Die englische Gärtnerin – Rote Dahlien - Martina Sahler - E-Book
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Die englische Gärtnerin – Rote Dahlien E-Book

Sahler, Martina

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Beschreibung

Das Paradies der Gärtnerin Charlotte Windley ist die erste Frau, die in Kew Gardens als Botanikerin arbeitet. Als sie den deutschen Geschäftsmann Victor Bromberg heiratet, ändert sich ihr Leben von Grund auf. Victor kauft für sie ein großzügiges Anwesen und erwartet, dass sie sich standesgemäß verhält. Charlotte beginnt den verwilderten Garten von Summerlight House neu anzulegen. Immer an ihrer Seite ist Quinn, der eigensinnige Gärtner. Charlottes Blumenpracht wird eine Attraktion. Nur das allein reicht nicht aus. Ihr Herz will etwas Größeres. Englische Gartenkunst, unbändige Blütenpracht und eine junge Frau, deren Träume in den Himmel wachsen.

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Die englische Gärtnerin – Rote Dahlien

Die Autorin

MARTINA SAHLER lässt sich bei der Gestaltung ihres eigenen Gartens am liebsten von den englischen Botanikern inspirieren und verbringt im Frühjahr, Sommer und Herbst viel Zeit mit der Recherche in England, bevorzugt in Sissinghurst und Kew Gardens. Mit ihren bisherigen historischen Serien hat sie eine begeisterte Leserschaft gewonnen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.www.martinasahler.de

Das Buch

Victor Bromberg kauft für seine junge Braut Charlotte das repräsentative Anwesen Summerlight House. Ihre Ehe ist standesgemäß und voller Pflichten. Charlotte gibt ihre Arbeit in Kew Gardens schweren Herzens auf, sie steckt all ihre Kraft und Fantasie in den verwilderten Garten ihres neuen Hauses. Die Gartenkennerin Vita Sackville-West inspiriert sie, und Charlotte beginnt, ihre Blumenzucht zu vervollkommnen. Schon bald zeigen sich erste Erfolge, auch weil der junge Gärtner Quinn ihr nach einigem Widerstand ein treuer Partner wird. Immer stärker fühlt Charlotte sich in ihrer Ehe eingesperrt, und Quinn scheint für die Freiheit zu stehen, nach der sie sich sehnt.

Martina Sahler

Die englische Gärtnerin – Rote Dahlien

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: bürosüd GmbH, MünchenTitelabbildung:Arcangel Images / Rekha Arcangel (Frau);Mauritius Images (Landschaft, Haus)Autorinnenfoto: © franzhamm.deE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2147-9

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Nachwort

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Long Barn, Sevenoaks, Grafschaft Kent1922

Es wurde nicht hell an diesem Sonntag im November. Der Nordwind trieb Regenwolken vor sich her, die sich am Horizont ballten. Die Scheibenwischer des silbernen Rolls-Royce arbeiteten wie ein Uhrwerk. Dennoch beugte sich Chauffeur Owen Kelly über das Lenkrad, um die Straße besser überblicken zu können. Sein gerader Rücken und die Haltung seines mit einer Uniformmütze bedeckten Kopfes zeigten, dass es ihn mit Stolz erfüllte, das noble Automobil lenken zu dürfen. Victor Bromberg hatte es sich im vergangenen Jahr gekauft und Charlotte seinen roten Ford überlassen.

»Warum muss es Vita Sackville-West sein?«, knurrte Victor auf der Rückbank.

Charlotte rückte ein Stück von ihm ab. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er die informelle Einladung zum Tee bei der berühmten Schriftstellerin lieber abgesagt hätte. Dennoch konnte sie sich darauf verlassen, dass er ihrer Gastgeberin gegenüber nicht den Hauch von Abneigung zeigen würde. Ihr deutscher Mann war inzwischen englischer als jeder Engländer.

»Du legst doch sonst Wert darauf, den Kontakt zur Upper Class zu pflegen. Vita Sackville-West gehört definitiv dazu.«

»Das mag sein, aber, Darling … Du kennst die Gerüchte, an denen mehr als ein Funken Wahrheit ist. Sie pflegt eine … nun … nähere Beziehung zu Virginia Woolf, obwohl sie verheiratet ist. Wie weit ist es in unserem Land gekommen?«

»Wenn du das schon bemängeln möchtest, erinnere dich bitte daran, dass man ihrem Gatten Ähnliches nachsagt: Auch er hat außereheliche Affären. Wie es heißt, ebenfalls gleichgeschlechtliche.« Charlotte rutschte wieder näher an Victor heran. »Wer weiß, was über uns getratscht wurde, als wir das erste halbe Jahr unverheiratet unter einem Dach gelebt haben. Damals hat es uns nicht gestört.«

Victor küsste ihre Schläfe. »Das war etwas anderes«, behauptete er, aber sie spürte, dass sie ihn besänftigt hatte. Sein Blick ging durch das Seitenfenster nach draußen, wo im Dunst des Nieselregens die Mauern von Long Barn auftauchten. Owen lenkte den Wagen direkt vor den Hauseingang. Die Brombergs stiegen aus, und sofort kamen die Dienstboten mit aufgespannten schwarzen Schirmen heran.

Der Regen wehte Charlotte und Victor trotzdem in den Rücken und durchnässte ihre Mäntel. Der junge Diener neben Charlotte, noch mit kindlich runden Wangen unter der Schirmmütze, musste sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, als sie zum Eingang eilte.

An der Haustür wartete bereits – lang, aufrecht, breitschultrig – die Hausherrin: Vita Sackville-West, die sich als Dichterin und Gartenexpertin über die Grenzen des Empires hinaus einen Namen gemacht hatte. Charlottes Beine waren schwach vor Aufregung.

»Wie schön, dass Sie es einrichten konnten!« Vita empfing sie mit ausgebreiteten Armen und zog sie an sich. Charlotte fühlte knochige Schultern und einen fast männlichen Griff, verbunden mit dem Duft nach Lavendel und Holz.

Diese leicht maskuline Attitüde, die Vita gar nicht zu verbergen versuchte, war Charlotte bereits in Kew Gardens aufgefallen, wo sie die Künstlerin kennengelernt hatte. Im Verlaufe ihres Gesprächs hatte sich herausgestellt, dass sie beide Anwesen in Kent bewohnten. Vita hatte sie daraufhin spontan eingeladen. Charlotte war im Rosengarten von Kew, wo sie die Wildtriebe ausschnitt und die neuen Kreuzungen begutachtete, fast in Ohnmacht gefallen, als sie im Nachhinein erfuhr, mit wem sie geplaudert hatte. Die auffällige Garderobe der Besucherin des Botanischen Gartens in einem Farbgemisch aus Senfgelb, Moosgrün und Scharlachrot war ihr zwar aufgefallen, aber sie hatte keine Rückschlüsse daraus gezogen. Exzentrik war in diesen Tagen weit verbreitet im Königreich.

Victor begrüßte die Lady, indem er sich über ihre Hand beugte.

»Wie bedauerlich, dass es gerade heute regnen muss. Ich hätte Ihnen gerne meinen Garten gezeigt«, sagte Vita über die Schulter, als sie den beiden in den Salon voranging. Sie passierten mehrere Räume, deren Türen offen standen. Einer war mit Bücherregalen vollgestellt, in einem anderen sah Charlotte ein Schaukelpferd und Holzautos auf dem Teppich verstreut. Vita hatte zwei Söhne, den achtjährigen Benedict und den fünfjährigen Nigel, die vermutlich mit einer Nanny unterwegs waren. An den Wänden hingen gerahmte Porträts und Landschaften, den Salon mit der breiten Fensterfront dominierte neben einer gestreiften Sitzgarnitur eine Standuhr. Drinnen hing der Geruch nach Tabak in den Gardinen, draußen bog der Wind die Zypressen, die eine Allee durch die Anlage zu bilden schienen. Die letzten blühenden Rosen, Astern, Ziergräser in Kübeln und Beeten schüttelten sich unter den prasselnden Tropfen. Sie würden sich bis zur ersten Frostnacht halten.

Long Barn war weitläufiger als ihr eigenes Anwesen zwischen Maidstone und Canterbury. Aber Charlotte hätte Summerlight House nicht eintauschen wollen.

Vita steckte sich eine Zigarette an, bevor sie auf das Sofa wies und sich selbst in einen der Sessel fallen ließ. Ein Dienstmädchen in weißer Schürze trat mit einem Tablett heran. Der Duft nach Bergamotte und Ingwerplätzchen breitete sich aus. Obwohl Long Barn wie die meisten Häuser über elektrisches Licht verfügte, bat Vita darum, die Kerzen anzuzünden. »So kann man dem Wetter draußen wenigstens Behaglichkeit abtrotzen«, sagte sie dabei.

»Sie haben es hübsch hier, Lady Nicolson.« Charlotte rührte Milch und Zucker in ihren Earl Grey. Um sich nicht zu blamieren – eine ihrer Paradedisziplinen – , hatte sie sich vorab erkundigt: Vita Sackville-West war mit dem Diplomaten Lord Harold Nicolson verheiratet. Infolgedessen war die korrekte Anrede Lady Nicolson, obwohl sie sich ihr im Botanischen Garten als Vita Sackville-West vorgestellt hatte. Charlotte fragte sich, ob sie es bedauerte, einen traditionsreichen Namen wie Sackville aufzugeben. Die Ahnengalerie der Sackvilles reichte bis ins 17. Jahrhundert zurück.

»Danke, meine Liebe, aber lassen wir die Formalitäten. Sie nennen mich Vita, ja?«

Charlotte nickte lächelnd.

»Long Barn ist nicht Ihr Elternhaus, oder?«, warf Victor ein. »Das liegt drei Meilen nördlich von hier, richtig?«

»Sie sind gut informiert, Victor«, erwiderte sie, biss in eines der Ingwerplätzchen und lud sie mit einer Geste zum Zugreifen ein. Ihre Miene nahm einen schwärmerischen Ausdruck an. »An Knole reicht Long Barn nicht heran. Mein Buch über das Herrenhaus meiner Eltern und ihre Vorfahren ist soeben erschienen, wie Sie vielleicht wissen.«

Charlottes Magen fühlte sich an wie zugeschnürt. Dennoch griff sie zu, biss ein winziges Stückchen ab und kaute gründlich, um sich nicht zu verschlucken. Einen Hustenanfall zu erleiden und dem Ereignis das Würdevolle zu nehmen – bloß nicht. Vitas Buch Knole and the Sackvilles lag auf ihrem Nachttisch. Victor hatte es ihr geschenkt. Dummerweise war sie noch nicht dazu gekommen, es zu lesen. »Ich habe es gerade begonnen und bin sicher, es wird mich genauso begeistern wie The Dragon in Shallow Waters. Dieser Titel stand noch vor D. H. Lawrences Roman Women in Love in der Bestsellerliste von John O’London’s Weekly auf Platz eins, oder?«

Von der Seite spürte sie Victors bewundernden Blick. Er lehnte sich zurück, während sie sich mit der Schriftstellerin über Literatur und speziell ihre Werke unterhielt. Gegen Krümel im Hals und vergessene Regenschirme mochte Charlotte machtlos sein, aber sich in der Konversation keine Blöße zu geben, das hatte sie gelernt in den zwei Jahren, die sie nun mit Victor und ihrer Familie in Kent lebte.

»Wissen Sie, meine tatsächliche Leidenschaft gilt eher der Lyrik als der Belletristik«, bemerkte Vita.

»Und dem Gärtnern«, warf Victor ein.

Vitas Lächeln ließ ihre Züge weicher erscheinen. »Sie verfolgen meine Kolumne im Oberserver?«

»Mit Begeisterung, allerdings erst, nachdem meine Frau sie gelesen hat. Vorher gibt sie die Zeitung nicht her.«

Das Lachen der drei stieg mit der Rauchwolke auf, die Vita ausstieß. »Ich bin nur eine vergeistigte Schreiberin, die sich in der Pflanzenwelt nach Versuch und Irrtum vortastet. Meinen ersten Garten habe ich übrigens in der Nähe von Konstantinopel angelegt, wo mein Mann im diplomatischen Dienst war. Es tat weh, alles zurückzulassen, als wir nach England zurückgekehrt sind. Aber Sie, Charlotte, haben Botanik studiert. Für welche Journale schreiben Sie?«

Plötzliche Hitze ließ Charlottes Stirn erröten. »Ich … die Arbeit in Kew Gardens lässt mir für anderes leider keine Zeit. Außerdem will ich meine Pflichten in Summerlight House nicht vernachlässigen. Ich bewundere Sie für Ihre zeitraubenden Tätigkeiten. Mir fehlt die Kraft dazu.«

Vita war höchstens zwei oder drei Jahre älter als sie selbst, vielleicht Anfang dreißig. Dennoch verströmte sie die Aura einer welterfahrenen Dame, die die Widrigkeiten des Lebens mit Leichtigkeit umschiffte. Charlotte hingegen fühlte sich oft zerrieben zwischen ihren Neigungen und ihren Pflichten, und manchmal blieb ihr der Atem weg. Vita, die nun die Beine übereinanderschlug, erweckte den Eindruck, als brächte nichts sie aus der Balance.

»Was für eine erstaunliche Entwicklung, dass Sie nach Ihrem Studium in Kew Gardens eine Anstellung gefunden haben. Ich kenne ein paar der einflussreichen Männer, die über die Angelegenheiten des Botanischen Gartens entscheiden. Unter ihnen befinden sich nur wenige, die der Frauenfrage offen zugewandt sind. Oder hat sich da inzwischen etwas geändert?«

»Ich hatte Glück, da man meinen Großvater noch kannte, der in Kew hoch angesehen war. Außerdem hat sich Professor Bone, der Leiter des Herbariums, an mich erinnert.«

»Ist Sir Prain als Direktor noch in Amt und Würden?«

»Sein ehemaliger Assistent hat inzwischen die Leitung übernommen.« Charlotte verzog den Mund, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

Victor neben ihr grinste, Vita lachte schallend auf. »Nicht nach Ihrem Geschmack?«

Charlotte zuckte zusammen. »Oh, nein, das wollte ich keinesfalls andeuten. Sir Hill ist eine Koryphäe. Wo er schon überall auf Expedition war! Neuseeland, Australien, Bolivien, Peru, Afrika, Island … Ich schätze ihn, obwohl, nun ja, er hält Frauen in der Arbeitswelt für unnötig. Das lässt er mich spüren, wann immer wir uns begegnen. Mein Vertrag mit Kew Gardens ist nur ein Hilfskonstrukt. Offiziell bin ich als botanische Zeichnerin angestellt, in Wahrheit arbeite ich als Springerin in allen Bereichen. Ich fürchte, ich muss mich darauf einstellen, dass mein Vertrag im Juli ausläuft.«

Victor sah sie erstaunt von der Seite an. »Das hast du mir gar nicht erzählt, Darling.«

»Es ist nichts, worüber ich gern spreche.« Tatsächlich verursachte es ihr Magenschmerzen, wann immer sie daran dachte. Zum Glück hatte sie mit Professor Bone, dem Leiter des Herbariums, den zuverlässigsten Mentor, den sie sich wünschen konnte. Solange er im Botanischen Garten arbeitete, war er ihr Fürsprecher. Vielleicht aus Verbundenheit zu ihrem Großvater, vielleicht auch, weil er als einer der wenigen Männer begriffen hatte, dass Frauen die Wissenschaft und Forschung bereicherten.

Victor drückte ihre Hand. Sie wusste, dass er die Champagnerkorken knallen lassen würde, wenn sie aufhörte, in Kew Gardens zu arbeiten. Es war ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen, dennoch rechnete sie ihm sein Mitgefühl hoch an.

Vita hatte den Austausch zwischen den Eheleuten interessiert verfolgt. »Ich kann gut verstehen, wie wichtig Ihnen die Eigenständigkeit ist. Mein Mann reist als Diplomat um die halbe Welt. Manchmal kann ich nicht verhindern, dass ich mitreisen muss. Aber wann immer es möglich ist, genieße ich die Nischen, die ich mir geschaffen habe.«

»Sie stellen Ihr Licht unter den Scheffel, Vita. Sie sind eine der bedeutendsten Autorinnen des Landes. Das ist mehr als eine Nische.«

Vita winkte ab. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich weiß nur, dass ich ohne mein Schreiben und meine Bücher, ohne meine Liebe zu Pflanzen ein anderer Mensch wäre. Wie halten Sie es mit der Gartengestaltung in Summerlight House? Haben Sie ein System, wie Sie die Pflanzen arrangieren? Arbeiten Sie eher mit Farbgestaltung oder mit wechselnden Blüten im Jahresverlauf? Ich hatte ja bislang leider keine Gelegenheit, Haus und Grundstück zu besichtigen …«

Victor schaltete sich sofort ein. »Sie sind jederzeit herzlich willkommen. Für die erste Party zur Eröffnung der Sommersaison lasse ich Ihnen eine Einladung zukommen.«

Vita lächelte. »Ich freue mich darauf, Summerlight House kennenzulernen.«

Charlotte lehnte sich zurück. Sie spielte am Nagel ihres Daumens und ärgerte sich darüber, wie leicht sie sich verunsichern ließ. Sie hatte ein abgeschlossenes Studium in Botanik, arbeitete im angesehensten Botanischen Garten der Welt und war gleichzeitig die Hausherrin auf Summerlight House. Warum beschlich sie nun dieses Gefühl, versagt zu haben, wenn sie an das perfekt manikürte Grün ihres Anwesens dachte? Wie hätte sie sich dort in den vergangenen zwei Jahren verwirklichen können?

»Der zum Haus gehörende Garten dient seinem Zweck: Auf dem Rasen können wir jederzeit Gäste empfangen, es gibt einen Pavillon für Teegesellschaften, ein Podest für eine Kapelle. Ich habe unseren Gärtner Mr Mitchell angewiesen, den Aufwand gering zu halten. Ich hatte Sorge, es könnte ihm über den Kopf wachsen. Lieber ein perfekt gepflegtes Grün als Wildwuchs, nicht wahr?«

Im ersten Jahr hatte sie ein Beet mit blauen Astern angelegt, die Rabatte jedoch nach der Blüte wieder eingeebnet. Sie hatte den Samen aus den Blütenständen in einem Schraubglas gelagert, war allerdings nicht mehr zur Anzucht gekommen. Ob sie im kommenden Frühling noch keimfähig waren?

»Absolut«, stimmte Vita ihr zu. »Dennoch möchte ich Ihnen etwas zeigen, von dem ich hoffe, dass Sie dafür Verwendung finden.«

Charlotte wechselte einen Blick mit Victor.

Vita grinste wie ein junges Mädchen. »Folgen Sie mir bitte in die Kellerräume.«

Beim Aufstehen strich sich Charlotte den Rock glatt. Vita, ein gutes Stück größer als sie, ging ihr in der für große Menschen typischen Haltung mit gebeugtem Rücken voran. Victor stützte Charlotte am Ellbogen, als die Hausherrin sie durch eine Kellertür eine steinerne Treppe hinabführte.

Eine Glühbirne beleuchtete Regale voller Weinflaschen und Einweckgläser mit eingelegtem Obst und Gemüse. Der Geruch nach feuchten Wänden schlug ihnen entgegen. Vita öffnete einen Holzverschlag. Auf den mit Zeitungspapier ausgeschlagenen Brettern lagen Blumenzwiebeln in allen Größen, Pflanztöpfe, Werkzeug. Vor ihnen stapelte sich ein Dutzend offener Kisten, aus denen seitlich mit Erde bedeckte Wurzeln herausragten. In das Holz schwarz eingebrannt waren Bezeichnungen in einer fremden Sprache, möglicherweise Spanisch.

Victor schlang fröstelnd die Arme um sich, aber Charlotte trat näher heran. Vorsichtig tastete Vita nach einer der Knollen aus der oberen Kiste. Wie einen Schatz präsentierte sie sie ihnen. »Ich habe Ihnen erzählt, dass Harold viel auf Reisen ist. Diese Kisten hier stammen aus den Hochebenen Mexikos. Ein Bekannter dort glaubte, ihm damit einen Gefallen zu tun, da er um unsere Gartenleidenschaft wusste.«

Charlotte nahm ihr die Knolle aus der Hand. »Dahlien?« Sie fühlte den Sand, der das Gewächs einhüllte. Derjenige, der sie verpackt hatte, hatte sich ausgekannt: Der angefeuchtete Sand sorgte dafür, dass die Knollen nicht schimmelten oder austrockneten.

Vita lächelte. »Genau. Mehr ist nicht bekannt. Ich weiß nicht, zu welcher Gattung sie gehören, wie groß sie werden und in welcher Farbe sie blühen. Das Problem ist, dass ich bereits ein Dahlienbeet habe, das ich keinesfalls vergrößern möchte, weil die Gestaltung sonst aus dem Gleichgewicht gerät. Was meinen Sie, meine Liebe, hätten Sie dafür in Summerlight House Verwendung?«

Charlotte holte eine weitere offenbar kerngesunde Knolle aus der Kiste, wog sie in der Handfläche. Als Botanikerin jubilierte sie über diese einzigartige Sammlung. Wie spannend es wäre, ihre Entwicklung zu beobachten, wenn sie die Dahlien ab April einpflanzte. Dahlien mochten Sonne, sie würde ein passendes Beet auf der Südseite finden.

Sie blickte Victor an, als sie seine Finger auf ihrer Schulter spürte. Er drückte sie kurz, als wollte er sie beschwören. »Was für ein hinreißendes Angebot«, sagte er.

Charlotte nickte. »Ich nehme dieses Geschenk gerne an und hoffe, dass ich diese Prachtknollen im Spätsommer zum Blühen bringen werde.«

»Das schaffen Sie. Daran habe ich keinen Zweifel.«

»Ich werde Ihnen das Beet widmen, wenn es mir gelingt«, versprach Charlotte.

Vita zog sie an sich. »Ich lasse Ihnen die Kisten im April liefern. Bis dahin haben die Knollen hier beste Bedingungen zum Überwintern. Kommen Sie gerne jederzeit vorbei, wenn das Wetter es zulässt, um Long Barn zu besichtigen. Ich tausche mich liebend gern mit einer Fachfrau über meine Pläne aus.«

»Die Gartenexpertin sind Sie, Vita. Ich bin nur die Wissenschaftlerin.«

»Wir werden sehen.« Vita verschloss die Lattentür und ging ihnen voran die Steintreppe hinauf. Victor drückte Charlottes Arm. Er fror offenbar nicht mehr, im Gegenteil, seine Wangen wirkten erhitzt. Er drängte Charlotte schon lange, weniger in Kew Gardens zu arbeiten und sich stattdessen auf ihrem eigenen Grundstück zu verwirklichen. Zum ersten Mal erschien ihr dieser Gedanke reizvoll.

Bereits auf der Heimfahrt ging ihr durch den Sinn, welche Gräser die Dahlien zur Geltung bringen würden und ob sie Herbstanemonen dazu pflanzen sollte.

Charlotte Bromberg gab sich nicht mit Halbheiten zufrieden. Sie spürte ein Fieber in sich. Ob sie ihren Gärtner Quinn Mitchell damit anstecken würde? Ihr Herz schlug schneller bei der Vorstellung, wie sie sich beratschlagen und Seite an Seite arbeiten würden. Wenn sie sich tatsächlich daranwagte, das Grundstück um Summerlight House zu gestalten, dann würde es nicht irgendeine Anlage mit altbekannten Gewächsen werden.

Nein, wenn sie sich darauf einließ, würde sie sich voller Kraft dieser Aufgabe widmen und gemeinsam mit Quinn Mitchell den originellsten Garten Englands erschaffen.

Kapitel 1

Summerlight House, Grafschaft KentMai 1923

Charlotte drosselte das Gas, als sie den Ford in die Einfahrt von Summerlight House lenkte, und kämpfte gegen ihre innere Unruhe. Obwohl sie sich beeilt hatte, kam sie zu spät. Der Wagen, inzwischen fünf Jahre alt, schnurrte noch immer wie ein Kater. Auf der Landstraße von Kew Gardens bis zu ihrem Haus hatte sie das Tempo kaum gesenkt und die bedächtiger fahrenden Automobile bei freier Sicht überholt. Vom Rausch der Geschwindigkeit würde sie wohl nie genug bekommen. Und von diesem Gefühl, wie ein von den Winden getragener Vogel von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Aber das Vergnügen an der Fahrt hatte ihre Sorgen nicht vertrieben.

Verdammt, vor dem Portal von Summerlight House standen bereits neben Victors Rolls-Royce die glänzenden Automobile ihrer Nachbarn. Die Stewarts auf der östlichen Seite ließen sich die kurze Strecke stets chauffieren, obwohl der Weg in einer knappen halben Stunde zu Fuß zu bewältigen war. Aber Andrew Stewart war mit seinen zweiundsiebzig Jahren nicht mehr gut zu Fuß, und auch seine wohlbeleibte Frau Olivia, mit Mitte sechzig allerdings noch rüstig, wusste den Dienst zu schätzen.

Die Familie McLaren, deren Gutshaus an der westlichen Seite angrenzte, bevorzugten schon deswegen das Automobil, weil ihre Söhne Alex und Benjamin seit wenigen Wochen die Fahrlizenz besaßen und jede Gelegenheit nutzten, am Steuer zu sitzen.

Es war der dritte Freitag im Monat, der Tag, an dem die Nachbarn sich trafen und Neuigkeiten austauschten. Die Gastgeber wechselten sich reihum ab. An diesem Abend im Mai hatten Charlotte und Victor zum Dinner geladen. Dazu gehörten selbstverständlich die übrigen Bewohner von Summerlight House: Charlottes Mutter Elizabeth, deren Bekannter Sir Walther Alcott, der zurzeit zu Besuch weilte, ihre Schwester Debbie, ihr Bruder Robert und Victors Cousine Aurora. Eine bunte Gemeinschaft von Menschen, die das Schicksal zusammengeführt hatte und die Summerlight House so aufgeteilt hatten, dass jeder seine Rückzugsräume besaß und sie sich dennoch zu den Mahlzeiten und bei besonderen Anlässen im Salon zusammenfinden konnten. Hätte Charlotte geahnt, was ihr heute in Kew Gardens mitgeteilt worden war, hätte sie das Dinner verschoben. Das Gefühl der Überforderung verursachte ihr Übelkeit.

Charlotte hatte alles versucht, um rechtzeitig aus Richmond heimfahren zu können, aber ein Kollege, der erst seit wenigen Tagen in Kew Gardens arbeitete, hatte sie auf einen Rosenbaum hingewiesen, der aus einer Veredelung hervorgegangen war und der einen außergewöhnlich intensiven Duft verbreitete. Charlotte hatte ihm gezeigt, wo er das Archivmaterial fand und wie er dieses um die neuen Details erweitern konnte. Deswegen war sie eine halbe Stunde länger als üblich im Botanischen Garten geblieben und schließlich mit wehendem Mantel zu ihrem Ford gesprintet. Im Auto fiel ihr nach wenigen Minuten auf, dass der Tank fast leer war, weil sie auf dem Hinweg vergessen hatte nachzufüllen. Sie musste einen Umweg in Kauf nehmen, um eine Zapfsäule zu finden.

So kam es, dass die Gastgeberin nun mit einer guten Stunde Verspätung zur Tischgesellschaft stoßen würde. Und in einer Verfassung, in der sie sich tausendmal lieber die Decke über den Kopf gezogen hätte, als an einem Dinner teilzunehmen.

Charlotte parkte den Wagen in der Reihe der anderen Fahrzeuge und sprang heraus. Am Luftzug merkte sie, dass sie sich dabei den Glockenhut vom Kopf riss, aber sie nahm sich nicht die Zeit, ihn aufzuheben, sondern eilte die Treppe zum Hauptportal hinauf, stieß die Tür auf und hastete durch das Foyer in den Salon.

Der Raum erstrahlte im Schein der Kerzen in Kandelabern, ein Duft nach Roastbeef, gedünstetem Gemüse und Minze hing in der Luft, das Silberbesteck funkelte, doch das Klappern brach ab, als Charlotte in den Raum stürzte. Alle zwölf Menschen am Tisch wandten ihr den Kopf zu, die jüngeren kicherten, die älteren lächelten mit steifer Oberlippe. Victor tupfte sich beim Aufstehen den Mund mit der Leinenserviette ab und kam auf sie zu, als sie gerade mit ihrer Erklärung begann: »Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Ich werde mich sofort umziehen und in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Ich bin untröstlich, dass ich die Vorspeise verpasst habe.«

Sie warf einen schnellen Blick zu Köchin Emily, die in Schürze und Haube am Eingang zur Küche stand und darüber wachte, dass die Gäste ihre Mahlzeit hinreichend würdigten. Mit ihr hatte sich Charlotte noch zwei Tage zuvor über die Menüfolge beratschlagt, ihr Champignonsüppchen galt in Summerlight House als besondere Delikatesse. Mrs Duncans Gesicht sah in diesem Moment aus wie ein schrumpeliger Apfel. Seit Charlotte hier mit ihrer Familie lebte, war sie mit der hageren Person nicht warm geworden. Nun gut, es konnte ihr egal sein, ob das Personal sie mochte oder nicht. Wichtiger war es, dass sie bei den Nachbarn nicht in Ungnade fiel. Dass sie nicht zum ersten Mal zu spät zu einem Treffen erschien, machte es nicht besser.

Victor trat an ihre Seite, das Gesicht maskenhaft zu einem Willkommenslächeln verzogen. Sie spürte, dass er innerlich vor Zorn bebte, hob den Kopf und hielt seinem Blick stand. Er legte die Hände auf ihre Schultern, küsste sie links und rechts auf die Wange. »Wie schön, dass du uns endlich mit deiner Anwesenheit beehrst, Darling.« Ob die anderen den Spott heraushörten? Für sie war seine Begrüßung wie eine Ohrfeige.

»Ich konnte nicht früher weg aus Kew Gardens und musste auf dem Rückweg noch tanken«, stieß sie hervor und schob sich in der für sie typischen Bewegung mit dem Zeigefinger die Brille hoch, die ihr auf die Nasenspitze gerutscht war.

»Was du auf dem Hinweg erledigen wolltest, wenn ich mich richtig erinnere«, gab er zurück, an seiner freundlichen Miene festhaltend. Er zog sie an sich. »Aber jetzt bist du ja da. Ich hoffe, es stört dich nicht, dass wir ohne dich angefangen haben? Gleich wird der Hauptgang aufgetragen.«

Sie fühlte die Stärke seines Körpers und genoss für einen Moment diese Vertrautheit, doch in diesem Augenblick zischte er ihr ins Ohr: »Du siehst unmöglich aus, Charlotte. Wie kannst du mich in diesem Aufzug dermaßen blamieren!«

Sie löste sich von ihm, straffte die Schultern und fuhr sich mit den Fingern ordnend durch die Haare, die sie zu einem Knoten gedreht hatte. Sie trug sie lang, frisierte sie allerdings so, dass sie ihr Gesicht umrahmten wie eine wellige Kurzhaarfrisur. Anscheinend hatten sich etliche Strähnen gelöst. »Danke, mein Lieber. Dein Großmut beschämt mich«, erwiderte sie mit lauter Stimme und gab Haushälterin Laura ein Zeichen. Laura verstand sofort, wandte sich rasch um und verließ das Esszimmer.

Freundlich nickte Charlotte den Gästen und ihrer Familie zu, bevor sie sich abwandte und zur Freitreppe eilte, die hinauf zu ihren Zimmern im ersten Stock führte. Den rechten Flügel hatten sich Charlotte und Victor in den vergangenen Jahren zu einem behaglichen Zuhause ausgebaut mit hohen Bücherregalen, einer Sitzgarnitur und handgearbeiteten Holzmöbeln. Der Geruch, der zwischen den Vorhängen und Möbeln hing, ging von dem Eichenparkett aus, das sie vor einem Jahr hatten legen lassen. Charlotte hoffte, dass sie sich irgendwann daran gewöhnen würde. Wenn sie an den Duft eines Zuhauses dachte, fiel ihr immer noch als Erstes der nach Seife, Kaminfeuer und altem Leder ein, der ihr Haus in London in der Hunter Street geprägt hatte.

»Wir müssen uns beeilen«, warf Charlotte Laura hin, die am Frisiertisch bereits Bürste, Kamm und Spangen zurechtgelegt hatte.

»Selbstverständlich, Mrs Bromberg.«

Sie hasste es, wenn Victor glaubte, sie zurechtweisen zu müssen. Manchmal vermisste sie den Humor und die Lässigkeit aus der Anfangszeit ihrer Beziehung. Hätte er ihr vor drei Jahren seine Verärgerung so ins Ohr gezischt? Oder hätte er sie in den Arm genommen und mit ihr gemeinsam gelacht?

Charlotte spann den Gedanken lieber nicht weiter. Sie konnte sich über ihre Ehe und das Leben mit ihrer Familie in Summerlight House nicht beklagen. Victor bot ihr Geborgenheit und Sicherheit, und dies nicht nur für sie, sondern für ihre gesamte Familie, die nichts dringender gebraucht hatte, damals, als Charlotte und Victor sich in Kew Gardens begegnet und ihre Gefühle füreinander entbrannt waren.

Mit geübten Griffen schlüpfte Charlotte aus ihrem Arbeitskleid und lief ins Badezimmer, um sich zu waschen. Sie wählte schwarze Strümpfe und ein Seidenkleid mit tief angesetztem Faltenrock, dazu eine lange Perlenkette. Laura bürstete routiniert ihre Haare und drehte einzelne Strähnen ein, bis sie sich zu einem geschlungenen Knoten miteinander verbanden, den sie mit einem perlenbesetzten Kamm feststeckte. »Mit kurzen Haaren hätten Sie weniger Probleme«, bemerkte sie dabei im Plauderton, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

Charlotte seufzte. »Ich weiß, Laura. Ich glaube, ich lasse sie mir wieder kinnlang schneiden. Es war keine gute Idee, sie wachsen zu lassen.« Genau genommen war es Victors Wunsch gewesen, und sie hatte ihm eine Freude bereiten wollen. Aber inzwischen kam sie sich fast ein bisschen altmodisch vor mit ihrer Mähne. Es gab kaum noch Frauen und Mädchen, die die Haare länger als bis zum Kinn trugen.

Wie gerne wäre sie jetzt allein. Vielleicht draußen in dem Gartenpavillon, um den sich der Wilde Wein rankte. Parthenocissus quinquefolia. Aber selbstverständlich wusste sie, was von ihr erwartet wurde. Zwar widerstrebte es ihr, sich von Victor unter Druck setzen zu lassen, andererseits war tatsächlich sie diejenige, die um Verzeihung bitten musste. Es gehörte sich nicht, die Gäste warten zu lassen.

Zum Abschluss besprühte Charlotte sich noch mit ihrem würzig duftenden Parfum und legte dunkelroten Lippenstift auf. Auf ihre Brille verzichtete sie an diesem Abend. Summerlight House und die Gäste waren ihr vertraut genug, dass sie alles erkannte.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Danke, Laura, ich denke, wir sind fertig.« Es gehörte eigentlich nicht zu Lauras Aufgaben, ihr beim Anziehen und Frisieren zu helfen, aber sie tat es, wenn Charlotte sie darum bat. Sie war die Haushälterin, nicht ihre Zofe, und im Übrigen half sie Charlottes Bruder Robert, der seit einer Schussverletzung querschnittsgelähmt war, bei allen Arbeiten, die er selbst nicht verrichten konnte. Laura war eine der beliebtesten Angestellten in Summerlight House, da sie nicht nur diskret und loyal war, sondern auch besonnen und zuverlässig. Sie sprang stets ein, wenn Hilfe gebraucht wurde, im Gegensatz zu den anderen Angestellten. Charlotte machte sich im Geiste eine Notiz, dass sie ihren Lohn erhöhen sollte. Die finanzielle Situation auf Summerlight House war dank der Papierfabrik in Dartford, die Victor von seinem Onkel geerbt hatte, überaus erfreulich.

Sie hielt sich am Geländer der Freitreppe fest, als sie in aufrechter Haltung hinab ins Foyer schritt. Die Rolle der Hausherrin von Summerlight House hatte sie sich übergeworfen wie einen kostbaren Mantel, aber im Laufe der Zeit war sie hineingewachsen.

Die Männer erhoben sich, als Charlotte nun in angemessener Aufmachung den Salon betrat. Der Raum war groß genug, dass er zum einen als Wohnzimmer dienen konnte, zum anderen als Speisezimmer. Er war der Mittelpunkt des Hauses.

Die Fensterfront ging auf das Grundstück hinaus, in dem das Rasengrün dominierte, nur unterbrochen von bepflanzten Mauerresten, einem Teich mit Seerosen und Schilf und dem Gartenpavillon. Für ein paar Sekunden schweiften ihre Gedanken ab. Zwischen dem kleinen Gewässer und dem Pavillon hatte Mr Mitchell im April, als die Lieferung der Dahlien von Long Barn bei ihr eingetroffen war, ein Beet mit geschwungenen Rändern ausgehoben. Das Spiel seiner Muskeln unter dem Hemd, wenn er den Spaten schwang, und die Kraft, mit der er die Erde lockerte, hatten sie ahnen lassen, wie viel Energie in ihm schlummerte, die nur nach einem Ventil suchte. Charlotte wusste, dass er das gestutzte Grün langweilig fand. Er versuchte sie schon lange zu überreden, das Grundstück zu gestalten, aber es hatte eine Vita Sackville-West gebraucht, um ihren Ehrgeiz zu wecken.

Victor kam ihr entgegen, führte ihre Hand an die Lippen und schob ihr den Stuhl neben seinem zurecht. Kaum hatte sie sich gesetzt, begannen Küchenmädchen Sophie und Hausmädchen Caitlin den Hauptgang aufzutragen.

Victor beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Verzeih, dass ich so aufgebracht war. Ich hatte gehofft, du würdest unsere Gäste gemeinsam mit mir begrüßen.«

»Alles gut, Lieber«, flüsterte sie zurück und lächelte in die Runde.

»Also, mit der Vorsuppe hast du tatsächlich etwas verpasst. Sie ist Mrs Duncan ausgezeichnet gelungen.« Hoch aufgeschossen, die kurzen weizenblonden Haare gescheitelt und in Fingerwellen gelegt, saß Debbie neben dem älteren Sohn der McLarens. In ihre Augen trat ein Funkeln, als sie zu ihrer Schwester blickte. Mit ihren fünfzehn Jahren war Debbie zwar äußerlich eine erwachsene Frau, aber ihr Charakter wies nicht weniger Schwächen auf als zu ihrer Zeit in London, fand Charlotte. Sie war immer noch vorneweg mit ihrem Mundwerk, und mit wachsender Reife waren ihre Frechheiten nicht mehr plump und indiskret, sondern mitunter gepaart mit Biestigkeit und Spott. Besonders ihr und der Mutter gegenüber, als hege sie einen besonderen Groll gegen sie.

»Das freut mich, Debbie. Ich hoffe, es hat allen geschmeckt.« Charlotte legte keinen Wert darauf, mit der Fünfzehnjährigen vor den Gästen aneinanderzugeraten.

»Ich habe Sie vermisst«, bemerkte Lady Stewart, »aber ich finde es bewundernswert, mit welcher Verve Sie Ihrem Beruf nachgehen. Da können die lästigen Nachbarn mal warten, nicht wahr?« Sie zwinkerte ihr zu, aber Charlotte sah, dass die McLarens diese Bemerkung alles andere als witzig fanden.

»Ich liebe unsere Dinnerverabredungen, und ich verspreche Besserung, was meine Pünktlichkeit angeht«, sagte sie rasch, um jeden Unmut im Keim zu ersticken.

»Darauf einen Toast.« Sir Andrew Stewart hob sein Weinglas, die anderen taten es ihm nach. »Auf unsere bezaubernde Gastgeberin, die unsere schöne Runde komplettiert.«

Alle hoben die Gläser, nur Charlottes Bruder Robert aß ungerührt weiter. »Als wäre es mit einem Trinkspruch erledigt«, stieß er hervor und zerteilte ein Stück Fleisch mit dem Messer. »Es hat noch nie zu etwas Gutem geführt, wenn man auf mehreren Hochzeiten tanzt. Irgendwann muss man sich entscheiden.«

Charlotte rauschte das Blut in den Ohren, die Gabel in ihrer Rechten klapperte auf dem Tellerrand, als ihre Finger zu zittern begannen. Oh, bitte nicht … Eine Auseinandersetzung am Tisch war das Letzte, was sie nach diesem Tag noch aushalten konnte. Aber Robert war in dieser Beziehung unberechenbar. Aus dem einst lebenslustigen Medizinstudenten war ein verbitterter Mann im Rollstuhl geworden, der mit sich und der Welt haderte. Charlotte konnte nicht mehr zählen, wie oft er für einen Eklat gesorgt hatte, seit sie in Summerlight House wohnten.

»Robert, ich denke nicht, dass dies ein Thema für diese Runde ist.« Victor fixierte seinen Schwager. Charlotte warf ihm einen dankbaren Blick zu. Sie wusste, dass Victor nicht anders dachte als ihr Bruder, aber vor anderen hielt er stets zu ihr. Das rechnete sie ihm hoch an, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, wenn er es aus echter Überzeugung getan hätte.

»Aber, aber, Victor«, Andrew Stewart beugte sich über den Tisch. »In diesem vertrauten Kreis müssen wir kein Blatt vor den Mund nehmen. Obwohl mir die Wortwahl missfällt, stimme ich Robert zu, dass eine Ehefrau an die Seite ihres Mannes gehört und den Haushalt zu führen hat, wie es traditionell üblich ist. Alles andere bringt nur Verwirrung und zerstört die geordneten Verhältnisse.«

Um Himmels willen, was erlaubte sich der alte Lord da? Charlotte massierte sich die Schläfe. Vermutlich hatte er dem vor dem Dinner gereichten Sherry mehr zugesprochen, als ihm guttat. Seine knollige Nase leuchtete rot, seine Augen wirkten trüb.

In diesem Moment stieß ihm seine Frau ihren Ellbogen in die Seite. »Was weißt du von geordneten Verhältnissen?«, fuhr sie ihn erzürnt an. »Wenn ich Charlottes Mut gehabt hätte, wäre ich heute Lehrerin und würde nicht auf einem alten Gutshof versauern. Für mich ist es zu spät, aber den jungen Leuten steht die Welt offen. Sie sollten das nutzen.«

»Junge Frauen sollten viel mehr Mut bei der Zukunftsplanung zeigen«, meldete sich überraschend Alex zu Wort. Sein Bruder Benjamin lachte auf und handelte sich dafür ein böses Funkeln von dem Älteren ein, der seine Ansicht noch bekräftigte: »Die nächste Generation wird sich nicht mehr vorstellen können, dass Frauen nicht wählen durften, an den Herd gezwungen und von ihren Männern bevormundet wurden.«

»Nur unansehnliche Frauen haben es nötig, ihr eigenes Geld zu verdienen. Die schönen sollten sich lieber von ihren Männern verwöhnen lassen«, gab Benjamin zurück.

Charlotte warf mit hochgezogenen Brauen einen Blick in seine Richtung, der den Jungen bis zu den Ohren erröten ließ. Er beugte sich über seinen Teller.

Im Nu entspann sich eine kontroverse Diskussion am Tisch, aus der sich Debbie überraschend zurückzog. Sie erhob sich, und alle Männer standen ebenfalls auf. »Ich möchte auf das Dessert heute verzichten. Ich fühle mich nicht gut und denke, eine Abendrunde mit Baxter wird mir guttun. Entschuldigen Sie mich bitte.«

Elizabeth, Aurora und Charlotte sahen ihr hinterher. Es passte nicht zu der jungen Frau, auf die Süßspeise zu verzichten und stattdessen mit dem Labrador spazieren zu gehen. Zwar liebte sie den Hund, aber um alle Verpflichtungen, die ein Haustier mit sich brachte, drückte sie sich normalerweise mit dem ihr eigenen Einfallsreichtum. Der junge Mann neben ihr, Alex, war sichtlich bestürzt. Sein etwas zu lang geratenes Gesicht überzog sich mit einer fleckigen Röte. Vermutlich gab er sich die Schuld an Debbies vorzeitigem Aufbruch und schalt sich innerlich, weil er sie gelangweilt hatte.

Charlotte empfand Mitleid mit dem jungen McLaren, der sich mit seinen neunzehn Jahren darauf vorbereitete, das Gutshaus der Eltern zu übernehmen. Besonders Victor freute sich darüber, dass der älteste der McLaren-Söhne ein offensichtliches Interesse an Debbie zeigte. Alex galt als zuverlässig und auf dem gesellschaftlichen Parkett gewandt. Er studierte Wirtschaft in Cambridge, einer der renommiertesten Universitäten der Welt, und verbrachte nur die Wochenenden und die Ferien auf dem elterlichen Anwesen. Alle hatten sich gewundert, dass er nicht nach Oxford gegangen war. Diese Universität hatte kein geringeres Renommee, und zudem hatte Lord McLaren selbst dort studiert. Ob Alex sich vielleicht bewusst gegen die Universität entschieden hatte, zu der sein Vater noch Kontakte pflegte? Ihnen konnte es egal sein. Victor jedenfalls würde dem Himmel danken, wenn die wilde Debbie in wenigen Jahren von einem solch gut situierten Ehemann gebändigt werden würde. Charlotte hätte sich zwar mehr Eigenständigkeit für ihre Schwester gewünscht, aber sie wusste, dass Debbie aus einem anderen Holz geschnitzt war als sie selbst.

Das Gespräch am Tisch wurde immer hitziger, jeder hatte eine Meinung darüber, ob Frauen arbeiten durften oder nicht, und darüber, ob das vor einigen Jahren in Kraft getretene Wahlrecht für Frauen tatsächlich ein Fortschritt war. Schließlich betraf es nur die über Dreißigjährigen, die jüngeren Frauen waren Kindern gleichgestellt, denen man keine Verantwortung zutraute. Aurora hielt sich aus der Debatte heraus und widmete sich konzentriert ihrem Essen. Ihr waren Auseinandersetzungen zuwider, das wusste Charlotte.

Ihr selbst schwirrte der Kopf, Satzfragmente drangen zu ihr, wirbelten hinter ihrer Stirn und ließen sie schwindeln. Wie ärgerlich, dass sie der Auslöser für diesen Streit war. Ein schmerzhaftes Pochen setzte sich hinter ihren Schläfen fest. Doch nicht nur ihr war das Tischgespräch zu temperamentvoll. Auch der jüngere der McLaren-Söhne, Benjamin, fasste sich an die Stirn, erhob sich und murmelte eine Entschuldigung, küsste seine Mutter rasch auf die Wange und verließ den Salon. Charlotte starrte ihm hinterher und fing Lady McLarens Blick ein, die ihren jüngeren Sohn zu vergöttern schien. Benjamin war in allem das Gegenteil seines Bruders. Sein Hemdkragen saß lockerer, die Krawatte war nachlässig gebunden, die Haare im Nacken zu lang. Er hatte ein ausgesprochen attraktives Gesicht mit ebenmäßigen Zügen und langen Wimpern, um die ihn jedes Mädchen beneiden musste. Er würde zum Herbst sein Wirtschaftsstudium in Oxford beginnen, was zu reichlich Gerede geführt hatte. Zwei Brüder auf zwei Universitäten, die seit Jahrhunderten miteinander in Konkurrenz lagen? Einige behaupteten, Benjamin hätte mit seinen miserablen schulischen Leistungen auf keiner Eliteuniversität eine Chance gehabt und es sei nur den Beziehungen seines Vaters zu verdanken, dass er in Oxford aufgenommen worden war.

Dummerweise schien Benjamin genau wie sein Bruder Alex Gefallen an Debbie gefunden zu haben. Brauchte er tatsächlich Erholung von der laustarken Kontroverse, oder zog es ihn nach draußen zu der Fünfzehnjährigen?

Lord und Lady Stewart steigerten sich nun in einem Ausmaß in ihre Auseinandersetzung, dass sie die Etikette vergaßen. Die McLarens nahmen dies mit starren Mienen zur Kenntnis. Für die beiden, deren britische Familiengeschichte bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte, war es absolut unvorstellbar, bei einem Dinner derart aus der Rolle zu fallen. Bei den Stewarts hingegen waren vor dreißig Jahren bei der Hochzeit Welten aufeinandergeprallt, und das merkte man den beiden noch heute an. Olivia war die Tochter eines amerikanischen Ölmagnaten. Ihr Geld hatte sie nur zu gern in die verarmte Familie der Stewarts eingebracht, um im Gegenzug den Adelstitel zu erhalten. Auch wenn die Ehe ursprünglich wie ein Geschäft zu gegenseitigem Nutzen angelegt gewesen war, hatten die beiden offenbar im Lauf der Jahrzehnte ihre Zuneigung zueinander entdeckt. Auf jeden Fall gab es nie Gerüchte von Trennung, obwohl sie sich gern gegenseitig aus der Reserve lockten und regelmäßig das texanische Temperament mit der Lady durchging.

»Ich finde, nichts steht einer Frau besser zu Gesicht als Zufriedenheit.« Victors Stimme hob sich über die anderen. Alle wandten sich ihm zu. »Was habe ich von einer Ehefrau, die sich ausschließlich um den Haushalt und mich kümmert, wenn ihre Mundwinkel im gleichen Maße nach unten zeigen wie ihre Stimmung?«

Charlotte berührte sanft seinen Arm. Für seine Eloquenz und seine Diplomatie liebte sie ihn. Robert rief »Hört, hört!« und klatschte in die Hände, ein zynisches Lächeln auf den Lippen.

»Ich nenne das die Macht der Liebe«, erwiderte Lord Stewart. »Aber die Liebe ist vergänglich, und was bleibt dir dann? Eine Frau, die die Nase zu hoch trägt, um ihrem Gatten zu Diensten zu sein.« Er hob das Glas in Richtung Charlotte. Ein Schluckauf schüttelte seinen massigen Leib. »Und dies sage ich mit allem Respekt, meine liebe Charlotte.«

Nichts war respektvoll an dem, was der alte Mann da zum Besten gab. Seine Bemerkung traf Charlotte. Ein Schweißtropfen löste sich in ihrem Nacken und lief kitzelnd unter ihrem Kleid die Wirbelsäule hinab.

Victor beugte sich ihr zu. »Lass dich nicht aus der Fassung bringen, Darling«, flüsterte er.

Charlotte nickte mit zusammengepressten Lippen. Sie wusste, was sie konnte und wollte, und die überholten Ansichten eines alternden Lords ließen sie sonst kalt. Aber gerade heute fühlte sie sich zerbrechlich.

»Aurora, reichst du mir bitte den Brotkorb?«, fragte sie in Richtung von Victors Cousine. »Ist das Roastbeef nicht delikat?«, wandte sie sich gleich darauf an die McLarens, um sie mit ins Gespräch einzubeziehen und das Thema zu wechseln.

»Bei Gelegenheit würde ich mir gern einmal Ihre Köchin ausleihen, damit unsere bei ihr lernen kann«, gab Lady McLaren charmant zurück.

»Was für ein Glück Sie mit Ihren beiden Söhnen haben«, bemerkte Charlotte. Alex hob den Kopf. »Sicher werden Sie bald der nachfolgenden Generation die Geschäfte übergeben, nicht wahr? Und Sie können sich den schönen Seiten des Lebens widmen.«

Lord McLaren, dessen Schnauzbart über seine Wangen hinausreichte, tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Noch gehören wir nicht zum alten Eisen, und solange mein Verstand mich nicht im Stich lässt, führe ich den Gutshof weiter.« Seine Stimme erinnerte an die eines Generals.

»Recht haben Sie«, stimmte Charlotte ihm zu und bemerkte, dass Alex sein Besteck auf dem Teller ablegte. Offenbar war ihm der Appetit vergangen. Charlotte ahnte, dass es auf dem Nachbarhof Generationskonflikte gab, aber sie wusste auch, dass ihr Lächeln makellos war, ihre Haltung elegant – die perfekte Hausherrin, die sich angeregt mit allen unterhielt und dafür sorgte, dass sich die Essensgesellschaft bis zu Kaffee, Whisky und Zigarren, vor dem Kamin genossen, wohlfühlte.

Wie es in ihrem Inneren aussah, verstand sie zu verbergen. Zumindest bis zum Abend, als sie sich, schon im Nachthemd, die Hände eincremte und zu Victor ins Bett stieg. Die Laken empfingen sie kühl und steif. Sie rutschte auf Victors Seite, der den neuesten Kriminalroman von Agatha Christie las, nun aber ein Lesezeichen zwischen die Seiten schob und das Buch auf den Nachttisch legte.

»Hast du Debbie zurückkommen hören?«, erkundigte er sich.

Sie schüttelte, an seiner Brust liegend, den Kopf. »Sie wird sich gleich in ihren Trakt zurückgezogen haben. Mutter hätte sich vermutlich gemeldet, wenn sie nicht heimgekommen wäre«, erwiderte sie geistesabwesend.

Er drückte das Kinn auf die Brust, um sie besser anschauen zu können. »Was ist los mit dir, Darling? Du wirkst bedrückt. Weil ich dich angefahren habe? Das tut mir leid, bitte verzeih mir.«

Sie hob den Kopf und küsste sein Kinn. »Nein, es hat nichts mit dir zu tun.« Sie schluckte, rang um ihre Fassung, aber noch bevor sie anfing zu sprechen, rollte die erste Träne. »Professor Bone hat mir heute erzählt, dass er in wenigen Wochen auf die Hebriden zieht. Er hat lange darauf gewartet, dass sich einer von den jungen Wissenschaftlern auf den Inseln niederlässt, aber den Forschern ist es dort zu abgelegen. Nun hat er sich selbst durchgerungen.« Sie schniefte und wischte sich mit der Hand unter der Nase entlang. »Schön, dass er das Lebenswerk meines Großvaters fortsetzt, aber, weißt du, wenn er Kew Gardens verlässt … Wer bleibt mir noch? Ich liebe meine Arbeit, aber jeder braucht Vertraute um sich. Seit Dennis und meine anderen Kollegen in der Mandschurei umgekommen sind, fühle ich mich ohnehin oft allein.«

Victor zog sie an sich und legte sein Kinn auf ihren Scheitel. »Ich hasse die Vorstellung, dass du da einsam bist. Meine geliebte Frau soll glücklich sein.«

Sie rutschte höher, sodass sich ihre Lippen trafen. Voller Innigkeit küssten sie sich. Mit dem Zeigefinger tupfte er ihre Tränen weg. »Heute auf den Tag genau sind es zwei Jahre, dass ich dir versprochen habe, dich immer glücklich zu machen«, sagte er.

Sie stöhnte und richtete sich auf. »Ich habe unseren Hochzeitstag vergessen!«, rief sie verzweifelt und grub sich vor Entsetzen alle zehn Finger in die Haare. »Wie konnte mir das bloß passieren! Es tut mir unendlich leid, Victor! Vorgestern habe ich noch gedacht, denk an den Hochzeitstag, und jetzt ist so viel passiert, dass ich …«

»Psssst.« Er beugte sich über sie und küsste ihre Stirn, die Nasenspitze und den Mund, bevor er sich zu seinem Nachttisch wandte und die Schublade öffnete. Charlotte beobachtete ihn, immer noch um ihre Fassung ringend. Mit ihrer Zerstreutheit ging sie bei den meisten Gelegenheiten souverän um, aber in manchen Momenten war sie wirklich eine Plage. Victor hatte diese Geringschätzung nicht verdient. Er war der aufmerksamste und fürsorglichste Ehemann, den sie sich wünschen konnte. Vermutlich hatte er für sie Chanel No. 5 besorgt, das neue Parfum von Coco Chanel, das innerhalb kürzester Zeit zum Verkaufsschlager geworden war und das sich jede Frau wünschte.

Sie machte runde Augen, als er ihr einen Umschlag aus Goldpapier reichte. Ein Gutschein für eine Parfümerie? Der Umschlag war nicht zugeklebt, und als sie ihn aufklappte, setzte sie sich auf und lehnte sich gegen die Rückwand des Bettes. Victor kam nah an sie heran.

Mit Daumen und Zeigefinger zog sie zwei bedruckte Karten heraus. Tickets. »Was … was?« Sie überflog den Aufdruck und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es Fahrkarten für eine Schiffsreise von Plymouth über den Atlantik, durch die Straße von Gibraltar und das Mittelmeer bis zur syrischen Hafenstadt Latakia waren. Sie starrte auf die Karten, dann zu Victor.

»Ich weiß, dass du wegen mir deinen Traum aufgegeben hast«, sagte er. »Du wolltest immer auf Expedition gehen. Weil ich dich niemals allein ziehen lassen würde, habe ich mir gedacht, wir unternehmen die Forschungsreise gemeinsam. Von Syrien aus werden wir bis ins persische Isfahan reisen. Von dort aus starten wir unsere Tour ins Zagros-Gebirge, auf den Spuren der Bachtiaren. Das ist ein Nomadenvolk, das in diesem Gebiet herumzieht. Wir werden uns einer Gruppe von Forschern anschließen, zwei Schweizern, die sich besonders für die Nomaden interessieren, einem ortskundigen Führer und mehreren Einheimischen, die sich um unsere Ausrüstung kümmern. Ich habe das alles mit meinem Assistenten Albert genauestens geplant und die Gefahren für uns, für dich, wo immer möglich ausgeschlossen, ohne dir das Abenteuer zu verderben. Was sagst du, Darling?« Seine Miene drückte die pure Begeisterung aus.

Charlotte starrte abwechselnd auf die Karten und in Victors Miene, bis sie endlich begriff, womit er sie hier überraschte. Eine Forschungsreise in den Orient! »Wann geht es los?«, stieß sie hervor.

»Anfang September. Ich habe etwa zwei Monate eingeplant. Das passt zu dem Klima in den niedrigeren Regionen. Im Hochland müssen wir uns auf kühle Tage einstellen.«

Sie richtete sich auf und umarmte ihn. »Ich danke dir, Victor!«, flüsterte sie in sein Ohr, obwohl sich in ihrer Brust die gegensätzlichsten Regungen stritten. Einerseits die Vorfreude auf das Abenteuer in einem fernen Land, andererseits der Wermutstropfen, dass sie als die englische Dame reiste, deren finanziell unabhängiger Gatte sie bei Laune halten wollte. Sie hatte mit den anderen Forschern vorpreschen wollen, im Auftrag der Wissenschaft, wollte nicht auf einer Sänfte durch Wüsten und Urwälder getragen werden und den Fünf-Uhr-Tee pünktlich serviert bekommen. Ob Victor sich die Expedition so vorstellte? Er würde sich darauf einstellen müssen, dass seine Frau die kühne Forscherin war, der keine Felswand zu steil, kein Wald zu dicht war. Würde er das zulassen? Sie verscheuchte die kritischen Gedanken, umfing sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn. Sie löschten das Licht, und wenig später erkannte sie an seinen regelmäßigen Atemzügen, dass er eingeschlafen war.

Das Fenster war einen Spaltbreit geöffnet. Von draußen wehte der Duft nach dem ersten Ginster und den Forsythien hinter dem Grundstücksrand zu ihr hinein. Irgendwo schrie ein Käuzchen, der Halbmond warf ein dämmeriges Licht ins Schlafzimmer und malte Schattengestalten an die Wände. Charlotte fühlte sich hellwach, obwohl ihr kurz zuvor am Tisch fast die Augen zugefallen waren.

Würde sie zwei Monate freibekommen, wenn sie erklärte, dass sie auf Forschungsreise ging? Oder würde man sie für verrückt erklären? Würde es noch nötig sein, freizunehmen, oder würde ihr Vertrag ohnehin unter Direktor Hill Ende Juni nicht verlängert werden? Die Vorstellung, dass Professor Bone bald sein Büro räumte, ließ sie frieren. Würde sie sich ohne ihren loyalen Fürsprecher in der Männerwelt von Kew Gardens behaupten können?

Kapitel 2

Während Charlotte und Victor das Licht löschten, wedelte Debbie zur gleichen Zeit im Garten den Rauch weg, den Benjamin McLaren in Kringeln ausstieß. Dabei klimperte das silberne Armband mit den Anhängern, das sie nie abgelegt hatte, seit sie es von ihrem Londoner Freund Tom Emerson vor knapp drei Jahren bekommen hatte. Sie trug es aus Gewohnheit, nicht etwa, weil sie darauf hoffte, dass sie die Freundschaft noch einmal aufleben lassen konnte.

Benjamin hielt in der Rechten die Zigarre zwischen Daumen und Zeigefinger und formte den Mund wie ein Karpfen, aber es tat seiner Attraktivität keinen Abbruch. Mit den langen Wimpern, die seine leuchtend grauen Augen umrahmten, war er sich seiner Ausstrahlung bewusst, aber selbst die Pose des selbstverliebten Dandys stand ihm zu Gesicht. Es gab wenig, was er aus Debbies Sicht falsch machen konnte. Wie er redete, wie er lachte, wie er roch – an Benjamin war einfach alles perfekt. Wenn sie mit ihm zusammen war, prickelte etwas in ihr.

Auch dass er sie an Tom erinnerte, trug zu seiner Anziehungskraft bei.

Die beiden jungen Leute hatten sich in einer Mulde hinter der mit Buchsbäumen bestandenen Grundstücksgrenze niedergelassen. Debbie lag in Benjamins Arm und schmiegte den Kopf an seine Schulter. Auf ihrer anderen Seite streckte sich Baxter aus, das Maul auf den Vorderpfoten. Die vergangenen Tage waren trocken gewesen, und die Nachmittage im Mai kamen wie der Sommer daher. Jetzt am Abend zog ein kühler Nebel übers Land, aber Debbie fühlte sich trotzdem, als hätte die Sonne sie verbrannt.

»Willst du?« Benjamin hielt ihr die Zigarre hin.

Debbie schüttelte den Kopf, sodass die Haare von einer Seite zur anderen flogen, und hob abwehrend die Hand. Allein bei dem Geruch wurde ihr speiübel. Da musste sie das Zeug nicht noch extra rauchen.

Aus der Innentasche seines Jacketts, auf dessen Revers das Wappen seiner Schule gestickt war, zog er eine flache silberne Flasche und drehte den Verschluss auf. Mit hochgezogenen Brauen hielt er sie ihr hin.

Ihr stieg der scharfe Geruch nach Weinbrand in die Nase. Wieder schüttelte sie den Kopf. Ihr Blick ging zu ihm hoch. »Du weißt, dass es seit Neuestem ein Gesetz gibt, das Jugendlichen Alkohol verbietet?«

Er starrte sie an, pustete die Wangen auf und nickte ein paarmal spöttisch anerkennend. »Und die junge Miss Windley kennt sich selbstverständlich hervorragend mit der Gesetzeslage aus und hält sich daran, nicht wahr?«

Sie hasste es, wenn er in diesem Ton mit ihr sprach. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie kein Kind mehr, aber manchmal tat Benjamin so, als wäre er ihr haushoch überlegen, nur weil er zwei Jahre älter war. »Das ist Quatsch, und das weißt du auch«, gab sie zurück. »Wann fängt dein Studium an? Werden wir uns dann noch sehen?«

Er drehte sich ihr zu. Fast berührten sich ihre Nasen. Sie strich sich mit der Zungenspitze über die Lippen, schmeckte das Kirscharoma ihres Lippenstifts und roch Benjamins Duft nach Tabak und Weinbrand. Seine Nähe und Wärme ließen ihr Herz schneller schlagen. Sie hatten sich schon einige Male geküsst, aber immer noch war es für Debbie aufregend wie beim ersten Mal. Es fiel ihr zunehmend schwer, ihn auf Abstand zu halten, da sie sich selbst nach mehr sehnte als nach den Küssen, aber sie wusste, dass sie sich keinesfalls dazu hinreißen lassen durfte, sich in ihrem Alter einem Mann hinzugeben. Vielleicht war es der Einfluss von Aurora, die im Lauf der Zeit ihre Freundin geworden war und die sehr genaue Vorstellungen von Anstand und Moral hatte. Vielleicht war es auch Victor, der sie, um sie zu necken, gerne Flapper nannte, das Modewort für alle jungen Frauen, die lieber albern kicherten, als ernsthafte Unterhaltungen zu führen, die Spaß haben wollten und das Leben auf die leichte Schulter nahmen. Debbie hielt sich selbst nicht für oberflächlich, und aus irgendeinem Grund war es ihr wichtig, dass Victor sie respektierte.

Sie schloss die Augen, als Benjamins Mund ihre Lippen berührte, erst sachte, schließlich leidenschaftlicher, fordernder, bis sie die Hände gegen seine Brust stemmte und Abstand zwischen sich und ihn brachte.

Er zog eine Grimasse. »Warum willst du mich wiedersehen, wenn ich in Oxford studiere? Für die paar Küsse, die du mir erlaubst?«

Debbie ballte die Hände zu Fäusten und funkelte ihn an. »Was erwartest du von mir? Ich bin noch nicht einmal in die Gesellschaft eingeführt worden. Den Ball zu diesem Anlass will Victor mir erst im nächsten Jahr ausrichten, wenn ich sechzehn bin.«

»Wie albern diese Traditionen sind.« Benjamin rückte von ihr ab und inhalierte den Rauch der Zigarre so tief, dass er husten musste. »Als wären die Debütantinnen alle noch Jungfrauen. Wer will das nachprüfen?«

»Mir geht das zu schnell, Benjamin, aber ich will dich nicht verlieren.« In ihre Stimme schlich sich ein bittender Ton. Er war ihre erste Liebe, der Junge, der sie nach Tom in seinen Bann gezogen hatte. Doch Tom war eher nur ein guter Freund gewesen. Sie war zweimal mit Aurora nach London gefahren, um ihn zu besuchen. Beide Male hatten sie ihn nicht finden können, all ihre Briefe an ihn blieben unbeantwortet. Es hatte wehgetan, sich einzugestehen, dass Tom sie vergessen hatte. Benjamin half ihr, die Enttäuschung zu überwinden.

Er wandte sich ihr wieder zu, zog sie in die Arme und küsste sie zärtlich. »Ich will dich auch nicht verlieren«, murmelte er dicht an ihrem Mund. »Ich bin nur ungeduldig, weil ich dich so sehr liebe.« Debbie schmolz dahin und ließ es für einen Moment geschehen, dass er nach ihrer Brust tastete. Schließlich löste sie sich von ihm und ignorierte seinen enttäuschten Blick.

»Am liebsten würde ich dich nach Oxford begleiten, statt im Herbst auf das College in Canterbury zu wechseln. Ich weiß nicht, warum ich da weiterlernen soll. Ich könnte genauso gut die Schule beenden und etwas Praktisches beginnen oder mich auf die Ehe vorbereiten. Und auf eine Universität will ich sowieso nicht.«

Benjamin lachte laut auf. Baxter richtete die Ohren auf. »Kein guter Einfall, mich nach Oxford zu begleiten«, sagte er und wischte sich die Lachtränen weg.

Debbie starrte auf ihre Finger. »Weil du dir selbst nicht sicher bist, ob du dich da nicht in eine andere verliebst, nicht wahr?«

»Ach, du Dummerchen.« Er küsste ihre Stirn, bevor er sinnend in den Sternenhimmel schaute. Debbie wartete, ob er seine Liebeserklärung wiederholen würde, aber da kam nichts mehr. Das Schlucken schmerzte, als hätte sich ihre Kehle verengt.

Sie zog die Knie an, richtete sich mit einem Satz auf, ordnete ihre Bobfrisur mit den Fingern und zupfte sich das kniekurze Chiffonkleid zurecht. Baxter stand sofort an ihrer Seite, auch Benjamin erhob sich. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Abschiedskuss mitten auf den Mund. Sein Weg ging in die andere Richtung, und Debbie schaute ihm hinterher, als er davoneilte. Sein federnder Gang, die breiten Schultern, die langen Beine … Sie konnte sich kaum sattsehen an seiner Gestalt.

Summerlight House lag im Dunkeln, hinter den Fenstern brannten keine Lichter mehr, nur die gepflasterte Einfahrt und der Haupteingang waren beleuchtet. Als Debbie mit dem Labrador das Haus betrat, schloss sich linker Hand knarrend die Tür zu Auroras Räumlichkeiten. Debbie zuckte zusammen, war aber gleichzeitig dankbar, dass Aurora sie nicht zur Rede stellte. Das tat hingegen kurz darauf ihre Mutter Elizabeth, als sie die Freitreppe in die erste Etage emporstieg, nachdem sich Baxter in seinen Korb im dunklen Salon gelegt hatte.

»Was bildest du dir ein?« Elizabeth kam Debbie im Flur entgegen. Ihre beiden Arme zitterten, ihr Unterkiefer schob sich hin und her. Ihre Gesichtszüge waren maskenhaft starr, aber in ihren Augen loderte der Zorn. »Wie kannst du es wagen, dich mit einem Kerl in den Feldern herumzudrücken? Ist dir denn dein Ruf gar nichts wert? Willst du noch vor deinem Debütantinnenball als das leichte Mädchen von Summerlight House gelten? Wie kannst du unserer Familie das antun? Ist das dein Dank dafür, dass uns Victor und Charlotte dieses Leben ermöglicht haben?«

Debbie kamen die Tränen, während hinter ihrer Stirn die Gedanken wirbelten. »Wie kommst du darauf, ich hätte mich mit ihm herumgedrückt? Ich …«

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