhenden versenkt, als wolle er ihre Seele wachrufen und ihr das Geheimnis ihres Lebens entlocken. In seinen Fingerspitzen prickelte es leise wie von einem elektrischen Kontakt. Ein sanftes Eratmen und Erwarmen schien über den Leib des jungen Weibes zu gleiten. Die Lippen schürzten sich. Um den feuchten Mund mit dem weißschimmernden Zahnschmelz irrte ein wissendes Lächeln wie von geschlürftem Champagner und durchküßten Nächten. Und jetzt begannen die hingestreckten Glieder sich zu dehnen. Die schlanken Arme mit den schmalen Händen regten sich schwach und tasteten wie nach Leben, der feine Kopf auf dem weißen zierlichen Hals und dem leicht erhobenen Oberkörper neigte sich trunken zurück. Noch ein Augenblick, und die blonde Flut des gelösten Haars würde rückwärts über die Lehne des geblümten Kanapees fließen ...

Leonhardi durchzuckte es. Er sah auf und bemerkte, daß er noch immer das Bildnis in den Händen hielt. War es nicht wie ein unsichtbarer Funkenkranz rings um das Bild, was durch seine Nerven knisterte? Er schüttelte sich mit einer unwilligen Gebärde und legte das Täfelchen auf die entgegengesetzte Seite des Tisches, wie man ein Flakon mit einem seltsamen und rätselhaften Gift vorsichtig aus dem Bereich seiner Hände entfernt.

Es war spät in der Nacht. Das Feuer im Ofen war erloschen. Kalte Luftstöße fegten über die Tischplatte und erfüllten die toten Papiere rings umher mit raschelndem Leben. Regenkörner klatschten wie Peitschenhiebe gegen die Fenster. Der unsichtbare Organist, der hoch in den Lüften die Sturmorgel spielte, hatte seine tiefsten Register gezogen, während die begleitenden Blasinstrumente aus vollen Backen aufschmetterten, die Violinen durch alle Tonarten jagten und die Schlagkörper hie und da in furchtbarer Wut zusammendröhnten, daß das alte Patrizierhaus in seinen Lebenswurzeln erbebte.

Leonhardi lauschte ein Weilchen in den wilden Aufruhr hinaus. An Schlafen war nicht zu denken. Er lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück, zündete sich eine neue Zigarre an und nahm die engbeschriebenen Bogen zur Hand, in denen das Geheimnis des Dietrich Stobäus zu Papier gebracht sein sollte.

3

D ....., den 15. März 64.

Die beiliegenden Blätter, die ich meinem Freunde und wohlmeinenden Verteidiger Doktor Märchenschön zur freien Verfügung nach meinem Tode übergebe, sind infolge eines sinnlosen Schicksals bestimmt, unvollendet zu bleiben. Ich weiß nicht, ob es eine wissende und sorgende Vorsehung gibt, und ich für mein Teil glaube es auch nicht, was ich angesichts meines nahen Endes hiermit offen und auf jedes Risiko hin bekenne. Sollte aber wider Erwarten dennoch eine solche höchste und inappellable Instanz irgendwo über den Sternen etabliert sein, so hätte sie allen Grund, der bevorstehenden Auseinandersetzung zwischen uns mit einiger Unruhe entgegenzusehen, während es hinwiederum an mir sein wird, jener zugleich lenkenden und richtenden Behörde ihr spezifiziertes Konto mit verschiedenen unbeglichen gebliebenen Posten vorzulegen und Bezahlung zu verlangen für lebenslänglich auferlegte Fronden, Spanndienste und qualvolle Opfer an Körper und Seele, an Leib und Leben. Es mag dann auf Heller und Pfennig das gegenseitige Schuldkonto herauszurechnen und Debet und Kredit der beiden Parteien gegeneinander auszugleichen sein, derart, daß das verbleibende Plus dem obsiegenden Teile im Hauptbuch der Ewigkeit mit Flammenschrift gutgebracht wird. Es mag auch im Laufe des hochnotpeinlichen Verfahrens von klägerischer Seite, als welche sich der Unterzeichnete betrachtet, der Prozeßeinwand erhoben werden, wie es denn eigentlich um die Unbefangenheit und Zuständigkeit eines Gerichtshofes bestellt sei, der im Hauptamte mit absoluter Allmacht die Menschenherzen zu lenken beansprucht, gleichzeitig aber das, was er als unverantwortlicher Schöpfer durch seine willenlosen Kreaturen vollbringen läßt, an diesen selben Kreaturen als furchtbarer Rächer bis ins siebente Glied heimsucht?

Mögen also diese Frage und jene Rechnung erhoben und noch so streng durchgeführt werden: der Unterzeichnete sieht im Bewußtsein seiner gerechten Sache dem Ausgang mit voller Sicherheit entgegen, und nichts kann ihm erwünschter sein, als endlich seine Beschwerde vor dem Stuhle der Ewigkeit in Person vorzutragen und dem allwissenden Richter die Anklage gegen den allmächtigen Schöpfer von Angesicht zu Angesicht entgegenzuschleudern.

Aber, wie mein verstorbener Freund, Herr von B., zu äußern pflegte: „Es steht flau mit den Aktien der Unsterblichkeit,“ und ich fürchte, meine Generalrechnung an die Vorsehung wird ganz und gar unkassierbar bleiben. So will ich mir denn mit dieser letzten Verwünschung gegen ein sinnloses Schicksal noch einmal Luft gemacht haben, ehe ich für immer den Mund gestopft bekomme.

Ja, ein sinnloses und wahnwitziges Schicksal, unter dessen tückischen Rutenstreichen ich durchs Leben gekeucht bin! Schwächlich und bresthaft, um nicht zu sagen verkrüppelt, auf diese Welt gekommen! An Vater und Mutter und naher Verwandtschaft in frühester Kindheit, beinahe vor allem Wissen verwaist, betrogen um das natürliche Grundkapital jedes höheren Geschöpfes, um Mutterliebe und kindliche Zärtlichkeit, und also von doppelter, dreifacher, hundertfältiger Gier danach zerfressen, gleich dem Blindgebornen, der mit der ungestillten Sehnsucht nach der sagenhaften Schönheit des Lichts durchs Leben geht! Betrogen auch um das stolzeste Erbteil eines großen und kühnen Geschlechts, um Kraft, Mut, Entschlossenheit, die mir — ich fühle es wohl — in tiefster Seele innewohnen und die doch immer wieder — bis auf einen einzigen Fall! — an der lächerlichen Unzulänglichkeit meiner körperlichen Hülle, diesem angeborenen Gebrechen meines jämmerlichen Kadavers haben zuschanden werden müssen! Hinausgestoßen fast vom Mutterleibe an in eine Welt fratzenhaften Hohns, der mir aus den Gesichtern meiner Mitschüler entgegengrinste, niedriger Habsucht, die sich an dem materiellen Überfluß des schutzlosen Knaben zu bereichern suchte, eiskalter Verachtung, die ich aus den Augen heimlich und glühend geliebter Mädchen ablas (mochten auch die Lippen gleißnerisch das Gegenteil beteuern)! Gehetzt, seitdem der Trieb in mir erwacht war, von einer fast unmenschlichen Sinnlichkeit, einer verstiegenen Gier nach dem anderen Geschlecht und doch in phantastischem Überschwang jäh mich überschlagend und nach schneller Erfüllung ewig, ewig unbefriedigt, auch hier wie in allem anderen ein lächerliches Opfer meiner körperlichen Imbezillität! Geboren, nach Abstammung und Anlage, um gleich meinen Vorfahren in das Rad der Zeit einzugreifen und unseren alten Namen mit neuem Glanz zu umkleiden, und doch bar jedes Entschlusses, gelähmt im innersten Mark, verdorben zu jeder Tat, bis auf die eine einzige, die meinem Leben den letzten Schwung und tiefstes hoffnungsloses Verzweifeln gebracht hat!

Solchermaßen also enterbt, ausgestoßen, betrogen, verflucht von einem blinden und planlosen Schicksal, wie dürfte ich diesem Schicksal nicht tausendfach widerfluchen? Oder soll der Reisende, der auf einer Fahrt durchs Gebirge sich von einem betrunkenen Fuhrknecht geplündert und ausgeraubt sieht, diesem vielleicht noch danken, weil er ihn nicht zu guter Letzt noch in den Abgrund gestürzt hat? Und doch wäre das Verhalten eines solchen Fuhrknechts immerhin menschenfreundlich, verglichen mit der wahnwitzigen Bosheit meines Schicksals, das mir zwar in einem Augenblick höchster Gefahr zum Schein das Leben geschenkt hat, mir dafür aber kurz nachher mit einem stumpfen Messer hinterrücks die Kehle durchsägt, so daß ich bei klarem Bewußtsein alle Qualen langsamen Sterbens und Verblutens durchzumachen habe? Denn daß ich von dem Lager, auf dem ich diesen inständigen infernalischen Fluch niederschreibe, nicht mehr aufstehen werde, ist meine felsenfeste, unerschütterliche Überzeugung, so sehr auch meine beiden Ärzte, der eine ein Idiot, der andre ein Betrüger, das Gegenteil behaupten mögen.

Gewiß! Lungenentzündung, deren Ausbruch vorgestern nacht bei mir festgestellt wurde, ist nicht mit Notwendigkeit eine tödliche Krankheit, und Tausende laufen durch die Welt, die sie überstanden haben. Auch fühle ich mich nach der ersten Attacke rasender Brustschmerzen und Seitenstiche, die den Beginn der Krankheit anzeigten, heute bei mäßigem Fieber körperlich noch leidlich frisch und sollte also bis zum endgültigen Spruche des Geschicks diese abschließenden Zeilen vielleicht aufschieben. Aber erstens könnte es bei plötzlich eintretender Verschlimmerung leicht zu spät damit werden, und zweitens bedarf es einer äußeren Bestätigung nicht, da die innerliche Gewißheit nur allzu deutlich spricht.

Von Kindesbeinen an habe ich vor keiner anderen Krankheit Furcht gehabt, als gerade vor der, die jetzt im Mark meines Lebens sitzt, und oft genug bin ich im Traum gerade an dieser Krankheit gestorben. Solche Stimmen scheinen mir aus dem tiefsten Grund unseres Daseins zu klingen und verlangen, daß wir ihnen das Tor der Vernunft weit auftun, wenn wir unserer Bestimmung nicht wie das Kalb der Fleischerbank entgegentaumeln wollen. Was wir für diesen Vorzug unseres Menschtums freilich einzutauschen haben, ist die Qual des zum Tode Verurteilten, der mit Bewußtsein der nahen Vernichtung entgegenblickt. Ich habe — das darf ich sagen — auch diese namenlose Qual, neben all den anderen aus dem Füllhorn des Schicksals, bis zur Neige durchkosten müssen, denn schon wochenlang vor dem Ausbruch der Krankheit bin ich auf ihr Kommen und auf meinen baldigen Tod vorbereitet gewesen, wofür die beiliegenden Blätter Beweis erbringen werden.

Wäre nun, wenn der Vorhang der Zukunft durchaus vor meinen Augen gelüftet werden sollte, dieses noch um einige Monate früher geschehen, so hätte ich die Galgenfrist dazu benützen können, meine Lebensgeschichte vollständig fertigzustellen, wie das nach Plan und Anlage dieser Aufzeichnungen meine Absicht war. So aber hat der mir verbleibende Spielraum nur knapp dazu hingereicht, den zuvörderst begonnenen zweiten Teil, die Geschichte meiner Tat, im Rohbau zu beendigen. Der sie erklärende und begründende erste Teil dagegen, Kindheit, Jugend und frühere Manneszeit, müssen ungeschrieben bleiben, wovon der tiefere ironische Sinn vielleicht der, daß es des zustande gebrachten Geschreibsels gerade genug und für den Skribenten nun an der Zeit, die Feder aus der Hand zu legen, da es ihm auch hierzu wie zu allem anderen am richtigen Talent gemangelt hat.

Bereite dich also zum Sterben, alter Freund! Nach der Prognose deiner beiden Ärzte, des Betrügers und des Idioten, soll die Krisis etwa morgen abend eintreten, worauf baldige Genesung zu erwarten sei. In deine Sprache übersetzt, dürfte das heißen: Du wirst die Sonne des übermorgigen Tages schwerlich mehr zu Gesicht bekommen ... Nun gut! Wenn noch einige Logik in der Welt ist, so hoffe ich, daß die Pferde meines Leichenwagens vor irgendeinem alten Weibe durchgehen und den Sarg mit meinen Gebeinen in den Straßengraben befördern werden. Ich hätte dann wenigstens einem hochansehnlichen Trauergefolge noch einen letzten Spaß bereitet. Denen aber, die mich herauszufischen und auf dem Kirchhof einzuscharren haben, vermache ich in Dankbarkeit ein Faß vom allerfeinsten Fusel und ordne zum Schlusse an, daß auf meinem Grabe Nieswurz und Knoblauch anzupflanzen sind, damit alle ehrsamen Bürgersleute sich die Nasen zuhalten und einen weiten Bogen um meine Ruhestätte beschreiben, denn ich will allein sein ... allein ... ewig allein ...

Geschrieben am Vorabend meines Todes, zugleich des hundertfünfzigsten Geburtstages meines nachstehend mehrfach erwähnten Urgroßvaters, des Ratsherrn Johann Kaspar Stobäus.

4

Heute, Mittwoch, ist eine Woche vergangen, seit die Assisen das Nichtschuldig ausgesprochen haben. Seit einer Woche also bin ich frei und wieder Herr meiner selbst. Aber dreizehn Monate Untersuchungshaft sind nicht so im Handumdrehen aus den Knochen zu schütteln und noch weniger aus dem Gedächtnis, zumal wenn das Gedächtnis überwach ist, wie das eines im Finstern Daliegenden, der schlafen möchte und doch nicht schlafen kann. Wie viele Nächte habe ich so in der undurchdringlichen Dunkelheit meiner Zelle, in diesem schwarzen Schweigen einer enggewölbten Totengruft, als ein Lebendigbegrabener mit offenen Augen auf meiner Bahre dagelegen und meine Ohren für die geheimsten Regungen meines eigenen Verwesungsprozesses geschärft! Oh, man wird so unbeschreiblich hellhörig in dieser Grabesstille mit ihren zahllosen Flüsterstimmen, so über alle Maßen weitsichtig in dieser ummauerten Finsternis mit ihren plötzlich aufschießenden und verlöschenden Flammen, die wie Blitze in gewitterschwarzer Nacht fernste Bergspitzen an einen Geisterhorizont hinzaubern und wieder verschwinden lassen!

Schlechte Menschenkenner, ihr Richter und öffentlich prokurierten Ankläger! Anstatt eure Kapitalverbrecher noch rauchend vom Blut ihrer Opfer vor die Assisen zu stellen und sie durch die Wucht der frisch geborenen Tatsachen, an die das Bewußtsein sich noch nicht gewöhnt, mit denen sich das Gewissen noch nicht wie mit etwas Selbstverständlichem abgefunden hat, kurzerhand zu Boden zu schmettern, sperrt ihr sie monate-, vielleicht jahrelang in eine Art von erzieherischer Kerkerhaft und umgebt sie mit jener hellhörigen Stille, jener weitsichtigen Abgeschlossenheit, in der der Geist Zeit findet, dem Ungeheuren und Unausdenkbaren der vollbrachten Tat wie einer düstern und pfadlosen Felsenburg näherzutreten, gleichsam die Augen zu ihren drohenden Zinnen zu erheben und sich mit ihren Pforten, Brücken und Luken vertraut zu machen. Gelingt es dem Verfolgten auf diese Weise, sich in die Burg einzuschleichen, mit anderen Worten: Ergreift der Täter, der im Augenblick der Tat wie unter einem Naturzwang gehandelt hat, nun seinerseits von der Tat sozusagen geistig Besitz, lernt er sie seinem innersten Sein und Wesen einordnen und rubrizieren, lernt er geistig ihrer Herr werden, nachdem er zuvor auf roh körperliche Weise ihr Knecht gewesen, so wird er im Bezirk seiner Tat unbezwinglich und unüberwindlich und trotz aller Finten und Listen der draußen lauernden Verfolger wird es dennoch nicht glücken, ihn aus den Schlupfwinkeln seiner Festung herauszulocken.

Ich weiß wohl, die monatelange Einschließung soll nach der tiefgründigen Absicht richterlicher Weisheit den Belagerten langsam an Körper und Geist aushungern, soll durch den eintönigen und unermüdlichen Tropfenfall der Sekunden sich in sein Gehirn einfressen und es von innen her aushöhlen, bis das letzte Quentchen von Mut, Stolz, Energie, Widerstandskraft fortgeschwemmt ist ... Stümper eures Handwerks! Werft eure Schlingen nach denen aus, die dumm und verblendet genug euch von selbst hineinrennen! Nach den Kleinen, Schwachen, Niedrigen, Haltlosen, die nicht wert sind, um Kopf und Kragen gespielt zu haben, und denen ihr mit Recht ihren hohlen Schädel vor die Füße legt! Sie mögt ihr aushungern! Mögt sie zermürben und zerreiben mit euren Büttelkünsten und Henkersfaxen! Wir Starken, Aufrechten, Entschlossenen aber, die im hundertgradigen Feuer der Leidenschaft geschmiedet, in tausendfachen Schmerzen und Leiden gehärtet sind, wir Reiter-bis-ans-Ende-der-Welt, die gegen Tod und Teufel die höchsten Augen gewürfelt haben, wir lachen über eure kleinen Kniffe und Pfiffe! ...

Ich bin aus dem Stil gefallen. Ich hatte mir vorgenommen, diesen Bericht in aller Ruhe und Kälte, frei von jedem Überschwang niederzuschreiben. Die Klarheit der Darstellung soll, wenn mir mein Vorhaben gelingt, das darin zusammengefaßte Lebensschicksal so naturgetreu und durchsichtig wiedergeben, wie sich im Bernstein das Bild der vor Jahrtausenden vom Harzfluß überraschten und eingeschlossenen Eintagsfliege zeigt.

Freilich ist das für eine Natur wie die meine, noch dazu unter den obwaltenden Umständen, leichter gesagt als getan. Drei Jahre einer qualvollen, mörderischen und schweigend verschlossenen Leidenschaft, dreizehn Monate zerstörender Kerkereinsamkeit und unausgesetzter Inquisitionsfolter, endlich das dreitägige Vabanque-Spiel vor den Assisen mit seinen fortwährenden Umschlägen, Zwischenfällen, Glückswechseln und der fieberischen, fliegenden Spannung bis zum Schluß: Schuldig oder nicht? Tod oder Leben? ... Dies alles hinter sich zu haben und nicht wenigstens einmal aus tiefster Seele aufzuschreien, das geht über menschliche Kraft.

Aber jetzt genug des überströmens und Monologisierens, wozu einsame und verzweifelnde Seelen so leicht ihre Zuflucht nehmen. Ich will klar, ruhig und besonnen an meine Arbeit gehen, die darin besteht, Gerichtstag über mich selbst zu halten, nachdem der unbeholfene Arm der Justiz dicht an meinem Kopf vorbei ins Leere getroffen hat.

5

Am 12. September 1859 hatte ich einiger wichtiger und dringender Geschäfte wegen eine Reise nach K. anzutreten. Ich ließ mir von meinem Bedienten die Reisetasche für mehrere Tage packen und fuhr gemächlich zum Bahnhof. Es war ein schöner wolkenloser Spätsommertag von milder Wärme und der durchsichtigen Reinheit, die dieser Jahreszeit eigen ist. Die Brust atmet freier als sonst, und das Leben erscheint für Augenblicke leicht und heiter wie ein Kinderspiel.

Etwas von dieser Stimmung wirkte noch in mir nach, als ich schon im Zuge saß und das vieltürmige Stadtbild, umrahmt von grünen Wällen und ragenden Bastionen, langsam am hellblauen Himmel verbleichen sah, bis schließlich nur noch der klotzige Würfel von Sankt Marien über den Horizont ragte und am Ende dann auch dieser entschwand.

Ich hatte die Fenster meines Kupees geöffnet und ließ meine Augen über die gelben Stoppelfelder in die Weite gehen. In diesem Umkreise hatte einst mein Urgroßvater, der Ratsherr Johann Kaspar Stobäus, seine Liegenschaften gehabt und ein tätiges und fruchtbares Wirken entfaltet, ehe der dunkle Abenteuerdrang unserer Familie ihn überfallen und den Sechzigjährigen zu der großen Weltumsegelung getrieben hatte, auf der er in geheimnisvoller Weise verschollen war.

Aus meiner frühesten Erinnerung dämmerte mir das Bild dieses sagenhaften Urgroßvaters, der in unserer Geschichte eine so große Rolle gespielt hatte und von dem meine uralte Kinderfrau, jetzt längst gestorben, mir versicherte, sie habe ihn noch persönlich gekannt und sei auf der Langen Brücke zugegen gewesen, als er auf Nimmerwiedersehen sich einschiffte.

Ich weiß nicht, ob es das alte Familienmöbel sehr genau mit der Wahrheit genommen hat. Der Zeit nach konnte ihre Erzählung ungefähr stimmen, und jedenfalls hatte sie mir einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, vor allem ein Umstand darin, bei dem mir regelmäßig die Haare zu Berge standen und das Gruseln über den Rücken lief. Der Urgroßvater, so hieß es nämlich, sei noch gar nicht gestorben, sondern halte sich irgendwo auf einer weltentlegenen Südseeinsel oder im hinterwäldlerischen Amerika verborgen und warte, bis seine Zeit erfüllt sein werde. Fragte ich Frau Julchen — so hieß das alte Inventar —, wann das sein werde, so schüttelte sie abwehrend den Kopf, holte irgendwo eine große Horndose hervor und nahm eine mächtige Prise. Dann zog sie mich schnaufend an ihren Ammenbusen, streichelte mir über das Haar und sagte nur: „Armes Kerlchen! Armes Kerlchen!“, wobei gewöhnlich eine dicke braune Schnupftabaksträne auf mich heruntertropfte.

So unangenehm mir das war, eine kribbelnde Neugier lockte mich doch immer wieder zu dem Thema zurück, bis ich endlich, schon etwas größer geworden, auch den Schluß der Familienlegende erfuhr. Der Urgroßvater sollte danach so etwas wie die Rolle einer weißen Frau bei uns spielen. Sein Wiedererscheinen werde den Untergang unseres Hauses ankündigen. Er werde kommen, um seinem letzten Enkel ein großes Unglück und das nahe Ende vorauszusagen und sich dann, nachdem seine Zeit erfüllt sei, für immer schlafen zu legen.

Da nun nach dem raschen Tode meiner Eltern und fast meiner ganzen Verwandtschaft ich beinahe als der einzige von der Familie zurückgeblieben war, so mochte die gute Alte ihre eigenen Gedanken haben, wenn sie mir dies erzählte und mich dabei in meiner nichtsahnenden Kindlichkeit vor sich sah. Mir selbst hat sich ja die ganze Tragweite der Prophezeiung erst viele Jahre später enthüllt, aber ihr vorausgeworfener Schatten hat mich doch von Jugend an begleitet und hat mir das bißchen Sonnenschein verdunkelt, das selbst mir im Leben beschieden gewesen ist.

Kaum ein Tag meines späteren Daseins, wo mir nicht die Erinnerung an jene Kindergeschichte auftauchte und mich, je mehr die Jahre vorrückten, mit immer schwereren Ahnungen beschlich. Glichen nicht die Umstände meines Lebens genau den Voraussetzungen, unter denen die Sage sich erfüllen sollte? Unser altes Handelshaus in fremde Hände übergegangen. Unsere Familie durch schnelles Wegsterben dezimiert. Ich selbst, der Letzte meines Namens, der es nach menschlicher Voraussicht auch bleiben würde, da ich längst entschlossen war, nicht zu heiraten. Stimmte nicht alles bis auf den Schluß, der noch ausstand, aber zu seiner Zeit schon kommen würde, wie die Prophezeiung besagte?

Auch während der fünfstündigen Fahrt nach K. zogen mir solche Gedanken durch den Kopf. Aber gerade an jenem Tage, wie ich mich deutlich erinnere, hatten sie nicht die lähmende und verdüsternde Macht über mich wie sonst. Der lichtgoldene Spätsommer, durch den mein Bummelzug dahinfuhr, hatte es mir mit seiner fließenden und schmeichelnden Heiterkeit angetan, wie ich mich denn immer als ein sehr feinfühlig reagierendes Wetterinstrument erwiesen habe. Besonders Herbststimmungen haben ihren Widerklang in mir gefunden, und die Hauptentscheidungen meines Lebens, wozu ich wohl auch meine Geburt rechnen darf, sind in den Herbst gefallen. Vielleicht wird es folgerichtig auch mit meinem Tode so seina).

Aber ich komme auf die Fahrt nach K. zurück. Etwas Klingendes und Schwingendes und zugleich Tiefresigniertes war in mir, welches offenbar der sonnenbeglänzten und doch sichtlich altersmüden Septemberwelt da draußen entsprach. Ich war achtunddreißig Jahre alt und also schon auf der absteigenden Seite des Lebens. Selbst Alltagsmenschen pflegen gegen die Vierzig hin einen Schimmer von Nachdenken und Melancholie um die Stirn zu bekommen. Wie viel mehr eine Natur wie die meine, die sich wohl einbilden darf, wenn auch nicht im Vollbringen, so doch im Wollen und Verstehen über das Maß des Gewöhnlichen hinauszuragen. Jedes Menschenwesen stellt ja doch einen Mikrokosmus, eine Art von beseeltem und bewußtem Weltkörper dar, dessen Werden und Vergehen ihm selbst gleichbedeutend mit dem der Welt überhaupt ist. Grund genug, das Altern als unsere größte und konsequenteste, ja als unsere eigentliche und wesentliche Tragödie anzusehen, es die Tragödie des Lebens zu nennen. Denn keinem bleibt sie erspart und für jeden vollendet sie sich mit unbedingter und unentrinnbarer Tragik, nämlich mit seinem Untergang.

Das ist es, was zu einer bestimmten Wendezeit die Stirn des Gewöhnlichen wie des Hochbewußten mit einer geheimen Wehmut zu umwittern scheint. So sah auch ich mich damals in voller Klarheit als den tragischen Helden der eigenen Lebenstragödie. Mit dem Schmerz aber, der darin lag, genoß ich zugleich die Wonne des unbeteiligten Zuschauers, der seinen bewunderten Helden im Kampf gegen das ewige Schicksal unterliegen sieht.

6

Nachmittags gegen vier traf ich in K. ein, suchte kurz mein gewohntes Logis auf, um mein Gepäck abzulegen und mich etwas zu restaurieren, und begab mich dann zu dem inzwischen verstorbenen Konsul Pritzlaff, einem ganz entfernten Vetter und einstigen Geschäftsfreunde meines seligen Vaters. Der damals etwa sechzigjährige Herr war seinerzeit mein Vormund gewesen. Wir hatten uns bei aller Verschiedenheit der Temperamente stets recht gut verstanden, und ich hatte ihn auch später über meine Vermögensangelegenheiten auf dem laufenden erhalten und oft genug von seinem Rat profitiert. Auch diesmal hatte ich verschiedene Geschäfte mit ihm zu besprechen.

Da ich nicht darauf rechnen konnte, ihn noch in seinem Privatkontor zu treffen, so war ich direkt nach seinem Landhaus gepilgert, das draußen vor dem Tor in der Vorstadt lag, erfuhr aber hier zu meinem Leidwesen, daß er und seine Frau — ich nannte sie Onkel und Tante — einen größeren Ausflug zu Wagen unternommen hätten und nicht vor dem späten Abend zurückzuerwarten seien. Offenbar war der Brief, worin ich mein Kommen ankündigte, zu spät eingetroffen. Ich hinterließ meine Karte und ging meiner Wege.

Es war spät am Nachmittag, also an Geschäfte doch nicht mehr recht zu denken, und ich entschloß mich zu einem Spaziergang auf der ins Freie hinausführenden Allee, an der Haus und Park des Konsuls lagen. Ich schlenderte planlos bis ins nächste Dorf und spann an dem Gedankenfaden weiter, den ich während der Eisenbahnfahrt begonnen hatte. „Du bist achtunddreißig Jahre alt,“ sagte ich mir, „und hast also eigentlich das Gröbste und Schwerste vom Leben überstanden. Menschen von deiner Art, Zaghafte und Schwächlinge wie du, leiden zu keiner Zeit mehr als in ihrer Jugend, wo es im Wettstreit mit den Altersgenossen auf Kraft, Mut, Entschlossenheit ankommt und jeder gebrandmarkt ist, dem es daran fehlt. Du kannst ein Lied davon singen! Aber das liegt hinter dir, so gründlich, wie zum Glück deine Jugend hinter dir liegt. Das Prinzip der rohen Kraft, der brutalen Tat rein als Tat hat aufgehört, dein Leben zu bestimmen. Auch große Leidenschaften hast du kaum mehr zu befürchten. Die Zeit der Maigewitter ist vorbei und deine Apfelbäume sind längst verblüht, wenn sie überhaupt jemals geblüht haben. Deine Zukunft wirst du immer mehr nach rein geistigen Gesichtspunkten einrichten und kannst also auf einen angenehm temperierten Herbst rechnen nach der ungesunden Schwüle und Dumpfheit deiner jungen Jahre.“

Plötzlich fiel mir wieder die Erzählung meiner Kinderfrau ein. Aber bezeichnend für die gehobene und ungewöhnliche Stimmung, in der ich dahinschlenderte: ich zuckte mit den Achseln und warf den Kopf zurück, wie einer, der sich im Vertrauen auf sein Glück der Kugel des Feindes stellt, und irgendwo blitzte sogar ganz verwegen ein Einfall auf: „Wie nun, wenn du dem Spuk schlankweg an die Gurgel gehst und ihm das Genick umdrehst, und zwar einfach dadurch, daß du noch heiratest und Kinder zeugst? Dann hast du aufgehört, der Letzte deines Geschlechts zu sein, und dein Herr Urgroßvater mag sich noch ein- oder zweihundert Jährchen gedulden, ehe er zur Ruhe kommt.“ Ich mußte ordentlich in mich hineinlachen bei dem Gedanken, ich könnte dem alten Herrn auf diese simple und probate Weise ein Schnippchen schlagen und meinen Kopf in letzter Stunde aus der schon bereitgehaltenen Schlinge ziehen.

O menschliche Kurzsichtigkeit, die kaum die folgende Minute übersieht und im Wahn, einen untrüglichen Ausweg gefunden zu haben, gerade damit nichtsahnend den letzten Schritt ins Verderben tut. Von jeher ist mir die Geschichte des Ödipus als das tiefste Gleichnis erschienen für das boshafte Hineinlocken des Schuldlosen in Schuld und Not, welches dem Leben eigentümlich zu sein scheint, und wenn ich heute, wo der Vorhang über meinem Drama bereits wieder gefallen ist, zurückblickend mich an dem Septemberabend auf der Chaussee vor dem annoch geschlossenen Vorhang meiner Tragödie sehe, so weiß ich, daß auch ich im Begriffe stand, so ein Ödipus-Schicksal zu erleben, indem ich dem Verhängnis gerade dadurch den Kopf in den Rachen steckte, womit ich mich ihm am sichersten zu entziehen meinte.

7

Die Sonne war in einem Feuerwerk von Rot, Gelb und Violett untergegangen, und es dunkelte schon, als ich auf einem Umwege wieder in die Stadt zurückkam. Ich trat in eine Konditorei und ließ mir das Intelligenzblatt geben, um mich nach irgendeiner Zerstreuung für den Abend umzusehen. Das Stadttheater hatte seine Pforten noch nicht geöffnet, und es war wenig Auswahl. Schließlich fiel mein Blick auf eine Annonce ganz in einer Ecke, wonach das Sommertheater Elysium zu seiner Abschiedsvorstellung und gleichzeitig zum Benefiz der Frau Direktor einlud. Es wurde „Kieselack und seine Nichte vom Ballett“ gegeben. Leichte Kost, die mir gerade in die Stimmung paßte.

Ein Bühnennarr bin ich immer gewesen, und unser heimisches Stadttheater hat manche Zuwendung von mir erhalten, die sich allerdings, wie ich gestehen muß, öfters auch auf die mitwirkenden Damen erstreckt hat. Ich beschloß also, ins Elysium zu gehen, aß schnell in meinem Hotel zu Abend und fuhr dann hinaus, wieder an dem Hause des Konsuls vorbei, denn das Theater lag in derselben Vorstadt, nur wenige hundert Schritte weiter.

Es war ein großer Garten mit alten dichtbelaubten Linden, von leiser herbstlicher Färbung. Nur ein paar Laternen brannten, und die Zuschauer saßen rings herum im Halbdunkel an den Holztischen und verteilten ihre Aufmerksamkeit zwischen ihren Biergläsern und dem hellerleuchteten, überwölbten Bühnenhalbrund, das sich im Hintergrunde des Gartens auftat.

Rechts und links vom Podium zogen sich gedeckte Arkaden, die in Logen eingeteilt waren. In der vordersten Loge, dicht an der Bühne und etwa in gleicher Höhe mit ihr, nahm ich Platz, bestellte mir eine Flasche Wein und zündete mir eine Zigarre an.

Das Spiel hatte bereits begonnen und die Frau Direktor schickte ihre süßesten Triller zu mir herüber, wobei sie in wechselnden Posen alle ihre brünetten Reize zu enthüllen strebte. Mir schien, daß dies alles für mich berechnet sei, denn ich bemerkte zuerst niemand in den Logen, und das Volk unten im Garten zählte ja nicht.

Unter anderen Umständen hätte ich sie vielleicht nicht lange schmachten lassen und ihr das Taschentuch des Paschas zugeworfen, denn da ich mit meinen körperlichen Vorzügen nie habe Staat machen können, so hat es mir immer doppelte Lust bereitet, das, was meiner Person versagt wurde, mir durch meinen Geldbeutel zu erzwingen und mich für die Nichtachtung des weiblichen Geschlechtes dadurch zu rächen, daß ich das Weib in seiner Erniedrigung als käufliches Objekt, als Dirne, als Sklavin genoß. Merkwürdigerweise haben unter den solchermaßen von mir Beglückten nicht wenige Gefallen an ihrer Rolle gefunden. Ein Beweis, daß die weibliche Natur, zum mindesten im Zustande sinnlicher Erregung, ein brutales Herrentum nicht ungern duldet, oft sogar danach verlangt. Ich selbst aber bin auf diesem Schleichwege, wenn auch nicht zur Liebe selbst, immerhin in ihr Grenzgebiet gekommen. Ich habe mich statt an Wein gleichsam an Schnaps betrunken und so doch wenigstens mit einer Art von Rausch mich schadlos gehalten.

Aber wie nenne ich das Unnennbare, was an jenem Abend kurz nach meinem Eintreten in die Loge mich überfällt, alle meine Sinne und Nerven, mein Fühlen und Denken, meinen ganzen Menschen gefangen nimmt, so daß die schönsten Triller und üppigsten Haremsposen der Frau Direktor mich kalt lassen und meine Augen nur ein Einziges auf der Bühne wahrnehmen, nur mit einem Einzigen mitgehen, an einem Einzigen gebannt hängen? Wie nenne ich diese rätselhafte, tückische und zerstörende Kraft, die blitzschnell mein Blut entzündet und mein Mark versengt hatte?

Mögen die Philosophen, Ärzte, Dichter oder wer sonst immer nach neuen Worten dafür sinnen! Was ist der alte, brave, ehrbare Schulbegriff Liebe gegen den Zustand wilden Taumels, süßer Trunkenheit, gieriger Leidenschaft zugleich, der von einem Moment zum andern durch und durch Besitz von mir ergriffen und mit einem Schlage, wie durch ein grauenhaftes Wunder, den alten Menschen in einen neuen umgewandelt hatte! Die Urheberin aber der furchtbaren Zauberei, die mich in meinen Grundwurzeln vergiftete und mich sofort ein Ende mit Schrecken vorausahnen ließ, ohne daß ich auch nur eine Spur von Angst davor empfand — die unbewußte Urheberin also, die Anstifterin dieser dämonischen Besessenheit war ein achtzehnjähriges, schlankes, graziöses, wundervoll gewachsenes Geschöpfchen mit aschblondem Kraushaar, dunklen, feuchtschwimmenden Augen und milchweißen Schultern, das im Bühnenchor mit noch vier, fünf anderen Mädchen mitsang und zuerst durch eine süße, glockenhelle, wenn auch kleine Stimme meine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Sie stand dabei etwas von den anderen Mädchen verdeckt, so daß ich nur aus dem Wohllaut ihres Tons auf ihre Erscheinung hatte schließen können. Aber dann bringt eine Wendung der Szene sie in den Vordergrund. Ein einziger entzückter, umfassender Kennerblick, und es ist um mich getan! Sie trägt, wie die Mitspielerinnen, ein kurz geschürztes, dünnes Ballettröckchen, das von ihren biegsamen Formen wenig mehr zu erraten übrig läßt. Ich sehe den blendenden Nacken, die durchsichtigen, zart marmorierten Schultern, den schwellenden Ansatz der Brüste, die prachtvoll modellierten weißen Arme, die hochgestellte, gertenhafte und zugleich so weich gerundete Figur, ich trinke die schwimmende Sehnsucht der großen dunklen Augen, die in die Ferne zu träumen scheinen, den unendlich keuschen und doch merkwürdig sinnlichen Liebreiz von Stirn und Wangen, an denen in gewissen Augenblicken, wenn sich der Kopf wie trunken zurückneigt, irgend etwas mich an die Leda- und Jogesichter der großen Italiener erinnert. Ich verfolge das gefällig hin und her bewegte Mädchen auf der Bühne mit neuem, immer steigendem Entzücken, denn jede Geste der schlanken, vornehmen Hände, jede Regung des biegsamen Körpers, jedes Neigen des schmalen feinen Kopfes enthüllt mir neue, noch ungesehene Reize oder zeigt mir die schon bekannten in immer anderer, wechselnder Beleuchtung.

Ich saß in meiner Loge vorgebeugt, mit angespannten Muskeln und, wie ich glaube, weit herausquellenden Augen, die lächerliche Verkörperung eines maßlos und über alle Begriffe hinaus Verliebten, der keinen Blick von dem angebeteten Mädchen wendet, als hinge Leben oder Tod daran.

Und schon begann die Eifersucht zu spielen. In der ersten Pause, die mir Zeit dazu ließ, sah ich mich argwöhnisch und feindselig um, und fand, daß die Nachbarlogen sich gefüllt hatten. Gegenüber bemerkte ich ein paar Herren, die ich für Offiziere in Zivil hielt. Sie beteiligten sich lebhaft am Klatschen und warfen der tief sich verneigenden Frau Direktor Blumen, Bonbons und Schokolade zu. Einige sehr ausdrucksvolle Kußhände schienen mehr den Chormädchen und besonders auch meiner Auserwählten zu gelten.

Ich fand dieses Benehmen rücksichtslos und empörend, obwohl ich es in anderen Fällen oft genug selbst so gehalten hatte. Aber an jenem Abend war das alles weit, weit von mir fort, als hätte ich geschlafen und sei plötzlich